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Ueber den Adel.

187 [p. 437 M.] (1.) Darum muss man auch die Menschen, die den Adel als das grösste Glück und als die Ursache grosser Glücksgüter preisen, nicht wenig tadeln, wenn sie zunächst nur die für adlig halten, die aus einer von alters her reichen und angesehenen Familie stammen[1]; denn auch die Vorfahren, von denen sie sich rühmen abzustammen, sind nicht wegen ihres grossen Reichtums glücklich gewesen, da das wahrhafte Glück nicht in einem der äusseren Güter, auch nicht in den körperlichen Gütern, ja nicht einmal in jedem Teil der Seele, sondern allein in dem führenden Teile (in der Vernunft) ruht[2]. 188 Denn als Gott in seiner Milde und Menschenliebe diesem Glück auch bei uns eine Stätte anweisen wollte, fand er keinen seiner Würde angemesseneren Tempel auf Erden als die Vernunft. Sie allein als das bessere Teil (in uns) trägt das Bild des Glückes in sich, mögen es auch manche nicht glauben, die von der Weisheit entweder gar nicht oder nur oberflächlich gekostet haben; denn [p. 438 M.] Silber und Gold, Ehren und Aemter, körperliches Wohlbefinden und schöne Gestalt scheinen den berufenen Machthabern zum Dienste der königlichen Tugend < zu genügen > ***[3], strahlendes Licht sehen sie nicht. 189 Da also der Adel eigener Besitz der durch vollkommene Reinigungsmittel entsühnten[368] Seele ist, so darf man adlig nur nennen die Vernünftigen und Gerechten, selbst wenn sie von geborenen oder gekauften Sklaven abstammen, den Schlechten dagegen, die von Guten abstammen, muss der Adelsplatz unzugänglich sein. 190 Denn ohne Haus und ohne Stadt ist der Schlechte, der wie aus der Heimat von der Tugend verbannt ist, die auch wirklich das Vaterland weiser Männer ist. Folgerichtig wird er, selbst wenn er von Grossvätern oder Ahnen abstammen sollte, die in ihrem Leben untadlig waren, mit Notwendigkeit unadlig, wenn er sich ihnen entfremdet und sich in Worten und Handlungen weit von dem Adel entfernt. 191 Aber abgesehen davon, dass die Schlechten ihrer Natur nach nicht adlig sind, sehe ich auch noch, dass sie sämtlich unversöhnliche Feinde des Adels sind, da sie die von den Ahnen ererbte Würde zerstören und allen Glanz ihres Geschlechts verdunkeln und auslöschen. 192 (2.) Darum scheinen mir selbst zärtlich liebende Väter (mit Kecht) Söhne zu enterben und von der Familie und Verwandtschaft auszuschliessen, wenn ihre Schlechtigkeit die natürliche Zuneigung der Erzeuger, sei sie auch noch so gross, überwiegt. 193 Die Wahrheit dieses Satzes kann man leicht auch noch aus anderen Beispielen erkennen. Was kann dem des Augenlichts Beraubten das scharfe Auge der Vorfahren zum Sehen nützen? Oder was nützt es einem an der Zunge Gelähmten zum deutlich Sprechen, dass seine Eltern oder Grosseltern eine helle Stimme hatten? Was hilft es dem von langer und zehrender Krankheit Geschwächten zur Kräftigung, wenn die Ahnen seines Geschlechts wegen ihrer Athletenstärke unter den Siegern in Olympia oder in den anderen regelmässigen Kampfspielen verzeichnet sind? Die körperlichen Gebrechen bleiben nichtsdestoweniger unverändert und nehmen keine Wendung zum Besseren aus dem Grunde, weil es den Angehörigen darin gut ging. 194 Ebenso nützen nun ungerechten Söhnen gerechte Eltern, zügellosen Söhnen vernünftige Eltern, und überhaupt schlechten Söhnen gute Eltern gar nichts. Nützen doch auch die Gesetze den ungesetzlich Handelnden nicht, die sie selbst bestrafen; ungeschriebene Gesetze sind aber auch die Lebensführungen der Menschen, die die Tugend eifrig geübt haben. 195 Wenn Gott den Adel in menschlicher Gestalt gebildet hätte, würde dieser, meine ich, vor die zuchtlosen[369] Abkömmlinge hintreten und so sprechen: „Verwandtschaft wird nicht nach dem Blut allein gemessen, wo Wahrheit herrscht, sondern nach der Gleichheit im Handeln und nach dem Streben nach denselben Zielen. Ihr aber tut das Gegenteil, ihr haltet das, was mir lieb ist, für hassenswert und das, was [p. 439 M.] ich hasse, ist euch lieb. Denn bei mir werden Sittsamkeit, Wahrhaftigkeit, Mässigung in den Leidenschaften, Bescheidenheit und Unschuld geschätzt, bei euch werden sie verachtet; verhasst sind mir die Schamlosigkeit, die Lüge, die masslose Leidenschaft, der Hochmut, die Lasterhaftigkeit, euch sind sie vertraut. 196 Wenn ihr euch nun so in euren Werken mir entfremdet, wozu heuchelt ihr mit Worten „Verwandtschaft“ und nehmet euch diesen schönen Namen als Maske vor? Verdrehungen und in schöne Worte gekleidete Täuschungen ertrage ich nicht; denn leicht ist es für jedermann schön klingende Worte zu finden, schlechte Sitten aber gegen gute zu vertauschen ist nicht leicht. 197 Darauf achte ich und darum sehe ich für jetzt und in Zukunft als Feinde die Menschen an, die den Zündstoff der Feindschaft angefacht haben, und ich werde sie mehr verachten als die, denen man unedle Abstammung zum Vorwurf macht. Denn diese können sich damit rechtfertigen, dass sie im eigenen Hause kein Vorbild der Tugendhaftigkeit haben, ihr aber seid straffällig, die ihr aus grossen Häusern stammet, deren Stolz und Ruhm die glanzvollen Geschlechter sind; von den herrlichen Mustern, die bei euch wohnen und gewissermassen mit euch verwachsen sind, habt ihr euch nicht entschliessen können etwas Schönes euch anzueignen“.

198 Dass Moses wirklich den Adel von dem Besitz der Tugend abhängig macht und nur den für adlig hält, der sie besitzt, nicht aber jeden, der von braven und tüchtigen Eltern stammt, geht aus vielen Stellen klar hervor. 199 (3.) Wer möchte z. B. die Sprösslinge des erdgeborenen (Menschen)[4] nicht Söhne von Adligen und die Urahnen der Adligen nennen? Hatten sie doch eine im Vergleich mit den Späteren besonders bevorzugte Abstammung, da sie aus der ersten ehelichen Verbindung von Mann und Weib entsprossen sind, die damals[370] zuerst zu inniger Gemeinschaft sich verbanden zum Zwecke der Fortpflanzung ihrer Gattung. Dennoch hat der Aeltere von den beiden Söhnen, die ihnen geboren wurden, sich nicht gescheut den Jüngeren hinterlistig zu töten und durch Verübung der grössten Missetat, eines Brudermordes, zuerst mit Menschenblut die Erde befleckt. 200 Was nützte ihm also die adlige Geburt, da er die unedle Gesinnung seines Herzens an den Tag legte? Diese sah denn auch Gott, der über die menschlichen Handlungen wacht, deshalb zürnte er ihm, wandte sich mit Abscheu von ihm weg und verhängte Strafen über ihn, — nicht dass er ihn sofort tötete, damit er sein Unglück gar nicht empfinde, sondern er liess zahllose empfindliche Todesarten über ihm schweben durch rasch aufeinander folgende Leiden und Schrecken, um ihn sein trauriges Geschick recht fühlen zu lassen.

201 Später gab es unter den bewährtesten Menschen einen sehr frommen Mann[5], dessen Frömmigkeit der Gesetzgeber für würdig erachtete, dass sie in den heiligen Büchern verewigt werde. Dieser wird bei der grossen Sintflut, als ganze Städte in dem allgemeinen Verderben verschwanden, als selbst die höchsten Berge durch das gewaltige Anwachsen der reissenden [p. 440 M.] Wasserflut verschlungen wurden, ganz allein mit seinen Angehörigen gerettet und erhält so für seine Tugendhaftigkeit einen Lohn, wie man ihn grösser nicht finden kann. 202 Aber von den drei Söhnen, die diesem Manne geboren wurden und die dem Vater zuteil gewordene Gnade mitgenossen hatten, wagte es einer den Vater, den Urheber seiner Errettung, zu verspotten und dem Hohn und Gelächter preiszugeben, weil er absichtslos sich etwas vergangen hatte, und zur Schande für den Vater den Brüdern, die es nicht wussten, etwas zu enthüllen, was zu verbergen Pflicht war (1 Mos. 9,21 ff.). Daher hatte er keinen Nutzen von dem Glanze seiner adligen Abkunft, denn er wurde verflucht und ward so für seine Nachkommen der Urheber ihrer elenden Lage. Solche Strafe musste den treffen, der die Ehre der Eltern so missachtet hatte.

[371] 203 Aber warum muss ich an diese erinnern und sehe von dem ersten Menschen, dem erdgeborenen, ab? er, der hinsichtlich edler Abkunft keinem Sterblichen vergleichbar ist, der durch die Hand Gottes mit höchster plastischer Kunst zur körperlichen Figur gestaltet war, der einer Seele gewürdigt wurde, die nicht von einem geschaffenen Wesen stammt, sondern von Gott, der ihm von seiner eigenen Kraft einhauchte, soviel ein sterbliches Wesen aufzunehmen imstande war, — besass dieser nicht den höchsten Adel, mit dem kein anderer, der je zur Berühmtheit gelangt ist, sich zu vergleichen vermag? 204 Denn der Ruhm jedes andern Adels rührt von dem Glücke der Vorfahren her, die Vorfahren sind aber Menschen, hinfällige und vergängliche Geschöpfe, und ihr Glück ist unbeständig und meistens nur von kurzer Dauer, der Vater jenes (ersten Menschen) dagegen war kein Sterblicher, sondern der ewige Gott. 205 Da er nun gewissermassen Gottes Ebenbild war hinsichtlich der leitenden Vernunft in der Seele, hätte er dieses Ebenbild fleckenrein bewahren müssen, indem er soweit als möglich in den Tugenden seines Schöpfers wandelte, da ihm doch zur Wahl wie zur Vermeidung die gegensätzlichen Dinge vorgelegt waren, das Gute und das Schlechte, das Schöne und das Hässliche, das Wahre und das Falsche; er wählte aber lieber das Falsche, Hässliche und Schlechte und liess das Gute, Schöne und Wahre unbeachtet. Daher musste er natürlich das sterbliche Leben für das unsterbliche eintauschen, er ging des Glückes und der Glückseligkeit verlustig und musste sich einem mühseligen und elenden Leben zuwenden.

206 (4.) Aber diese Beispiele mögen allgemein als Normen für alle Menschen gelten, dass sie sich nicht mit ihrer Zugehörigkeit zu einem grossen Geschlechte brüsten, wenn sie der Tugend bar sind. Für die Juden gibt es aber noch besondere ausser den allgemeinen. Unter den Abkömmlingen[6] der Stammväter dieses Geschlechts gibt es nämlich einige, denen die Tugenden der Vorfahren gar nichts genützt haben, sobald sie sich tadelnswerter [p. 441 M.] und straffälliger Handlungen schuldig machten, auch wenn sie[372] nicht von einem andern überführt wurden, sondern nur von ihrem Gewissen, dessen Richterstuhl allein durch Redekünste nicht irregeführt werden kann. 207 Kinderreich war der erste Stammvater (Abraham), der mit drei Frauen Kinder gezeugt hatte, nicht zur Befriedigung seiner Lust, sondern in der Hoffnung auf Vermehrung des Geschlechts. Aber von den vielen Söhnen wurde einer allein zum Erben der väterlichen Güter erklärt, alle anderen aber, die von der gesunden Meinung abgewichen waren und nichts Gutes von ihrem Vater angenommen hatten, wurden verwiesen und aus dem so berühmt gewordenen Adel ausgeschlossen (1 Mos. 25,5.6). 208 Dem auserwählten Erben (Isaak) wiederum werden zwei Zwillingssöhne geboren, die nicht die geringste Aehnlichkeit miteinander zeigten[7], weder in körperlicher Hinsicht noch in ihren Anschauungen: der Jüngere war den beiden Eltern ein gehorsamer Sohn und erregte solches Wohlgefallen, dass ihm selbst von Gott Lob gespendet wurde, der Aeltere dagegen war unfolgsam und unmässig in der Befriedigung leiblicher und sinnlicher Gelüste, durch die er sich bestimmen liess, zuerst sogar sein Erstgeburtsrecht dem Jüngeren abzutreten, dann aber alsbald über den Verzicht Reue zu empfinden und einen tödlichen Hass gegen den Bruder zu fassen und auf nichts anderes sein Bemühen zu richten als auf das, womit er die Eltern betrüben konnte. 209 Darum erteilen sie dem Jüngeren die höchsten Segenswünsche (1 Mos. 27,27ff. 28,3.4), und Gott liess alle in Erfüllung gehen und wollte auch nicht einen unerfüllt lassen, dem andern aber gewähren sie aus Mitleid die untergeordnete Stellung, dass er nämlich dem Bruder dienen solle (1 Mos. 27,40); denn sie waren der ganz richtigen Meinung, es sei für den Schlechten das Beste, dass er nicht sein eigener Herr sei. 210 Hätte er nun diesen Dienst willig auf sich genommen, so wäre er wie bei Wettkämpfen des zweiten Tugendpreises gewürdigt worden. Er war aber eigenwillig und entzog sich der schönen Herrschaft und so wurde er für sich und seine Abkömmlinge die Ursache grosser Schande,[373] weshalb auch sein verfehltes Leben verewigt ist zum klarsten Beweis dafür, dass denen, die des Adels unwürdig sind, der Adel gar nichts nützt.

211 (5.) Diese nun gehören zu der tadelnswerten Klasse von Menschen, denen deshalb, weil sie als Söhne von Braven schlecht geworden sind, die Tugenden der Väter nichts genützt und die eigenen Charakterfehler sehr geschadet haben. Ich kann aber von anderen sprechen, die im Gegensatz zu ihnen eine bessere Klasse bilden, deren Vorfahren schuldbeladene Menschen waren, die selbst aber ein nachahmenswertes und im besten Rufe stehendes Leben führten. 212 Der Urahn des Volkes der Juden war von Geburt ein Chaldäer, Sohn eines sternkundigen Vaters[8], der zu denen gehörte, die sich mit den mathematischen Wissenschaften befassen [p. 442 M.] fassen, die die Gestirne und den ganzen Himmel und die Welt für Götter halten, durch die, wie sie sagen, alles Gute und Schlechte geschieht, was einen jeden trifft, da es nach ihrer Meinung keinen Urgrund ausserhalb der mit den Sinnen wahrnehmbaren Dinge gibt. 213 Was aber kann schlimmer sein als dies oder was kann besser den Nichtadel des Geistes erweisen, der durch die Kenntnis dieser vielen, in zweiter Reihe stehenden, geschaffenen Dinge hindurch zur Unkenntnis des Einen, des Aeltesten, des Ewigen, des Schöpfers des Alls gelangt, der sowohl aus diesen Gründen der Höchste ist als auch aus vielen anderen, die ob ihrer Grösse der menschliche Verstand nicht zu fassen vermag? 214 Nachdem er (Abraham) eine Vorstellung davon gewonnen und die göttliche Berufung erhalten hatte, verlässt er Vaterland, Verwandtschaft und väterliches Haus; denn erwusste, wenn er bliebe, würde ihm auch der Irrglaube an die vielen Götter bleiben, der die Entdeckung des Einen unmöglich mache, der allein der Ewige und der Vater des gedachten wie des sinnlich wahrnehmbaren Alls[9] ist, wenn er aber auswanderte, würde auch der Irrglaube aus seiner Seele schwinden, die statt der falschen Vorstellung die Wahrheit[374] empfangen würde. 215 Das Verlangen aber nach Erkenntnis des Seienden, das ihn erfüllte, wurde noch gesteigert durch göttliche Offenbarungen, die ihm zuteil wurden: von ihnen geleitet ging er mit unverdrossenem Eifer an die Erforschung des Einen und liess nicht eher ab, als bis er klarere Anschauungen gewonnen hatte, nicht von seinem Wesen — denn das ist unmöglich —, sondern von seinem Dasein und seinem fürsorglichen Walten. 216 Daher heisst es auch von ihm zuerst (in der h. Schrift), dass er an Gott glaubte (1 Mos. 15,6), weil er ja zuerst den festen und unerschütterlichen Glauben hatte, dass es eine oberste Ursache gibt und dass sie über die Welt und alles in ihr fürsorglich waltet. Nachdem er aber den Glauben, die sicherste der Tugenden, gewonnen hatte, erwarb er auch alle anderen mit, so dass er bei denen, die ihn in ihre Mitte aufnahmen, für einen König gehalten wurde (1 Mos. 23,6), nicht nach seinen äusseren Mitteln — denn er war ein einfacher Privatmann —, sondern nach seiner Seelengrösse, weil er einen königlichen Sinn besass. 217 Und in der Tat ehrten sie ihn immer wie Untergebene einen Herrscher in Bewunderung vor der alles überragenden Grösse seines Wesens, dessen Vollkommenheit über menschliche Begriffe hinausging. Denn auch im Verkehr war er ihnen nicht gleich, sondern meistens ernster, weil göttlicher Geist ihn erfüllte; wenn er nämlich von diesem ergriffen wurde, veränderte sich bei ihm alles zum Besseren, der Blick, die Farbe, die Grösse, die Haltung, die Bewegungen, die Stimme, weil der Geist Gottes, der ihm von oben eingehaucht wurde und in seine Seele einzog, seinem Körper besondere Schönheit verlieh, [p. 443 M.] seinen Reden Ueberzeugungskraft und den Hörern Verständnis. 218 Kann man nun nicht von diesem von allen Verwandten und Freunden verlassenen Auswanderer sagen, dass er hochadlig war, er, der nach der Verwandtschaft mit Gott strebte, der mit aller Kraft bemüht war sein Schüler zu werden, der in die vorzügliche Reihe der Propheten aufgenommen wurde, der an kein Geschöpf so glaubte wie an den ungeschaffenen Vater aller Dinge, der, wie gesagt, bei denen, die ihn aufgenommen hatten, als König galt, der nicht mit Waffen und Heeresmacht, wie sonst gewöhnlich, die Herrschaft erlangte, sondern[375] durch die Berufung Gottes, der die Tugend liebt und die Anhänger der Frömmigkeit mit selbständiger Macht ausstattet zum Heile ihrer Umgebung? 219 Dieser Mann ist ein Muster an Adel für alle Proselyten, die das von unnatürlichen Gebräuchen und frevelhaften Sitten herstammende unedle Wesen aufgegeben, nach welchen Stein und Holz und überhaupt unbeseelte Gegenstände göttliche Ehren erhalten, und dafür der wirklich beseelten, lebendigen Verfassung sich zugewendet haben, die von der Wahrheit geleitet und bewacht wird.

220 (6.) Solchen Adel haben nicht nur von Gott geliebte Männer, sondern auch Frauen zu erlangen gesucht, welche die ihnen anerzogene Unkenntnis vergassen, in der sie nur Göttern von Menschenhand Ehren erwiesen, und die Kenntnis der Lehre von der Alleinherrschaft (Gottes) sich aneigneten, durch die die Welt regiert wird. 221 Thamar war eine Frau aus dem syrischen Palästina, erzogen in einem Hause und in einer Stadt von Götzendienern, die mit Bildsäulen aus Holz und Stein und überhaupt mit Götterbildern angefüllt war. Als sie aber wie aus tiefem Dunkel einen kleinen Schein der Wahrheit zu sehen vermochte, wandte sie sich mit Todesgefahr zur Frömmigkeit und dachte gering vom Leben, wenn sie nicht ein schönes Leben führen könnte; das „schöne“ Leben bezog sie aber auf nichts anderes als auf die Verehrung und Anbetung des Einen, des Urgrundes (aller Dinge)[10]. 222 Obwohl sie nacheinander zwei Männer heiratete, die beide schlecht waren, den ersten als rechtmässigen Gatten, den zweiten nach dem Erbschaftsgesetz[11], weil der erste keine Nachkommenschaft hinterlassen hatte, bewahrte sie doch ihr eigenes Leben in voller Reinheit und war imstande den nur den Tüchtigen zukommenden guten Namen sich zu erwerben und für alle ihre Abkömmlinge der Ursprung ihres Adels zu werden. Aber sie war, wenn auch aus anderem Stamme, so doch eine Freie und die Tochter freier und vielleicht nicht unangesehener Eltern. 223 Als Dienerinnen[376] dagegen waren die jenseits des Euphrat an den äussersten Grenzen Babyloniens geborenen Mädchen[12] zur Mitgift ihren Herrinnen bei ihrer Verheiratung beigegeben worden; sie wurden aber für würdig befunden, Bettgenossen des weisen Mannes [p. 444 M.] zu werden, gelangten zuerst aus ihrem Stande als Kebsfrauen zu dem Namen und der Stellung von Ehefrauen und wurden aus Dienerinnen ihren Herrinnen beinahe gleichberechtigte Frauen, da sie von diesen selbst, was sehr sonderbar erschien, zu derselben Würde erhoben wurden; denn Neid zieht nicht in die Gemüter von Weisen ein, und da er nicht vorhanden ist, lassen sie andere an ihrem Glücke teilnehmen. 224 Die von ihnen geborenen unehelichen Söhne aber wurden in keiner Weise hinter den rechtmässigen Kindern zurückgesetzt, nicht nur bei dem Vater — denn das ist kein Wunder, dass der allen gemeinsame Vater auch denen, die nicht von derselben Mutter sind, die gleiche Zuneigung zuwendet —, sondern auch bei den Stiefmüttern: diese legten ihren Hass gegen die Stiefsöhne ab und verwandelten ihn in unsagbare Fürsorge für sie. 225 Die Stiefsöhne wiederum vergalten mit gleicher Zuneigung und ehrten die Stiefmütter wie leibliche Mütter, und die Brüder, die nur zur Hälfte als dem Geschlechte angehörig gelten konnten, meinten nicht bloss zur Hälfte einander lieben zu dürfen, sondern steigerten das Gefühl der Liebe und Gegenliebe auf das Doppelte, ergänzten das, was scheinbar fehlte, und bemühten sich denen, die von beiden Seiten Brüder waren, in harmonischer Charakterbildung gleichzukommen.

226 (7.) Was haben wir also mit denen zu teilen, die auf den Adel, als wäre er nur ihr Eigentum, Anspruch machen, während er ihnen (in Wahrheit) etwas Fremdes ist? Solche können, abgesehen von dem Gesagten, mit Recht als Feinde sowohl des jüdischen Volkes als auch aller Menschen allenthalben angesehen werden: des jüdischen Volkes, weil sie ihren Stammesgenossen die Freiheit gewähren wollen, ein vernünftiges und sittlich gekräftigtes Leben zu verachten im Vertrauen auf das Verdienst der Vorfahren, der anderen Menschen, weil diese auch[377] dann, wenn sie den Gipfel der Tüchtigkeit erreichen, keinen Nutzen davon haben sollen, weil sie nicht tadelfreie Eltern und Grosseltern gehabt hätten. 227 Ich weiss nicht, ob es eine schädlichere Lehre geben kann als diese, dass weder die von braven Eltern Abstammenden und dann schlecht Gewordenen die gerechte Strafe treffen noch den Braven, die von schlechten Eltern abstammen, Ehre zuteil werden soll, da doch das Gesetz einen jeden allein aus sich selbst beurteilt und ihn nicht nach den Verdiensten oder Fehlern von Verwandten belobt oder bestraft.



  1. Philo vertritt im folgenden den stoischen Grundsatz, dass nur der Tugendhafte (Weise) den wahren Adel besitzt und in Wahrheit adlig genannt werden darf. Vgl. P. Wendland und O. Kern, Beiträge z. Gesch. d. griech. Philosophie und Religion S. 51 ff.
  2. Vgl. Seneca Epist. 44,5 non facit nobilem atrium plenum fumosis imaginibus …: animus facit nobilem. De benef. III 28,1 nemo altero nobilior, nisi cui rectius ingenium et artibus bonis aptius.
  3. Die Worte ἐοίκασι τοῖς ἐν ταῖς ἡγεμονίαις ἐπὶ χρειῶν τεταγμένοις πρὸς τὴν οἷα βασιλίδος ἀρετῆς ὑπηρεσίαν sind verderbt und lückenhaft überliefert, sie geben keinen rechten Sinn; vor ἐοίκασι ist etwa ἐξαρκεῖν (zu genügen) oder ζηλωτά (erstrebenswert) ausgefallen, vor den Worten αὐγοειδέστατον φῶς μὴ ἰδόντες fehlen jedenfalls mehrere Worte.
  4. Adams, der nach der h. Schrift von Gott aus Erde gebildet wurde.
  5. Noah, von dem die Bibel sagt: „Noah war ein frommer, tadelloser Mann in seinem Zeitalter“ (1 Mos. 6,9).
  6. Nach ἀρχηγετῶν scheint παίδων oder ἀπογόνων ausgefallen zu sein, denn mit ἀρχηγετῶν sind offenbar die drei Erzväter gemeint.
  7. Die Worte ὅτι μὴ χεῖρας καὶ ταύτας ἕνεκά τινος οἰκονομίας sind ein törichte Einschiebsel und daher gar nicht übersetzt.
  8. Alle Chaldäer und so auch Abrahams Vater gelten Philo als Sternbeobachter und demgemäss als Sternanbeter. Vgl. Ueber Abraham § 69 ff.
  9. d. h. der Welt der Ideen (im platonischen Sinne) und der wirklichen Welt.
  10. Philo gibt hier eine stark idealisierte Auffassung der biblischen Erzählung von Thamar (1 Mos. 38,6 ff.).
  11. Philo gebraucht hier einen aus dem attischen Recht stammenden Ausdruck: ἐπιδικασία hiess der Anspruch auf eine Erbschaft, daher auch der Anspruch auf den Besitz einer alleinstehenden Erbin.
  12. Silpa und Bilha (1 Mos. 29,24.29. 30,3ff.).
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