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Philon: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel

bereits ankündigt, schickt es Unruhe und Angst als Unglücksboten voraus, die sie in Schrecken versetzen; Furcht heisst diese Empfindung. 146 Wenn dagegen einer den Gedanken an ein Glück gefasst hat, das noch nicht da ist, und den starken Wunsch hat es zu erlangen, da treibt er die Seele zu weit entferntem Ziele an, und in seinem heftigen Verlangen, das ersehnte (Glück) zu fassen, wird er wie auf die Folter gespannt, weil er eifrig bemüht ist, es zu greifen, und doch nicht imstande es zu erreichen, und so etwa dasselbe erfährt wie die, welche die Zurückweichenden wohl mit unüberwindlichem Eifer, aber nicht mit zureichender Schnelligkeit verfolgen. 147 Etwas Aehnliches scheint auch bei den sinnlichen Wahrnehmungen stattzufinden. Oft wenn die Augen einen sichtbaren Gegenstand, der sehr weit entfernt ist, gern wahrnehmen möchten, strengen sie sich über die Massen an; da sie aber weiter vordringen wollen, als ihre Kraft reicht, fällt ihr Blick ins Leere und sie bringen sich so um die genaue Wahrnehmung des Gegenstandes und werden obendrein durch die gewaltsame Anspannung beim starren Sehen in ihrer Sehkraft geschwächt und getrübt. 148 Ebenso wenn ein undeutlicher Ton aus weiter Entfernung kommt, richten sich die Ohren gespannt dahin und verlangen möglichst nahe heranzukommen, damit der Ton dem Gehör vernehmlicher werde. 149 Dieser aber dringt natürlich nur schwach ins Ohr und will sich noch immer nicht deutlicher erkennen lassen. Die Folge davon ist, dass das unbefriedigte und erfolglose Verlangen, (den Ton) zu verstehen, nur noch grösser wird und die Begierde Tantalusqualen verursacht; so oft dieser nämlich etwas greifen wollte, wonach er verlangte, tat er einen Fehlgriff; ebenso wird jeder, der von einer Begierde [p. 205 M.] beherrscht wird und stets nach Dingen dürstet, die nicht da sind, niemals Befriedigung finden und immer in eitlem Verlangen sich winden. 150 Und wie die schleichenden Krankheiten, wenn ihre Ausbreitung nicht durch Schneiden oder Brennen aufgehalten wird, schnell den Körper in seinem ganzen Umfange erfassen und nichts heil an ihm lassen, so wird sich auch, wenn nicht die durch Philosophie gestärkte Vernunft gleich einem guten Arzte die Begierde in ihrem Laufe

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: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel. Breslau: H. & M. Marcus, 1909, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonDecalGermanTreitel.djvu/037&oldid=- (Version vom 9.12.2016)