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Ueber den Dekalog
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UEBER DIE ZEHN WORTE,
DIE DER HAUPTINBEGRIFF DER GESETZE SIND

1 [II p. 180 M.] (1.) Nachdem ich in den früheren Abhandlungen das Leben der nach Moses’ Darstellung weisen Männer erzählt habe, die die heilige Schrift als die Ahnen unseres Volkes und gleichsam als Verkörperungen ungeschriebener Gesetze bezeichnet, werde ich im Anschluss daran die allgemeinen Grundzüge der geschriebenen Gesetze näher darlegen, und falls sich darin Anlass zu allegorischer Erklärung zeigen sollte, werde ich auch diese nicht übergehen wegen der auf den tieferen Sinn gerichteten Schriftforschung, die die verborgenen Wahrheiten mehr als die obenauf liegenden zu suchen pflegt. 2 Auf die Frage aber, warum denn Moses die Gesetze nicht in Städten, sondern tief in der Wüste gegeben, habe ich zuerst zu sagen, dass die meisten Städte voll von [p. 181 M.] unzähligen Uebeln sind, von Freveln gegen die Gottheit wie von Verbrechen der Menschen gegeneinander. 3 Denn da gibt es nichts, was nicht gefälscht ist, das Unechte überwuchert[372] das Echte, der falsche Schein, der seiner Natur nach trügt und blendende Vorstellungen von den Dingen täuschend vorspiegelt, die Wahrheit. 4 In den Städten entsteht denn auch das schädlichste aller Uebel, der Dünkel, den manche bewundern und anbeten, indem sie eitlem Wahne huldigen mit goldenen Kränzen und Prachtgewändern und einer Menge von Dienern und Wagen, auf denen diese sogenannten Glücklichen hoch oben sitzend daherfahren und an die sie bald Maultiere oder Pferde bald auch Menschen selbst vorspannen, die die Sänfte schwer auf dem Nacken tragen, im Geiste noch mehr als am Leibe von dem Uebermass schimpflicher Behandlung niedergedrückt. 5 (2.) Der Eigendünkel ist auch der Vater vieler anderen Laster, der Prahlerei, des Hochmuts, der Unbilligkeit. Diese wieder sind der Anfang von Kämpfen nach aussen wie nach innen, denn nichts bleibt von ihnen unbehelligt, weder im öffentlichen noch im Privatleben, weder zu Lande noch zu Wasser. 6 Doch was hat man nötig an die Unbilden, die sich Menschen einander zufügen, zu erinnern? Ist doch infolge des Dünkels selbst das Göttliche der Vernachlässigung anheimgefallen, wenn man auch meint, dass man ihm die höchste Ehre erweist. Was für eine Ehre kann das sein, wenn die Wahrheit nicht dabei ist, sie, die einen zu ehrenden Namen wie einen zu ehrenden Inhalt hat, während umgekehrt die Lüge ihrer Natur nach verächtlich ist? 7 Die Vernachlässigung des Göttlichen liegt für den schärfer Blickenden auf der Hand. Macht man sich doch mit Hilfe der Malerei und der Bildhauerkunst unzählige Gebilde und umgibt sie dann mit Tempeln und Heiligtümern, errichtet Altäre und erweist den Bildsäulen, den gehauenen und aus Holz geschnitzten und was dergleichen Gebilde mehr sind, olympische und göttliche Ehren, wie sie nur der Gottheit zukommen, und sind doch alle nur leblose Dinge. 8 Passend vergleicht die heilige Schrift sie (die Götzenverehrer) mit Kindern der Unzucht[1]; denn wie diese jeden, den die Mutter zum Liebhaber gehabt, ihren Vater nennen[373] können, weil sie den einen, der wirklich der Vater ist[2], nicht kennen, so haben auch die Menschen in den Städten, die den einen, wirklich seienden, wahren Gott nicht kennen, fälschlich viele zu Göttern gemacht. 9 Indem dann bei den einen dieser, bei den anderen jener verehrt wurde, erzeugte die Zwiespältigkeit, die betreffs des Besten Platz gegriffen, auch in allen anderen Dingen nur Streit. Dies ist der erste Grund, weshalb er es vorzog, ausserhalb der Städte die Gesetze zu geben. 10 Zweitens aber bedachte er, dass wer heilige Gesetze auf sich nehmen sollte, zuvor die Seele von schwer [p. 182 M.] zu tilgenden Flecken läutern und reinigen müsse, die ihr die Berührung mit allerlei zusammengelaufenem Volk in den Städten gebracht hatte. 11 Das ist aber anders nicht möglich als durch Trennung, und das auch nicht gleich, sondern erst eine Weile später, bis die Spuren des früheren unrechten Tuns sich allmählich verdunkeln, sich verwischen und endlich ganz schwinden. 12 Auf diese Weise retten auch tüchtige Aerzte die Kranken; nicht eher nämlich wollen sie ihnen Speise und Trank reichen lassen, als bis sie die Ursachen der Krankheit entfernt haben; denn bleiben diese, so ist jede Nahrung unnütz, ja sogar schädlich, denn sie wird nur weiterer Stoff für das Leiden. 13 (3.) Nachdem er sie also vernünftigerweise von den schädlichen Berührungen in den Städten weg in die Wüste geführt hatte, um ihre Seelen von Fehlern zu reinigen, begann er damit, den Gemütern Nahrung zu reichen. Welche andere Nahrung gäbe es aber als Gesetze und göttliche Lehren? 14 Der dritte Grund aber ist dieser: wie solche, die eine lange Fahrt zu machen haben, nicht erst wenn sie bereits das Schiff bestiegen und sich aus dem Hafen entfernt haben, anfangen Segel und Steuerruder und Steuergriff herzustellen, sondern, während sie noch am Land sind, alles wohl vorbereiten, was zur Fahrt gehört, ebenso wollte er, dass sie nicht erst ihren Landanteil empfingen und die Städte besiedelten und dann nach Gesetzen verlangten, nach denen sie verfassungsgemäss leben könnten, sondern zuvor sollten sie die Grundlinien einer Verfassung erhalten, und dann erst,[374] völlig vertraut mit den Grundsätzen, durch die ein Volk heilsam regiert wird, sollten sie feste Wohnsitze nehmen, da sie dann sich gleich der Stützen der Gerechtigkeit zu bedienen hätten in Eintracht und inniger Gemeinschaft und bei gerechter Verteilung dessen, was einem jeden zukommt. 15 (4.) Einige geben noch einen vierten Grund an, der gar nicht ungereimt klingt, sondern der Wahrheit recht nahe kommt. Da die Gemüter die Ueberzeugung gewinnen sollten, dass die Gesetze nicht etwa Erfindungen eines Menschen, sondern ganz klare Offenbarungen Gottes sind, führte er das Volk weit weg von den Städten in eine tiefe Wüste, die nicht nur der edleren Früchte, sondern selbst eines trinkbaren Wassers entbehrte; 16 denn wenn sie bei dem Mangel am Notwendigsten vor Hunger und Durst schon zu sterben erwarteten und wenn sie dann plötzlich eine Fülle von Lebensmitteln fänden, die ohne ihr Zutun ihnen gewährt wurde, indem der Himmel als Nahrung das sogenannte Manna regnen liess und als Zukost der Speise aus der Luft einen Schwarm Wachteln, indem ferner das Wasser, das zuvor bitter war, auf einmal süss zum Trinken ward, und der schroffe Felsen Wasserquellen hervorsprudeln liess, da sollten sie sich nicht mehr wundern, dass die Gesetze Offenbarungen Gottes seien, da sie doch den greifbarsten Beweis an den [p. 183 M.] Nahrungsmitteln hatten, die sie in der grössten Not empfingen, wo sie es am wenigsten erwarteten. 17 Der die Mittel zum Leben gab in Fülle, gab eben auch die Bedingungen zum rechten Leben: zum Leben brauchten sie Speise und Trank, und diese fanden sie ohne ihr Zutun, zum rechten Leben aber Gesetze und Verordnungen, durch die sie ihre Seelen vervollkommnen sollten[3].

18 (5.) Das sind die mutmasslichen Gründe, die sich in dieser Frage anführen lassen; denn die wahren kennt Gott allein. Nachdem ich aber darüber das Nötige gesagt, will ich nunmehr der Reihe nach die Gesetze selber erörtern; notwendig habe ich da vorauszuschicken, dass den einen[375] Teil der Gesetze Gott selber, ohne einen Mittler zu gebrauchen, ganz allein zu offenbaren für gut fand, den andern durch den Propheten Moses, den er vor allen Menschen bevorzugte und als den zum Prophetenamt geeignetsten auserwählte. 19 Die von Gott selbst geoffenbarten Gesetze sind zugleich Gesetze und Grundprinzipien der Einzelgesetze, und die durch den Propheten gegebenen lassen sich sämtlich auf jene zurückführen. 20 (6.) Ich werde nun, so gut ich kann, über beide sprechen und zuerst über die allgemeinen Bestimmungen[4]. Bei diesen muss man gleich die Zahl bewundern, da sie in der Zehn, der vollkommenen Zahl[5], eingeschlossen sind, die alle Unterschiede der Zahlen umfasst, die der geraden, der ungeraden und der gerad-ungraden, der geraden wie die Zwei, der ungeraden wie die Drei, der gerad-ungeraden wie die Sechs[6], ebenso die Unterschiede der Zahlenverhältnisse, des vielfachen, des um einen Teil vermehrten und des um einen Teil verminderten. 21 Die Zehnzahl enthält weiter alle Analogien, zuerst die arithmetische Proportion, bei der eine Zahl um eben so viel grösser als eine andere ist als diese wieder kleiner als eine dritte, wie dies bei eins, zwei und drei der Fall ist, und die geometrische, bei der ebenso wie das zweite Glied zum ersten das dritte zum zweiten sich verhält, wie es der Fall ist bei eins, zwei und vier, und weiter die Verhältnisse des doppelten, des dreifachen, des vielfachen überhaupt, ferner das Verhältnis von 1 zu 1½, von 1 zu 1⅓ und ähnliches. Es schliesst die Zehn ferner das harmonische Verhältnis ein, bei dem das mittlere zwischen zwei äusseren Gliedern um denselben Bruchteil grösser ist als das eine und kleiner als das andere, wie das bei 3, 4 und 6 der Fall ist. 22 Die Zehn umfasst auch die hervorstechenden Eigenschaften der Dreiecke, Vierecke und der übrigen Polygone, wie auch die der [p. 184 M.] Musikakkorde, der Quarte in dem 1⅓-Verhältnis, 4 zu 3, der Quinte in dem 1½-Verhältnis, 3 zu 2, der Octave in dem Doppel-Verhältnis, 2 zu 1, und der Doppeloctave in dem[376] vierfachen Verhältnis, 8 zu 2. 23 Darum scheinen mir auch unsere Voreltern, die den Dingen die Namen gaben – sie waren nämlich weise Männer –, passend diese Zahl δεκάς (Zehn) genannt zu haben, d. h. eigentlich δεχάς (Umfassung), weil sie alle Arten der Zahlen, der Zahlenverhältnisse, der Analogien, der Harmonien und Akkorde in sich umfasst. 24 (7.) Ausser dem Gesagten macht auch das die Zehnzahl bewundernswert, dass sie das Nichtausgedehnte wie das Dehnbare in gleicher Weise enthält, das Nichtausgedehnte, das nur in einem Punkte besteht, und das Ausgedehnte, das in drei Arten vorkommt, in Linie, Fläche und festem Körper. 25 Denn das durch zwei Punkte Begrenzte ist die Linie, das nach zwei Richtungen Ausgedehnte ist die Fläche, indem die Linie nach der Breite sich fortbewegt, das nach drei Richtungen Ausgedehnte ist der feste Körper, indem zu Länge und Breite die Tiefe (Höhe) hinzukommt; bei diesen bleibt die Natur stehen, mehr als drei Dimensionen hat sie nicht geschaffen. 26 Ihre Urbilder aber sind Zahlen, und zwar des nicht ausgedehnten Punktes die Eins, der Linie die Zwei, der Fläche die Drei und des festen Körpers die Vier; und ihre Summe 1+2+3+4 ergibt eben die Zahl 10, die den scharf Blickenden auch noch andere Schönheiten zeigt. 27 Denn beinahe das ganze unendliche Gebiet der Zahlen wird durch sie begrenzt, denn die sie zusammensetzenden Grenzzahlen sind vier, die Eins, die Zwei, die Drei und die Vier; die gleichen Grenzzahlen sind es, die aus den Zehnern die Hundert hervorbringen – denn 10 + 20 + 30 + 40 = 100 – und ebenso die Tausend aus den Hunderten und die Zehntausend aus den Tausenden; die Eins, die Zehn, die Hundert und die Tausend aber sind die vier Grenzen im dekadischen System. 28 Ausser den genannten aber zeigt die Zehn noch andere Zahlenunterschiede, wie zuerst die Zahlenreihe, bei der es eine Messung nur durch 1 gibt, als da sind die Zahlen 3, 5 und 7, dann das Quadrat, die 4, das Produkt aus zwei gleichen Zahlen (2x2), ferner den Würfel, die 8, das Produkt aus 3 gleichen Zahlen (2x2x2), endlich die vollkommene Zahl, die 6, die aus gleichen Teilen zusammengesetzt ist, 3 und 2 und 1. 29 (8.) Doch wozu ist es nötig die [p. 185 M.][377] Vorzüge der Zehnzahl, die fast endlos an Zahl sind, hier aufzuzählen und damit etwas Grosses nur nebensächlich zu behandeln, das für sich allein genügender Erörterungsgegenstand ist für solche, die Mathematik treiben? Von den anderen Eigenschaften also soll jetzt abgesehen werden, nur eine beispielshalber zu erwähnen mag nicht unangemessen erscheinen. 30 Zehn sogenannte Kategorien[7] zählen in der Natur (der Dinge) die mit den Lehren der Philosophie Beschäftigten: Substanz, Qualität, Quantität, Relation, das Tun, das Leiden, den Zustand, die Lage, endlich die Dinge, ohne die überhaupt nichts sein kann, Zeit und Raum. Denn es gibt nichts, was an diesen Kategorien nicht teilhat. 31 So z. B. habe ich meinen Anteil an Substanz, indem ich von jedem der Elemente, aus denen diese Welt gemacht ist, von Erde, Wasser, Luft und Feuer, etwas besitze, was mir gleichsam zum Darlehn gegeben ist, und zwar gerade das, was zu meiner Existenz hinreicht. Ich habe weiter eine gewisse Beschaffenheit, insofern ich Mensch bin, und eine gewisse Grösse, indem ich so und so lang bin, ich habe auch eine gewisse Beziehung, je nachdem einer sich rechts oder links von mir befindet. Ferner: ich tue etwas, wenn ich z. B. etwas reibe oder schere, und ich leide, wenn ich von anderen geschoren oder gerieben werde. Ich befinde mich in einem gewissen Zustand, wenn ich entweder bekleidet oder bewaffnet bin, und in einer gewissen Lage, wenn ich entweder sitze oder lagere. Endlich bin ich durchaus in Raum und Zeit, da von den vorgenannten Dingen keines ohne beides bestehen kann.

32 (9.) Doch davon genug. Es wird nun nötig sein, das folgende der Reihe nach zu besprechen. Die zehn Worte oder göttlichen Aussprüche, die wahrhafte Gesetze oder göttliche Satzungen sind, hat der Vater des Weltalls vor versammeltem Volke, vor Männern und Frauen zugleich, geoffenbart. Also hätte Gott eine Art Stimme gehabt, mit der er selbst sie ausgesprochen? Nicht doch! Solches darf uns gar nicht in den Sinn kommen. Denn nicht wie ein Mensch ist Gott,[378] dass er des Mundes, der Zunge, der Arterien bedürfe. 33 Vielmehr scheint er mir zu jener Zeit etwas Hehres und Wunderbares geschaffen zu haben, indem er befahl, dass ein unsichtbarer Schall in der Luft sich bilde, wunderbarer als alle Instrumente der Welt, ausgestattet mit vollkommenen Harmonien, nicht ohne Seele, aber auch nicht wie ein aus Leib und Seele bestehendes Lebewesen, sondern bloss eine vernunftbegabte Seele voll Klarheit und Deutlichkeit; diese Seele, der Luft Gestalt gebend und sie weithin spannend und zur feuerroten Flamme wandelnd, liess wie ein Lufthauch, der durch die Trompete gestossen wird, eine Stimme mit so artikulierten Lauten ertönen, dass die ganz entfernt Stehenden in gleicher Weise wie die Nächsten sie zu hören [p. 186 M.] glaubten. 34 Denn Menschenstimme, die man weithin erschallen lässt, pflegt sich abzuschwächen, sodass den Fernstehenden die Laute nicht mehr deutlich vernehmbar sind, da sie infolge der weiten Ausdehnung allmählich dunkler werden, zumal ja auch die Organe sich abnutzen. 35 Diese neugeschaffene Stimme dagegen liess Gottes Allmacht durch einen Anhauch erwachen und anschwellen und überallhin erschallen, und sie machte das Ende noch helltönender als den Anfang, indem sie in der Seele eines jeden einen andern und weit kräftigeren Schall hervorrief, als es der gewöhnliche durch das körperliche Ohr ist; denn das körperliche Gehörvermögen, das von Natur langsamer ist, bleibt ruhig, bis es von der Luft berührt und in Bewegung gesetzt wird, das Ohr des Geistes aber, der von Gott erfüllt ist, eilt mit äusserster Geschwindigkeit der Rede sogar voraus[8].

36 (10.) Soviel über die göttliche Stimme. Weiter könnte man mit Recht fragen, warum Gott, da doch so viele Myriaden auf einem Platze versammelt waren, jedes der zehn Worte nicht an die Menge, sondern gleichsam an einen Menschen gerichtet hat; denn er spricht: „du sollst nicht ehebrechen“, „du sollst nicht töten“, „du sollst nicht stehlen“ (2 Mos. 20,13ff.) und das übrige ebenso. 37 Darauf[379] ist erstens zu erwidern, dass Moses den Lesern der heiligen Schrift eine treffliche Lehre geben will, die nämlich, dass jeder einzelne, sofern er nach dem Gesetze lebt und Gott gehorsam ist, ein ganzes zahlreiches Volk, ja noch mehr, alle Völker und, wenn man noch weiter gehen darf, sogar die ganze Welt aufwiegt[9]. 38 Darum heisst es auch an anderer Stelle bei dem Lobe eines Gerechten: „Ich bin dein Gott“ (1 Mos. 17,1), und das spricht der, der auch Gott der Welt ist, womit denn gesagt ist, dass die Untergebenen, die auf denselben Platz gestellt sind und es dem Führer in gleicher Weise recht machen, die gleiche ehrenvolle Auszeichnung erfahren. 39 Ein zweiter Grund ist der, dass, wenn einer in der Mehrzahl wie zu einer Menge spricht, er nicht notwendig auch den einzelnen anredet beim Anordnen oder Verbieten; spricht er dagegen in der Einzahl wie zu jedem einzelnen der Beteiligten, dann hat es gleich das Ansehen, dass er alle zusammen darüber belehrt, was sie zu tun haben[10]. Williger gehorchen wird auch, wer die Ermahnung als an ihn selbst gerichtet entgegennimmt; wer sie dagegen mit anderen zusammen empfängt, der verhält sich ziemlich taub dagegen und nimmt für seine Auflehnung leicht den Umstand zum Vorwand, dass sie ja an die Menge gerichtet gewesen. 40 Der dritte Grund ist der, dass kein König oder Tyrann von Hochmut und Grössenwahn erfüllt den niedrigen Mann aus dem Volke verachten solle, sondern an die [p. 187 M.] heilige Schrift als Quelle der Belehrung gehend freundlich blicke und den Stolz abtue, indem er einer annehmbaren oder vielmehr wahren Ueberlegung folge: 41 wenn der Unerschaffene und Unvergängliche, der Ewige, der keines der Geschöpfe bedarf, der Schöpfer des Alls und Wohltäter, der König der Könige und der höchste Gott, auch nicht den Niedrigsten geringschätzte, vielmehr auch diesen mit heiligem Wort und heiliger Satzung gnädig speiste, und so als ob er[380] ihn allein speisen und für ihn allein das Mahl bereiten wollte, um die mit prophetischem Geiste erfüllte Seele zu erfreuen, soweit sie die grossen Weihen empfangen darf, wie sollte es mir dem Sterblichen geziemen den Nacken hoch zu tragen, mich aufzublähen und stolz zu tun gegen meinesgleichen, Menschen ungleichen Geschickes zwar, die aber doch gleicher Abstammung mit mir sind, die alle eine Mutter haben, die allen Menschen gemeinsame Natur? 42 Ich werde mich also, auch wenn ich Gewalt über Land und Meer erlangen sollte, zugänglich und gefällig zeigen den Aermsten und Niedrigsten und solchen, die der Verwandtenhilfe entbehren, die beider Eltern beraubt sind, Frauen, die im Wittwenstande leben, Greisen, die Kinder entweder überhaupt nicht gehabt oder die sie gehabt früh verloren haben. 43 Als Mensch will ich Hochmut und feierliches Gebaren, wie es Tragödienspielern eigen ist, nicht annehmen, ich will in den Schranken der Natur bleiben und diese nicht überschreiten, vielmehr meinen Geist gewöhnen menschlich zu fühlen, nicht nur wegen des unbekannten Wechsels der Geschicke, des Uebergangs aus einer Lage in die andere, sowohl bei Glücklichen wie bei Unglücklichen, sondern auch weil es sich ziemt sich nicht zu vergessen, auch wenn das Glück unwandelbar und sicher bleibt. Aus diesen Gründen, scheint mir, hat Gott seine Offenbarung, indem er sie in der Einzahl verkündete, an jeden besonders richten wollen[11].

44 (11.) Alles aber in der Umgebung des Ortes war, wie es sich von selbst verstand, voller Wunder (2 Mos. 19,16 ff.): das Getöse von Donnerschlägen, grösser als ein Ohr auszuhalten vermag, das helle Aufflammen von Blitzen, der weithinreichende Schall einer unsichtbaren Trompete, eine niederschwebende Wolke, die einer Säule gleich mit dem Fuss auf dem Boden stand, in dem übrigen Umfang aber bis an den Aether reichte, ein dahinflutendes himmlisches Feuer, das alles ringsumher in dichten Rauch einhüllte; denn da[381] die Allmacht Gottes nahte, durfte keiner der Teile der Welt [p. 188 M.] still stehen, alles musste zu seinem Dienste sich in Bewegung setzen. 45 Das Volk aber stand da in aller Reinheit, nachdem es bereits seit drei Tagen den Umgang mit den Frauen gemieden und auch sonst aller Lust ausser dem zur Ernährung Notwendigen entsagt, durch Bäder und Besprengungen sich gereinigt und die Kleider gewaschen hatte, meist in weiss gekleidet, wie auf Fussspitzen stehend und das Ohr gespannt, da Moses ihm die Weisung gegeben hatte, sich zu feierlicher Versammlung zu rüsten; denn er hatte erkannt, dass eine solche stattfinden müsse, wenn er, allein berufen, die Offenbarung empfing. 46 Eine Stimme ertönte darauf mitten aus dem vom Himmel herabkommenden Feuer, alle mit ehrfurchtsvollem Schrecken erfüllend, indem die Flamme sich zu artikulierten Lauten wandelte, die den Hörenden vertraut waren, wobei das Gesprochene so deutlich klang, dass man es eher zu sehen als zu hören glaubte. 47 Es bestätigt mir meine Behauptung die heil. Schrift, in der es heisst: „alles Volk sah die Stimme“ (2 Mos. 20,18); höchst bedeutsam, denn Menschenstimme ist zu hören, die Stimme Gottes aber ist in Wahrheit zu sehen; warum? weil es nicht Worte sind, was Gott redet, sondern Taten, die das Auge besser unterscheidet als das Ohr. 48 Besonders schön und trefflich aber wird berichtet, dass die Stimme aus dem Feuer hervorkam; denn geklärt und geläutert sind die Worte Gottes wie Gold im Feuer. Es deutet ferner symbolisch etwa folgendes an. 49 Da die Aufgabe des Feuers eine doppelte ist, zu leuchten und zu brennen, so werden die, die dem Gotteswort gehorsam sein wollen, wie in schattenlosem Licht alle Zeit wandeln und die Gesetze selbst als leuchtende Sterne in der Brust tragen; die ihm aber ungehorsam sind, werden ewig entflammt und verzehrt werden von den Begierden in ihrem Innern, die einem Feuer gleich das ganze Dasein derer, die sie beherrschen, zerstören werden[12].

50 (12.) Dieses ist es, was notwendig vorauszuschicken war. Wir haben uns nun zu den Gottesworten selber zu[382] wenden und all das besondere, das in ihnen enthalten ist, zu ermitteln. Die zehn nun, die es sind, teilte Moses in zwei Reihen von fünf, die er in zwei Tafeln eingrub; die erste Reihe erhielt dabei den Vorrang, die andere den zweiten Rang. Schön von Inhalt und dem Leben zum Nutzen sind beide, denn sie öffnen breite Heerstrassen des Lebens, die auf ein Ziel hinausgehen, auf denen es eine Wanderung ohne Straucheln gibt für die Seele, die stets das Beste will. 51 Die vorzüglichere Reihe von fünf Geboten enthält die folgenden Lehren: über die Alleinherrschaft in der Welt; über Schnitz- und Gusswerke und überhaupt von Menschenhand gefertigte Götzenbilder; über das leichtfertige Aussprechen des Namens Gottes; über die Heilighaltung des siebenten Tages; endlich [p. 189 M.] über die Ehrfurcht gegen Eltern und zwar sowohl gegen eines der beiden Eltern wie gegen beide zusammen. So ist der Anfang der einen Tafel Gott, der Vater und Schöpfer des Alls, und das Ende die Eltern, die in Nachahmung des Wesens Gottes die Einzelmenschen erzeugen. Die zweite Reihe umfasst dann die sämtlichen Verbote: die des Ehebruchs, des Mordes, des Diebstahls, des falschen Zeugnisses, der unlauteren Begierden.

52 Es ist nun sorgfältigst auf jedes dieser Gottesworte einzugehen und keines von ihnen oberflächlich zu behandeln. Der erhabenste Anfang von allem, was existiert, ist Gott, und von den Tugenden ist es die Gottesfurcht; also wird notwendigerweise davon zuerst zu handeln sein. Ein Irrtum nun, und kein geringer, hält die meisten Menschen gefangen in einer Sache, die allein oder mehr als alles im Geiste aller völlig ohne Unsicherheit feststehen sollte. 53 Es vergöttern nämlich die einen die vier Elemente, Erde, Wasser, Luft und Feuer[13], andere die Sonne, den Mond und die anderen Gestirne, Planeten und Fixsterne, andere wieder nur den Himmel, andere endlich das ganze Weltall. Den Höchsten und Vorzüglichsten aber, den Schöpfer, den Regierer des Grossstaates, den Führer des unbezwinglichen Heeres, den Steuermann, der beständig das Ganze zum Heile lenkt, verdunkeln sie, indem[383] sie jenen (vermeintlichen Göttern) falsche Namen geben, die einen diese, die anderen jene[14]. 54 So nennen manche die Erde Kore, Demeter, Pluto, das Meer Poseidon, dem sie dazu Unterstatthalter andichten, Meergottheiten und ein grosses Gefolge von männlichen und weiblichen Dämonen; die Luft nennen sie Hera, das Feuer Hephaestos, die Sonne Apollo, den Mond Artemis, den Morgenstern Aphrodite und den Stilbon (Glanzstern) Hermes. 55 Und so haben auch jedem der übrigen Gestirne die Mythendichter die Namen gegeben, die jene künstlichen Gebilde nur zur Täuschung für das Ohr ersonnen haben und damit in der Namengebung Ausgezeichnetes geleistet zu haben wähnen. 56 So teilten sie weiter den Himmel in Hemisphären, die eine über der Erde, die andere unter der Erde, nannten sie Dioskuren und erdichteten dazu die Erzählung von ihrem nur einen Tag um den andern währenden Leben[15]. 57 Denn da der Himmelsball sich beständig und unaufhörlich im Kreise bewegt, muss notwendig jede der beiden Hemisphären täglich ihre Stellung wechseln und nach oben und unten zu stehen kommen, freilich nur dem Anscheine nach; denn oben und unten gibt es in Wahrheit bei der Himmelssphäre nicht, nur nach [p.190 M.] unserer Stellung dazu pflegen wir das, was über unserm Kopfe ist, „oben“ und das Entgegengesetzte „unten“ zu nennen. 58 Dem nun, der beim Philosophieren nur die Wahrheit sucht und unverfälschte, reine Gottesfurcht erlangt, gibt er die schönste und frömmste Lehre, keinen der Teile der Welt für einen selbständigen Gott zu halten. Denn jeder ist einmal entstanden; Entstehen aber ist der Anfang von Vergehen, und wäre das Betreffende auch von der Vorsehung des Schöpfers zur Ewigkeit bestimmt, denn es gab eine Zeit, da es nicht war. Von Gott aber zu sagen, dass er vorher[384] nicht war und erst von einer gewissen Zeit an geworden und dass, er nicht ewig sei, ist frevelhaft. 59 (13.) Aber nun gehen einige beim Urteilen in ihrem Unverstand so weit, dass sie die genannten Dinge nicht nur für Götter halten, sondern auch noch jedes einzelne für den grössten und ersten Gott; den dagegen, der, es wirklich ist, kennen sie bei ihrer natürlichen Unbildung entweder gar nicht oder sie geben sich keine Mühe ihn kennen zu lernen, weil sie meinen, dass es ausser den sichtbaren Dingen keine wirkende Ursache gebe, die unsichtbar und bloss im Geiste zu schauen sei, obschon sie doch einen ganz klaren Beweis dafür vor Augen haben. 60 Ist es doch die Seele, durch die sie leben, durch die sie sich beraten und durch die sie alles vollführen, was zum menschlichen Leben gehört, und doch haben sie niemals die Seele mit den Augen des Körpers zu schauen vermocht, und hatten sie auch alle Anstrengungen gemacht, ob es irgendwie möglich wäre dass herrlichste aller Gebilde zu schauen; von da aus war natürlich nur noch ein Schritt weiter zu tun, um eine Vorstellung von dem Unerschaffenen und Ewigen zu bekommen, der, obwohl unsichtbar, doch die Zügel in der Hand hält und das ganze Weltall zum Heile lenkt. 61 Wie nun einer, wenn er die Ehren, die dem Grosskönig gebühren, den Satrapen, seinen Statthaltern, erwiese, nicht nur sehr töricht erscheinen, sondern auch leichtsinnig Gefahren für sich heraufbeschwören würde, da er das, was dem Herrn zukommt, Dienern gewährt, ebenso steht es mit dem, der das Erschaffene mit den gleichen Ehren bedenkt wie den Schöpfer, er soll wissen, dass er der törichteste und ungerechteste aller Menschen ist, weil er Ungleichen Gleiches gewährt, nicht zur Ehre der Niedrigstehenden, sondern zur Herabsetzung des Höherstehenden. 62 Manche wollen gar in ihrem Uebermass von Gottlosigkeit nicht einmal eine Teilung der Ehre, sie erweisen vielmehr jenen alles, was es nur an Ehren gibt, ihm aber (Gott) lassen sie nichts zukommen, nicht einmal, was doch das Gewöhnlichste von Ehre ist, die Erinnerung an ihn; sie vergessen nämlich den, an den ausschliesslich zu denken die höchste Pflicht wäre, die Unglückseligen [p. 191 M.]geben sich förmlich Mühe, ihn in Vergessenheit geraten zu[385] lassen. 63 Einige endlich, die von geschwätziger Raserei ergriffen sind, geben ganz offene Beweise der ihnen innewohnenden Gottlosigkeit, sie erkühnen sich die Gottheit zu lästern, sie schärfen dazu ihre Lästerzunge, denn sie wollen damit zugleich die Frommen kranken, in die sofort eine unsagbare und unstillbare Trauer einzieht, die die Seele durch das Gehörte ganz und gar verzehrt. Die Angriffswaffe der Gottlosen ist dies, mit der sie allein schon die Frommen verstummen machen, denn diese halten, um jener Wut nicht zu steigern, im Augenblick Schweigen für das Beste. 64 (14.) Allen solchen Trug wollen wir von uns fernhalten und nicht das, was verwandter Natur mit uns ist, göttlich verehren, und hätte es auch ein reineres und für Unsterblichkeit mehr gemachtes Wesen erhalten — verwandt mit einander ist ja was erschaffen ist, eben weil es erschaffen ist und weil der Vater aller Dinge der eine Schöpfer des Alls ist —; wir wollen vielmehr mit Herz und Mund und mit aller Macht uns dem Dienste des Unerschaffenen, des Ewigen, des Urhebers des Weltalls, hingeben mit Anspannung aller unserer Kräfte, wir wollen nicht wanken und nicht weichen, um etwa der Menge zu gefallen, von der leicht auch, wer sonst sich retten könnte, in das Verderben hineingezogen wird.

65 So wollen wir denn das erste und heiligste Gebot in uns befestigen, Einen für den höchsten Gott zu halten und zu verehren; die Lehre der Vielgötterei darf nicht einmal das Ohr des in Reinheit und ohne Falsch die Wahrheit suchenden Mannes berühren. 66 Wenn nun auch jene, die Diener und Verehrer der Sonne, des Mondes, des ganzen Himmels und der Welt und ihrer vorzüglichsten Teile sind, als ob es Götter wären, sündigen, — denn wie sollte das nicht Sünde sein? — da sie die Untergebenen mehr als den Herrscher ehren, so vergehen sie sich doch so schwer nicht wie die anderen, die sich Holz und Stein, Silber und Gold und ähnliche Stoffe, wie es einem jeden gefällt, zurecht schnitzten und dann den Erdball mit Guss- und Schnitzwerken und sonstigen von Menschenhand gefertigten Götzenbildern anfüllten, deren Meisterinnen Bildhauerkunst und Malerei sind, die damit dem Menschenleben[386] einen grossen Schaden zugefügt haben[16]. 67 Denn die edelste Stütze des Seelenlebens haben sie damit abgehauen, [p. 192 M.] den für uns notwendigen Glauben an den ewig lebenden Gott, und so treiben sie wie schwankende Fahrzeuge ewig unruhig umher, bald hierhin bald dorthin, und können niemals in den Hafen einlaufen und ihren sichern Anker in der Wahrheit finden, weil sie blind sind gegen das, was des Schauens wert ist und worauf allein der Blick scharf gerichtet sein müsste. 68 Sie scheinen mir ein noch elenderes Dasein zu führen als die an den körperlichen Augen Gelähmten; denn diese sind doch ohne ihre Schuld verletzt worden, sie hatten entweder eine schwere Augenkrankheit zu bestehen oder wurden von Feinden hinterlistig angefallen, jene aber haben vorsätzlich ihr Geistesauge nicht bloss getrübt, sondern haben es geradezu wegwerfen wollen. 69 Deshalb gebührt den einen wie Unglücklichen Mitleid, die anderen aber trifft wie Elende gerechte Strafe, denn sie haben ausser anderem selbst das ganz Naheliegende nicht sehen wollen, was schon „ein unmündiges Kind erkennt“[17], dass nämlich der Bildner höher steht als das Gebilde, sowohl der Zeit nach — denn er ist älter und gewissermassen der Vater des verfertigten Werkes — als auch der Macht nach, denn das Wirkende ist doch ansehnlicher als das Leidende. 70 Sie hätten auch, wenn sie schon fehlgingen, die Maler und Bildhauer selber mit einem Uebermass von Ehren vergöttern sollen; statt dessen lassen sie diese unbeachtet und gewähren ihnen nichts besonderes, die von ihnen verfertigten Bildwerke und Malereien aber halten sie für Götter. 71 Und so sind die Künstler oftmals in Armut und ohne Ansehen geblieben, bis sie alt und grau geworden, und von anhaltenden Unglücksschlägen heimgesucht zuletzt darin gestorben, während die durch ihre Kunst hergestellten Werke mit Purpur und Gold und den anderen Kostbarkeiten, die der Reichtum liefert, verehrungsvoll geschmückt werden und ihr Dienst nicht bloss von[387] (gewöhnlichen) Freien verrichtet wird, sondern auch von Edelgeborenen und körperlich Wohlgestalteten. Denn bei den Priestern wird sowohl die Abkunft genau darauf geprüft, ob sie tadellos, als auch die Gesamtheit der Glieder des Leibes, ob sie ganz vollkommen ist. 72 Und das ist noch nicht das Schlimmste, wenn es auch schlimm genug ist, das Allerärgste ist dies: ich kenne manche von den Verfertigern, die zu ihren eigenen Schöpfungen beten und ihnen opfern; sie täten wahrlich besser daran, ihre beiden Hände anzubeten, oder, wollten sie schon den Schein der Eigenliebe vermeiden, dann doch Hammer und Amboss, Pinsel und Zirkel, kurz all das Handwerkszeug, mit dem die Stoffe geformt [p. 193 M.] wurden. 73 (15.) Es wäre wohl Grund so Betörten offen zu sagen: der beste Wunsch, ihr Edlen, und das höchste Glück ist es doch, Gott gleich zu werden. 74 Nun, so betet doch einmal, dass ihr den Bildsäulen gleich werden möget, damit ihr das höchste Glück erfahret, d. h. dass ihr mit Augen nicht sehet, mit Ohren nicht höret, mit der Nase nicht atmet und nicht riechet, mit dem Munde nicht redet und nicht schmecket, mit den Händen nicht fasset und nicht gebet und nicht arbeitet, mit den Füssen nicht gehet[18], noch mit sonst einem Körperteil eine Tätigkeit verrichtet, sondern im Tempel gleichwie in einem Gefängnis gehütet und bewacht bei Tag und Nacht nur immer den Dampf von dem, was geopfert wird, einziehet; denn das ist das einzig Gute, das ihr den Götterbildern andichtet. 75 Ich glaube aber, ihr würdet, so ihr solches höret, empört sein über etwas, was nicht Gebet, sondern Verwünschung wäre, und würdet zur Abwehr greifen und mit gleichem Spott den Vorwurf erwidern; und das wäre der stärkste Beweis der vorherrschenden Gottlosigkeit der Menschen, die an Götter glauben, denen im Wesen gleich zu werden sie niemals wünschen würden. 76 (16.) Keiner also, der eine Seele besitzt, möge einem unbeseelten Dinge göttliche Verehrung erweisen, denn es ist geradezu widersinnig, wenn die Geschöpfe der Natur sich göttlicher Verehrung der von Menschenhand verfertigten Gegenstände zuwenden. Die Aegypter aber trifft zu dem allgemeinen Vorwurf gegen jedes Land noch ein ganz besonderer:[388] denn ausser Schnitzbildern und Bildsäulen haben sie gar noch vernunftlose Tiere in die Götterverehrung eingeführt, Stiere, Widder und Ziegenböcke, und von jedem eine Wunderfabel hinzugedichtet. 77 Indessen, die Verehrung dieser Tiere hat vielleicht noch einen Sinn, denn sie sind doch die zahmsten und für das Leben (der Menschen) nützlichsten Tiere. Der Pflugstier reisst Furchen zur Zeit der Aussaat und ist dann wieder das geeignetste Tier zum Dreschen, wenn die Frucht gereinigt werden soll. Der Widder liefert die schönste Schutzhülle, das Gewand; denn unbekleidet ginge der Körper leicht zu Grunde, entweder durch übermässige Hitze oder durch Kälte, in dem einen Falle durch Sonnenbrand, in dem andern durch die empfindliche Abkühlung der Luft. 78 Nun aber gehen sie noch weiter und ehren auch ungezähmte Tiere und unter diesen die wildesten und unbändigsten, wie Löwen und Krokodile und von Kriechtieren die giftige Aspis, mit Tempeln und Hainen, mit Opfern, Festversammlungen, Festaufzügen und ähnlichen Dingen. Beide Gebiete nämlich, Erde und Wasser, die den Menschen von Gott zum Gebrauche gegeben sind, [p. 194 M.] durchsuchten sie nach den wildesten Tieren und fanden unter den Landtieren kein bösartigeres als den Löwen und unter den Wassertieren kein grausameres als das Krokodil; diesen also erweisen sie göttliche Ehren. 79 Und viele andere Tiere, wie Hunde, Katzen, Wölfe, von Geflügeltieren Ibis und Habicht, endlich Fische, entweder ganz oder Teile von ihnen, haben sie vergöttert. Was aber kann lächerlicher sein als dieses? 80 Natürlich müssen Fremde, die zum ersten Male nach Aegypten kommen, solange sie den in diesem Lande heimischen Wahn noch nicht in ihre eigene Seele gepflanzt haben, sich zu Tode lachen; die aber eine rechte Bildung genossen haben, sind entsetzt darüber, dass man so unwürdigen Dingen ernste Verehrung bezeigt, sie beklagen die Menschen, die das tun, und halten sie, wie es sich gehört, für noch elender als die Gegenstände, die sie verehren, in die sie gleichsam ihre Seele haben übergehen lassen, so dass sie gleich Tieren in Menschengestalt umherzugehen scheinen. 81 Deshalb verbannte Gott aus dem heiligen Gesetz jede derartige[389] Vergötterung und forderte zur Verehrung des wahrhaft seienden Gottes auf, nicht weil er für sich Ehre brauchte — denn der sich selbst vollauf Genügende bedurfte eines andern nicht —, sondern weil er das Menschengeschlecht, das sonst leicht auf unwegsamen Pfaden in die Irre geht, auf einen sicheren Weg führen wollte, damit es der Natur folge und dadurch das edelste Ziel erreiche, nämlich die Erkenntnis des wahrhaft Seienden, der da ist das erste und vollkommenste Gut, von dem wie von einer Quelle der Welt und dem, was in ihr ist, das Gute im einzelnen gespendet wird.

82 (17.) Nachdem wir auch das zweite Gebot nach unserem besten Können erörtert haben, wollen wir nun das nächste in der Reihe genauer betrachten. Es lautet: „(du sollst) den Namen Gottes nicht zum Falschen aussprechen“ (2 Mos. 20,7). Was nun die Reihenfolge betrifft, so ist der Grund dafür den im Geiste scharf Sehenden klar. Der Name ist immer ein zweites, das was zu der zu Grunde liegenden Sache hinzukommt, ähnlich wie der Schatten, der den Körper begleitet. 83 Nachdem er nun vorher vom Dasein und von der Verehrung des Ewigen gesprochen, gibt er in ganz richtiger Folge gleich auch die gebührende Anweisung in Betreff der Nennung seines Namens; denn mannigfach und verschiedenartig sind die Sünden der Menschen in diesem Punkte. 84 Am besten, heilsamsten und vernunftgemässesten wäre es ja, gar nicht zu schwören, wenn der Mensch bei jeder [p. 195 M.] Aussage so wahr zu sein lernte, dass die Worte als Eide gelten könnten. „Die zweitbeste Fahrt“[19] aber, wie man zu sagen pflegt, ist wahr schwören; denn der Schwörende steht gleich im Verdacht, als ob man ihm nicht recht trauen dürfe. 85 Darum soll man (im Schwören) zögern und langsam sein, denn vielleicht ist es doch möglich, durch Aufschub den Eid ganz zu vermeiden. Zwingt aber eine gewisse Notwendigkeit dazu, dann muss alles, was dabei in Betracht kommt, sorgfältig und nicht oberflächlich erwogen werden; es ist doch keine kleine, wenn auch aus Gewohnheit geringschätzig behandelte Sache. 86 Denn ein Zeugnis Gottes in angezweifelten[390] Dingen ist der Eid; Gott aber zum Zeugen anzurufen für eine Lüge ist durchaus frevelhaft. Geh doch, wenn du willst, und schau einmal mit dem Auge des Geistes in die Seele dessen, der zum Falschschwören sich anschickt; du wirst sehen, dass sie nicht ruhig ist, sondern voll Unruhe und Aufregung, da sie Anklagen und allen Schmähungen und Beschimpfungen ausgesetzt ist. 87 Denn das jeder Seele angeborene und in ihr wohnende Gewissen, das nicht gewohnt ist etwas Unrechtes zuzulassen, das nur den Hass gegen das Schlechte und die Liebe zur Tugend kennt, ist Ankläger und Richter zugleich[20]; wenn es einmal geweckt ist, tritt es als Ankläger auf, beschuldigt, klagt an und beschämt; als Richter hinwiederum belehrt es, erteilt Zurechtweisung, mahnt zur Umkehr; und hat es überreden können, dann ist es erfreut und ausgesöhnt, konnte es das aber nicht, dann kämpft es unversöhnlich und gibt Tag und Nacht keine Ruhe, sondern versetzt unheilbare Stiche und Wunden, bis es das elende und fluchwürdige Leben vernichtet hat. 88 (18.) Was meinst du, würde ich zu einem Meineidigen sagen, wirst du es wagen zu einem deiner Bekannten zu gehen und ihm zu sagen; „mein Lieber, komm, bezeuge mir, was du weder gesehen noch gehört hast, wie wenn du es gesehen und gehört und alles genau verfolgt hattest“? ich glaube nicht, denn es wäre das eine Tat unheilbaren Wahnsinns. 89 Ja, mit welchen Augen willst du, wenn du nüchtern bist und bei dir zu sein glaubst, den Freund ansehen, dass du zu ihm sprächest: „um der Freundschaft willen tu das Unrecht, handle gegen das Gesetz, hilf mir bei meinem frevelhaften Tun“? Es ist doch klar, dass er, wenn er das hört, der vermeintlichen Freundschaft den Rücken kehren und sich selbst nur Vorwürfe machen wird darüber, dass er überhaupt mit einem solchen Manne Freundschaft gehalten hat; er wird entsetzt wie vor einem wilden, toll gewordenen Tiere davoneilen. 90 Nun, wozu du selbst den Freund nicht zu[391] bringen wagen wirst, dafür willst du, ohne zu erröten, Gott als Zeugen anrufen, ihn, den Vater und Lenker des Weltalls? Tust du dies, obwohl du weisst, dass er alles sieht und [p. 196 M.] hört, oder weil du es nicht weisst? 91 Wenn du es nicht weisst, dann bist du ohne Gottesglauben, die Quelle alles Unrechts aber ist der mangelnde Glaube an Gott; ausserdem aber machst du den Eid bedeutungslos, da du schwörst bei dem, der (nach deiner Ansicht) gar nicht achthat auf die Handlungen der Menschen, gleich als ob er sich doch um sie kümmerte. Weisst du es aber gewiss, dass Gottes Vorsehung alles leitet, so kann es kein grösseres Mass von Gottlosigkeit geben; denn du sprichst, wenn auch nicht mit dem Munde und mit der Zunge, so doch im Herzen zu Gott: bezeuge mir meine Unwahrheit, hilf mir betrügen, hilf mir leichtfertig handeln; meine einzige Hoffnung, bei den Menschen meinen guten Namen zu behalten, beruht darauf, dass du die Wahrheit verschleiern hilfst; werde du ein Uebeltäter für einen andern, du der Bessere für den Schlechten, für einen Menschen und zwar einen elenden du Gott, der Beste von allen. 92 (19.) Es gibt auch Menschen, die gar nicht aus Gewinnsucht, sondern nur aus schlechter Gewohnheit allzuviel und ohne Ueberlegung bei jeder beliebigen Gelegenheit schwören, auch wenn gar nichts bestritten wird, indem sie die leeren Behauptungen in ihrer Rede[21] noch mit Eiden bekräftigen wollen, als ob es nicht besser wäre den Redeschwall zu kürzen oder noch besser gänzlich zu schweigen; denn aus vielem Schwören entsteht Falschschwören und gottloses Tun[22]. 93 Deshalb soll auch einer, der schwören will, alles sorgfältig und gar peinlich geprüft haben, die Sache, ob sie gar so wichtig ist, ob sie wirklich geschehen ist und ob er das Geschehene genau wahrgenommen, sich selbst, ob er rein an Seele, Leib und Zunge ist, ob die Seele rein von gesetzwidrigem Tun, der Leib rein von Befleckungen, die Zunge rein von lästerlicher Rede; denn sündhaft wäre es, wenn durch den Mund,[392] mit dem einer den heiligsten Namen ausspricht, auch irgend welche hässliche Reden gingen. 94 Weiter suche er dazu auch einen geeigneten Ort und die geeignete Zeit; denn ich weiss ganz gut, dass manche an profanen und unreinen Orten, wo man nicht des Vaters oder der Mutter oder auch nur eines fremden alten Mannes, der rechtschaffen gelebt hat, gedenken dürfte, Schwur auf Schwur häufen und ganze Reden, die aus lauter Eiden bestehen, aneinanderreihen und dabei den vielgestaltigen Namen Gottes an unpassendster Stelle in frevelhafter Weise missbrauchen. 95 Wer nun das Gesagte missachtet, soll erstens wissen, dass er verrucht und unrein ist, dann dass stets die schwersten Strafen seiner warten, indem die zur Aufsicht über die Handlungen der Menschen gesetzte Gerechtigkeit unbeugsam und unerbittlich so grosse Vergehen verfolgt und, wenn sie nicht augenblicklich zu strafen für gut findet, unter schweren Bedingungen die Strafe gleichsam auf Borg zu geben scheint, die sie aber dann, wenn es Zeit ist, zum allgemeinen [p. 197 M.] Nutzen einfordert.

96 (20.) Das vierte Gebot handelt vom heiligen Sabbat, dass er in frommer und gottgefälliger Weise gefeiert werde. Diesen (7. Tag) feiern einige Staaten einmal im Monat[23], indem sie vom Neumond[24] ab zählen, das Volk der Juden aber regelmässig immer nach sechs Tagen. 97 Einen gewichtigen Grund dafür bringt die Schöpfungsgeschichte: dort heisst es, in sechs Tagen sei die Welt geschaffen worden, und am siebenten Tage habe Gott nach Beendigung des Schöpfungswerkes angefangen das schön Geschaffene zu betrachten. 98 Er befahl daher denen, die in diesem Staatswesen leben sollten, wie in anderen Dingen so auch hierin Gott zu folgen, also sechs Tage lang sich den Geschäften zuzuwenden,[393] am siebenten aber zu ruhen, sich mit Philosophie und mit Betrachtung der Dinge der Natur zu beschäftigen, insbesondere auch sich zu prüfen, ob sie nicht an den vorangegangenen Tagen Unlauteres getan, und sich selbst Rechenschaft zu geben von dem, was sie gesprochen und getan, vor dem Richterstuhl der Seele, wobei das Gesetz mitzuwirken und mitzuprüfen hätte, um das, was verfehlt worden, wieder gut zu machen und neue Verfehlungen zu verhüten. 99 Nur hat Gott zur Vollendung der Welt nur einmal sechs Tage gebraucht, wiewohl er eigentlich eines Zeitraums dazu nicht bedurfte; der Mensch dagegen, der ja von sterblicher Natur ist und so vieler Dinge bedarf zur Befriedigung der Notdurft des Lebens, darf bis an sein Lebensende zu keiner Zeit säumen, sich das Notwendige zum Leben zu verschaffen, er muss aber auch an den heiligen Sabbaten ausruhen. 100 Ist das nun nicht eine treffliche und zu jeder Tugend und ganz besonders zur Frömmigkeit anzutreiben geeignete Lehre? denn er (der Gesetzgeber) sagt damit: „folge stets Gott, er sei dir ein gutes Vorbild dafür, dass du dir eine Zeit bestimmst zu Geschäften, einen Zeitraum von sechs Tagen, in welchem Gott die Welt erschuf; und Vorbild dafür, dass du auch philosophieren sollst, sei dir jener siebente Tag, an dem er, wie es heisst, überschaute, was er geschaffen, auf dass auch du die Werke der Natur betrachtest und dein eigenes Streben, das auf Glückseligkeit hinzielt“. 101 Solches Urbild der beiden besten Lebensrichtungen, der praktischen wie der theoretischen, wollen wir nicht unbeachtet lassen, sondern allezeit darauf blicken und seine klaren Abbilder und Formen unserem Geiste einprägen, da wir so unsere sterbliche Natur soweit als möglich der unsterblichen ähnlich machen im Reden und Tun dessen, was [p. 198 M.] man soll. Wie es aber zu verstehen ist, dass die Welt in sechs Tagen von Gott geschaffen wurde, der doch der Zeit zu seinem Wirken gar nicht bedarf, das ist an anderer Stelle allegorisch erklärt worden[25]. 102 (21.) Den Vorrang aber, den die Siebenzahl in der Natur hat, erklären die Mathematiker, die sie sehr genau und sorgfältig erforscht haben. Sie ist nämlich, (sagen sie), die Jungfrau unter den Zahlen,[394] das mutterlose Wesen, nahe verwandt der Eins und dem Urgrund (aller Dinge)[26], die Idee der Planeten, wie die Eins die Idee des Fixsternhimmels ist; denn aus der Eins und der Sieben ist der unkörperliche Himmel zusammengesetzt, das Urbild des sichtbaren. 103 Gebildet aber ist der Himmel aus der ungeteilten und der geteilten Natur; die ungeteilte erhielt den ersten und obersten Umkreis, den Fixsternkreis, über den die Eins gesetzt ist, die geteilte aber den der Bedeutung und dem Range nach zweiten Kreis, den die Siebenzahl beherrscht und der sechsmal zerlegt die sogenannten sieben Planeten (Wandelsterne) hervorbringt[27]. 104 Aber nicht weil einer der Körper am Himmel umherirrt, die doch göttliche und glückselige Natur erhalten haben und denen vielmehr Unwandelbarkeit eigen ist — wenigstens machen sie ewig die gleichen Bewegungen und unterliegen keiner Wandlung oder Veränderung —, sondern weil sie eine der ungeteilten, am äussersten Ende befindlichen Sphäre entgegengesetzte Bewegung haben, wurden sie uneigentlich Planeten genannt von ungebildeten Menschen, die ihr eigenes Irren auf die Himmelskörper übertrugen, die ihre Stellung in dem göttlichen Heereslager niemals verlassen. 105 Aus diesen und anderen Gründen mehr ist die Sieben so sehr geehrt, aus keinem Grunde aber erhielt sie einen solchen Vorzug, als weil in ihr der Schöpfer und Vater des Weltalls sich am meisten kundtut: gleichsam wie durch einen Spiegel sieht der Geist durch sie Gott in seinem Wirken, in seiner welterschaffenden und welterhaltenden Tätigkeit.

106 (22.) Nach den Bestimmungen betreffend den Sabbat verkündigt er das fünfte Gebot über die Ehrfurcht vor den Eltern, dem er seine Stelle auf der Grenze zwischen den[395] beiden Abteilungen von je fünf Geboten gegeben hat; es ist nämlich das letzte der ersten Abteilung, in der die heiligsten Pflichten (gegen Gott) geboten werden, und schliesst sich zugleich an die zweite Abteilung an, die die Pflichten gegen Menschen umfasst. 107 Der Grund, meine ich, ist folgender: die Natur der Eltern steht gleichsam auf der Grenze zwischen unsterblichem und sterblichem Wesen, sterblichem [p. 199 M.] wegen der Verwandtschaft in leiblicher Vergänglichkeit mit Menschen und anderen lebenden Geschöpfen, unsterblichem wegen der Aehnlichkeit im Erzeugen mit Gott, dem Erzeuger des Alls. 108 Es haben nun manche sich ganz dem einen Teil der Gebote zugewandt und den andern ganz vernachlässigen zu dürfen gemeint: erfüllt von der reinsten Liebe zur Frömmigkeit haben sie allen anderen Geschäften den Rücken gekehrt und ihr eigenes Leben ganz dem Dienste Gottes geweiht. 109 Andere wieder halten nichts anderes für gut als die Pflichten gegen Menschen und lieben deshalb allein den Umgang mit Menschen, sie lassen in ihrem Verlangen nach inniger Gemeinschaft alle Menschen in gleicher Weise ihre Güter mitgeniessen und suchen ihnen in ihrer Not nach Kräften Erleichterung zu verschaffen. 110 Diese dürfte man mit Recht Menschenfreunde, erstere dagegen Gottesfreunde nennen; beide aber besitzen nur die halbe Tugend, denn vollkommen sind die nur, die sich nach beiden Richtungen auszeichnen. Die aber, die weder in ihren Beziehungen zu den Menschen sich bewahren, dadurch dass sie sich mitfreuen am gemeinsamen Glück und Leid mitfühlen bei dem Gegenteil, noch auch fromme Gesinnung gegen Gott bekunden, diese könnten fast in Tiernatur verwandelt erscheinen, eine Verwilderung der Sitten, die sich am schlimmsten bei denen zeigt, die keine Rücksicht gegen Eltern kennen, die sich also nach beiden Seiten feindlich gesinnt zeigen, gegen Gott und gegen die Menschen. 111 (23.) Vor zwei Richterstühlen also, die es allein auf Erden gibt, werden sie — das sollen sie wohl wissen — schuldig gefunden, schuldig der Gottlosigkeit in dem göttlichen Gericht, da sie die, welche sie aus dem Nichtsein ins Sein hinübergeführt und solcherweise Gott nachgeahmt haben, nicht ehren, und schuldig der Feindschaft gegen die[396] Menschen in dem Menschengericht. 112 Denn wem werden denn sonst noch die wohltun, die die nächsten Verwandten missachten, die ihnen die grössten Geschenke dargereicht haben, Geschenke zum Teil so gross, dass sie gar nicht vergolten werden können[28]? Denn wie vermochte einer, der Leben empfangen hat, seinen Erzeugern Leben wiederzugeben, da die Natur den Eltern damit eine besondere Gabe den Kindern gegenüber verliehen hat, für die es kein Wiedererstatten gibt? Darum darf man auch im höchsten Grade empört sein, wenn Kinder, die doch nicht alles wiedererstatten können, nicht das geringste von Liebe ihren Eltern erweisen wollen. 113 Solchen hätte ich, wie sich’s gebührt, zu sagen: Tiere müssen gegen Menschen zahm gemacht werden; oft schon sah ich Löwen, Bären, Panther zahm, nicht nur [p. 200 M.] gegen die, die sie füttern, zum Dank für die unentbehrliche Nahrung, sondern auch gegen andere, ich meine, wegen der Aehnlichkeit mit jenen; denn immer ist es gut, dass die niedere Gattung der höheren gehorche, weil das Hoffnung gibt auf Verbesserung der Art. 114 Nun aber werde ich gezwungen sein im Gegenteil zu sagen; ihr Menschen, ahmet doch das Beispiel einiger Tiere nach! Diese wissen und haben gelernt ihren Wohltätern Gegendienste zu erweisen: Haushunde verteidigen ihre Herren und lassen sich für sie töten, wenn plötzlich eine Gefahr eintritt; vollends von den Hunden, die bei den Herden verwendet werden, erzählt man, dass sie bei der Verteidigung der Tiere ausharren bis zum Siege oder bis zum Tode, um die Herdenführer vor Schaden zu bewahren. 115 Ist es nun nicht die allergrösste Schande, wenn der Mensch sich in Erwiderung von Wohltaten vom Hunde übertreffen lässt, das edelste Geschöpf vom frechsten der Tiere? Wollen wir uns aber nicht von den[397] Landtieren belehren lassen, so mögen wir uns zu der die Lüfte durchsegelnden Vogelwelt wenden, um von ihr zu lernen, was wir sollen. 116 Bei den Störchen bleiben die Alten im Nest, wenn sie nicht mehr fliegen können, und ihre Jungen fliegen beinahe (möcht’ ich sagen) über Land und Meer und bringen von allen Seiten den Eltern die Nahrung[29]. 117 So geniessen die einen, wie es ihrem Alter zukommt, in Ruhe, was sie brauchen, und haben immer Ueberfluss daran, während die anderen die Mühe der Beschaffung des Futters leicht nehmen und aus Pietät und in der Erwartung, dass sie im Alter das Gleiche von ihrer Brut erhalten werden, nur eine notwendige Schuld zurückzahlen; zu rechter Zeit haben sie sie empfangen und erstatten sie sie zurück, zu der Zeit nämlich, wo beide sich nicht selbst ernähren können, die Jungen am Anfang bald nach ihrer Geburt, die Eltern am Ende ihres Lebens. Darum folgen sie von selbst der Natur als Lehrmeisterin und ernähren die Eltern gern, nachdem sie selbst als Junge von ihnen gefüttert worden sind. 118 Müssten nun nicht Menschen, die der Sorge um die Eltern sich entschlagen, um solcher Beispiele willen ihr Haupt verhüllen und sich selbst Vorwürfe machen, dass sie die vernachlässigen, für die sie allein oder doch vor allem zu sorgen hätten, zumal sie dabei nicht sowohl geben als vielmehr zurückgeben; denn nichts gehört den Kindern, was sie nicht von den Eltern haben[30], sei es dass sie es ihnen von Hause aus gegeben oder dass sie ihnen die Möglichkeit es zu erwerben verschafft haben. 119 Hätten nun solche noch Gottesfurcht und Frömmigkeit, diese obersten Tugenden, in der Seele? Nein, sie haben sie verbannt und verjagt. Denn [p. 201 M.] nur Diener Gottes sind für die Kindererzeugung die Eltern; wer aber den Diener missachtet, missachtet damit auch den Herrn. 120 Manche aber gehen sogar noch weiter in der Verherrlichung des Elternnamens und sagen, dass Vater und Mutter[398] sichtbare Götter sind[31], weil sie den Unerschaffenen nachahmen im Erzeugen von lebenden Wesen, nur dass jener Gott der Welt ist, diese aber bloss (die Götter) derer sind, die sie erzeugt haben. Unmöglich aber ist es, dass die Ehrfurcht haben vor dem Unsichtbaren, die denen die Ehrfurcht versagen, die sichtbar und ihnen nahe sind.

121 (24.) Mit diesem Gebot über die Ehrfurcht gegen Eltern schliesst er die eine Reihe von fünf Geboten, die sich mehr auf die Gottheit bezieht. Die andere Reihe, die die Verbote betreffend die Beziehungen zu den Menschen umfasst, beginnt der Gesetzgeber mit dem Verbot des Ehebruchs[32], weil er der Ansicht ist, dass dieser das grösste der Verbrechen ist. 122 Denn erstlich hat er zur Quelle die Wollust, die dem von ihr Ergriffenen den Körper aufreibt, die Spannkraft der Seele löst und das Vermögen zerrüttet: nach Art eines nicht zu löschenden Feuers verzehrt sie alles, was sie erfasst, und lässt nichts unversehrt von allem, was zum menschlichen Leben gehört. 123 Sodann veranlasst er den Ehebrecher nicht bloss allein zu sündigen, sondern auch andere zur Sünde mit zu verleiten und eine Gemeinschaft einzugehen, wo es keine Gemeinschaft geben sollte. Denn sobald einer von heftiger Leidenschaft ergriffen ist, kann unmöglich die Begierde durch einen allein befriedigt werden, es müssen durchaus zwei, von denen der eine die Rolle des Lehrers, der andere die des Jüngers übernimmt, zur Befriedigung zügelloser Wollust, dieses hässlichsten Lasters, sich verbinden. 124 Denn nicht einmal das lässt sich sagen, dass nur der Leib des Ehebruch begehenden Weibes geschändet wird,[399] sondern, wenn man die Wahrheit sagen soll, wird die Seele mehr noch als der Körper an Entfremdung gewöhnt, da sie in jeder Weise belehrt wird, sich von dem Ehemanne abzuwenden, ja ihn zu hassen. 125 Und die Sache wäre weniger schlimm, wenn der Hass sich offenkundig zeigte, denn vor der sichtbaren Gefahr vermag man sich leichter zu schützen; nun aber ist er schwer zu bemerken und schwer zu fassen, da er mit bübischen Künsten verheimlicht wird, manchmal gar noch im Gegenteil den Schein zärtlicher Zuneigung mit mancherlei Täuschung und Betrug zu erwecken sucht. 126 Ferner zerstört der Ehebruch drei Häuser[33], das des treulos behandelten Mannes, dem die Ehegelöbnisse verletzt und die Hoffnungen auf rechtmässige Nachkommenschaft zunichte gemacht werden, und zwei andere, das des Ehebrechers und das des Weibes; denn auch über diese beiden wird Schimpf und Schande und die grösste Schmach gebracht. 127 Ist vollends die Verwandtschaft infolge von Heiraten und vielseitigen Verbindungen sehr zahlreich, so wird der Frevel, gleichsam im Kreise herumgehend, gar die ganze Stadt berühren. [p. 202 M.] 128 Sehr schlimm ist dann auch die zweifelhafte Stellung der Kinder; denn wenn die Frau nicht ihre Ehre wahrt, ist es zweifelhaft und unklar, wer in Wahrheit der Vater der Sprösslinge ist. Wenn dann die Sache verborgen bleibt, verfälschen die im Ehebruch erzeugten Kinder, indem sie die Stelle von rechtmässigen sich aneignen, ein fremdes Geschlecht und werden noch ein vermeintlich väterliches Erbe, das ihnen aber in keiner Weise zukommt, empfangen. 129 Und der Ehebrecher, wenn er in frevelhafter Weise seiner Leidenschaft gefrönt und sein Gelüste befriedigt hat, geht dann davon und verlässt die Kinder, die er in Sünde erzeugt hat, und verlacht noch obendrein die Unkenntnis des betrogenen Mannes; dieser aber wird, da er wie ein Blinder nichts von dem weiss, was sich ihm ins Haus geschlichen, die von seinen ärgsten Feinden erzeugten Kinder wie die eigenen aufzuziehen genötigt sein. 130 Wird aber die Sache ruchbar, so werden die armen Kinder, die doch nichts Böses getan haben, tief unglücklich, da sie keinem Geschlecht zugezählt[400] werden können, weder dem des Ehemannes noch dem des Ehebrechers. 131 Da also ungesetzliche Begattung solches Unheil stiftet, ist der Ehebruch, dieses verabscheuenswerte und gottverhasste Verbrechen, mit Recht als erstes der Vergehen gegen Menschen (im Dekalog) verzeichnet worden.

132 (25.) Das zweite Gebot ist: nicht töten. Denn da die Natur[34] den Menschen, das sanfteste Geschöpf, als ein geselliges und das Zusammensein liebendes Wesen geschaffen, forderte sie ihn zur Eintracht und Brüderlichkeit auf und verlieh ihm die Vernunft, die ihn zu harmonischer Bildung des Charakters führen sollte. Wer also einen Menschen tötet, soll wissen, dass er die Gesetze und Ordnungen der Natur umstösst, die in trefflichster Weise und zum Nutzen für alle gegeben sind. 133 Er soll aber auch wissen, dass er sich des Tempelraubes schuldig macht, weil er das heiligste Besitztum Gottes geplündert hat[35]; denn welches Weihgeschenk wäre achtbarer oder heiliger als der Mensch? Gold, Silber, kostbare Steine und alle anderen wertvollen Stoffe sind doch nur seelenloser Schmuck seelenloser Bauwerke. 134 Der Mensch dagegen, wegen des besseren Teils in ihm, wegen der Seele, das edelste Geschöpf, ist dem reinsten Teile der bestehenden Welt, dem Himmel, ja, wie die meisten sagen, sogar dem Vater der Welt am verwandtesten, da er von allen Geschöpfen auf Erden das eigenste Abbild der ewigen und glückseligsten Idee in seiner Vernunft empfing.

135 (26.) Das dritte Gebot der zweiten Reihe ist: nicht stehlen. Denn wer nach fremdem Gute verlangt, ist ein gemeinsamer Feind des Staates, der, ginge es nach seinem Willen, das Eigentum aller an sich reissen würde und nur, weil seine Macht bloss so weit reicht, das einiger wenigen raubt, indem die Habsucht bei ihm sich zwar weit erstreckt, das Können aber hinter dem Wollen zurückbleibt und daher sich beschränken muss und nur einige wenige treffen [p. 203 M.][401] kann. 136 Die Diebe aber, die eine gewisse Macht erlangt haben, plündern ganze Städte aus und kümmern sich nicht um die Strafen, weil sie mächtiger zu sein glauben als die Gesetze: das sind die von Natur oligarchisch Gesinnten, die nach Herrschaft und Gewalt streben, die die Diebstähle im grossen ausführen und mit den vornehmen Namen der Obrigkeit und der Regierung den Raub, was es in Wahrheit ist, bemänteln. 137 Von früher Jugend auf lerne darum jeder, dass man nichts von fremdem Gut heimlich entwenden darf, und wäre es das geringste, weil Gewohnheit, wenn sie einwurzelt, stärker ist als Natur, und das Kleine, wenn ihm nicht gewehrt wird, zu bedeutender Grösse sich auswächst und immer weiter sich ausdehnt.

138 (27.) Auf das Verbot des Diebstahls lässt Moses das des falschen Zeugnisses folgen, weil er weiss, dass die falschen Zeugen grosse und schwere Schuld auf sich laden. Denn erstens zerstören sie die hehre Wahrheit, die doch das heiligste der Besitztümer im Leben ist, indem sie gleich der Sonne Licht um die Dinge verbreitet, damit nichts daran dunkel bleibe. 139 Zweitens, abgesehen davon dass sie die Unwahrheit sagen, hüllen sie den Sachverhalt wie in tiefe Nacht und Finsternis, leisten Beihilfe den Uebeltätern und schädigen die, denen Unrecht geschehen ist, indem sie versichern genau zu wissen und bestimmt wahrgenommen zu haben, was sie weder gesehen noch gehört haben noch wissen können. 140 Sie verüben weiter ein drittes Unrecht, das noch schlimmer ist als die beiden ersten. Fehlt es nämlich an Beweisen, sei es mündlichen oder schriftlichen, dann nehmen die Prozessführenden zu Zeugen ihre Zuflucht, deren Aussage dann für die Richter eine Richtschnur ist in der Sache, über die sie ihren Spruch fällen sollen; muss man sich doch an diese allein halten, wenn anderes zum Beweise nicht da ist. Das hat dann die Folge, dass die, gegen welche Zeugnis abgelegt wird, Unrecht leiden müssen, während sie sonst wohl den Prozess hätten gewinnen können, die Richter aber, die (auf solche Zeugen) hören, einen ungerechten und gesetzwidrigen Spruch statt eines gesetzmässigen und gerechten fällen. 141 Das Verbrechen wird aber auch zu einem religiösen Frevel;[402] denn nicht ohne vorher geschworen zu haben pflegt der Richter Recht zu sprechen, sondern nur nach Ableistung eines schrecklichen Eidschwures; diesen verletzen (die falschen Zeugen), die die Täuschung verüben, mehr als die getäuschten (Richter); denn bei diesen ist der Fehlspruch nicht beabsichtigt, jene aber hintergehen wissentlich, sie sündigen selber mit Vorbedacht und veranlassen die Richter, die das Urteil zu fällen haben, ohne dass sie wissen, was sie tun, an ihrem Verbrechen teilzunehmen, zum Schaden solcher, die keine Strafe verdient haben. Aus diesen Gründen [p. 204 M.] also, glaube ich, verbietet er falsches Zeugnis abzulegen.

142 (28.) Zuletzt verbietet er (fremdes Gut) zu begehren, in der Erkenntnis, dass die böse Begierde zur Neuerungssucht führt und Schaden anrichtet. Wohl sind alle Leidenschaften der Seele von Uebel, sie versetzen sie in unnatürliche Bewegung und Unruhe und lassen sie nicht gesund[36], am schlimmsten aber ist die böse Begierde; denn[37] jede andere (Leidenschaft), die von aussen wie durch eine Tür hereinkommt und uns überfällt, scheint unfreiwillig zu sein, nur die Begierde geht von uns selbst aus und ist also freiwillig. 143 Wie ist das zu verstehen? Die Vorstellung von einem vorhandenen und dafür gehaltenen Glücke weckt und erregt die sonst ruhige Seele und richtet sie hoch auf, ebenso wie ein aufflammendes Licht die Augen; man nennt diese Empfindung der Seele Lust[38]. 144 Wenn aber das Gegenteil des Glücks, das Unglück, plötzlich hereinbricht[39] und der Seele einen harten Schlag versetzt, erfüllt es sie gleich wider ihren Willen mit Sorge und Betrübnis; dieses Gefühl heisst Schmerz. 145 Wenn aber das Unglück noch nicht eingetroffen ist und noch nicht drückt, aber zu kommen droht und sich[403] bereits ankündigt, schickt es Unruhe und Angst als Unglücksboten voraus, die sie in Schrecken versetzen; Furcht heisst diese Empfindung. 146 Wenn dagegen einer den Gedanken an ein Glück gefasst hat, das noch nicht da ist, und den starken Wunsch hat es zu erlangen, da treibt er die Seele zu weit entferntem Ziele an, und in seinem heftigen Verlangen, das ersehnte (Glück) zu fassen, wird er wie auf die Folter gespannt, weil er eifrig bemüht ist, es zu greifen, und doch nicht imstande es zu erreichen, und so etwa dasselbe erfährt wie die, welche die Zurückweichenden wohl mit unüberwindlichem Eifer, aber nicht mit zureichender Schnelligkeit verfolgen. 147 Etwas Aehnliches scheint auch bei den sinnlichen Wahrnehmungen stattzufinden. Oft wenn die Augen einen sichtbaren Gegenstand, der sehr weit entfernt ist, gern wahrnehmen möchten, strengen sie sich über die Massen an; da sie aber weiter vordringen wollen, als ihre Kraft reicht, fällt ihr Blick ins Leere und sie bringen sich so um die genaue Wahrnehmung des Gegenstandes und werden obendrein durch die gewaltsame Anspannung beim starren Sehen in ihrer Sehkraft geschwächt und getrübt. 148 Ebenso wenn ein undeutlicher Ton aus weiter Entfernung kommt, richten sich die Ohren gespannt dahin und verlangen möglichst nahe heranzukommen, damit der Ton dem Gehör vernehmlicher werde. 149 Dieser aber dringt natürlich nur schwach ins Ohr und will sich noch immer nicht deutlicher erkennen lassen. Die Folge davon ist, dass das unbefriedigte und erfolglose Verlangen, (den Ton) zu verstehen, nur noch grösser wird und die Begierde Tantalusqualen verursacht; so oft dieser nämlich etwas greifen wollte, wonach er verlangte, tat er einen Fehlgriff; ebenso wird jeder, der von einer Begierde [p. 205 M.] beherrscht wird und stets nach Dingen dürstet, die nicht da sind, niemals Befriedigung finden und immer in eitlem Verlangen sich winden. 150 Und wie die schleichenden Krankheiten, wenn ihre Ausbreitung nicht durch Schneiden oder Brennen aufgehalten wird, schnell den Körper in seinem ganzen Umfange erfassen und nichts heil an ihm lassen, so wird sich auch, wenn nicht die durch Philosophie gestärkte Vernunft gleich einem guten Arzte die Begierde in ihrem Laufe[404] hemmt, alles im Leben notwendig entgegengesetzt dem natürlichen Verlaufe bewegen. Denn es gibt nichts, was von dieser Leidenschaft verschont bleibt und ihr entgeht; denn sobald sie einmal die volle Macht über einen hat, verbreitet sie sich über alles und jedes und richtet überall Schaden an. 151 Es ist vielleicht töricht, lange zu reden von Dingen, die so offenkundig sind; denn wo gibt es eine Person oder eine Gesamtheit, die diese Dinge nicht kennt, da sie nicht nur jeden Tag, sondern so zu sagen jede Stunde deutliche Beweise von sich geben? Sind etwa Geldgier oder Verlangen nach einem Weibe oder nach Ruhm oder nach irgend einem andern Gegenstande, der Vergnügen macht, die Ursache nur kleiner und gewöhnlicher Uebel? 152 Werden nicht dadurch Verwandte erzürnt, so dass ihre natürliche Zuneigung zueinander sich in unheilbare Feindschaft verwandelt? Werden nicht grosse und volkreiche Länder infolge davon durch innere Unruhen entvölkert? Sind nicht Land und Meer voll von stets sich erneuernden Leiden durch die Verheerungen, die See- und Landheere[40] anrichten? 153 Die tragischen Kämpfe der Hellenen und Barbaren, die sie unter sich und gegeneinander geführt haben, sind doch alle aus der einen Quelle geflossen, der Begierde nach Schätzen oder Ruhm oder Sinneslust, denn auf diese Dinge ist die Sorge des Menschengeschlechts gerichtet.

154 (29.) Doch genug davon. Man muss aber auch wissen, dass die zehn Gottesworte den Hauptinbegriff der Einzelgesetze bilden, die an verschiedenen Stellen der Gesamtgesetzgebung der heil. Schrift verzeichnet sind. 155 So begreift das erste Gebot alle die Bestimmungen über die Alleinherrschaft (Gottes) in sich; diese erklären, dass einer der Urgrund der Welt ist, einer der Herr und König, der das All zu seinem Heile lenkt und regiert, der die Herrschaft einiger wenigen oder die Herrschaft des Volkshaufens, schädliche Regierungsformen, wie sie bei den schlechtesten Menschen aus der Unordnung oder Anmassung entstehen, aus dem reinsten Teile der Welt, seinem Himmel, verbannt hat. 156 Das zweite Gebot ist die Grundlage für alle Gesetzesbestimmungen[405] über Göttergebilde von Menschenhand, indem es Bildsäulen von Stein und Holz und überhaupt Bildwerke, wie sie Malerei und Bildhauerkunst, diese schädlichen Künste, schaffen, nicht herzustellen erlaubt, auch allen Mythendichtungen, wie denen von Götterehen, Göttergeburten und den damit [p. 206 M.] zusammenhängenden argen Greueln ohne Zahl, keinen Eingang verstattet. 157 Unter das dritte Gebot fallen alle Bestimmungen über das Nichtschwören sowie darüber, wegen welcher Dinge und wann und wo zu schwören ist, ferner wer schwören soll und wie man an Seele und Leib dazu beschaffen sein muss, und was sonst noch über rechtes Schwören und das Gegenteil von Gott verordnet ist. 158 (30.) Das vierte Gebot, das vom siebenten Tag, ist überhaupt als das Grundgesetz der Feste anzusehen mit den für ein jedes vorgeschriebenen Weihen, den angemessenen Sprengungen, den Gebeten, die auf Erhörung rechnen dürfen, und den fehlerlosen Opfern, mit welchen der Dienst verrichtet wurde. 159 Unter der Sieben verstehe ich aber ebensowohl die mit der Sechs, der schöpferischsten Zahl[41], verbundene Zahl wie die ohne die Sechs; diese steht vor der Sechs[42] und ist der Eins ähnlich, und einer dieser beiden Zahlen (1 und 7) weist Moses die Feste zu: der Eins den besonders geheiligten Neumondstag (des 7. Monats), den man mit Trompetenschall verkündet, und den Tag des Fastens (den Versöhnungstag), an welchem Enthaltung von Speise und Trank geboten ist; ferner den Tag, den die Hebräer in ihrer väterlichen Sprache Passah nennen, an welchem das ganze Volk und zwar jeder für sich das Opfer selbst darbringt, ohne auf die Priester zu warten[43], da das Gesetz ausnahmsweise für einen Tag in jedem Jahre dem ganzen Volke das Priesteramt eingeräumt hat zur Selbstbesorgung der Opfer; 160 ferner den Tag, an welchem eine Garbe reifer Aehren dargebracht wird als Dankopfer für Fruchtbarkeit und reichen Ertrag des Feldes an reifenden Aehren;[406] endlich den von diesem Tage ab nach Ablauf von sieben Wochen gezählten fünfzigsten Tag, an welchem es Sitte ist Brote darzubringen, die richtig Erstlingsbrote genannt werden, da sie Erstlinge der Erdfrüchte sind, die die edle Nahrung geben, wie sie Gott dem Menschen als dem edelsten Geschöpfe zugeteilt hat. 161 Der Sieben dagegen wies er die grösseren, mehrere Tage dauernden Feste zu, die in die Tag- und Nachtgleichen des Jahres fallen, in die des Frühlings und die des Herbstes, und zwar wies er diesen zwei Feste zu, jedes sieben Tage während, das eine Fest im Frühling beim Reifen der Saaten, das andere im Herbst zur Zeit der Einsammlung aller Früchte, die auch die Bäume getragen haben. Passend sind sieben Tage entsprechend den sieben Monaten zwischen den beiden Tag- und Nachtgleichen festgesetzt worden, damit so jeder Monat als ausserordentliches Geschenk einen heiligen Festtag erhalte zu fröhlichem Genuss des Friedens. 162 Es gehören aber (zum vierten Gebot) auch noch andere vortreffliche Gesetze, die zu milder und brüderlicher Gesinnung, zu bescheidenem und billig denkendem Wesen anleiten. Von dieser Art sind die Bestimmungen über das sogenannte Sabbatjahr, in welchem geboten ist das ganze Land brach liegen zu lassen, weder zu säen noch [p. 207 M.] zu pflügen noch auch Bäume auszuputzen oder zu beschneiden oder sonst welche Feldarbeit zu verrichten. 163 Sind nämlich sechs Jahre hindurch Ebene und Bergland bearbeitet zur Hervorbringung von Früchten und Entrichtung ihres Jahrestributs, so gibt ihnen dann das Gesetz eine Ruhezeit, um sich zu erholen und frei zu sein, und überlässt es der Natur, von selbst etwas hervorzubringen. 164 Andere Bestimmungen handeln über das fünfzigste Jahr (Jobel), in welchem das eben Gesagte gleichfalls geschieht, ausserdem aber auch — und das ist das Wesentlichste — die Rückgabe der Erbgüter an die Familien, die sie am Anfang besessen, erfolgen muss, eine Anordnung voll Menschenfreundlichkeit und Gerechtigkeit. 165 (31.) Das fünfte Gebot, das von der Ehrfurcht gegen Eltern, deutet zugleich auf viele wichtige Gesetze hin, wie die über Greise und Jünglinge, über Herrschende und Untergebene, über Wohltäter und Empfänger[407] von Wohltaten, über Sklaven und Herren. 166 Eltern nämlich gehören zu der höheren Klasse der eben Genannten, in der die Aelteren, die Herrschenden, die Wohltäter, die Herren sich befinden, Kinder dagegen in der niedrigeren Klasse, zu der die Jüngeren, die Untergebenen, die Empfänger von Wohltaten, die Sklaven gehören. 167 Jene Gesetze enthalten aber mancherlei Bestimmungen, wie die Jüngeren das Alter zu ehren, die Aelteren für die Jugend zu sorgen, Untergebene der Obrigkeit zu gehorchen haben, die Regierenden auf das Wohl der Regierten bedacht sein sollen, ferner dass die Empfänger von Wohltaten diese auch vergelten, die Geschenkgeber aber ihre Geschenke nicht zurückfordern sollen, wie wenn sie sie nur geliehen hatten, und dass Diener ihren Herren mit Liebe dienen, Herren aber ihre Diener milde und freundlich behandeln sollen, wodurch die Ungleichheit des Standes ausgeglichen wird.

168 (32.) Damit endet die erste Reihe der Hauptgebote mit ihrem allgemeineren Charakter, wozu eine nicht geringe Zahl von Einzelgesetzen gehört. Von der zweiten Reihe ist das erste Hauptstück das gegen Ehebrecher, unter welches sehr viele Gesetze fallen, wie die gegen Verführer, gegen Knabenschänder, gegen die, die ein ausschweifendes Leben führen und gesetzwidrigen und unzüchtigen Geschlechtsverkehr pflegen. 169 Alle diese Arten hat das Gesetz nicht aufgeführt, [p. 208 M.] um die grosse Mannigfaltigkeit der Zügellosigkeit zu zeigen, sondern um den ein unanständiges Leben Führenden das Beschämende ihres Tuns recht klar zu machen und ihre Ohren mit allem Schimpf zu erfüllen, sodass sie erröten müssen. 170 Das zweite Hauptstück ist das Verbot des Tötens, worunter alle die Bestimmungen über Gewalttat, tätliche Beleidigung, Misshandlung, Verwundung, Verstümmelung fallen, wichtige und dem Gemeinwohl dienende Gesetze. 171 Das dritte Hauptstück ist das Verbot des Stehlens, unter das alles fällt, was über Hinterziehung von Schuldforderungen bestimmt ist, über Ableugnung von anvertrautem Gut, über Verletzung von Verträgen, über offenen, unverschämten Raub und über alle Vergehen aus Gewinnsucht überhaupt, von der manche sich verleiten lassen, offen oder heimlich fremdes Gut zu entwenden.[408] 172 Das vierte ist das Gebot, dass man nicht falsches Zeugnis ablege, mit dem wiederum vieles zusammenhängt, wie: keinen zu täuschen, keinen falsch anzuklagen, mit Verbrechern keine gemeinsame Sache zu machen, Treue und Glauben nicht zum Deckmantel der Untreue zu machen; über alle diese Dinge sind passende Gesetze gegeben. 173 Das fünfte Gebot endlich sucht die Quelle alles Unrechts, die unlautere Begierde, zurückzudrängen, von der die gesetzwidrigsten Handlungen ausgehen, gegen Private wie gegen die Gesamtheit, kleine und grosse Vergehen, gegen das Heilige wie gegen das Profane, gegen Leib und Seele wie gegen die sogenannten äusseren Güter. Denn nichts ist geschützt vor der Begierde, wie schon früher gesagt ist; ja, wie eine Flamme am Holz erfasst sie alles, verzehrt es und richtet es zu Grunde. 174 Vieles von dem, was hierher gehört, ist gesetzlich geordnet zur Warnung für solche, die Ermahnungen annehmen, und zur Strafe für die Gesetzesübertreter, die ihr ganzes Leben hindurch dieser Leidenschaft sich hingegeben haben.

175 (33.) Soviel wird auch über die zweite Reihe von fünf Geboten genügen, sodass der Inhalt der zehn Gebote vollständig dargelegt ist, die Gott selbst in seiner Heiligkeit geoffenbart hat. Denn es entsprach seinem Wesen, den allgemeinen Teil der Gesetze in eigener Person zu verkünden, die Einzelgesetze aber durch den vollkommensten der Propheten, den er vor allen auserkoren und, nachdem er ihn mit dem Gottesgeist erfüllt, zum Dolmetsch seiner Offenbarungen bestellt hat. 176 Nun aber wollen wir noch den Grund angeben, warum er die zehn Worte oder Gesetze einfach als Gebote und Verbote verkündete, ohne gegen die, die sie übertreten würden, wie das sonst bei Gesetzgebern üblich, irgend eine Strafe festzusetzen. (Der Grund ist dieser:) Der Verkünder war Gott, der ja zugleich ein gütiger Herr ist, Urheber nur des Guten, keines Bösen[44]. 177 Da er es nun seinem Wesen angemessen fand, die heilsamen Gebote ohne Zusatz und ohne Erwähnung von Strafen zu geben, damit nicht etwa jemand von unvernünftiger Furcht geleitet ungern und nur [p. 209 M.] gezwungen, sondern mit vernünftiger Ueberlegung freiwillig[409] das Beste wähle, wollte er seine Gebote nicht mit Strafandrohung verkünden; nicht dass er damit Straflosigkeit den Uebeltätern gewährte, er wusste vielmehr, dass die bei ihm wohnende Gerechtigkeit, die zur Aufsicht über die Handlungen der Menschen eingesetzt ist, da sie ihrer Natur nach das Böse hasse, nicht ruhig bleiben, sondern das Rächeramt an den Sündern als eine ihr vertraute Aufgabe schon übernehmen werde. 178 Denn den Dienern und Statthaltern Gottes kommt es ähnlich wie den Befehlshabern im Kriege zu, gegen Fahnenflüchtige, die den Platz des Gerechten (Gottes) verlassen, mit Strafen vorzugehen; dem grossen Herrscher selbst aber gehört die Fürsorge für die allgemeine Sicherheit des Alls, ihm, dem Wächter des Friedens, der alle Segnungen des Friedens allen und aller Orten und allezeit neidlos in reichem Masse spendet. Denn in Wahrheit ist Gott ein Herr des Friedens, seine Diener aber die Führer der Kriege.


  1. Philo deutet 5 Mos. 23,3 (LXX οὐκ εἰσελεύσεται ἐκ πόρνης εἰς ἐκκλησίαν κυρίου) allegorisch auf Anhänger der Vielgötterei. Vgl. De confus. lingu. § 144. De migr. Abrah. § 69. De spec. leg. I § 332.
  2. ἑνὸς ἀγνοίᾳ τοῦ φύσει πατρὸς nach der Lesart des Vatikanischen Palimpsests. [L. C.]
  3. Etwas anders zu derselben Frage die Mechilta zu 2 Mos. 19,2, wonach die Offenbarung oder Gesetzgebung in der Wüste stattfand, um anzudeuten, dass sie Gemeingut der Menschen sei.
  4. d. h. die zehn Gebote.
  5. Die Pythagoreer bezeichneten die 10 als die vollkommenste Zahl, weil sie alle Zahlen über 10 nur als Wiederholung der 10 ersten betrachteten und deshalb alle Zahlen in der Zehnzahl enthalten glaubten.
  6. Für πέντε ist ἕξ zu lesen; vgl. Ueber die Weltschöpfung § 14. [L. C.]
  7. Die bekannten aristotelischen Kategorien oder allgemeinsten Arten der Aussage.
  8. Ganz in derselben Weise erklärt Jehuda Halevi im Kusari I § 89 ed. Slucki das Wunder der Offenbarung durch die Annahme einer eigens dafür aus der Luft gebildeten Stimme.
  9. Vgl. De virtutibus § 185. In den Abot R. Nathan 31 p. 46 a (ed. Schechter) wird ein Ausspruch des R. Nehemia angeführt: „ein einziger Mensch wiegt die ganze Schöpfung auf“.
  10. Vgl. Jalkut zu 2 Mos. 20,2; Ueber die Textgestaltung dieses Satzes s. Cohn im Hermes XXXVIII S. 542.
  11. Aehnlich Pesikta zu 2 Mos. 20,2, nur in etwas anderem den Grund suchend: Da Gott sich Israel offenbarte, sprachen sie etwa so unter einander: zu mir besonders hat die Gottheit gesprochen, und, wie daselbst weiter erklärt wird, das war nach der Fassungskraft eines jeden.
  12. Aehnlich Mechilta zu 2 Mos. 19,18: das sagt, dass die Gotteslehre Feuer ist, aus dem Feuer gegeben ist und dem Feuer gleicht.
  13. Ueber Vergötterung der 4 Elemente im Altertum vgl. Diels, Elementum S. 45 ff.
  14. Philo wendet sich im folgenden gegen die stoische Theologie, die durch Allegorie die hellenischen Götter in kosmische und physikalische Erscheinungen auflösen wollte. Philo lehnt sich dabei an die Polemik an, die die akademischen Skeptiker (insbesondere Karneades) gegen die Stoiker führten. Vgl. auch De vita contempl. II p. 472 M. und Weish. Salom. XIII 2.
  15. Homer Odyss. XI 303. Pindar Nem. X 55. Die allegorische Deutung der Dioskuren auf die beiden Hemisphären erwähnt auch Sextus Empiricus adv. mathem. IX 37, der zugleich dabei die Homerstelle citirt.
  16. Vgl. hierzu die ähnliche Schilderung und Widerlegung der verschiedenen Formen des Götzendienstes in dem Buche Weish. Salom. cap. 13, insbesondere V. 3ff. und V. 10ff.
  17. Sprichwörtliche Redensart im Griechischen (Homer Ilias XVII 32. Hesiod, Werke u. Tage 218).
  18. Vgl. Psalm 115,4ff.
  19. Sprichwörtlicher Ausdruck im Griechischen.
  20. Philo weist, in Uebereinstimmung mit stoischer Anschauung, dem Gewissen die Rolle eines Anklägers und Richters in der Seele des Menschen an. Ganz ähnliche Ausdrücke gebraucht Polybius XVIII 43.
  21. Für die verderbten Worte τὰ μὲν αὐτῶν ἐν τῷ λόγῳ ist wohl τὰ κενὰ τῶν ἐν τῷ λόγῳ zu lesen. [L. C.]
  22. Gemäss der Doppeldeutung, die der in der Bibel gebrauchte und zweierlei Auffassung zulassende Ausdruck לשוא‎ auch im Talmud erfährt, wie Tract. Temura f. 3b zu lesen.
  23. In Griechenland war der 7. Tag jedes (Mond)-Monats dem Gotte Apollon geweiht (Hesiod, Werke u. Tage v. 770. Schol. Aristoph. Plut. 1126), an manchen Orten wurde er als Festtag gefeiert durch Darbringung von Opfern, z. B. in Sparta (Herodot VI 57).
  24. Für τῆς κατὰ θεὸν νουμηνίας ist nach Cohns Vermutung τῆς κατὰ σελήνην νουμηνίας (vom Anfang des Mond-Monats) zu lesen. (Die Vermutung ist später durch den Vatikanischen Palimpsest bestätigt worden).
  25. Vgl. Ueber die Weltschöpfung § 13 ff.
  26. In dem pythagoreischen Zahlensystem ist die Eins als der Anfang aller Zahlen auch der Anfang und das erste Prinzip aller Dinge.
  27. Philo denkt sich, wie Plato (Tim. p. 36 c), die Erde umgeben von zwei Himmelssphären, einer geteilten und einer ungeteilten; die sechsfach geteilte besteht aus sieben Kreisen, die von Sonne, Mond und den fünf andern Planeten gebildet werden, die ungeteilte bildet den äussersten Kreis, den Fixsternhimmel. Die Erde bildet den Mittelpunkt der Welt, um sie drehen sich nach Philo nicht, wie es den Anschein hat, die Gestirne selbst, sondern die Kreise.
  28. Der bei Philo öfter wiederkehrende Gedanke, dass die Kinder nicht imstande sind den Eltern die empfangenen Wohltaten voll zu vergelten, findet sich beispielsweise auch bei Aristoteles, Nikom. Ethik VIII 16 p. 1163 b 17. Auch Jesus Sirach VII 28 begründet seine Mahnung, Vater und Mutter zu ehren, mit den Worten: „sei dessen eingedenk, dass du durch beide entstanden bist, und wie könntest du ihnen zurückgeben so, wie sie dir gegeben?“
  29. Die Fürsorge der jungen Störche für die alten war bei den Griechen sprichwörtlich. Vgl. Aristoph. Vögel 1353ff. Aristot. Tiergeschichte IX 13. Es gab dafür ein charakteristisches Wort ἀντιπελαργεῖν (für Wohltaten dankbar sein wie ein Storch).
  30. Derselbe Gedanke bei Plato Gesetze IV p. 717 b.
  31. Die Vergleichung der Eltern mit den Göttern, insofern das Verhältnis der Eltern zu den Kindern als ähnlich dem Verhältnis der Gottheit zur Welt bezeichnet wird, ist in der griechischen Philospohie allgemein. Vgl. auch De spec. leg. II § 225. Die Bezeichnung der Eltern als Götter zweiten Ranges (δεύτεροι) oder als sichtbare oder irdische Götter (ἐμφανεῖς oder ἐπίγειοι θεοί) ist spezielle Ausdrucksweise der stoischen Popularphilosophie. Vgl. K. Praechter, Hierokles der Stoiker S. 45ff.
  32. Im Dekalog der Septuaginta, der Philo folgt, bildet abweichend vom hebräischen Urtext das Verbot des Ehebruchs das sechste Gebot und das Verbot der Tötung das siebente Gebot. Ob bei dieser Umstellung die Rücksicht auf ägyptische Verhältnisse mitgewirkt hat, ist zweifelhaft.
  33. d. h. das Familienglück dreier Häuser.
  34. „Die Natur“ hier nach stoischer Terminologie für „Gott“; vgl. Ueber Joseph § 38.
  35. So auch der Midrasch: vgl. Beresch. R. c. 34 im Anschluss an 1 Mos. 9,6: „R. Akiba sagte: wer Menschenblut vergiesst, hat gewissermassen die Ebenbildlichkeit Gottes verkürzt“.
  36. Nach der stoischen Lehre verursachen die Affekte (Lust, Schmerz, Furcht und Begierde) eine Störung und Krankheit der Seele, darum sind sie wider die Natur: Zeno frg. 136. 138.
  37. Für διό ist διότι zu lesen. [L. C.]
  38. Nach der Definition der Stoiker ist die Lust eine (unvernünftige) Hebung der Seele (ἡ ἡδονή ἐστιν ἄλογος ἔπαρσις τῆς ψυχῆς): Zeno frg. 139. Diog. La. VII, 114.
  39. Für ἐκβιασάμενον ist εἰσβιασάμενον zu lesen. [L. C.]
  40. Für ναυμαχίαις ist ναυμαχικαῖς zu lesen. [L. C.]
  41. Vgl. Ueber die Weltschöpfung § 13.
  42. d. h. die Sieben (als für sich allein stehende Zahl) übertrifft an Bedeutung die Sechs.
  43. Vgl. Leben Mosis II § 224. De special. leg. II § 145 ff.
  44. Vgl. Ueber die Weltschöpfung § 75 und die Anm. dazu.
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