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Philon: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel

Menschen in dem Menschengericht. 112 Denn wem werden denn sonst noch die wohltun, die die nächsten Verwandten missachten, die ihnen die grössten Geschenke dargereicht haben, Geschenke zum Teil so gross, dass sie gar nicht vergolten werden können[1]? Denn wie vermochte einer, der Leben empfangen hat, seinen Erzeugern Leben wiederzugeben, da die Natur den Eltern damit eine besondere Gabe den Kindern gegenüber verliehen hat, für die es kein Wiedererstatten gibt? Darum darf man auch im höchsten Grade empört sein, wenn Kinder, die doch nicht alles wiedererstatten können, nicht das geringste von Liebe ihren Eltern erweisen wollen. 113 Solchen hätte ich, wie sich’s gebührt, zu sagen: Tiere müssen gegen Menschen zahm gemacht werden; oft schon sah ich Löwen, Bären, Panther zahm, nicht nur [p. 200 M.] gegen die, die sie füttern, zum Dank für die unentbehrliche Nahrung, sondern auch gegen andere, ich meine, wegen der Aehnlichkeit mit jenen; denn immer ist es gut, dass die niedere Gattung der höheren gehorche, weil das Hoffnung gibt auf Verbesserung der Art. 114 Nun aber werde ich gezwungen sein im Gegenteil zu sagen; ihr Menschen, ahmet doch das Beispiel einiger Tiere nach! Diese wissen und haben gelernt ihren Wohltätern Gegendienste zu erweisen: Haushunde verteidigen ihre Herren und lassen sich für sie töten, wenn plötzlich eine Gefahr eintritt; vollends von den Hunden, die bei den Herden verwendet werden, erzählt man, dass sie bei der Verteidigung der Tiere ausharren bis zum Siege oder bis zum Tode, um die Herdenführer vor Schaden zu bewahren. 115 Ist es nun nicht die allergrösste Schande, wenn der Mensch sich in Erwiderung von Wohltaten vom Hunde übertreffen lässt, das edelste Geschöpf vom frechsten der Tiere? Wollen wir uns aber nicht von den


  1. Der bei Philo öfter wiederkehrende Gedanke, dass die Kinder nicht imstande sind den Eltern die empfangenen Wohltaten voll zu vergelten, findet sich beispielsweise auch bei Aristoteles, Nikom. Ethik VIII 16 p. 1163 b 17. Auch Jesus Sirach VII 28 begründet seine Mahnung, Vater und Mutter zu ehren, mit den Worten: „sei dessen eingedenk, dass du durch beide entstanden bist, und wie könntest du ihnen zurückgeben so, wie sie dir gegeben?“
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: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel. Breslau: H. & M. Marcus, 1909, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonDecalGermanTreitel.djvu/030&oldid=- (Version vom 9.12.2016)