Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn | |
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Seele ist, so darf man adlig nur nennen die Vernünftigen und Gerechten, selbst wenn sie von geborenen oder gekauften Sklaven abstammen, den Schlechten dagegen, die von Guten abstammen, muss der Adelsplatz unzugänglich sein. 190 Denn ohne Haus und ohne Stadt ist der Schlechte, der wie aus der Heimat von der Tugend verbannt ist, die auch wirklich das Vaterland weiser Männer ist. Folgerichtig wird er, selbst wenn er von Grossvätern oder Ahnen abstammen sollte, die in ihrem Leben untadlig waren, mit Notwendigkeit unadlig, wenn er sich ihnen entfremdet und sich in Worten und Handlungen weit von dem Adel entfernt. 191 Aber abgesehen davon, dass die Schlechten ihrer Natur nach nicht adlig sind, sehe ich auch noch, dass sie sämtlich unversöhnliche Feinde des Adels sind, da sie die von den Ahnen ererbte Würde zerstören und allen Glanz ihres Geschlechts verdunkeln und auslöschen. 192 (2.) Darum scheinen mir selbst zärtlich liebende Väter (mit Kecht) Söhne zu enterben und von der Familie und Verwandtschaft auszuschliessen, wenn ihre Schlechtigkeit die natürliche Zuneigung der Erzeuger, sei sie auch noch so gross, überwiegt. 193 Die Wahrheit dieses Satzes kann man leicht auch noch aus anderen Beispielen erkennen. Was kann dem des Augenlichts Beraubten das scharfe Auge der Vorfahren zum Sehen nützen? Oder was nützt es einem an der Zunge Gelähmten zum deutlich Sprechen, dass seine Eltern oder Grosseltern eine helle Stimme hatten? Was hilft es dem von langer und zehrender Krankheit Geschwächten zur Kräftigung, wenn die Ahnen seines Geschlechts wegen ihrer Athletenstärke unter den Siegern in Olympia oder in den anderen regelmässigen Kampfspielen verzeichnet sind? Die körperlichen Gebrechen bleiben nichtsdestoweniger unverändert und nehmen keine Wendung zum Besseren aus dem Grunde, weil es den Angehörigen darin gut ging. 194 Ebenso nützen nun ungerechten Söhnen gerechte Eltern, zügellosen Söhnen vernünftige Eltern, und überhaupt schlechten Söhnen gute Eltern gar nichts. Nützen doch auch die Gesetze den ungesetzlich Handelnden nicht, die sie selbst bestrafen; ungeschriebene Gesetze sind aber auch die Lebensführungen der Menschen, die die Tugend eifrig geübt haben. 195 Wenn Gott den Adel in menschlicher Gestalt gebildet hätte, würde dieser, meine ich, vor die zuchtlosen
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/056&oldid=- (Version vom 1.8.2018)