Seite:PhilonDecalGermanTreitel.djvu/012

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel

dass er des Mundes, der Zunge, der Arterien bedürfe. 33 Vielmehr scheint er mir zu jener Zeit etwas Hehres und Wunderbares geschaffen zu haben, indem er befahl, dass ein unsichtbarer Schall in der Luft sich bilde, wunderbarer als alle Instrumente der Welt, ausgestattet mit vollkommenen Harmonien, nicht ohne Seele, aber auch nicht wie ein aus Leib und Seele bestehendes Lebewesen, sondern bloss eine vernunftbegabte Seele voll Klarheit und Deutlichkeit; diese Seele, der Luft Gestalt gebend und sie weithin spannend und zur feuerroten Flamme wandelnd, liess wie ein Lufthauch, der durch die Trompete gestossen wird, eine Stimme mit so artikulierten Lauten ertönen, dass die ganz entfernt Stehenden in gleicher Weise wie die Nächsten sie zu hören [p. 186 M.] glaubten. 34 Denn Menschenstimme, die man weithin erschallen lässt, pflegt sich abzuschwächen, sodass den Fernstehenden die Laute nicht mehr deutlich vernehmbar sind, da sie infolge der weiten Ausdehnung allmählich dunkler werden, zumal ja auch die Organe sich abnutzen. 35 Diese neugeschaffene Stimme dagegen liess Gottes Allmacht durch einen Anhauch erwachen und anschwellen und überallhin erschallen, und sie machte das Ende noch helltönender als den Anfang, indem sie in der Seele eines jeden einen andern und weit kräftigeren Schall hervorrief, als es der gewöhnliche durch das körperliche Ohr ist; denn das körperliche Gehörvermögen, das von Natur langsamer ist, bleibt ruhig, bis es von der Luft berührt und in Bewegung gesetzt wird, das Ohr des Geistes aber, der von Gott erfüllt ist, eilt mit äusserster Geschwindigkeit der Rede sogar voraus[1].

36 (10.) Soviel über die göttliche Stimme. Weiter könnte man mit Recht fragen, warum Gott, da doch so viele Myriaden auf einem Platze versammelt waren, jedes der zehn Worte nicht an die Menge, sondern gleichsam an einen Menschen gerichtet hat; denn er spricht: „du sollst nicht ehebrechen“, „du sollst nicht töten“, „du sollst nicht stehlen“ (2 Mos. 20,13ff.) und das übrige ebenso. 37 Darauf


  1. Ganz in derselben Weise erklärt Jehuda Halevi im Kusari I § 89 ed. Slucki das Wunder der Offenbarung durch die Annahme einer eigens dafür aus der Luft gebildeten Stimme.
Empfohlene Zitierweise:
: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel. Breslau: H. & M. Marcus, 1909, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonDecalGermanTreitel.djvu/012&oldid=- (Version vom 9.12.2016)