ADB:Schröder-Devrient, Wilhelmine

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Artikel „Schröder-Devrient, Wilhelmine“ von Hans Michael Schletterer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 32 (1891), S. 534–545, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schr%C3%B6der-Devrient,_Wilhelmine&oldid=- (Version vom 5. Dezember 2024, 01:04 Uhr UTC)
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Schröder-Devrient: Wilhelmine S., geboren am 6. December 1804 in Hamburg, † am 26. Januar 1860 in Coburg. Die Mutter, Sophie S., geb. Bürger, 1781 zu Paderborn geboren (s. o.), war zu ihrer Zeit unbestritten die größte Tragödin der deutschen Bühne, die Gründerin der modernen, romantischen Schule des deutschen Schauspiels, ihre Tochter die hervorragendste dramatische Sängerin ihrer Periode. Wilhelmine war die älteste von vier Geschwistern: Elisabeth, bedeutende Soubrette, an Dr. Schmidt, Arzt in Hamburg, verheirathet; Auguste, Gattin des Dr. Schlönbach in Coburg, für das Fach der Anstandsdamen am Hoftheater engagirt, und Alexander, Officier in bairischen Diensten. Wie das bei Komödiantenkindern gewöhnlich so geht, wurde auch Wilhelmine schon in jugendlichstem Alter auf die weltbedeutenden Bretter gestellt. In ihrem 9. Jahre trat sie (eine Schülerin des Tanzlehrers Lindau) zunächst in Hamburg als Solotänzerin und in Kinderrollen auf, erstmalig in einem Pas de châle und in einem Matrosentanz. Als während der kriegerischen Unruhen 1813 die Theaterzustände dort unhaltbar wurden, und überdies die Mama durch einen schlechten, unvorsichtigen Witz sich unmöglich gemacht hatte, mußten die Eltern flüchten und es begann nun für die arme Familie ein ungewisses, sorgenvolles Wanderleben, zuerst durch Norddeutschland, an den Rhein und bis Frankfurt, dann durch Baiern nach Böhmen, wo endlich in Prag 1814 wieder feste Stellung gewonnen wurde. Wilhelmine und ihre beiden Schwestern wirkten hier in verschiedenen Tanzdivertissements mit, die vom Kinderballet der Frau Horschelt gegeben wurden, und folgten dann 1815 ihrer Mutter, die seit einiger Zeit in Wien am Burgtheater Engagement gefunden hatte. Auch hier wurden die Schwestern wieder dem Balletmeister Horschelt, dem Sohne der obigen, übergeben. Das Wiener Kinderballet, damals weltberühmt, war in Wahrheit das denkbar Feenhafteste und Reizendste, was man sehen konnte. Die äußerst anstellige Wilhelmine avancirte bald zum ersten Liebhaber der Gesellschaft und ihre mit Grazie und Gewandtheit ausgeführten Darstellungen gewannen sich stets rauschenden Beifall, obgleich sie, was anmuthige Laune und Lieblichkeit der Erscheinung anlangt, von ihrer jüngsten Schwester noch übertroffen wurde. Aber ebenso, wie sie klug und intelligent war, zeigte sie sich auch wild, trotzig und unbändig, ja man mußte sie, die flink und geschmeidig wie eine Katze die höchsten Bäume erkletterte und der kein Graben zu breit schien, deren Neigungen und Manieren stets jungenhaft blieben, in Knabenkleider stecken, um sie bändigen und besser züchtigen zu können. Für das [535] in seiner Jugend magere, lang aufgeschossene, etwas eckige, ungraziöse Kind war diese Balletzeit, die übrigens endete, sobald es jungfräulicher Entwicklung mehr entgegenreifte, eine vortreffliche Schule und ihre späteren großen Erfolge auf dem Gebiete edler Plastik und Geberdensprache hatte sie jedenfalls großentheils derselben zu danken. Ihr Körper gewann dadurch jene Anmuth und Biegsamkeit, deren eine dramatische Künstlerin für den Ausdruck zarter Uebergänge der Empfindung, wie für idealisirte Wiedergabe stürmischer Leidenschaften nicht entbehren kann. Aber wie theuer wurden diese Vorzüge erkauft! Spät noch schrieb sie über diese Tage: „Die Rückerinnerung krampft mir heute noch das Herz zusammen. Wir waren der rohesten Behandlung ausgesetzt, von den schlechtesten Beispielen umgeben und lernten nichts als Tanzen und dumme Streiche machen.“ In sittlicher Beziehung war das berühmte, äußerlich so glänzende Kinderballet eine tief verderbte Anstalt. Nicht nur ging den Kindern, denen nur Künste äußeren Gefallens gelehrt wurden, der Jugend heilige Unbefangenheit verloren; die frühe Gemeinschaft mit schlecht erzogenen Genossen, eine zu zeitig erregte Sinnlichkeit und bei den Aelteren äußerste Sittenverderbniß hinterließen untilgbare Eindrücke. Mit dem Tode des in Karlsbald langem Siechthum erliegenden Vaters, eines sehr braven und rechtlichen, seine Kinder zärtlich liebenden Mannes, vermochte niemand mehr das excentrische Temperament und zügellose Wesen Wilhelminens zu bändigen und zu schöner, milder Sitte zu erziehen. Der Verstorbene hatte nichts versäumt, überall, in Hamburg, Prag und Wien, wo die Familie längeren Aufenthalt nahm, seinen Kindern zuverlässige Aufsicht und nöthigen Unterricht zu geben. Jahre lang war Mad. Joyeux, aus der französischen Schweiz stammend, eine Frau trefflichen Charakters, tadelloser Sitten und wahrhaft mütterlicher Hingabe, ihre Gouvernante. Von einem vorzüglichen Lehrer erhielten sie in Wien noch besonderen französischen Unterricht. – Von der genialen Mutter sorgfältig vorbereitet, machte Wilhelmine am 13. October 1819, 15 Jahre alt, ihr Debut im Hofburgtheater als „Aricia“ in Schiller’s Phädra. Einnehmende körperliche Bildung, für ihr Alter bewundernswerthe Besonnenheit im Spiel, reine und verständige Declamation, wurden diesem sehr beifällig aufgenommenen ersten Auftreten bereits nachgerühmt. Sie spielte noch „Louise“, „Beatrice“, „Ophelia“ u. s. w., ging aber, da es weder ihr noch ihrer Schwester Betty gelingen wollte, nur die bescheidenste Stellung an der Burg zu gewinnen, ab, sich nun ganz der Oper zuwendend. Die Mutter hatte sie, sobald sie sich überzeugt, daß das Mädchen Stimme und Gehör besaß, heimlich zur Sängerin bilden lassen und ihr in Joseph Mozatti und Giulio Radichi vorzügliche Lehrer gegeben, aber leider nur eine zu kurze Unterrichtszeit gewährt. Sie war ja einst selbst eine gute Sängerin. Nebenbei studirte sie ihrer Tochter schauspielerisch alle Rollen ein und ertheilte ihr über jedes Wort, jede Bewegung, jeden Schritt einsichtsvollen Rath. Da diese Umwandlung zur Sängerin so zu sagen geheim betrieben wurde, überraschte ihr Debut, am 20. Januar 1821, als „Pamina“ ungemein. Die, gute Schule verrathende, ziemlich ausgebildete Stimme, eine glockenreine Intonation und ein einfach-inniger, angenehmer Vortrag, entzückten die Hörer so, daß das Haus von Beifall widerhallte. Nun sang sie auch vielfach in Concerten und trat dann zum zweiten Male in der damals so sehr beliebten Schweizerfamilie, in der zu dieser Zeit alle jugendlichen Sängerinnen ihre Feuerprobe zu bestehen pflegten, (wer denkt da nicht an die Schechner, Unger, Rähle u. a.) als „Emmeline“ mit gleichem Erfolge auf. Es folgten Gretry’s Blaubart, Herold’s Zauberglöckchen, Weigl’s Edmund und Caroline. Die Rollen in der Schweizerfamilie und im Blaubart zählten für lange Jahre hinaus zu ihren Glanzrollen. Sieghaften Erfolg aber errang sie dann im Freischütz als „Agathe“, am 3. November 1821, am Vorabend des k. Namensfestes gegeben, [536] die zuletzt, am 7. März 1822, der ihr von Prag her wohlbekannte Componist, von jetzt ab ihr väterlicher Freund, persönlich dirigirte. Weniger gefiel sie als „Zemire“ in Spohr’s Zemire und Azor, welche Rolle eine große, kunstfertige Sängerin erforderte und wo frische Stimme und angemessenes Spiel allein nicht ausreichten. Einsichtige Gesangskenner konnten sich damals schon dem Eindrucke nicht verschließen, daß, was Declamation und Action anlangte, Wilhelmine allerdings infolge des mütterlichen Unterrichtes bereits wahrhafte künstlerische Entwicklung gefunden hatte, daß sie aber im Gesange noch durchaus Anfängerin war – es war ihr Verhängniß, darüber eigentlich niemals hinauskommen zu können. Den ersten Ausflug machte die Mutter mit ihren Töchtern im Sommer 1822 nach Dresden. Wilhelmine, „die singende Schauspielerin“, wie man sie nannte, erregte als „Emmeline“ geradezu Sensation. Costüm, Spiel und Vortrag erschienen gleicherweise entzückend. Wenn sie im dritten Acte am Fenster erschien, um mit gefalteten Händen und freudig zum Himmel gerichtetem Blick in das Terzett: „Ach, wie herrlich“ einzustimmen, pflegte die Bewunderung ihrer reizenden Erscheinung solchen Höhegrad allgemeiner Exstase zu erreichen, daß der Dirigent nothgedrungen mit Intonirung des Musikstückes anhalten mußte, bis sich das Publicum an der himmlischen Gestalt der Beterin satt gesehen und ihr sein Entzücken zugejauchzt hatte. Am 23. Juni sang sie die „Agathe“, 26. Juli beschloß sie als „Pamina“ ihr Gastspiel, um nun in Leipzig und darauf in Kassel neue Triumphe zu feiern. Den eigentlichen Grundstein unverwelklichen Ruhmes aber legte sie nach ihrer Rückkehr, als sie in Wien am 9. November 1822, allerdings noch immer unter Leitung ihrer Mutter stehend, mit überströmendem Gefühle und überwältigendem Ausdruck erstmalig den „Fidelio“ sang und jetzt diese Rolle eigentlich erst creirte; denn die berühmte, aber etwas phlegmatische Anna Milder-Hauptmann, die sie bereits 1805 und 1806 gesungen, konnte damit keine erhoffte Wirkung machen und der herrlichen Musik, an der man seiner Zeit, allerdings nicht ohne Berechtigung, mannichfache Ausstellungen erhob, keine Lebensdauer verleihen. Ihrem hinreißenden, durch den Gluthstrom poetischer Begeisterung alles mit sich emporhebenden, wohldurchdachten Spiel, ihrer unerreichten dramatischen Gewalt gelang das Wunder, daß nun das unsterbliche Werk sieghaft die Welt durchflog, zahllose Augen netzte und die Herzen für ewig sich gewann. Hätte sie in ihrem thatenreichen Leben nur dies Eine vollbracht, ihr Ruhm würde unvergänglich sein. Die Oper war lange zurückgelegt, fast vergessen, weil die Hauptrolle nicht entsprechend besetzt werden konnte. Nun wurde diese, da sie als Festoper zum Namenstag der Kaiserin gegeben werden sollte, der 17jährigen Wilhelmine anvertraut. Beethoven sträubte sich energisch dagegen, daß ein Kind den „Fidelio“ singen solle. Er hatte selbst dirigiren wollen, aber seine Taubheit dies unmöglich gemacht. Er saß bei der Aufführung, tief in seinen Mantel gehüllt, grollend hinter dem Capellmeister, die glühenden Augen starr auf die Bühne gerichtet. Der Künstlerin, sich vor diesen Augen und ihrer Aufgabe fürchtend, war unaussprechlich bang zu Muthe. Aber schon nach den ersten Worten durchströmte sie wunderbare Kraft. Das Publicum, Beethoven, alles schwand vor ihren Blicken, alles Einstudirte fiel von ihr ab, sie war Leonore, sie durchlebte, durchlitt ihre Rolle. Aber in der Kerkerscene fühlte sie ihre Energie wiederum erlahmen. Die Größe ihrer Aufgabe, die sie jetzt erst ganz erkannte, machte sie erbeben. Da, als sie sich aufraffend, mit dem Muthe der Verzweiflung dem Mörder sich entgegenwirft und mehr schreiend als singend – die Worte herausstößt: „Töd’ erst sein Weib!“ und sie nun, durch das Trompetensignal aus Todesangst erlöst, Pizarro mit vorgehaltenem Terzerol dem Ausgange entgegentreibt, fühlte sie sich todesmatt von ungeheurer Anstrengung, ihre Kniee wankten, krampfhaft griffen die Hände nach dem Haupt und ihren Lippen [537] entrang sich unwillkürlich jener berühmte unmusikalische, unnachahmliche Schrei des aus Todesnoth erlösten Weibes, der erschütternd Mark und Bein der Hörer durchdrang. Erst als sie halb weinend, halb jubelnd in des Gatten Arme fiel, wich der alle Herzen fesselnde Zauberbann und ein nicht enden wollender Beifallssturm brach los. Beethoven, der die Stimme der Sängerin nicht mehr hören konnte, aber jede Miene des von Geist durchleuchteten Gesichtes mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt hatte, kam nach der Vorstellung zu ihr; seine sonst so finsteren Augen lächelten ihr zu, und, ihr freundlich dankend auf die Wange klopfend, versprach er, eine neue Oper für sie zu componiren, eine Zusage, die ihr seiner Zeit auch Weber gegeben, die aber ebensowenig wie diese gehalten wurde. Ziemlich gleichzeitig mit ihr brachte die berühmte Schechner in dieser Oper eine in den Annalen der Theatergeschichte unerhörte Wirkung hervor, aber bei ihr lag der Schwerpunkt in einem hinreißend mächtigen, durch ernste Schulung trefflich gebildeten Organe; ihre Darstellung folgte strenge dem Gang der Musik. Die höchsten Gipfel ihrer Rolle erreichte sie daher im ersten Acte und in den Schlußscenen, während Wilhelmine auch die schwächern Verbindungsmomente der Dichtung hebend und tragend, das Kunstwerk in eine ideale Gedankensphäre emporhob und den Hauptaccent auf die Höhepunkte der dramatischen Situation verlegte. Ihre Rolle fing nicht erst an, wo sie zu sprechen und zu singen hatte, ihr stummes Spiel schon bot eine Kette feiner Züge. Jede Mittheilung über das Schicksal der Gefangenen und das Loos des von ihr Gesuchten, jede unschuldige Aeußerung Marzellinens weckte ein Echo auf ihren Zügen. Mit wenigen von anderen Darstellerinnen unbeachtet gelassenen Worten erreichte sie hinreißende Wirkungen. – Wilhelmine sang in Wien am 6. März 1823 noch eine andere angreifende und schwierige Rolle in C. Kreutzer’s Cordelia. Dann trat sie zu Ostern ihr bis zum 1. April 1825 abgeschlossenes Engagement an (2000 Thaler Gehalt, dreimonatlicher Urlaub). Mit seltenem Erfolge absolvirte sie am 24. April als „Fidelio“, 8. Mai als „Donna Anna“ und 29. Mai als „Cordelia“ ihre Debutrollen. Einmal in diesen Hafen eingelaufen, blieb sie, kleinere Unterbrechungen abgerechnet, der Dresdner Bühne bis zu ihrem Rücktritte vom Theater, 1847, treu. (Seit 1832 bezog sie 4000 Thaler Gehalt.) Geradezu glänzende Aufnahme fand sie später auch gelegentlich ihrer Gastspiele in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Königsberg, Weimar, Darmstadt, Stuttgart, München, Paris, London u. s. w. Mit ihr gleichzeitig gastirte in ersterer Stadt der als Held und erster Liebhaber ausgezeichnete, berühmte Schauspieler Karl August Devrient (geboren am 5. April 1797 in Berlin, † am 3. August 1872 in Lauterberg im Harz, siehe A. D. B. V, 99), ein durch männliche Schönheit hervorragender Künstler. Sie hatte ihn schon in Dresden kennen gelernt und liebgewonnen. Mit ihm wurde sie denn auch, noch bevor sie Berlin verließ, in der Jerusalemerkirche getraut. Leider war ihr Gatte nicht diejenige energische Persönlicheit, die, obwol allgemeine Achtung genießend, trotz ernst-gesetzten Wesens einer Frau von ihrem Temperament zu imponiren, ihre zweite Erziehung zu leiten, ihre zügellose Leidenschaftlichkeit zu mildern, ihr ganzes Wesen zu beherrschen und zu läutern vermochte. Der so glücklich begonnene Ehebund konnte kein dauernder sein. Wie ihrer Mutter, waren auch ihr wechselvollste Schicksale in ihrem Liebesleben vorbehalten. Die Flitterwochen waren bald verrauscht; Mißhelligkeiten schlimmster Art untergruben den häuslichen Frieden, gänzlicher Bruch wurde unvermeidlich. Für sie wurde diese harte Erfahrung Ursache zu frühzeitiger Entwicklung jener dämonischen Züge ihres Wesens, ohne die sie nie die so vielseitig großartige Künstlerin hätte werden können; aber ihr innerstes Lebensglück fiel zum Opfer, weil sie selbst nie die sittliche Kraft gewann, ihre schlimmsten Feinde, Leidenschaft und Sinnlichkeit zu besiegen, [538] die schwersten Prüfungen konnten sie nicht bewegen, ihre in jeder Hinsicht excentrische Lebensweise zu ändern. Perioden bedenklichster Ausschweifungen und wildester Seelenstürme blieben ihr daher nicht erspart. Aber klaren Verstand und volle Selbsterkenntniß wußte sie sich stets zu wahren. Fanny Lewald, die sie um diese Zeit in Königsberg sah, sagte von ihr, daß Jugend, Reiz und Lieblichkeit ihres Wesens ganz dem idyllischen Charakter der Emmeline entsprachen, deren sanfte Klagen, ihr Heimweh und ihre unschuldige Liebessehnsucht von ihr so ergreifend dargestellt wurden, daß das Publicum sich nie der Thränen erwehren konnte. Dem Scherze dagegen und bezaubernder Heiterkeit wußte sie in allerzierlichster Weise als „Frau von Schlingen“ (Wiener in Berlin) zu huldigen. Sie muß damals berückend schön gewesen sein. Die Gewalt ihres Spiels übte nicht nur auf die Zuschauer, auch auf die Mitspielenden einen förmlich überrumpelnden Eindruck aus. In Königsberg trat sie auch noch einmal als Schauspielerin auf, indem sie neben ihrem Gatten, der den „Ferdinand“ spielte, in Kabale und Liebe die „Louise“ gab. Aus ihrer Ehe, 1828 wieder getrennt, hatte sie vier Kinder: zwei Söhne und zwei Töchter; die jüngste Louise, ließ, während die Mutter im Theater war, die unachtsame Wärterin vom Arme fallen; ein Verlust, über den sie sich lange nicht zu trösten vermochte. December 1828 gastirte Wilhelmine zum zweiten Male in Berlin. Daselbst waren angestellt Anna Milder-Hauptmann, Jos. Schulz geb. Killitschgy, Car. Seidler geb. Wranitzky u. a. Kurz vorher hatten die durch wunderbare Pracht ihres Organs bestechende N. Schechner und H. Sontag, durch vollendete Technik glänzend, beide zugleich für dramatische Darstellung hochgradig begabt und besondere Lieblinge des Publicums, dort gesungen; ihrem Auftreten fast unmittelbar vorausgehend, waren Ang. Catalani, Sab. Heinefetter und die großartige Contraaltistin C. Tibaldi bewundert worden. Sie hatte also, da sie erstmalig die „Euryanthe“ sang, einen schweren Stand; aber ihre Darstellung war so außerordentlich, zeugte von so hohem Standpunkte künstlerischen Bewußtseins, die Kunst declamatorischen Gesangs, in Verbindung mit bedeutungsvollem Spiel, hatte sie zu so seltenem Grade der Vollendung gebracht, daß sie, trotzdem ihre äußere Erscheinung, die mehr heroischen Adel und Fülle besaß als Zartheit und Lieblichkeit, wie sie gerade die Rolle der „Euryanthe“ bedingen, dennoch im Verlaufe des Abends die Hörer aufs tiefste zu ergreifen vermochte, und, was noch nie vorgekommen war, sie wurde schon nach dem ersten Acte unter rauschendem Beifall gerufen. Sie sang dann noch die „Rezia“, in der ihre große Arie einen Sturm von Applaus entfesselte, die „Emmeline“, den „Sargins“ und die „Anna“ (weiße Dame). Nach Dresden heimgekehrt trat sie am 4. Januar 1829 als „Libella“ (Reißiger), 5. März als „Julia“ (Vestalin), 7. Mai als „Marie“ (v. Herold), 8. November als „Iphigenia in Tauris“ (Gluck) mit großem Erfolge auf; weniger gelangen ihr „Rosine“ (Barbier) und „Constanze“ (Wasserträger). Die rastlos weiterstrebende Künstlerin, in sich Kraft und Beruf fühlend, deutscher Kunst auch im fremden Lande Boden und Gunst zu gewinnen, nahm 1830 einen Engagementsantrag nach Paris an. Sie sang unterwegs in Weimar dreimal, sich da die ganz besondere Theilnahme Goethe’s, der sie wiederholt durch freundliche Verse ehrte, gewinnend und debutirte darauf, und zwar mit glänzendem Erfolge in Paris am 6. Mai als „Agathe“. Der Enthusiasmus steigerte sich, da sie am 8. Mai den „Fidelio“ sang. Sie triumphirte. Ihr erschütterndes Spiel, der Zauber ihrer Stimme, ihre Feuerseele entfaltete ihre ganze Magie. Das zweite Finale mußte da capo gesungen werden, ebenso als sie die Oper zu ihrem Benefice wiederholt sang. Dann folgte noch eine Reihe ihrer bekannten Rollen. Wilhelminens Erscheinen in Paris war ein geradezu epochemachendes. Sie war [539] die erste Sängerin, der man Blumen zuwarf, eine Sitte oder Unsitte, die von daher datirt. Mit bedeutender Urlaubsüberschreitung kehrte sie erst Ende 1830 nach Dresden zurück. Sie verfiel in eine Conventionalstrafe von 4000 Thalern, wovon ihr aber des Königs Gnade 2416 Thaler 16 Groschen erließ. – Januar bis März 1831 gastirte sie wieder in Berlin, in neunzehn Rollen auftretend, darunter neu „Laura“ (Räuberbraut von Ries). Dann reiste sie über Hamburg nochmals nach Paris, hier wieder am 17. Mai die Reihe früherer Siege mit „Fidelio“ eröffnend. Die allzugroße Hitze dieses Sommers machte die Weiterführung der deutschen Oper unmöglich. Wie schon in Berlin für die königliche, wollte man sie nun auch für die Pariser Große Oper gewinnen. Die Unterhandlungen zerschlugen sich jedoch; dafür ward sie aber für die Wintersaison 1831/32 bei der in der Salle Favart spielenden italienischen Oper engagirt. Neben ihr sangen die Sopranistinnen Pasta, Malibran (von den Parisern vergöttert), Caradori, Tadolini, Métas, Casimir, Raimbeaux; die Tenöre Rubini, Nicolini, Bordogni; die Bässe: Lablache, Santini, Graziani. Welche Namen! welche Kräfte! welches Ensemble! Wird die Welt je dergleichen wieder erleben? – Wilhelmine sang im Don Juan mit Rubini (Ottavio), der Tadolini (Elvira), Caradori (Zerline), Lablache (Don Juan), Graziani (Leporello). Gleichzeitig wurde in der Großen Oper zum ersten Male Robert der Teufel von Meyerbeer aufgeführt, mit der Cinti-Damoreau (Isabella), Dorus-Gras (Alice), Nourrit (Robert), Levasseur (Bertram) und Lafont (Raimbaud). – Wilhelmine trat in Paris, überhaupt in Frankreich zuletzt, Februar und März 1832, als „Imogena“ (Pirat) und als „Adelaide“ (Gli amori di Comingio e d’Adelaide) auf. Mit Lablache wurde sie gleichzeitig nach London engagirt und zwar sie für die deutsche, er für die italienische Oper, an der außer ihm noch Giuditta Grisi, Malibran, Donzelli, Tamburini und Galli sangen, während die Cinti-Damoreau und Nourrit in der französischen Oper auftraten. Alle drei Operngesellschaften hatte ein Mr. Moncks-Mason zusammengebracht. Sie debutirte auch hier als „Fidelio“, den sie dann noch zehnmal wiederholte, stets größte Wirkung damit erzielend. Man gab ihr infolge dessen den Beinamen „Thränenkönigin“. Neben ihr wirkten Maschinka Schneider-Schubert (Marzelline), Giulio Pellegrini (Pizarro), Frz. Hauser (Rocco), A. Haizinger (Florestan). Chelard dirigirte. Dessen Oper Macbeth bot am 2. Juli ihre zweite Rolle, ihre dritte war die der „Donna Anna“. Sie verließ London Ende Juli und sang am 11. September den „Fidelio“ wieder in Dresden. Nachdem sie ihrem Repertoire die „Marie“ in Wolfram’s: Schloß Candra (1. December) und die „Johanne“ in Marschner’s: Des Falkners Braut (24. Februar 1833) hinzugefügt, reiste sie im April über Hamburg, wo sie wieder fünfmal sang, aufs neue nach London. Mit „Fidelio“ begannen am 6. Mai ihre Triumphe. Am 15. Mai folgte „Agathe“, 27. Mai „Pamina“, 29. Juni „Euryanthe“, jetzt in England überhaupt erstmalig gegeben. In die Heimath zurückgekehrt, erfreute sie die Dresdener am 20. Juli als „Fidelio“; dann in den neuen Partieen: „Rosa“ (Adlers Horst von Gläser 21. September), „Romeo“, später eine ihrer Glanzrollen, – wol schwerlich hat je ein Mann eine Heldenrolle imponirender und prächtiger gespielt! – (1. October), „Rebekka“ (Templer, 31. October), „Amazily“ (Cortez, 7. December), „Alice“ (Robert, 25. Januar 1834), „Anna Bolena“ (5. März), „Amina“ (Sonnambula, 27. September). April bis Juni gastirte sie wieder in Berlin, durch ihre Leistungen stets gewohnten Enthusiasmus hervorrufend. Am 22. Januar des nächsten Jahres sang sie in Dresden „Turandot“ (Reissiger), am 20. Februar und „Norma“. Bald darauf trat sie einen großen, diesmal ebenfalls überschrittenen Urlaub vom 1. April 1835 bis Mitte September 1836 an. Alle Theaterstädte Deutschlands suchten sie zu gewinnen. Ueberall hatte sie [540] phänomenale Erfolge, ward ihr frenetischer Applaus. Sie sang zuerst, wahre Begeisterung erregend, in Leipzig, dann in Braunschweig, in Hannover (sich durch ein einziges Auftreten als „Romeo“ dort ein unzerstörbares Denkmal setzend), in Breslau, wo man sie mit fieberhafter Ungeduld erwartet hatte, in Nürnberg, Pest, Brünn, Wien, München, Augsburg, Prag. Erst am 21. September sah man sie in Dresden wieder („Romeo“). Ihrem Repertoire fügte sie am 21. December die „Semiramis“ (Rossini) hinzu. Nur kurze Zeit sollte sich die sächsische Residenz ihrer Primadonna erfreuen. Schon im März 1837 machte sie wiederholt eine (letzte) Reise nach London, das sie über Leipzig, Braunschweig und Hamburg erreichte, und wo sie schon am 15. Mai den „Fidelio“, diesmal in englischer Sprache, sang. Der Beifall, den sie in dieser Rolle bei jeder Wiederholung erntete, blieb ihr leider in ihren beiden anderen Rollen, „Amina“ und „Norma“, versagt, weil den Engländern, die darin die größten italienischen Sängerinnen gehört und denen namentlich die am 23. September 1836 gestorbene Malibran unvergeßlich blieb, ihre Coloratur nicht ausreichend genug erschien. Uebergroße, ihr hier zugemuthete Anstrengungen hatten sie krank gemacht; ein rüpelhafter Theaterunternehmer, Mr. Bunn, betrog sie, indem er sich nach ihrer Abschiedsvorstellung bankerott erklärte, um ihre sauer erworbene Gage. Ueber Hamburg kehrte sie zurück, wurde aber dort nach ihrer vierten Rolle aufs neue von schwerem Unwohlsein heimgesucht. Dennoch sang sie bereits am 25. October in Dresden wieder die „Norma“, bald darauf „Elvira“ (Puritaner), am 23. März 1838 „Valentine“ (Hugenotten), 11. September „Melanie“ (Maskenball von Auber), 10. März 1839 „Armand“ (die Neuvermählten von Rastrelli), 10. Januar 1840 „Lady Macbeth“, 22. März „Ginevra“ (Guido und Ginevra von Halévy), 21. November 1841 „Adele von Foix“ (von Reissiger). Dazwischen hatte sie wiederholt in Leipzig, Hamburg, Braunschweig, Breslau gastirt. – Schon in den letzten Jahren mußten die ergebensten ihrer Bewunderer zugeben, daß ihre Stimmmittel in unaufhaltsamem Niedergang begriffen waren. Mit krankhafter Hast rang sie fortan nach neuen Lorbeeren und statt ihr Organ zu schonen, stellte sie an dasselbe immer größere Zumuthungen. Sie gastirte nun ab und zu, auch kleinere Bühnen nicht mehr verschmähend, in Altenburg, Leipzig, Dessau, Weimar, Berlin, Breslau, wol mit der Selbsterkenntniß, daß das Ende ihrer künstlerischen Laufbahn bevorstand. Nochmals flackerte ihre alte Leistungsfähigkeit hell auf in den Dresdner Aufführungen des Rienzi (20. Januar 1842), Fliegenden Holländer (2. Januar 1843) und Tannhäuser („Venus“; 19. October 1845). Daneben studirte sie die „Armide“, „Alceste“, „Iphigenia in Aulis“, am 1. April 1843 lief ihr Dresdner Contract ab; erst 1. April 1844 ward er zunächst auf zwei, dann nochmals auf drei Jahre unter sehr günstigen Bedingungen erneuert. Von April 1843 bis zum April 1844 sang sie in Berlin, Danzig (hier auch die „Fenella“ in der Stummen spielend), Königsberg –, in beiden letzten Städten mit ausschweifendem Enthusiasmus empfangen und durch ausgesuchteste Huldigungen und Ehren ausgezeichnet, – in Hannover und Weimar („Sextus“ im Titus). In Dresden hörte man sie später als „Bianca“ (Bianca und Gualtiero von Lwoff) und „Lucrezia Borgia“. März 1845 ist sie schon wieder unterwegs, in Posen, Danzig, Stettin, Görlitz, Neustrelitz, Detmold, Coburg, Gotha, Nürnberg, Augsburg auftretend. Dann zog sie es nochmals (1849) nach dem Norden, nach Königsberg, wo sie im vorhergehenden Jahre alle denkbaren Erfolge gehabt. Plötzlich schied sie, noch ehe ihr Contract abgelaufen war, mit „Iphigenia in Aulis“ am 16. Mai für immer von der Stätte größter Triumphe, Anerkennung und Nachsicht. Sie wurde am 1. Juni als k. sächs. Kammersängerin entlassen. Seit einer Reihe von Jahren schon kettete sie ein unseliges Liebesverhältniß an einen sächsischen Officier, einen Herrn v. Döring, [541] einen von Allen mißachteten ehr- und schamlosen Gesellen, an dem sie wie im Fieberrausch des Wahnsinns hing und der solche Gewalt über sie gewann, daß sie, von Leidenschaft verzehrt, jedes klaren Urtheils unfähig, ihm in blindestem Selbstbewußtsein alles opferte, Vermögen, Gesundheit, Stellung, künstlerischen Ruf und der nun, zum Scandal Deutschlands, ihr steter Begleiter und Ausbeuter auf ihren Kunstreisen war. Kaum hatte sie sich in Dresden frei gemacht, als sie, zum Entsetzen all ihrer Freunde, sich diesem verächtlichsten Menschen, der nur darauf ausging, sie auszunützen, am 29. August 1847 zu Kleinzschocher bei Leipzig antrauen ließ. Nachdem sie den von demselben entworfenen Ehecontract ohne ihn durchgelesen und geprüft zu haben unterschrieben und ihm so unvorsichtiger Weise alles, was sie besaß, ausgeliefert hatte, warf er plötzlich die Maske ab, ihr sich nun „als vollkommener Teufel“ darstellend. Noch begleitete sie derselbe nach Kopenhagen und Riga. Hier trat sie am 29. December als „Romeo“ zum letzten Male auf. Im Februar 1848 erfolgte ihr vollständiger Bruch mit dem infolge seines Benehmens gegen sie ewig an den Pranger gestellten Herrn v. Döring. Sie war vernichtet, zertreten, eine Bettlerin, an Leib und Seele todkrank. Er eilte schnellstens nach Dresden zurück, sich ihres Vermögens versichernd. Den Gnadenstoß versetzte ihr in diesem Zustande beginnender Auflösung der Tod ihrer einzigen Tochter Sophie, die am 22. Mai in Hannover in ihren Armen starb. Es dauerte lange, bis sie sich einigermaßen erholen konnte. Nun begann sie ein unstätes Wanderleben, nicht immer frei von Nahrungssorgen und vielfach von der Bewegung der Revolutionszeit weiter getrieben. Sie war wieder in Paris, dann während des Maiaufstandes, für den sie, wie Wagner, sehr unvorsichtige Sympathien äußerte, in Dresden; hierauf in Berlin und Heidelberg. In der großartigen Natur des Brienzersees fand sie endlich geistige und leibliche Genesung. Voll neuer Hoffnungen kehrte sie nach Paris zurück, verlobte sich hier mit einem edlen, hochgebildeten livländischen Edelmann, Herrn v. Bock, dem sie dann am 14. März 1850 in Gotha ihre Hand reichte. Es hatte anfangs den Anschein, als sollte diese Ehe, die ihr Ruhe, Behagen und Frieden versprach, nach denen sie lange gerungen, segensreichen Einfluß auf sie üben; aber als sie im Herbste ihren Gatten, der stets voll zarter Liebe und Sorgfalt gegen sie war, nach Trikaten, einem von ihm gepachteten Ritterschaftsgute begleitete, um an seiner Seite als tüchtige Hausfrau ein zurückgezogenes stilles Dasein zu führen, vermochte sie die Monotonie des Landlebens, den Kampf mit Trägheit, Roheit, Sklavensinn, mit Dummheit, Böswilligkeit und Unsauberkeit doch auf die Dauer nicht zu ertragen. Sommer 1851 reiste sie nach Ems, ihr Gatte nach Ostende. Unvorsichtig begaben sich beide dann nach Dresden, wo sie, ihrer Betheiligung am Maiaufstande wegen, verhaftet wurde. Mit Mühe nur erreichte es Herr v. Bock. daß man gegen Caution seiner Gemahlin gestattete, sich nach Berlin zurückzuziehen. Erst am Jahresschluß wurde durch des Königs Gnade die eingeleitete Untersuchung niedergeschlagen; aber die niederschmetterndste Folge dieser fatalen Angelegenheit war für sie doch die, daß sie, aus Rußland ausgewiesen, getrennt von ihrem Manne, fern in Deutschland leben mußte. Erst Ende 1853 ward, nachdem Herr v. Bock große Opfer deswegen gebracht, dieses Verbannungsdecret zurückgenommen. In den ersten Frühlingstagen des Jahres 1854 konnte sie wieder nach Trikaten heimkehren. Ersehnte Ruhe fand sie aber auch jetzt nicht. Aufs neue begann sie ein unstetes Wanderleben. Unwiderstehlich trieb sie es nach dem milderen Deutschland; war sie dann dort, machte sie sich Vorwürfe, ihr Heim und ihren Gatten verlassen zu haben. Da gab der Gedanke Trost, als Liedersängerin die Künstlerlaufbahn wieder betreten zu können. Am 27. Januar 1856 sang sie in einem zur hundertjährigen Geburtstagsfeier Mozart’s gegebenen Concerte in Berlin, und bald [542] darauf vermochte die jetzt ganz stimmlose Frau durch hinreißenden Vortrag der Lieder von Beethoven, Weber, Mendelssohn, Schubert und Schumann wieder außerordentliche Wirkungen hervorzurufen. Schon träumte sie davon in Dresden und Weimar aufs neue die Bühne zu betreten, dann eine große Concert- und Theatertour durch Amerika zu unternehmen, als März 1859 plötzlich ein furchtbares, seit lange schon unheimlich heranschleichendes Leiden, 2. April von den Aerzten für tödtlich erklärt, allen hochfliegenden Plänen ein Ende machte. Unsägliche Leiden, gräßliche Schmerzen hatte sie zu erdulden. Ihrem sehnenden Verlangen entsprechend, wurde sie fünf Monate vor ihrem Tode nach Coburg transportirt, wo sie in ihrer Schwester, Frau Auguste Schlönbach, eine treue, aufopfernde Pflegerin fand. In den Armen einer Freundin Augustens, die gerade in dieser Zeit ihre Dienstpflicht nach Gotha rief, ist sie nach schrecklichen Qualen endlich sanft entschlafen. Am 3. Februar wurde sie in Coburg beerdigt. Ihr Gatte aber, einem in ihrem schriftlichen Nachlasse ausgesprochenen Wunsche entsprechend, ließ einige Wochen später den Sarg wieder heben. Auf dem Trinitatiskirchhofe zu Dresden fand sie nach so vielen wechselvollen Schicksalen, nach so vielen Mühen und Kämpfen, Stürmen und Schmerzen endlich ihre letzte Ruhestätte. – W. Schröder’s Leben bestand von je aus scheinbar unvermittelten Contrasten. Frühe schon stürzte sie sich mit einer Art bacchantischer Lust in die Gesellschaft. Huldigungen, womit sie infolge eminenter Leistungen stets überschüttet wurde, wurden ihr mit der Zeit zum Bedürfniß. Es erfüllte sie mit Verzweiflung, als sie eine Abnahme derselben bemerkte und der Gedanke, die Welt könne sie und ihre künstlerische Thätigkeit einst vergessen, war für sie entsetzlich. Dann hatte sie wieder Stunden, in denen sie die hohle Nichtigkeit aller dieser momentanen, rauschenden Ovationen anekelte, in denen sie, von ungesättigtem Schaffensdrang gefoltert, in Melancholie verfiel und unendliche Sehnsucht nach Ruhe und Sammlung des Gemüths sich ihrer bemeisterte. Trotz aller Extravaganzen beseelte sie stets der Geist solidester Ordnungsliebe, der sich schon in ihren großen, festen Schriftzügen aussprach. In ihrem Haushalt war sie ein Muster von Umsicht, Sorgfalt und peinlicher Genauigkeit. Wo sie auch nur kurze Zeit weilte, bewährte sich ihr von höchstem Schönheitssinn getragenes Einrichtungstalent. Sie arbeitete mit rastlosem Fleiße und nie befriedigtem Bestreben an ihrer künstlerischen Vervollkommnung. Alle ihre Unregelmäßigkeiten vermochten ihren stets regen und ernsten Kunstgeist nicht zu beschränken. Und weil in diesem Vorwärtsringen nichts Erkünsteltes und Erheucheltes lag, sie jede Aufgabe sehr schwer und gewissenhaft nahm, fehlte ihr auch jene echte Bescheidenheit nicht, die große Künstler stets ziert. Jedem Lobe begegnete sie mit den Worten: „Ich habe ja nichts gelernt, es zu nichts gebracht!“ Was sie ergriff, nicht bloß Spiel und Gesang, glückte wunderbar. Sie besaß großes Talent zum Zeichnen, zu allen weiblichen Handarbeiten, vermochte einst nach zweistündigem Unterricht den Fuß einer Venus geschickt zu modelliren, componirte empfindungs- und stimmungsvolle Lieder u. s. w. Was sie interessirte, riß sie mit vollem Ungestüm genialer Begabung an sich. Bis in die geringsten Einzelnheiten studirte sie Musik, Handlung, Mitwirkende bis in die leisesten Stimmungsnüancen ihrer dramatischen Aufgabe. Sie lernte fechten, forschte nach Landessitten und gesellschaftlichen Formen aller Perioden, paßte bis auf Schmuck, Gürtel, Stoff und Farbe ihre Costüme stets den betreffenden Rollen aufs genaueste an. In Dresden begann sie nochmals eifrige Gesangstudien bei dem berühmten J. Miksch und nahm jede ihrer Partieen sorgfältig mit ihm durch. Von den großen Sängerinnen, die sie in Paris und London hörte, suchte sie immer zu lernen. Dennoch blieb ihre Gesangsbildung stets mangelhaft. Zur Erlernung des eigentlichen Gesang-ABC hatte man ihr keine Muße gelassen, das Versäumte [543] ließ sich nicht mehr nachholen. Nie wurde sie daher eine wirklich vollendete Sängerin. Beherrscht eine solche ihr Instrument nicht vollkommen, ehe es zur dramatischen Production verwendet wird, ist eine höchste Leistung undenkbar. Der Schwerpunkt ihrer Kunst lag daher weniger in ihrem Gesange als in ihrem dramatischen Spiel. Die Deutschen, vorzugsweise stimmbegabt und musikalisch, besitzen bekanntlich nur wenig natürliches Geschick zum Singen, selten den richtigen Gesangsinstinct, nicht die Delicatesse des Gefühls. Die Stimme Wilhelminens hatte den Umfang eines kräftigen Soprans von c’ bis c’’, der Qualität anderer deutscher Organe vielleicht nicht ganz ebenbürtig, aber von einer natürlichen Energie, die ihre Anziehungskraft nicht verfehlte. Hohe Partieen sagten ihr nie ganz zu. Frei und erfolgreich verfügte sie eigentlich nur über die Octave g’ bis g’’, später, wo ihr Organ seine Dienste zu versagen begann, nur noch über die Quinte g’ bis d’’, diese Lage behielt aber stets eine ausnehmend sympathische, zum Herzen sprechende Klangfarbe. Sonst konnte sie eines Gutturalansatzes nie los werden, auch nie das R sprechen lernen; ihre Coloratur war nicht zur Meisterschaft entwickelt. Aufsteigende Scalen sang sie gut und sicher, absteigende stockend und holperich. Der Triller gelang ihr auf der Bühne nur auf einigen ihr bequem liegenden Stufen. Es war daher ein großer Fehler von ihr und zeugt von eigenem völligem Verkennen ihrer Leistungsfähigkeit, sich seit ihrer Rückkehr aus Paris und London zu capriciren, in italienischen Bravourpartieen glänzen und mit einer Pasta, Grisi, Malibran u. a. rivalisiren zu wollen. Es fehlte ihr dazu ganz die entsprechende Vorbildung. Sehr schön und von natürlich seelenvollem Timbre, rund und anmuthig klang ihr mezza voce. In jeder Rolle hochgradig aufgeregt, gab sie auch mit jeder ein Stück ihres Lebens dahin. Obwol namentlich anfangs bewundernswürdig in innig-naiven Partieen, riß sie doch die mit ihrem Temperamente nicht ganz conforme Natur ihres Organs, ihre innerliche Bewegung und Leidenschaftlichkeit, unwiderstehlich zur Darstellung hochgradig erregter Affecte hin. Ueber eine alles überwältigende Intensität des dramatischen Ausdruckes verfügend, lernte sie doch nie ihre Stimmmittel mit ihren Aufgaben in entsprechendes Verhältniß zu setzen. In früheren Jahren vermochte sie ihre Kräfte zu potenziren, dann als diese schwanden, fiel sie in Manierirtheit, zuletzt sang sie in den leidenschaftlichsten Momenten nicht mehr, sie sprach nur noch. Fremde Kritiker, Franzosen und Engländer, darunter Berlioz und H. Chorley, durch die Aufführungen in Paris und London und die dort gebotenen außerordentlichsten Musterleistungen verwöhnt, beurtheilten sie daher auch in vernichtender Weise. Namentlich Ersterer nennt ihre Methode zu singen die unmusikalischste und gemeinste und fährt dann fort: „Ihre Stimme ist in den hohen Lagen abgenützt und wenig biegsam, jedoch glänzend und dramatisch; aber der Sängerin mangelt es an Reinheit und Geschmack; ihre Fermaten und sonstige Verzierungen sind an und für sich schon schlecht erfunden und werden von ihr ungeschickt angebracht; sie nimmt alle Töne, die sie nicht gewaltsam herausstoßen kann, stets zu tief, wie sie denn auch alle Ausrufe nie singt, sondern nur spricht und aus vollem Halse schreit.“ Rücksichtsvoller drückt sich zwar Chorley aus, im Grunde aber sagt er dasselbe. Beide hörten leider unsere Künstlerin erst in der Periode ihres Niederganges, wo manche ihrer Unarten schon auffällig hervortraten. Letzterer urtheilt: „Wilhelmine S. konnte nie eine große vollendete Sängerin werden, da sie ganz falsche Schulung genossen hatte. Allerdings war sie fähig jeden Ausdruck, den leidenschaftlichen wie zarten, zu geben, aber ihre Stimme klang rauh und zerrissen, weniger unbiegsam als incorrect. Indem sie mit Ernst und Willenskraft von allen Rollen Besitz nimmt, ist auch all ihr Bemühen nur darauf gerichtet, selbst auf Kosten aller Mitwirkenden, die Aufmerksamkeit [544] ausschließlich auf sich zu lenken. Es wäre keine Opernaufführung denkbar, erfüllte alle Betheiligten gleiches Bestreben. Als sie die Valentine in den Hugenotten (neben Tichatscheck als Raoul) sang und so großen Erfolg darin hatte, daß man eine Wiederkehr ihrer Triumphzeit erhoffte, stellte sie dieselbe wie ein Mannweib dar, keine Spur von der Tochter eines vornehmen französischen Edelmannes, von einer schüchternen, hochherzigen, zurückhaltenden jungen Frau. Man sah nur eine ungestüme, zum Zorne gereizte Megäre, für die die Stunde jungfräulicher Grazie und Zurückhaltung längst vorüber war. Eine specifisch deutsche Sängerin, versäumte sie im Verlaufe ihrer Wirksamkeit immer mehr, mit Anmuth, Geschmack und Beherrschung der Stimmmittel zu singen; die charakteristischen Eigenschaften der italienischen Schule verschmähend erreichte sie es nur, eine bedeutende Schauspielerin zu sein, die in Opernpartieen auftrat. Nie darf der dramatische Ausdruck auf Kosten der Tonschönheit erreicht, der Schwerpunkt von der Musik auf das Textwort d. h. von der Hauptsache aufs Nebensächliche verlegt werden. Die musikalische Betonung ist das Wichtigste im Operngesange, in ihr muß auch der dramatische Accent enthalten sein. Mit den Jahren übertrieb sie jede ihrer Eigenthümlichkeiten durch zu starkes Auftragen und fieberhafte Unruhe, bis zur Marter für das Publicum.“ Dennoch darf man nicht vergessen, daß bei ihrer so genialen Erscheinung, manches entschuldbar erschien, was bei anderen verurtheilt werden müßte, daß sie ihren Gesang den dramatischen Zwecken immer wunderbar dienstbar zu machen und, mit nie gekannter Schärfe des künstlerischen Blickes, alle Rollen zu durchdringen und stets den Moment, wo dieselben den Gipfel der Wirkung, den Wendepunkt des Sieges gewinnen sollten, mit unfehlbarer Sicherheit zu erspähen wußte. Die größten Erfolge suchte sie nie, wo sie von anderen erstrebt wurden, ja nicht einmal immer da, wo sie zu singen hatte; sie erreichte sie vielfach durch ihr stummes Spiel, die edle Plastik ihrer Geberden und Gesticulationen, die beredte Sprache ihrer Augen und Hände. Während einsichtsvolle Kenner längst bemerkten, daß die Einbuße ihrer Stimme sich kaum mehr verbergen ließ, bezeichnete sie dahin gehende Aeußerungen stets als Verleumdungen. Doch die wohlwollendsten Besprechungen ihrer Leistungen vermochten zuletzt nicht mehr zu vertuschen, daß es mit ihr, die so lange das Entzücken ihrer Freunde war, unaufhaltsam bergab ginge. Die erst 34jährige Frau stand leider allzubald vor der Wahl, entweder mit vollen Segeln zu schwimmen oder unterzugehen. Das rapide Sinken ihres Gestirns wurde durch das zu Viel in der Anwendung mancher Mittel, die dasselbe verbergen sollten, nur um so bemerkbarer. Daher pflegte sie, nur um Contraste zu erzielen, Lichter zu grell, Schatten zu dunkel aufzusetzen, um so zu erreichen, was sonst die milde anmuthsvolle Verschmelzung, der leichtgeführte Zügel des Maaßes selbst da gewann, wo sie mit stürmischen Schwingen glänzenden Zielen zustrebte. Immerhin aber behielten alle ihre Darstellungen stets Gipfelpunkte ihrer wunderbaren Darstellungsgabe, die das Publicum immer aufs neue verführten und fesselten. Sie hatte nicht selten Tage, wo sie mit all der Macht und dem Pathos spielte wie einst und die schwierigsten Gesangstücke mit einer Kraft bewältigte, daß man wähnen konnte, ein Wunder habe ihr Jugend und Stimme wiedergegeben. Sie blieb auch im Verfalle noch groß und bedeutend bis ans Ende. Nachhaltigen üblen und schädigenden Einfluß äußerte sie auf unser ganzes Opernwesen dadurch, daß sie das Fach der sogenannten dramatischen Sängerin schuf. Eine Primadonna der früheren Zeit mußte in jeder Richtung, im Spiel und Gesang, in der Cantilene wie in der Coloratur allen Forderungen gerecht zu werden suchen. Seither ist die italienische Schule in Mißcredit gekommen. Unsere Componisten können keine colorirte Arie mehr schreiben und schämen sich thörichter Weise, es zu thun. Unsere Operisten, [545] die specifischen Heldentenore, eine Abart der dramatischen Sängerinnen, mit eingerechnet, könnten sie auch nicht mehr singen. Alle sind nur bestrebt zu declamiren, leidenschaftlich in krassen Contrasten mit großem (?) Ton zu singen, ein Beweis dafür, daß ihnen das Bewußtsein schönen Tones, das Bedürfniß gründlicher Schulung, die Werthschätzung wirklichen Kunstgesanges verloren ging. – Zahllose Nachrufe und biographische Skizzen brachten nach Wilhelminens Tode alle Blätter, namentlich die illustrirten. Eingehende Arbeiten über sie sind: Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient von Claire v. Glümer; Leipzig 1862 (mit Porträt) und Wilhelmine Schröder-Devrient; ein Beitrag zur Geschichte des mus. Dramas von Alfr. Freih. v. Wolzogen; Leipzig 1863, welches Werk auch vorstehender Skizze zu Grunde liegt.