Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Purkinje, Johannes Evangelista“ von Rudolf Heidenhain in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 26 (1888), S. 717–731, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Purkinje,_Johann_von&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 13:24 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 26 (1888), S. 717–731 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Jan Evangelista Purkyně in der Wikipedia
Jan Evangelista Purkyně in Wikidata
GND-Nummer 118597159
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|26|717|731|Purkinje, Johannes Evangelista|Rudolf Heidenhain|ADB:Purkinje, Johann von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118597159}}    

Purkinje: Johannes Evangelista P., geb. am 17. December 1781[1] zu Libochowitz bei Leitmeritz in Böhmen, † am 18. Juli 1869[2] zu Prag. Schöpfer der mikroscopischen Anatomie und Begründer des ersten physiologischen Instituts in Deutschland.

P. verlor seinen Vater, Oekonomiebeamten auf einer fürstlich Dietrichstein’schen Herrschaft, bereits als Knabe von zehn Jahren. Seine Mutter (Rosalie geb. Safranek, Bauerntochter) gab ihn nach dem Tode des Gatten nach Nicolsburg in Mähren in ein von Piaristen geleitetes Chorknabeninstitut, – ein Schritt, der für P. dadurch von förderlicher Bedeutung wurde, daß er dort die deutsche Sprache erlernte und das Gymnasium besuchte, aber für seine Zukunft fast verhängnißvoll geworden wäre, weil er sich so sehr an die Stille klösterlichen Lebens gewöhnte, daß er sich für den geistlichen Stand bestimmte. Im Alter von 18 Jahren in den Piaristenorden eingetreten, verbrachte er drei Jahre an den Collegien zu Altwasser und zu Straßnitz in Mähren, zuletzt zu Leitomischl in Böhmen. Der geistliche Stand befriedigte jedoch seine Erwartungen nicht auf die Dauer; kurz bevor er die priesterlichen Weihen empfangen sollte, trat er aus dem Orden aus, durch die Kenntniß der Fichte’schen Schriften in andere Bahnen geleitet, um in Prag Philosophie zu studiren. In den Jahren 1810–12 fungirte er als Erzieher in dem Hause eines Baron Hildebrandt, von welchem er die Mittel zum medicinischen Studium erhielt. Im J. 1819 promovirte er mit einer Dissertation („Beiträge zur Kenntniß des Sehens in subjectiver Hinsicht“), welche ihm schnell ein bedeutendes Ansehen verschaffte; im nächsten Jahre übernahm er die Stellung eines Assistenten an der Anatomie in Prag, in welcher er bis zu seiner Berufung nach Breslau verblieb.

An der medicinischen Facultät der im J. 1811 begründeten Breslauer Universität bestand von vornherein ein eigner Lehrstuhl für Physiologie, – wol die erste selbständige Professur dieser Wissenschaft in Deutschland, damals und für lange. Denn erst im J. 1832 gab der ältere Burdach in Königsberg, welcher die Anatomie und die Physiologie gleichzeitig vertrat, das Directorat der Anatomie an Karl Ernst v. Baer ab, um fortan Physiologie allein zu lehren. Der Breslauer Physiologie Bartels, Verfasser eines physiologischen Compendiums, vertrat neben der Physiologie und allgemeinen Anatomie (die er nach Bichat las) auch die allgemeine Pathologie, welche an vielen Universitäten bis in die vierziger Jahre unseres Jahrhunderts den Professoren der Physiologie zu lesen oblag. Als Bartels im J. 1821 nach Marburg berufen wurde, schlug die Breslauer Facultät dem Minister von Altenstein Herrn Gruithuisen als Nachfolger vor; trotz der Befürwortung des damaligen Universitätscurators, Geh. [718] Oberregierungsrathes Neumann, wurde P. berufen. Er hatte durch seine Promotionsschrift das Interesse Goethe’s erregt und dessen persönliche Bekanntschaft in Weimar im J. 1822 gemacht (Goethe’s Werke, Stuttgart u. Tübingen 1830. Bd. 32). Von diesem war er an Alexander v. Humboldt empfohlen worden. Der Einfluß Humboldt’s und Rust’s, welcher Letztere P. bereits vor dessen Promotion in Prag kennen gelernt und zur Bewerbung um die Breslauer Professur veranlaßt hatte, trug über den Breslauer Vorschlag den Sieg davon. Eine von der Facultät dem Minister überreichte Eingabe, in welcher sie ihr Bedauern über Purkinje’s Berufung ausdrückte, erfuhr eine sehr entschiedene, von dem damaligen Decernenten für Universitätsangelegenheiten Johannes Schulze, concipirte Zurückweisung. Purkinje’s Ernennung durch den König erfolgte am 11. Januar 1823 „zum ordentlichen Professor der Physiologie und Pathologie“ mit einem Gehalte von 800 Thalern und 350 Thalern Umzugsentschädigung. Am 15. März 1823 wurde P. in den Senat eingeführt, um im nächsten Sommersemester seine Vorlesungen zu beginnen.

Die äußeren Verhältnisse waren seiner Thätigkeit wenig günstig. Die durch seine Berufung gekränkte Facultät erkannte erst nach und nach, was sie an ihm gewonnen, und unterstütze deshalb zunächst seine Bestrebungen auf keine Weise. Seine Einnahmen reichten für seine Bedürfnisse trotz seines anerkannt überaus bescheidenen Lebens so wenig aus, daß er sich fast jedes Semester von dem Curatorio Gehaltsvorschüsse ausbitten mußte, ein Mißstand, der während seiner ganzen Breslauer Periode fortdauerte und durch zweimalige Gehaltserhöhungen von je 100 Thalern in den Jahren 1829 u. 1833 nicht merklich verringert wurden. Trotz dieser drückenden äußeren Schwierigkeiten verfolgte P. vom Anfange seines Lehramtes an die von ihm angestrebte Reform der Physiologie, aus welcher er eine selbständige demonstrative und experimentelle Wissenschaft zu gestalten bemüht war, mit eiserner Consequenz, bis er sein Ziel, die Begründung eines besonderen Instituts für seine Wissenschaft, erreicht hatte.

Um die Zeit, als P. seine Professur antrat, lag die Physiologie in Deutschland in hohem Grade darnieder und begann eben erst, sich als naturwissenschaftliche Disciplin zu fühlen. „Nachdem die Physiologie“, so schreibt P. in einem Promemoria an den Minister von Altenstein aus dem Jahre 1836, „noch im vorigen Jahrhundert nur ein etwas geistigerer Commentar der Anatomie gewesen, im Anfange dieses Jahrhunderts durch die Naturphilosophie zu einem andern Extrem, einer beinahe überirdischen Selbständigkeit sich emporgeschwungen, tritt sie nunmehr von ihren Höhen in ihre ursprüngliche, zwar irdische und materielle, aber lebendige und organische Existenz zurück.“

Der Unterricht war überall nur ein rein theoretischer, der sich auf das Dictiren ausgearbeiteter Hefte beschränkte, eine Methode, die P. vom Beginn seiner Thätigkeit an als unzulänglich erkannte und zu ändern bestrebt war. „Ich erkannte“, heißt es in einem an R. Wagner in Göttingen im J. 1841 gerichteten Schreiben, „bald nach dem Antritte meines hiesigen Lehramtes, daß nach meiner Stellung als eigner Lehrer der Physiologie und nach dem Gefühle des eignen Berufes sich meine Amtsführung mit bloßer historischer Ueberlieferung des von Anderen Geleisteten und mit bloßen theoretischen Speculationen nicht würde genügen lassen. Ich fing deshalb schon im J. 1824 an, meine theoretischen Vorlesungen mit einem experimentellen Collegium zu begleiten. Ich begann dieses auf eignes Risico. Der Director der Anatomie, Professor Otto, räumte mir hierzu (im J. 1824/25) das damals zu gerichtlichen Sectionen und chirurgischen Uebungen bestimmte Local des alten Anatomiegebäudes ein; der damalige Prosector (später Professor der Chirurgie in Königsberg) Sehrig war mir bei seiner Vorliebe für Chirurgie sehr freundlich zur Hand, auch des Anatomiedieners Hilfe [719] war mir nicht versagt. Auf den Antrag des damaligen Herrn Curators Neumann erhielt ich meine Auslagen, die etwa in 50 Thalern bestanden, ersetzt. Der Bitte, einen besonderen Etat für experimentelle Physiologie zu errichten, wurde nicht gewillfahrtet.“ Doch erhielt P. eine lange Reihe von Jahren auf jährlich wiederholten Antrag 60–80 Thaler für die Zwecke seiner Vorlesung.

So entstand im J. 1824 zu Breslau das erste physiologische Experimentalcolleg in Deutschland, zunächst in der Weise, daß allwöchentlich eine besondere Demonstrationsstunde als Ergänzung der Vorlesung gehalten wurde, – in demselben Jahre, in welchem Liebig als außerordentlicher Professor nach Gießen berufen wurde, wo er sich, ähnlich wie P., aus Privatmitteln die Bedürfnisse für praktischen Unterricht in der Chemie beschaffte.

Trotzdem daß P. den physiologischen Unterricht auf eine neue, zukunftsreiche Basis stellte, gelang es ihm zunächst nicht, sich Anerkennung als Lehrer zu verschaffen. Nach allen vorliegenden schriftlichen Aeußerungen in den unten citirten Acten und nach dem Zeugniß noch lebender Schüler, war es seine Sache nicht, durch mündlichen Vortrag anzuregen und zu fesseln. Seine Collegia wurden nur schwach besucht und oft nicht zu Ende gehört, Klagen darüber drangen zum Ministerio, welches Professor Otto (Rescr. vom 12. April 1825) zu vertraulichem Berichte aufforderte. Die kritischen Aeußerungen Otto’s über Purkinje’s Vorlesungen lauteten überaus ungünstig. (Gutachten vom 9. Mai 1825.) P. spreche nicht fließend und deutlich, es fehle ihm oft an den deutschen Ausdrücken, die Vorträge seien zu philosophisch und abstract, die gangbaren Ansichten würden nicht genügend hervorgehoben. Otto bezweifelt, daß P. je ein guter Lehrer werde, vielleicht könne er trotzdem ein brauchbarer Docent werden, wenn er lateinisch vortrage, denn die lateinische Sprache zwinge zu präciser Ausdrucksweise, und nicht nach eignen Heften, sondern nach einem gangbaren Compendium, wozu sich etwa Lenhossek empfehle, da Rudolphi’s Lehrbuch für P. zu gelehrt sei!

Die große Härte dieser Aeußerungen mag zum Theil in einem persönlichen Streit zwischen P. und Otto begründet gewesen sein, welcher dazu führte, daß P. sein bisheriges Vorlesungslocal in der Anatomie aufgeben mußte. Indeß stand die geringe Befähigung Purkinje’s zu freiem Vortrag wol so sehr außer Zweifel, daß der Curator Neumann bei Ueberreichung jenes Otto’schen Gutachtens an den Minister den Antrag stellte, neben P. noch Professor Treviranus mit physiologischen Vorlesungen zu beauftragen. (Es handelt sich um Ludolf Christian Treviranus, welcher, der medicinischen Facultät angehörig, Professor der Botanik und Director des botanischen Gartens war, bis er 1829 nach Bonn versetzt wurde.)

Glücklicher Weise wurde dieser Schlag, welcher P. bedrohte, durch die Einsicht des damaligen Universitätsreferenten Johannes Schulze abgewandt. P. hatte an das Ministerium einen Bericht über die Verwendung der ihm für Demonstrationszwecke bewilligten 50 Thaler eingereicht. Aus demselben ersah der Minister, daß P. eine neue Bahn der physiologischen Unterweisung der Studirenden zu betreten im Begriffe sei. Ein Rescript vom 23. Juni 1826 beauftragt den Curator, P. die besondere Zufriedenheit des Ministers über seine Demonstrationen und wissenschaftlichen Forschungen auszudrücken, und spricht die Erwartung aus, daß P. sich auch in die Vorträge hineinleben werde, weshalb die Bestellung eines zweiten Physiologen, zunächst nicht erforderlich sei.

Offenbar erkannte der Minister, daß Purkinke’s Stärke in der wissenschaftlichen Forschung und in der speciellen Anleitung einzelner Schüler zu wissenschaftlichen Arbeiten bestehe, wofür seine und seiner Schüler Arbeiten bereits in jenen Jahren beredtes Zeugniß ablegten, und wünschte die Entwicklung des [720] Unterrichts nach dieser neuen Seite möglichst zu begünstigen. Aber es sollte noch lange dauern, bis sich der Weg nach dieser Richtung hin für P. ebnete.

Wie bereits erwähnt, wurde P. durch einen Streit mit Otto genöthigt, seinen Vorlesungs- und Demonstrationsraum in der Anatomie aufzugeben. Als Ersatz fand sich nur im Universitätsgebäude ein drei Stock hoch zwischen Professorenwohnungen und dem damaligen physicalischen Hörsaal gelegenes Zimmer, in welchem nun Instrumente, Thiere, Sammlungen, Abfälle neben einander untergebracht werden mußten. Daß P. den hier Wohnenden ein lästiger Nachbar ward, liegt auf der Hand. Namentlich wurden Klagen laut über üble Gerüche, welche sich aus dem physiologischen Zimmer verbreiteten. Man suchte nach Vorwänden, die Physiologie vor die Thür zu setzen; die landwirthschaftliche Modellsammlung brauche jenen Raum und dergl. mehr. Indeß hatte P. durch seine wissenschaftlichen Leistungen wie durch seine experimentellen Vorlesungen, die allmählich mehr und mehr Anklang fanden, bereits seine Stellung so sehr befestigt, daß man die Existenz der Physiologie nicht thatsächlich zu untergraben wagte. Trotz aller Ungunst der Verhältnisse gewannen seine Vorlesungsdemonstrationen so sehr an Ausdehnung, daß auf die Dauer mit jenem einzigen kleinen Raume nicht auszukommen war, und so stellte P. im Mai des Jahres 1831 zum ersten Male an den Universitätscurator Neumann den Antrag auf Begründung eines eignen physiologischen Institutes. „Die Physiologie ist heutzutage“, so heißt es in dem Schreiben, „von den müßigen Speculationen voriger Jahrzehnte glücklich zurückgekommen und hat sich den realen Wissenschaften zugewendet. Sie fordert von diesen nicht nur literärische Hülfe, sie erwartet nicht blos Resultate von diesen, sondern sie will thätig in sie eingreifen. Der Physiologe muß als Physiologe Physik, Chemie und Organik treiben können, wenn in diesen Theilen der Naturwissenschaften physiologische Resultate gewonnen werden sollen. Wenn die Physiologie, obgleich selbständig wie jede Wissenschaft, eine gewisse reale Existenz von der mitunter sehr precären Liberalität anderer Institute, die das Herkommen schon seit langer Zeit befestigt hat, erbetteln soll, kann ohnmöglich etwas gedeihen, und es muß endlich auch der frischeste Muth sinken. Wenn es zweckmäßig ist, die Physiologie als eigenes Fach neben Anatomie, Zoologie u. A. auf der Universität geltend zu machen, so ist’s ebenso consequent und einer weisen wissenschaftlichen Administration würdig, ihr eine reale Existenz und Organe thätigen Producirens zur Ausstattung zu geben.“

Mit dieser einleuchtenden Motivirung beantrage P. bei dem Universitätscuratorio 1) ein eignes Local; 2) einen eigenen Diener und einen Assistenten; 3) einen angemessenen Jahresetat.

Dieser Antrag ist niemals an das Ministerium gelangt. Der Curator wies denselben ohne Weiteres in entschiedener Weise ab. Selbst die mit Instituten so reich ausgestattete Universität Bonn, ja, keine einzige deutsche Universität, nicht einmal die Berliner, habe ein solches Institut, welches mit einer besondern physiologischen Präparatensammlung, mit besonderen anatomischen und chirurgischen Instrumenten, mit chemischen Vorrichtungen und mit besonderen Aufwärtern und Assistenten und dergl. versehen wäre. P. möge deshalb den bescheideneren Antrag stellen, wenn ein neues Anatomiegebäude errichtet würde, ihm in dem bisherigen zwei Zimmer für Vorlesungen und Vivisection zu geben. Freilich wäre das schon ein Fortschritt gewesen! Allein als das neue Anatomiegebäude (1833/34) errichtet war, wußte der Anatom Otto es einzurichten, daß ihm das alte als Amtswohnung überwiesen wurde, und die Physiologie ging leer aus.

Inzwischen war der Umfang der Lehrthätigkeit Purkinje’s mit Bezug auf die Unterweisung Studirender zu eigenen Arbeiten so sehr gestiegen, daß das [721] Zimmer in Universitätsgebäude nicht mehr ausreichte, und so entschloß er sich, mit den größten persönlichen Opfern, der Physiologie selbständig eine Stätte zu bereiten. „Es hatte mich“, so schreibt er an R. Wagner, „nach dem Laufe menschlicher Dinge vielfaches Hausunglück durch Sterbefälle getroffen; mein Quartier wurde halb leer, und es zog die Physiologie in die leeren Räume ein. Ich benutzte das unbequeme Universitätslocal nur noch zur Aufbewahrung von Geräthschaften und anatomischen Gegenständen und hielt die experimentellen Vorträge im eignen Logis, da ich es nun ungescheut thun konnte.“

Nicht ohne das Gefühl der Ehrfurcht kann man auf den Mann zurückblicken, der, selbst in fortwährender financieller Bedrängniß, der wissenschaftlichen Idee, welche sein ganzes Leben durchdringt, so große Opfer zu bringen nicht zögerte, die er nicht bloß sich persönlich, sondern auch seiner Familie auferlegte. Denn als einige Jahre später, wie wir sehen werden, ein neuer Universitätscurator bei dem Minister die Begründung eines physiologischen Institutes beantragte, schilderte derselbe dem Minister den kläglichen Zustand der Purkinje’schen Wohnung in den beweglichsten Worten: kein einziges Zimmer sei frei von Gläsern, Geräthschaften, Präparaten gewesen, und der Gesundheitszustand der Purkinje’schen Familie ernstlich bedroht.

So sah die Stätte aus, an welcher die Wiege der deutschen Histologie durch P. gezimmert werden sollte. Denn gerade hier in seiner Wohnung sind alle jene bahnbrechenden Arbeiten entstanden, die, noch vor Schwann, den Grund zu jenem neuen Gebiete des Wissens legten.

Bereits am 7. September 1830 hatte P. an den Curator Neumann den Antrag gestellt, die Anschaffung eines großen Plössl’schen Mikroscopes für 200 Thaler bei dem Ministerio zu befürworten. Der Herr Curator trug Bedenken, für ein einziges Institut allein die Anschaffung eines solchen Instrumentes zu empfehlen, und beauftragte deshalb P., er möge sich mit Steffens (Physiker), Jungnitz (Astronom), Otto (Anatom), Nees von Esenbeck (Botaniker), zu einem gemeinschaftlichen Antrage verbinden. Das Instrument sollte dann an einem allen diesen Herren zugänglichen Orte zu gemeinsamer Benutzung aufgestellt werden. Indeß gelangte im Juni 1832 P. doch in den ausschließlichen Besitz des ersehnten Mikroscopes. Der Ausdruck der Freude und Befriedigung über dies Ereigniß findet sich in dem schon mehrfach citirten Schreiben an R. Wagner mit folgenden Worten:

„Mit der Acquisition des Plößl’schen Mikroscopes im Sommer 1832 begann für meine physiologische Wirksamkeit eine neue Epoche, Jeder, der das Mikroscop ernstlich in Gebrauch gezogen, weiß, daß unser Auge dabei eine Potenzirung erlangt, die alle Grenzen des gewöhnlichen Sehens durchbricht und allenthalben neue Welten entdecken läßt. Mit wahrem Heißhunger durchforschte ich nun in kürzester Zeit alle Gebiete der Pflanzen- und Thierhistologie und erlangte die Ueberzeugung der Unerschöpflichkeit des neu gewonnenen Stoffes. Fast jeder Tag zählte neue Entdeckungen, und ich fühlte bald das Bedürfniß, mein gesteigertes Auge auch Andern zu Theil werden zu lassen und mich an ihrer Sehfreude zu erfreuen. Auch wollte ich die gegebene Gelegenheit benützen, öffentlich und durch lebendiges Beispiel zu zeigen, in welcher Art ein physiologisches Institut durch Gewinnung neuer Bearbeiter der Wissenschaft wirksam und gemeinnützig werden kann. So entstand eine Reihe physiologischer Dissertationen, die an demselben Instrumente, meist im eignen Hause, von Doctoranden der Medicin gearbeitet wurden und wodurch namentlich die Kenntniß der Elementartheile des Organismus vielfach gefördert wurde. Ich fand selbst Anregung durch die jungen Kräfte und es gelang mir so mancher glückliche Fund, namentlich als ich mit einem so exquisiten Talente, als das Valentin’s, mich verbündete.“

[722] Während P. trotz aller äußern Ungunst in vollster Schaffensfreudigkeit der Wissenschaft neue Bahnen wies, trat ein Ereigniß ein, welches seinen Bestrebungen auf Errichtung eines besonderen physiologischen Institutes höchst förderlich werden sollte. Das Universitätscuratorium ging an den Geh. Oberregierungsrath Heinke über, welcher in weit höherem Maße als sein Vorgänger, Purkinje’s wissenschaftliche Leistungen zu würdigen wußte. Bald nach seinem Amtsantritte stellte er bei dem Minister den Antrag (2. Febr. 1836), „dem bescheidenen, überall zurückgedrängten P.“ eine feste jährliche Summe von 200 Thalern für seine Demonstrationen (statt der bisher alljährlich neu beantragten Summe von 60–80 Thalern) zu bewilligen. Als durch Rescript vom 6. April 1836 der Minister von Altenstein die Gewährung diese Antrages in Aussicht stellte, belebten sich Purkinje’s Hoffnungen in solchem Grade, daß er zum zweiten Male ein ausführliches Promemoria über die Begründung eines physiologischen Institutes ausarbeitete, welches der Curator unter dem 27. Juni 1836 mit warmer Befürwortung nach Berlin sandte.

Diese 20 Folioarbeiten umfassende Denkschrift entwickelte die Gründe für die Errichtung eines physiologischen Institutes und das Programm für seine Thätigkeit in ausführlichster Weise. Natürlich verbietet es der Raum an dieser Stelle, auch nur einen ausführlichen Auszug aus jenem hochinteressanten Actenstück zu geben. Aber um den Geist, in welchem P. die Aufgabe der Physiologie erfaßte, hinreichend zu charakterisiren, mögen die Hauptgesichtspunkte, welche er dem Minister vorlegte, hervorgehoben werden.

Bereits kurze Zeit nach Antritt seines Lehramtes, seit dem Jahre 1827, hatte P. sich ein eignes System seiner Vorlesungen zurechtgelegt, welches er bis an sein Ende festgehalten zu haben scheint. Die Lehre von den Functionen wurde als eine vorläufige Beschreibung und Begründung der Lebensphänomene in die allgemeine Physiologie aufgenommen. Darauf folgten in der speciellen Physiologie: 1) die physiologische Morphologie (Embryologie, Histologie); 2) physiologische Physik; 3) physiologische Chemie; 4) physiologische Dynamik (umfaßt nach Purkinje’s Ausdruck erstens die allgemeinen physischen dynamischen Agentien, insofern sie theils im thierischen Körper von selbst sich entwickeln, wie Wärme und Electricität, theils auf die Grundform des Lebens und ihre abgeleiteten Functionen eigenthümlich einwirken); zweitens auch die allgemeinen Gesetze der Nerventhätigkeit; 5) physiologische Psychologie. (Psychologie des thierischen Lebens, des menschlichen Lebens, psychologische Anthropologie.)

Alle diese physiologischen Disciplinen, so entwickelt P. dem Ministerio in breitester Weise, erfordern reichliche Hilfsmittel zur Untersuchung. Aus den für das Ministerium zur Informirung über das Wesen physiologischer Demonstrationen und Experimente gewählten Beispielen geht hervor, daß P. für seine Vorlesungen eine für die damalige Zeit sehr erhebliche Zahl von Demonstrationen für nothwendig hielt. Nicht blos mikroscopische auf dem Gebiete der Entwicklungsgeschichte und Histologie, wie man es nach den damals unter seiner Leitung herausgegebenen Arbeiten vermuthen sollte. Er machte z. B. die wesentlichsten Momente des Blutumlaufes durch einen künstlichen hydraulischen Apparat anschaulich, zeigte am lebenden Thiere die Höhe des Blutdrucks mittelst der Hales’schen Röhre, ließ das Herz mittelst des Sthetoscopes auscultiren, demonstrirte den Mechanismus der Athmung an Modellen, zeigte Reizversuche an Muskeln und Nerven u. s. f. Viele seiner originellen Ideen sind nie in die Oeffentlichkeit gelangt; der Verfasser dieser Biographie hat z. B. im Breslauer Institute ein Spirometer einfachster Art gefunden, welches P. lange vor Hutchinson zur Messung des Athmungsvolumens construirt hat.

[723] Auf Grund dieser ausführlichen Darlegungen verlangte nun P. ein Institut mit folgender, nach heutigen Begriffen sehr bescheidener, Einrichtung:

1) Ein amphitheatralisch gebautes Auditorium, hinreichend groß, damit in demselben noch Raum für Aufstellung von Präparaten, Instrumenten, Modellen übrig bleibe; 2) ein großes, lichtes Zimmer, wenigstens zwei Fenster desselben nach der Südseite. An den Fenstern sollte mikroscopirt werden, der Mittelraum könne für physikalische und dynamische Untersuchungen bestimmt bleiben; 3) ein chemisches Laboratorium; 4) ein Zimmer für den Professor; 5) ein Zimmer für einen besonderen Gehilfen bezw. Aufseher; 6) einen Hofraum mit Stallungen für Thiere.

Die Purkinje’sche Denkschrift erfuhr sehr bald seitens des Ministerii eine zustimmende Antwort. Bevor aber ein Bauplatz ermittelt, die Genehmigung des Königs zur Begründung des Institutes und zur Flüssigmachung der nothwendigen Geldmittel (3800 Thaler) eingeholt und der Bau vollendet war, vergingen noch mehrere Jahre. Erst am 8. November 1839 wurde an P. das Haus übergeben.

Aber welch ein Haus! Auf dem mehrere Morgen großen Grundstücke der Anatomie hatte man P. den denkbar ungünstigsten Platz ausgesucht, weil der frei gelegene, zur Amtswohnung des Directors der Anatomie gehörige Garten intact gehalten werden sollte. Auf diesem Grundstücke wurde ein kleines dunkles Gebäude aufgeführt, das heute nur noch als – akademisches Carcer zu dienen gewürdigt wird. Als im J. 1854 Reichert die Professur der Physiologie in Breslau übernahm, schilderte er in einem Promemoria an den Minister v. Raumer das Institutsgebäude in folgenden Worten: „Das ganze Local und die einzelnen Räumlichkeiten in demselben erweisen sich selbst bei sehr mäßigen Ansprüchen als viel zu eng und unbequem. Eine Räumlichkeit, in welcher Vivisectionen gemacht und größere Experimente vor den Zuhörern angestellt werden könnten, fehlt gänzlich. Besonders störend ist die große Dunkelheit. Das Gebäude liegt mit der Hauptfront nach Norden und ist von hohen Kirchen und andern Häusern umgeben. Monate lang fehlt die Sonne gänzlich, und wenn sie erscheint, so währt sie nur eine kurze Zeit des Tages. Selbst das gewöhnliche Licht verdankt das Institut mehr dem Reflex von den dunklen hohen Mauern der Umgebung, als dem freien Himmel. Für feinere physiologische Arbeiten, für welche eine gute Beleuchtung so unerläßlich ist, ist nicht ein geeigneter Raum, nicht ein einziges geeignetes Fenster im ganzen Gebäude nachzuweisen. Zugleich liegt die Anstalt so unmittelbar an einer belebten, engen Straße, daß jede Erschütterung derselben bei feineren Arbeiten störend empfunden wird.“

Daß P. sich mit einem derartigen Bau zufrieden erklärte, kann seinen Grund nur darin gehabt haben, daß es ihm nach 17jährigem vergeblichem Streben wichtig schien, endlich einmal einen Anfang mit einem selbständigen Institute zu machen. Sehr enttäuscht wurde er aber durch die Dotation der jungen Anstalt. Für die erste Einrichtung zwar wurden ihm die von ihm beantragen 900 Thaler bewilligt. Aber als jährlicher Etat hatte er für Personalien 600 Thaler gefordert (für einen Assistenten, einen Diener und einen Zeichner), für sachliche Ausgaben 240 Thaler. Statt dessen wurden ihm insgesammt nur 300 Thaler bewilligt, ein Assistent zunächst versagt. Indeß erlangte er bald nicht blos die Assistentenbesoldung, sondern auch ab und zu außerordentliche Zuschüsse für sachliche Ausgaben, so daß die Thätigkeit in der neuen Anstalt ohne wesentliche Schwierigkeit aufgenommen werden konnte.

So stand denn P. am Ziele eines langen, mühevollen Strebens. Und nun ist es im höchsten Maße überraschend, daß nach Erreichung des heiß ersehnten und erkämpften Institutes seine wissenschaftliche Productivität plötzlich [724] sinkt. Die Zahl wie der Gehalt der aus dem Institut hervorgegangenen Arbeiten steht in keinem Verhältniß mehr zu den Leistungen des vorausgehenden Jahrzehnts. P. fühlte diesen Niedergang selbst. In einem Jahresberichte von 39 Seiten (vom 30. December 1844) an den Minister Eichhorn heißt es: „Es war eine Periode zwischen den Jahren 1830 und 1840, vor der eigentlichen Errichtung des physiologischen Institutes, wo eine Art physiologischer Schule hier in Breslau zu existiren schien. Die damalige Richtung der Arbeiten hatte sich der Histologie und der Morphologie zugewendet, vielleicht aus dem Grunde, weil diese Gegenstände der wenigsten Mittel und Inanspruchnahme anderer Institute erfordern. Seitdem mir die Errichtung eines eignen physiologischen Institutes nachgegeben worden, hat sich das Quantum der mir zu Gebote stehenden Geistes- und Gemüthskraft großentheils an der Materialität der Einrichtung und Herstellung desselben erschöpft. Dennoch unternahm ich jedes Jahr irgend eine selbständige Untersuchung, deren Resultate in den Jahrbüchern der schlesischen Gesellschaft und auch in einigen medicinischen Dissertationen mitgetheilt worden sind. Eine große Menge fruchtbarer Untersuchungen und auch die weitere Ausführung früherer erwarten ihre Erledigung, sobald die hierzu nöthige Muße und Ruhe gekommen sein wird.“

Aber diese Muße und Ruhe kann nicht mehr, weder in Breslau, noch später in Prag, wohin P. im J. 1850 berufen wurde. In Breslau beschäftigte ihn im Institute wesentlich die Herstellung von Sammlungen und von Unterrichtshilfsmitteln. Viele Mühe wurde auf die Zubereitung mikroscopischer Dauerpräparate verwandt, ein Thätigkeitsgebiet, auf welchem noch gar keine Erfahrungen vorlagen, so daß erst neue Bahn gebrochen werden mußte. Die Herstellung feiner Schnitte geschah zum Beispiel mittelst eines von dem Institutsassistenten Dr. Oschatz[WS 1] construirten mechanischen Apparates, welcher den Namen „Mikrotom“ erhielt. Für feuchte Gewebe wurden die verschiedensten Einschlußflüssigkeiten durchprobirt, Knochen und Zahnschliffe in Canadabalsam oder Copallack aufbewahrt. Zur objectiven Darstellung mikroscopischer Bilder auf weißem Grunde wurde Drummond’sches Kalklicht benutzt, ja es wurden sogar mikroscopische Bilder auf Daguerre’schen Platten fixirt. Wer von den Tausenden, welche bei der Berliner Naturforscherversammlung im J. 1886 die Ausstellung der Mikrotome, die Projection mikroscopischer Bilder mittelst elektrischen Lichtes durch Stricker, die zahlreichen Mikrophotographien gesehen, hat wohl gewußt, daß die Anfänge dieser jetzt so modernen wissenschaftlichen Hülfsmittel in dem Purkinje’schen Institute zu suchen sind und um vier Decennien zurückdatiren! Wunderbar genug, daß P. alle diese originellen Methoden nicht weiter ausbildete – ein Beweis, daß diese hochbegabte Natur mehr Anregung zu geben, als neue Gedanken fruchtbar zu verfolgen angelegt war. – Wie die Mikroscopie, so suchte er auch die experimentelle Physiologie mit Unterrichtshülfsmitteln auszustatten. So adaptirte er die stroboscopische Scheibe Stampfer’s unter dem Namen „Pharolyt“ für Unterrichtszwecke zur Demonstration von Bewegungen z. B. des Herzens, so construirte er Kreislaufsmodelle u. s. f. Neben diesen praktischen Beschäftigungen war es aber ein ganz anderes Thätigkeitsfeld, welchem P. in jener Zeit sich wesentlich widmete: er begann eine eifrige Wirksamkeit in nationalczechischem Sinne, die ihn später in Prag fast ganz absorbiren sollte. Bevor wir ihm jedoch dorthin folgen, ist es an der Zeit, seinen bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten eingehende Aufmerksamkeit zu widmen.

P. gehörte um jene Zeit zu den fruchtbarsten und gedankenreichsten Forschern. Neue und originelle Ideen beschäftigten ihn fortwährend, oft in so raschem Wechsel, daß er zu eingehender Durcharbeitung des Gedachten und Gesehenen nicht kam. Zum Theil liegt hierin der Grund, daß seine Arbeiten viel weniger Eindruck [725] machten und sich Einfluß verschafften, als sie es ihrem Inhalte nach verdienten. Eine andere Ursache dafür, daß Purkinje’s Entdeckungen oft nicht hinreichend beachtet wurden, ist in der anspruchslosen Weise ihrer Publication zu finden: Die Sitzungsberichte der Schles. Gesellschaft für vaterländische Cultur, lateinische Doctordissertationen, Tageblätter von Naturforscherversammlungen, – das sind die Stätten der meisten Veröffentlichungen. In Müller’s Archiv, damals der einzigen anatomisch-physiologischen Zeitschrift, ist nur wenig aus dem großen Schatze von Kenntnissen und Erfahrungen der wissenschaftliche Welt vorgelegt. P. dachte und grübelte ununterbrochen; in der geistigen Arbeit lag sein wesentliches Interesse; Ruhm für seine Untersuchungen einzuernten, dieser Gedanke hat ihn, wenigstens früherhin, niemals beschäftigt. Erst in späteren Jahren suchte er auf die Früchte seines Fleißes in weiteren Kreisen aufmerksam zu machen, indem er Verzeichnisse seiner Schriften theils selbst, theils durch Assistenten drucken ließ. –

Im Großen und Ganzen zerfallen seine Arbeiten in zwei Hauptgruppen: die eine umfaßt die Untersuchungen auf dem Gebiete der subjectiven Empfindungen, die andere die Forschungen auf dem Gebiete der Morphologie. Die erstere Gruppe füllt, wenn auch nicht ganz ausschließlich, so doch hauptsächlich die Periode von 1819–1832 aus, d. h. bis zu dem Augenblicke, wo er in den Besitz des ersten Plössl’schen Mikroscopes kam. – In den Arbeiten, welche die subjectiven Sinnesphänomene behandeln, suchte P., begünstigt durch eine eminente, durch lange Uebung erworbene Fähigkeit zu ihrer Auffassung, die objectiven Ursachen jener Erscheinungen aufzudecken. Am berühmtesten sind seine „Beiträge zur Kenntniß des Sehens in subjectiver Hinsicht“ (Bd. I, Prag 1819. Bd. II, Prag 1825) geworden, zu denen er die Anregung ohne Zweifel durch Goethe’s Farbenlehre erhalten. P. beschreibt eine Fülle bis dahin unbekannter Gesichtserscheinungen, oft mit einer Präcision und Schärfe, daß bis auf den heutigen Tag nichts Wesentliches hinzugekommen ist. Den Reichthum des in jenen Schriften mitgetheilten thatsächlichen Materials auch nur annährend wiederzugeben, verbietet der hier zugemessene Raum. Die Erscheinungen, welche im dunkeln Sehfelde, welche bei mechanischen Einwirkungen auf das Auge, welche durch elektrische Ströme hervorgerufen werden, sind mit vollster Treue beschrieben (I, 50, II, 31); das reizende, von ihm entdeckte Phänomen der Aderfigur wird nach drei Methoden dargestellt (I, 89; II, 117) u. s. f. Zum vollen Verständniß vieler von ihm beobachteten Erscheinungen fehlte P. der Satz von den specifischen Energieen der Sinnesnerven, welchen kurze Zeit darauf Joh. Müller aufstellte. So begreift es sich, daß er die bei anhaltendem Drucke auf das Auge entstehende Lichtfigur aus Oscillationen im Innern des Auges erklärt, durch welche Licht entwickelt wird, oder daß die bei plötzlicher Augenbewegung auftretende Lichterscheinung von der Zerrung des Sehnerven in der Weise abgeleitet wird, daß letztere in der Substanz jenes Nerven elektrische Gegensätze und mit ihnen Lichtentwicklungen erregen solle (I, 79), – oder daß er die Blendungsbilder für etwas Analoges, wie die Phosphorescenz, hält (I, 92). Viele der in den beiden Bändchen enthaltenen Mittheilungen sind skizzenhafter Natur. Gründlich durchgearbeitet ist die vorzügliche Abhandlung über das indirecte Sehen (II, 1), in welcher die Größe des Gesichtsfeldes gemessen, die Grenze des deutlichen Sehens bestimmt, die Ermüdbarkeit der seitlichen Netzhautregionen, ihre Unfähigkeit zu deutlicher Formauffassung und zu richtiger Erkennung der Farben untersucht, und endlich die Bedeutung des indirecten Sehens für die Auffassung der Bewegung erörtert wird. Nicht minder interessant und noch heute lesenswerth ist die Abhandlung über wahre und scheinbare Bewegung in der Gesichtssphäre (II, 50). – In das Gebiet der subjectiven Untersuchungen gehören weiterhin [726] seine Beobachtungen über den Schwindel (Beiträge zur Kenntniß des Schwindels heautognostischen Daten. Medicinische Jahrbücher des k. k. österreichischen Staates. Herausgegeben von den Directoren und Professoren des Studiums der Heilkunde an der Universität zu Wien, VI. Bd., II. Stück, S. 79, 1820. – Ueber die physiologische Bedeutung des Schwindels und die Beziehung desselben zu Flourens’ neuesten Versuchen über die Hirnfunction. Rust’s Magazin, Bd. 23, 1825. H. C. G. Krauß, De cerebri laesi ad motum voluntarium relatione, certaque vertiginis directione ex certis cerebri regionibus laesis pendente. Vratislaviae 1824). In diesen Arbeiten beschreibt P. meisterhaft die Erscheinungen des Schwindels, namentlich in optischer Beziehung, bei Drehung um die Körperaxe und verschiedener Haltung des Kopfes (senkrecht, nach vorn oder zur Seite geneigt u. s. f.). Er sucht die Ursache der Schwindelempfindung in Verschiebungen, Dehnungen, Zerrungen der Hirnmasse bei der gewaltsamen Rotation des Kopfes. Die Zwangsbewegungen, welche Magendie und Flourens bei gewissen Hirnverletzungen an Thieren beobachtet haben, und die in der Dissertation von Krauß nach Verletzung des kleinen Gehirns, der Vierhügel, des pons studirt werden, sollen von Schwindelempfindungen herrühren, welche die Thiere veranlassen, durch Gegenbewegungen das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen. Wenn auch die theoretischen Vorstellungen über die Ursache der Schwindelempfindung nach den neueren Untersuchungen von Mach (über die Bewegungsempfindungen, Prag 1883) kaum noch haltbar sein dürften, so verdienen jene Arbeiten Purkinje’s doch auch heute noch die vollste Aufmerksamkeit Aller, welche auf diesem interessanten Gebiete eigene Untersuchungen anstellen wollen.

Während die bisher besprochenen Arbeiten Purkinje’s mehr oder weniger Beachtung gefunden haben, ist seine akademische Habilitationsschrift („Commentatio de examine physiologico organi visus et systematis cutanei.“ Vratislaviae 1823) fast vollständig vergessen worden, obschon in ihr eine Fülle wichtiger Beobachtungen enthalten ist. P. will an dem Beispiele des Auges und der Haut zeigen, wie der Arzt die einzelnen Organe des Körpers untersuchen müsse, um über ihr normales oder abnormes Verhalten ein ausreichend sicheres Urtheil zu gewinnen. Die Untersuchung des Auges erstreckt sich auf alle Theile, von der Conjunctiva bis zur Netzhaut. Aber es tritt in dieser Arbeit recht hervor, daß P. seiner ganzen Natur nach mehr dazu geschaffen war, Gedanken anzuregen und fein zu beobachten, als seine Ideen und Beobachtungen durchzuführen. So ist es gekommen, daß die wichtigsten Thatsachen, die er in diesem Schriftchen beschrieb, nach Jahrzehnten von neuem entdeckt werden mußten. Das gilt vor allem von den Reflexbildchen, welche von der Hornhaut, der vorderen und der hinteren Linsenfläche entworfen werden, und in den Fig. 1–5 abgebildet sind. Erst 14 Jahre später hat der Pariser Augenarzt Sanson („Leçons sur les maladies des yeux, publiées par Bardinot et Pigné.“ Paris 1837) dieselben wieder aufgefunden. Aber P. hat auch den Vorschlag gemacht, das Reflexbildchen der Cornea zu benutzen, um ihre Krümmung zu messen. Man solle vor dem Auge in passender Entfernung eine Lichtlinie von genau bestimmter Länge aufstellen und die Größe ihres Reflexbildes mittelst eines horizontal gestellten Mikroscopes mikrometrisch bestimmen: je kleiner das Reflexbild, desto kürzer der Radius des Kugelsegmentes, welches die vordere Hornhautfläche bildet. Um aber aus der Länge des Reflexbildchens den Kugelradius zu bestimmen, solle man analoge Versuche an Reihen gläserner Kugeln von bekanntem Radius anstellen. Offenbar liegt hier der Grundgedanke der heutigen Ophthalmometrie, den erst nach 17 Jahren Kohlrausch selbständig wieder aufnahm (Oken’s Isis 1840). – Weiter ist P. in seiner Habilitationsschrift der erste Entdecker auch des Augenleuchtens beim Menschen. Daß Thieraugen (Katzen, [727] Hunde) unter Umständen leuchten, war lange bekannt und Gegenstand des Streites: Die Einen glaubten an eine Lichtentwicklung im Auge, die Andern (z. B. Rudolphi) erklärten das aus dem Augenhintergrunde zurückstrahlende Licht für Reflex. P. (S. 29) beobachtete, mit einer Concavbrille bewaffnet, das Leuchten an den Augen eines Hündchens, hinter welchem in einiger Entfernung ein Licht aufgestellt war. Er stellte fest, daß die Augen nur leuchteten, wenn er in bestimmter Richtung in dieselben hineinsah und erkannte, daß die Quelle des Leuchtens in dem Kerzenlicht gegeben sei, welches von der concaven vorderen Seite seiner Brille in das Auge reflectirt und von dort nochmals zurückgeworfen wurde. „Eodem statim in hominibus experimento repetito idem phaenomenon oblatum est, pupilla namque integra laeto aurantio colore lucebat“. P. hatte also das Beleuchtungsprincip des Helmholtz’schen Augenspiegels entdeckt. Er empfahl seine Methode für diagnostische Zwecke, verfolgte dieselbe aber nicht weiter. So mußten nach 24 Jahren Ernst Brücke und E. v. Erlach das Augenleuchten beim Menschen nochmals entdecken (Müller’s Archiv 1847, S. 225) und dadurch die große Helmholtz’sche Erfindung des Augenspiegels vorbereiten.

Von geringerer Bedeutung, als die bisher besprochenen Arbeiten, ist ein Aufsatz über Tartini’s dritten Ton (Kastner’s Archiv 1826, S. 39), den er zwar von den Schwebungen (Schlägen) ableitet, aber doch für ein subjectives Phänomen erklärt, welches im Gehörorgane selbst seinen Ursprung nehme. –

Reich an Gedanken und Thatsachen ist also die erste Reihe seiner Arbeiten, welche auf dem Gebiete der Sinnesorgane, namentlich des Gesichtssinnes, liegen; aber noch viel reicher und fruchtbringender sind seine morphologischen Untersuchungen geworden. Sie begannen im J. 1825 mit den berühmten, in einer Gratulationsschrift der Breslauer Facultät zum 50jährigen Jubiläum Blumenbach’s niedergelegten: „Symbolae ad ovi avium historiam ante incubationem“. P. beschreibt zunächst das Eierstocks-Ei des Huhnes und entdeckt das Keimbläschen, zwei Jahre bevor K. E. v. Baer die bisherige Irrlehre, welche die Graaf’schen Follikel für die Eier der Säugethiere erklärte, durch Auffindung des wirklichen Säugethier-Eies zerstörte. An die Untersuchung der vesicula germinativa in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien während der Reifung des Eies schließt sich sodann eine Schilderung des musculösen Mechanismus, durch welchen das Ei in den Eileiter übergeführt wird und der Umhülllungen, welche das Ei beim Durchgange durch den Oviduct erhält.

Demnächst wandte P. sich der Phytotomie zu: seine Rudolphi gewidmete Abhandlung: „De cellulis antherarum fibrosis nec non de granorum pollinarium formis.“ Vratislaviae 1830, welche durch 18 Tafeln illustrirt ist, wurde von der Pariser Akademie mit einem Preise belohnt. Beide Untersuchungen sind noch mit Hülfe des einfachen Mikroscopes geführt. Im J. 1832 kam P., wie oben mitgetheilt, in den Besitz eines großen Plössl’schen Mikroscopes, und von dem Augenblicke an begann eine Reihe bahnbrechender Untersuchungen, welche als die ersten systematisch durchgeführten mikroscopischen Arbeiten sich über fast alle Gewebe des Körpers erstreckten und die Grundlage für die heutige Histologie geworden sind. Entdeckung häufte sich auf Entdeckung, die elementarste Technik der mikroscopischen Untersuchung brach sich mühsam, aber allmählich doch mehr und mehr Bahn, Es ist unthunlich, an dieser Stelle die Einzelheiten aller jener Arbeiten zu geben, welche die durch P. begründete Breslauer histologische Schule lieferte. Es muß genügen, eine Anzahl der glänzendsten Befunde kurz hervorzuheben. So wurden bekannt gemacht: Die spiraligen Ausführungsgänge der Schweißdrüsen (Alph. Wendt, „De epidermide humana“, 1833); die Grundlamellen und Speciallamellen der Knochen, sowie die Knochenkörperchen, angeblich die Träger der Kalksalze (Carolus Deutsch, „De penitiori ossium [728] structura“, 1834); die knöcherne Wurzelrinde der Zähne, die zwar bereits Leuwenhoek bekannten, aber wieder in Vergessenheit gerathen Röhrchen des Zahnbeins und die Schmelzprismen mit ihrer Querstreifung (M. Fränkel, „De penitiori ossium structura observationes“, 1835); bezüglich der Entwicklung der Zähne die Entdeckung des Schmelzorganes mit seiner aus sternförmig verzweigten Zellen bestehenden Pulpa, der aus senkrecht auf der Oberfläche des Dentinkeims stehenden Fasern (Zellen) zusammengesetzten Schmelzmembrane, welche die Schmelzprismen nach Art einer Drüse secerniren“ u. s. f. (Raschkow, „Meletemata circa mammalium dentium evolutionem“, 1835); die erste vollständige Beschreibung der menschlichen Knorpel (M. Meckauer, „De penitiori cartilaginum structura symbolae“, 1836); die mikroscopische Analyse der Gefäßwandungen, welche aus Bindegewebsfasern, elastischen Fasern und eigenthümlichen ‚fibrae molles’, wahrscheinlich musculöser Natur, bestehen (Räuschel, „De arteriarum et venarum structura“, 1836).

Inzwischen hatte P. in Verbindung mit Valentin die bis dahin nur bei niederen Thieren bekannte Flimmerbewegung auch bei höhern Thieren, zuerst an dem Eileiter des Kaninchens, als weitverbreitet nachgewiesen und in mustergültiger Weise nach allen Richtungen hin untersucht. P. und Valentin stellten fest, daß sie immer und überall ausschließlich durch schwingende Härchen zu Stande komme, untersuchten die Form, Richtung und Geschwindigkeit der Schwingung, den Einfluß physikalischer und chemischer Agentien auf dieselbe, und gelangten so zu einer Reihe allgemeiner Sätze für diesen Vorgang, welche noch heute unerschüttert dastehen und darin gipfeln, daß die Flimmerbewegung nur von örtlichen Bedingungen abhängig sei, „rem sua ipsa natura fundatam ac nisam a nulla alia vi vel systemate vel functione generali dependentem, suis locis fixam suisque tantum locis minimis adeundam atque ingrediendam“ (Entdeckung continuirlicher, durch Wimperhaare erzeugter Flimmerbewegungen als eines allgemeine Phänomens in der Classe der Amphibien, der Vögel und der Säugethiere. Müller’s Archiv 1834. – De phaenomeno generali et fundamentali motus vibratorii continui in membranis cum externis tum internis animalium plurimorum et superiorum et inferiorum obvii commentatio physiologica. Scripsit Prof. Dr. Joh. Ev. Purkinje et Dr. G. Valentin. Vratislaviae 1835. – De motu vibratorio animalium vertebratorum observationes explicant Joh. Ev. Purkinje et G. Valentin. Acta acad. Caes. Leop. Carol. Naat. cur. vol. XVII, 1835. – Bemerkungen über die Unabhängigkeit der Flimmerbewegung der Wirbelthiere von der Integrität des centralen Nervensystems. Von Prof. Dr. Purkinje und Dr. Valentin. Müller’s Archiv 1835. – Ueber Flimmerbewegung im Gehirn. Von Purkinje. Müller’s Archiv 1836.)

Während dieser umfangreichen Untersuchungen fand P. aber noch Zeit zu einer Reihe anderer Arbeiten, von denen die meisten fundamentale Bedeutung beanspruchen. Fast zu kurz und skizzenhaft legte er dieselben der Naturforscherversammlung zu Prag im J. 1837 vor (Bericht über die Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Prag im September 1837. Vom Grafen Caspar Sternberg und Professor J. V. v. Krombholz. Prag 1838). Abgesehen von der Beschreibung der Nerven der Hirnarterien und des Epithels der Plexus choroidei (er nannte die Zellen „Körnchen“), theilte er die Entdeckung von Ganglienzellen im Gehirn mit. Vorher hatte Ehrenberg in den Spinalganglien von Vögeln kugelförmige Gebilde gefunden (Poggendorff’s Annalen 1833, Bd. 28), die er mit einer Drüsensubstanz vergleicht. Die bis dahin unbekannten Ganglienzellen der Centralorgane mit ihren an verschiedenen Orten verschieden gestalteten Fortsätzen legte P. in Abbildungen aus der substantia nigra des Hirnschenkels, der Sehhügel, des großen und kleinen Gehirns u. s. f. den zu [729] Prag versammelten Collegen vor und sprach mit genialem Blicke ihre Bedeutung dahin aus, sie seien Centralgebilde, die sich zu den elementaren Hirn- und Nervenfasern verhalten möchten, wie Kraftcentra zu Kraftleitungslinien. Sie seien Sammler, Erzeuger und Vertheiler des Nervenagens.

Außerdem fand er in der lamina cribrosa vor dem chiasma nervorum opticorum und in den Hornstreifen zu beiden Seiten der thalami optici „eine eigne Gattung klar durchsichtiger, runder oder rundlich eckiger, dem Ansehen nach den Amylonkörnchen ähnlicher Körperchen von wachsartiger Consistenz“. Die beigegebene Abbildung zeigt keine concentrische Streifung; es ist daher nicht ganz sicher, wie allgemein angenommen wird, daß er die heutigen corpuscula amylacea vor sich gehabt habe. – Wie auf dem Gebiete des centralen, so brachte er auch auf dem Gebiete des peripherischen Nervensystems eine fundamentale Entdeckung. Er beschrieb in einem Vortrage „Ueber die scheinbar canaliculöse Beschaffenheit der elementaren Nervencylinder“ unter Vorlegung treffender Abbildungen die Fasern der peripherischen Nerven nach Querschnittsbildern, die er an frischen, wie in Holzessig oder Kali carbonicum gehärteten Nerven gewann, und unterschied an denselben eine äußere Membran, das von ihr eingeschlossene Mark und in der Mitte den Durschnitt eines Canales, der auch auf Längsschnitten demonstrirt wurde. Der Name „Axencylinder“ kommt hier noch nicht vor. Nachdem Remak in demselben Jahre in Froriep’s Notizen das angeblich platte „Primitivband“ der Nervenfasern beschrieben, entspann sich eine Discussion, in deren Verfolg P. zwei Jahre später in einer Dissertation von J. F. Rosenthal („De formatione granulosa in nervis aliisque partibus organismi animalis“, 1839) eine neue, noch heute maßgebende, wenn auch in mancherlei Punkten erweiterte Beschreibung der Nervenprimitivfasern gab. Sie bestehen 1) aus dem runden, soliden cylinder axis, der hier unter dieser Bezeichnung zum ersten Male auftritt; 2) aus der (mit der heutigen Bezeichnung als vagina medullaris eingeführten) Markscheide; 3) aus einer letztere umhüllenden „vagina cellulosa“, auf deren Oberfläche 4) Längsstreifen wahrgenommen werden, die wahrscheinlich von Bindegewebsfasern herrühren. – In derselben Dissertation wurde der Irrthum Remak’s widerlegt, nach welchem Kerne ein specifisches Charakteristikum der „organischen“ Nervenfasern seien. Denn mit Hülfe der von Ernst Burdach in die Mikroscopie eingeführten Essigsäure wurden Kerne (formatio granulosa) an animalen und organischen Muskeln, Sehnen, Gefäßen aller Ordnung, im Bindegewebe, in den serösen und fibrösen Membranen u. s. f. nachgewiesen.

Aber die Prager Versammlung brachte noch andere Schätze. P. hatte die bis dahin unbekannten Drüsen der Magenschleimhaut entdeckt. Sie enthalten Körner (Zellen), von denen ein jedes wieder einen Centralkern besitzt. P. nennt diese körnige Inhaltsmasse das Enchym der Drüse. Er findet ähnliche „Körner mit Centralkern“ auch in der Leber, in den Speicheldrüsen, im Pancreas, in den Nieren und Hoden, in Milz, Thymus, Schilddrüse u. s. f. Dem „körnigen Enchym“ der Drüsen sei das der Membranen (Epidermis, Schleimhäute u. s. f.) ähnlich. Es dränge sich somit die Analogie mit der Pflanze auf, welche bekanntlich ganz aus Körnern oder Zellen zusammengesetzt sei. Wäre es Purkinje’s Sache gewesen, Gedanken von solcher Tragweite zu verfolgen und durchzuarbeiten, so hätte er vor Schwann die Grundlagen der heutigen Zellenlehre erschafft.

Die physiologische Bedeutung des Enchyms („Laabsubstanz“) der Magendrüsen untersuchte P. in Gemeinschaft mit Pappenheim (Müller’s Archiv, 1838, S. 1), indem er sich aus der Schleimhaut, unter Zusatz verdünnter Salzsäure (nach Eberle’s Vorgange) künstlichen Magensaft herstellte. Da es gelang, die Salzsäure dadurch zu ersetzen, daß durch eine Mischung von Laabsubstanz und [730] Wasser ein galvanischer Strom geleitet wurde, wobei am „Sauerstoffpole“ unter Eintritt saurer Reaction Verdauung von Eiweiß stattfand, kam P. auf den originellen, freilich durch jene Beobachtung wenig motivirten Gedanken, die Salzsäure möchte in den Magendrüsen unter dem Einflusse der Nerven abgesondert werden, deren Thätigkeit mit dem Galvanismus Aehnlichkeit zeige – eine Vermuthung, die nach vielen Jahren Brücke auf Grund ganz anderer Beobachtungen ausgesprochen hat.

Auf der Prager Versammlung stand P. auf der Höhe seines schöpferischen Wirkens. Wenn in den nächsten Jahren, während der Errichtung des Instituts, noch einige Dissertationen erschienen, so hatten sie doch nicht das Gewicht der früheren Arbeiten (B. Palicki, „De musculari cordis structura“, 1839. – O. Ludwig, „De velamentis medullae spinalis“, 1839. - G. Kasper, „De structura fibrosa uteri non gravidi“, 1840). Vollends in dem Jahrzehnt der Eröffnung der pysiologischen Anstalt ist nur noch eine einzige Dissertation unter P. gearbeitet worden (D. Rosenthal, „De numero atque mensura microscopica fibrillarum elementarium systematis cerebrospinalis symbolae“. 1845. Breitenmessungen und Zählungen an den spinalen und cerebralen Nerven). Auch P. selbst veröffentlichte wenig mehr von Bedeutung. Das Interessanteste ist ein in der Schlesischen Gesellschaft (Jahresbericht von 1843, S. 17) gehaltener Vortrag über die Saugkraft des Herzens, in welchem er die originelle Ansicht vertheidigt, daß die Ventrikel nicht bei der Diastole, sondern bei der Systole ansaugend wirken, indem durch die systolische Zusammenziehung der Papillarmuskeln zwischen den Zipfeln der abwärts gezogenen Klappen ein kegelförmiger Raum hergestellt wird, in welchen das Vorhofsblut einströmen müsse. In diese Zeit fallen auch die für R. Wagner’s Handwörterbuch gelieferten Abhandlungen (Mikroscop, Bd. II. 1844. – Sinne im Allgemeinen, Bd. III, 1. – Wachen. Schlaf, Traum und verwandte Zustände, Bd. III, 2. 1846), welche heute einen überaus dürftigen Eindruck machen. Dieses plötzliche Sinken der Productivität mag zum Theil dadurch begründet sein, daß die Organisation des Institutes viel Zeit in Anspruch nahm. Die hauptsächlichste Ursache aber lag darin, daß P. mehr und mehr national-czechischen Bestrebungen sich zuwandte, die ihn in Prag während der letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens so gut wie ganz absorbiren sollten. –

Im J. 1850 kehrte P. nach Prag zurück, an wissenschaftlicher Anerkennung und an Ehren reich. Seine materielle Lage gestaltete sich bei einem Gehalte von 2500 Gulden überaus viel günstiger, als in Breslau. Was er hier erst nach jahrelangem Ringen erreicht hatte, die Errichtung eines physiologischen Institutes, wurde ihm von der österreichischen Regierung sofort bereitwilligst gewährt. Er eröffnete die Anstalt am 6. October 1851 mit einer Rede, in welcher er sich über den Begriff der Physiologie und über physiologische Institute in ähnlicher Weise aussprach, wie früherhin in seinen Denkschriften an das preußische Ministerium (vgl. die Eröffnungsrede in der Prager Vierteljahrsschrift, Bd. 33, S. 1. 1851). Das Institut war geräumiger als das Breslauer, die Dotation höher; in Joh. Czermak wurde ein leistungsfähiger Assistent gewonnen. Alles war für einen Mann von der reichen Erfahrung Purkinje’s auf das denkbar Günstigste vorbereitet. Aber in der ganzen Zeit seines Prager Lebens hat P. nichts Wesentliches mehr auf naturwissenschaftlichem Gebiete geleistet. Sein ganzes Interesse wandte sich den czechischen Bestrebungen zu, die ihn bereits während der letzten Breslauer Jahre wesentlich in Anspruch genommen hatten. Schon dort hatte er Uebersetzungen aus dem Deutschen ins Czechische geliefert (Schiller’s Spaziergang, 1829; Torquato Tasso’s befreites Jerusalem, 1834; Schiller’s lyrische Gedichte, 1841). In Prag, wo er sich „Purkyně“ schrieb, nachdem [731] er bis dahin die deutsche Schreibweise „Purkinje“ gebraucht hatte, wurde er der wesentlichste Begründer einer böhmischen naturwissenschaftlichen Terminologie, indem er mit Kreijci von 1853–1864 die Zeitschrift Živa herausgab, welche eine bedeutende Anzahl zumeist populärer Abhandlungen von ihm enthielt. In den böhmischen Landtag gewählt, wurde er einer der Führer der Jungczechen; die Begründung einer böhmischen Universität fand in ihm einen lebhaften Verfechter, – Bestrebungen, die ihm das Ehrenbürgerrecht von nicht weniger als 21 czechischen Ortschaften eintrugen. Denselben näher nachzugehen, kann nicht im Interesse der „Allg. Deutschen Biographie“ liegen. Die Fortentwicklung des physiologischen Instituts und Unterrichts zu Prag kam auf diese Weise natürlich zu kurz, so sehr, daß bei dem österreichischen Minister der Gedanke auftauchte, in der Person v. Vintschgau’s (jetzt Professors in Innsbruck), ihm einen Adlatus zu geben. Indeß verweigerte P. die Aufnahme desselben in sein Institut so entschieden, daß der Plan aufgegeben wurde.

Es ist P. vergönnt gewesen, das hohe Alter von 82 Jahren zu erreichen. Als er am 28. Juli 1869 abberufen wurde, gedachte mit dankbarer Verehrung Deutschland des Mannes, der in seinen besten Lebensjahren für die deutsche Wissenschaft so Großes geleistet hatte. Auf seinen Sarg legte die gesammte czechische Nation den Lorbeer des Patrioten nieder. An Ehren und Auszeichnungen aller Art war sein Leben überreich. Außer zahlreichen Gesellschaften ernannte ihn die Akademie zu Berlin (1832), Petersburg (1836), Paris (1839), Wien (1848), sowie die Londoner Royal Society (1850) zu ihrem Mitgliede. Orden vieler Monarchen zierten seine Brust; kurz vor seinem Tode erhob ihn der Kaiser von Oesterreich in den Adelstand. –

Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 24. Wien 1872. S. 94. – Die feierliche Sitzung der Kaiserl. Akad. d. Wissensch. am 30. Mai 1870. Rede v. Schrötter’s, Verzeichniß der gesammten Arbeiten Purkinje’s. – Vierteljahrsschrift für die prakt. Heilk. zu Prag. Jahrg. 16. 1859. Bd. 3. Außerordentl. Beilage. Verzeichniß der Arbeiten Purkinje’s von Eiselt. – Acten des physiologischen Instituts zu Breslau, des königl. Univ.-Curatorii daselbst und des königl. Cultusministerii zu Berlin.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 717. Z. 16 v. o. l.: 1787. [Bd. 28, S. 808]
  2. S. 717. Z. 17 v. o. l.: 28. Juli 1869. [Bd. 28, S. 808]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Adolph Friedrich Oschatz (1812–1857), Schüler Purkinjes.