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Ueber die Reue.

175 (1.) Als Freund der Tugend, als Freund des Guten und Schönen und ganz besonders als Menschenfreund ermahnt der fromme Moses alle Menschen überall Frömmigkeit und Gerechtigkeit eifrig zu üben, indem er den Reuigen wie Siegern grosse Belohnungen verheisst, den Anteil an dem besten Staatswesen und den Genuss aller damit verbundenen grossen wie kleinen Vorteile. 176 (Es gibt nämlich Güter ersten Ranges und Güter zweiten Ranges:) Güter ersten Ranges sind, wenn es sich um den Körper handelt, vollkommene Gesundheit, wenn es sich um Schiffe handelt, eine ohne Gefahr vollendete gute Seefahrt,[364] wenn es sich um die Seele handelt, ein Gedächtnis, das nie vergisst, was im Gedächtnis behalten zu werden verdient. Güter zweiten Ranges sind solche, die in einer Wiederherstellung bestehen: die Genesung von Krankheiten, die glückliche Errettung aus den Gefahren einer Seefahrt, die aus dem Vergessen hervorgehende Wiedererinnerung. Sehr nahe verwandt mit dieser ist die Sinnesänderung, die nicht zu der ersten und obersten Klasse der Güter gehört, sondern zu der nach ihr kommenden, die die zweite Stelle einnimmt. 177 Denn überhaupt nicht zu sündigen kommt nur Gott zu, vielleicht auch einem gottbegnadeten Manne, die Umkehr aber vom Sündigen zu einem sündenfreien Leben ist die Aufgabe eines verständigen Mannes, der sein wahres Heil nicht für immer verkennt. 178 Deshalb sammelt er solche um sich, weiht sie ein, beruft sie und legt ihnen seine versöhnlichen und liebevollen Lehren vor, die die Mahnung enthalten, Wahrhaftigkeit zu üben und Dünkel zu verabscheuen, nach Wahrheit und Bescheidenheit zu streben, diesen unentbehrlichsten Tugenden, die zum Glücke führen, und sich aufzulehnen gegen Mythen und Fabeln, wie sie Eltern, Ammen, Erzieher und viele andere aus dem Bekanntenkreise den noch ganz zarten Gemütern von frühester Jugend an beigebracht und damit nur endlose Irrungen in der Erkenntnis des Besten bei ihnen hervorgerufen haben. 179 Was ist aber das Beste in der Welt, wenn nicht Gott? Die ihm zukommenden Ehren erweisen sie den Ungöttern, diese verherrlichen sie über alle Massen, Gott aber vergessen sie ganz und gar, die Sinnlosen. Alle nun, die dem Schöpfer und Vater des Alls Verehrung zu zollen entschlossen sind, wenn sie auch nicht von Anfang an, sondern erst später die Alleinherrschaft statt der Vielherrschaft anerkannt haben, muss man als gute Freunde und Verwandte ansehen, da sie das bieten, was zur Freundschaft und zu verwandtschaftlichem Gefühl am meisten beiträgt, ein frommes Herz[1]; man muss ihnen auch Glück [p. 406 M.]wünschen wie Menschen, die früher blind waren und ihr[365] Augenlicht wiedererlangt haben und nach tiefster Finsternis wieder strahlendes Licht erblicken.

180 (2.) Dies ist der erste und wesentlichste Punkt in der Erörterung über die Reue. Es soll aber einer seinen Sinn nicht nur ändern inbetreff der irrigen Meinung, in der er sich so lange befunden, da er die geschaffenen Dinge höher stellte als den ewigen Schöpfer, sondern auch in allen anderen Dingen, die für das Leben unentbehrlich sind: er soll gleichsam aus der schlechtesten der schlechten Verfassungen, aus der Ochlokratie, in das aufs beste eingerichtete Staatswesen, in die Demokratie, übertreten, d. h. er soll sich von der Unwissenheit wegwenden zur Kenntnis der Dinge, die nicht zu wissen eine Schande ist, vom Unverstand zur Einsicht, von der Zügellosigkeit zur Enthaltsamkeit, von der Ungerechtigkeit zur Gerechtigkeit, von der Feigheit zur Tapferkeit. 181 Ist es doch eine schöne und heilsame Tat, die tückische Herrschaft des Lasters abzuschütteln und sich unumwunden der Tugend zuzuwenden; auch müssen, wie in der Sonne der Schatten dem Körper folgt, mit der Verehrung des seienden Gottes die anderen Tugenden aufs engste verbunden sein. 182 Die Proselyten werden ja sogleich besonnen, enthaltsam, bescheiden, sanft, brav, menschenfreundlich, ernst, gerecht, hochherzig, wahrheitsliebend, erhaben über Schätze und Vergnügungen; und umgekehrt kann man wahrnehmen, wie die von unsern heiligen Gesetzen Abgefallenen zügellos, schamlos, ungerecht, leichtfertig, niedriggesinnt, streitsüchtig, Lügner und Meineidige werden, die ihre Freiheit für eine Speise, für Wein, für Leckerbissen, für eine schöne Gestalt verkaufen würden, um leibliche und wollüstige Genüsse zu erhalten, die am Ende die schwersten Schädigungen des Körpers und der Seele herbeiführen. 183 Sehr schöne Lehren erteilt er uns auch über die Reue, aus denen wir lernen sollen unser unharmonisch gestaltetes Leben in ein besseres umzuwandeln. Er sagt nämlich, dass die Erfüllung dieser Aufgabe gar nicht übermässig schwer sei, auch nicht in weiter Entfernung, weder hoch oben im Aether und an den äussersten Enden <der Erde noch jenseits> des grossen Meeres zu suchen, sodass wir sie nicht zu erreichen vermöchten, dass sie vielmehr ganz nahe sei, da sie in uns[366] selber an drei Stellen sich aufhalte, in unserem Munde, in unserem Herzen und in unsern Händen (5 Mos. 30,11-14), d. h. nach symbolischer Ausdrucksweise in unsern Reden, in unsern Entschlüssen und in unsern Handlungen; der Mund ist nämlich Sinnbild der Rede, das Herz Sinnbild der Entschlüsse, die Hände Sinnbild der Handlungen, und in diesen drei Dingen ruht unser Glück[2]. 184 Denn wenn Wort und Gedanke und Entschluss und Handlung vollständig übereinstimmen, dann ist das Leben rühmenswert und vollkommen, wenn sie aber in Zwiespalt miteinander sind, dann ist das Leben unvollkommen und tadelnswert. Wer diese Harmonie nicht vergisst, der wird Gott wohlgefällig sein und zugleich von Gott geliebt werden und Gott lieben. Vortrefflich ist daher und ganz im Einklang mit dem Gesagten [p. 407 M.] jener Ausspruch (der h. Schrift): „Gott hast du dir heute erwählt, dass er dir Gott sei, und der Herr hat dich heute erwählt, dass du ihm ein Volk seiest" (5 Mos. 26,17.18)[3]. 185 Fürwahr eine schöne Gegengabe für die Wahl, wenn der Mensch zur Verehrung des Seienden hineilt und Gott den Betenden unverzüglich sich zu eigen macht und dem Willen des aufrichtig und wahr zu seinem Dienste sich Nahenden entgegenkommt. Der wahre Diener und Beter aber, auch wenn es der Zahl nach nur einer ist, bedeutet, wie an anderer Stelle bemerkt ist[4], ebensoviel wie das ganze Volk und ist einem ganzen Volke gleichwertig. 186 So verhält es sich wirklich: wie nämlich auf einem Schiffe der Steuermann ebensoviel gilt wie alle Schiffer und in einem Feldlager der Feldherr ebensoviel wie alle Mannschaften — denn wenn er fällt, ist[367] die Niederlage ebenso gross, wie wenn die ganze junge Mannschaft besiegt würde —, ebenso kann der Weise an Würde sich mit einem ganzen Volke messen, weil er durch eine unzerstörbare Mauer geschützt ist, durch seine Gottesfurcht.



  1. Philo spricht hier von den Proselyten, die zu seiner Zeit durch die eifrige Propaganda in der Diaspora in grosser Zahl für das Judentum gewonnen wurden.
  2. Dieselbe Deutung dieser Bibelstelle wiederholt Philo an mehreren Stellen: de poster. Caini § 85, de mut. nom. § 237, de somn. II § 180, quod omnis prob. lib. sit II p. 456 M. „Und in deinen Händen“ ist Zusatz der LXX.
  3. Philo gibt האמרת‎ und האמירך‎ in Uebereinstimmung mit der Septuaginta durch εἵλου und εἵλατο wieder nach dem Zeugnis der besten Handschrift, das durch Clemens Alexandrinus bestätigt wird. Die beiden andern Handschriften haben dafür ἀντηλλάξω und ἀντηλλάξατο, wie Aquila übersetzt hatte. Beide Uebersetzungen lassen darauf schliessen, dass im Originaltext vielmehr המרת‎ und המירך‎ gestanden hat; vgl. E. Nestle, Zeitschr. f. alttestam. Wissensch. 28 S. 149.
  4. Das ist wohl der Sinn der verderbt überlieferten Worte καθάπερ αὐτὸς αἱρεῖται. Vgl. Ueber den Dekalog § 37.
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