Seemacht und Kriegsflotte (1914)

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Autor: Curt von Maltzahn
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Titel: Seemacht und Kriegsflotte
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band, Viertes Buch, S. 25 bis 54
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[383]
Seemacht und Kriegsflotte
Von Vizeadmiral a. D. Freiherr v. Maltzahn


Einleitung und Vorgeschichte

Begriffserklärung.

Handel und Schiffahrt, die einen Staat über das Weltmeer hin mit den Einkaufs- und Absatzmärkten seiner Industrie verbinden, eigene Kolonien, im überseeischen Ausland angelegtes Kapital, gewinnbringende Tätigkeit dort wohnender Staatsangehöriger, nicht zum wenigsten auch das politische Ansehen, das dem Staate aus energischer Vertretung dieser überseeischen Beziehungen erwächst, schaffen ihm eine Seemachtsstellung, falls sie von einer genügend starken Flotte beschützt werden. So wird im militärisch-politischen Sinne die Kriegsflotte zum Träger und Repräsentanten der Seemacht eines Staates. Ohne sie würden alle Seeinteressen ein Element der Schwäche bilden. Für einen Kontinentalstaat wie das Deutsche Reich ist natürlich die vom Heere beschützte kontinentale Machtstellung die Vorbedingung zur Schaffung einer Seemachtstellung gewesen, sie bleibt auch ferner ihre unentbehrliche Grundlage. Sie wirkt in politischem Sinne mit zur Wahrnehmung der überseeischen Interessen; wo es sich für die Politik aber darum handelt, über die rein diplomatischen Interventionsmittel hinaus auf Staaten einzuwirken, von denen die See uns trennt, kann sie die Flotte nicht entbehren. Denn das Wesen des Staates ist Macht, und, wo er seine Stellung andern Staaten gegenüber wahren soll, Macht im militärischen Sinne. So tritt die Kriegsflotte aus dem Gesamtbilde der Seemacht hervor als staatliche Notwendigkeit; sie hat ihre Daseinsberechtigung aber nur in den friedlichen Elementen der Seemacht.

Die richtige Erkenntnis für diesen Begriff der Seemacht hat den Deutschen gefehlt, oder sie war ihnen verloren gegangen. Auch die Wiederaufrichtung des Reiches war so kontinentale, rein militärische Wege gewandelt, daß wohl der Stolz auf das größere Deutschland, das die überseeischen Interessen mit umfaßte, vorhanden war, aber es ist doch ein Verdienst der Regierung des dritten Kaisers – im eigentlichen Sinne des Kaisers selbst –, daß sie, auf den Errungenschaften der großen Zeit der Reichsgründung weiterbauend, der richtigen Erkenntnis für die Weltmachtstellung Deutschlands in diesem Sinne im Innern des Reiches Bahn gebrochen und sie dem Auslande aufgezwungen hat. So wird auch einst die Geschichte urteilen, wenn sie von der Regierungszeit Wilhelms II. spricht. Diese Erkenntnis von den Seeinteressen und von der Weltmachtstellung des Reiches ist dann zur Grundlage geworden für den Aufbau der deutschen Kriegsflotte. [384] Ihr im Volke Geltung zu verschaffen, war die politische Vorbedingung für Durchbringung des Flottengesetzes. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, wie schwierig es gewesen ist, auch vom militärisch-technischen Standpunkt aus die Grundlage für dieses Gesetz zu schaffen und die Gewähr dafür zu übernehmen, daß die Schiffe, die man bauen wollte, und ihre Besatzungen richtig für den Krieg vorbereitet werden würden und richtig geführt, wenn einmal die Stunde der Entscheidung kommen sollte. Am diese Schwierigkeiten zu erkennen, ist es unerläßlich, kurz zurückzuschauen auf die Entwicklung der Kriegsflotten in der Periode, die dem Regierungsantritt Wilhelms II. vorhergegangen ist.

Entwickelung der Kriegsflotte vor 1888.

Der Krimkrieg hatte die vernichtende Wirkung der Granatkanonen gegen die ungeschützten Schiffe alter Art gezeigt, zugleich aber in schwimmenden, gepanzerten Batterien, die gegen russische Küstenbefestigungen mit Erfolg fochten, ein Mittel geschaffen, um diesem Übelstande zu begegnen. Man begann, auch große seegehende Schiffe durch Panzerung zu schützen und es schien, als ob der Panzerfregatte mit der Artillerie als Einheitswaffe die Zukunft gehöre. Da brachte der amerikanische Sezessionskrieg weitere Neuerungen. Mine und Torpedoboot in ihrer primitivsten Form entstanden, neben das seegehende Panzerschiff trat der kleine Monitor, der in den Fluß- und Küstenkämpfen dieses Krieges gute Verwendung fand, zugleich aber in dem Rammsporn eine weitere neue Waffe brachte, der auch das mächtigste Panzerschiff damaliger Zeit nicht zu widerstehen vermochte. Dies wurde der staunenden Welt 1866 vor Augen gestellt, als in der Schlacht bei Lissa der Rammstoß des „Erzherzog Ferdinand Max“ das italienische Admiralschiff in wenigen Minuten auf den Grund des Meeres sinken ließ.

Eine gänzliche Änderung der bisherigen Anschauungen über den Schiffstyp und die Taktik des Seekampfes war die Folge. Die Dreiteilung der Waffen – Geschütz, Ramme und Torpedo – schien für jede von ihnen einen Spezialtyp zu fordern, der Einheitlichkeit der bisherigen Artillerietaktik mit ihrem Kampf in geschlossener Formation trat das Bedürfnis entgegen, die Ordnung zu lösen, sobald der Kampf beginne, damit die neuen Nahwaffen, Sporn und Torpedo, die Freiheit der Bewegung bekämen, die ihre Anwendung verlangte. Ihnen gegenüber erschien es aber als ein kostspieliges Experiment, weiter große, teuere Panzerschiffe zu bauen, die dem Rammschiff und dem Torpedoboot doch zum Opfer fallen müßten. Die Zeit der Spezialschiffe schien angebrochen, das Panzerschiff wollte man zum alten Eisen werfen, und das neue Bild des Seekrieges schien vollständig zu sein, als Frankreich, damals beinahe der einzige Gegner des seebeherrschenden Englands, den Bau von Panzerschiffen einstellte und behauptete, mit schnellen Panzerkreuzern den Seehandel des Feindes auf allen Meeren vernichten zu können, ohne daß die schwerfällige gepanzerte Schlachtflotte es zu hindern vermöge. Neben diesen Angriff sollte nur ein wirksamer Küstenschutz treten, der den Hafensperren aller Art, den Küstenwerken, Torpedobooten und kleinen gepanzerten Fahrzeugen übertragen werden könne.

Eine eigentliche Taktik des Flottenkampfes konnte in solcher Zeit nicht entstehen, und sie hat es damals auch nicht gegeben. Wie sollte aber das Schiff beschaffen sein, das dazu [385] bestimmt war, der Träger des Kampfes zu werden? Jeder Taktiker gab dem Konstrukteur auf diese Frage eine andere Antwort, und so ist die Musterkarte verschiedenartigster Schiffe entstanden, die in den 70er und 80er Jahren die Flottenlisten füllten. Die Rückwirkung konnte nicht ausbleiben: die Vielgestaltigkeit der Schiffstypen steigerte nur die Vielgestaltigkeit der taktischen Ansichten, ein allgemeiner Wirrwarr war die Folge.

Die preußisch-deutsche Marine.

Auch die preußisch-deutsche Marine hatte sich diesen Einflüssen nicht völlig zu entziehen vermocht; aber außer den kleineren Fahrzeugen, die dem Küstenschutz dienen sollten, wurden in den Flottenplänen von 1863 und 1865 doch auch größere gepanzerte Schiffe als „Schlachtflotte“ gefordert. Diese Forderungen drangen nicht durch, aber als nach Gründung des Norddeutschen Bundes die Mittel reichlicher flossen, waren im Ausland eine Anzahl von Panzerfregatten bestellt worden, und das Jahr 1869 brachte mit der Einweihung von Wilhelmshaven den ersten Schritt in die dem Weltmeer näher liegende Nordsee. Dann kam die Errichtung des Deutschen Reiches, die der Flotte zwar erweiterte Aufgaben zuwies, ihr einen dementsprechenden Machtzuwachs aber nicht gebracht hat. Die Gründe hierfür sind von der verschiedensten Art.

Nach Beendigung des Krieges war für die Marine die bis dahin bestehende Trennung für Kommando und Verwaltung aufgehoben worden. An die Spitze der neuen Zentralbehörde, der Kaiserlichen Admiralität, trat der General v. Stosch. Der von ihm dem Reichstage im Jahre 1873 vorgelegte Flottengründungsplan hat bis in den Beginn des jetzigen Flottengesetzes hinein seine Bedeutung behalten, und die ihm beigegebene Begründung läßt die damalige Stellung zur Flottenfrage am besten erkennen. Daß man in einer Zeit, da die Siege der Armee eine so gewaltige Machtstellung für Deutschland errungen hatten, der Mitwirkung der Flotte kaum zu bedürfen glaubte, um aufrecht zu erhalten, was gewonnen war, ist ja vielleicht erklärlich. Die Zahl der erforderlichen Schlachtschiffe, die Preußen im Etat von 1865 von 6 auf 10 hatte erhöhen wollen, wurde auf 8 herabgesetzt, und neben diese eigentliche Schlachtflotte sollten „Ausfallskorvetten“ treten. Der Rückzug auf die Küstenverteidigung begann, der, was den Schiffstyp anbetrifft, dann seine Fortsetzung fand in dem Bau kleiner gepanzerter Kanonenboote. Wie in den ganzen Erwägungen dieses Flottengründungsplanes der Landkrieg obenan stand, zeigt am klarsten der Satz: „Die Wegnahme einer ganzen feindlichen Kriegsflotte gewährt höchstens das Mittel, eine Eroberung zu beginnen.“ Daß die Beherrschung der See das besiegte Land von der See scheidet und ihm alles das nimmt, was aus der großen Welt ihm an Kräften zufließt, ist aus solchen Anschauungen nicht zu erkennen.

Die früheren Etats für die Marine hatte der Kriegs- und Marineminister v. Roon aufgestellt, aber in ihnen war die Ansicht der im Marineministerium selbst wie namentlich im Oberkommando der Marine diensttuenden Seeoffiziere doch mehr zur Geltung gekommen, als es hier geschah. Man kann es nicht leugnen: die Schaffung des Reiches hatte dem Flottengedanken zunächst einen Rückschritt gebracht. Nur in Gebieten, die so losgelöst von der europäischen Machtsphäre und so wenig zugänglich für den Klang deutschen Waffenruhms seien, daß für sie etwas besonderes geschehen müsse, glaubte [386] man des Eingreifens der Flotte zu bedürfen, und der für Deutschlands Politik verantwortliche Reichskanzler war dieser Auffassung nicht entgegengetreten.

Unter dem zweiten Chef der Admiralität, dem General v. Caprivi, begann sich eine Änderung vorzubereiten. Dies zeigt sich in den Denkschriften zu den Etats für den Auslandsdienst der Flotte wie für deren Bedeutung überhaupt. Trotz aller Zweifel, die man dem Hochseeschlachtschiff in seiner jetzigen Gestalt entgegenbringe, läge in ihm doch der eigentliche Wert jeder Flotte. „Eine Marine, die ihren Schwerpunkt auf oder am Lande suchte, verdiente ihren Namen nicht mehr. Immer mehr hören die Meere auf, die Nationen zu trennen, und immer mehr scheint der Gang der Geschichte darauf hinzuweisen, daß ein Staat sich nicht von der See zurückziehen darf, wenn er auch über die nächste Zukunft hinaus sich eine Stellung in der Welt zu erhalten trachtet.“ So heißt es in der Denkschrift zum Etat von 1883, und es klingt wie eine Vorbereitung zum späteren Flottengesetz, wenn General v. Caprivi 1887 schreibt: „Die Erkenntnis des schnell wachsenden Wertes überseeischer Beziehungen, die Unmöglichkeit, den eigenen Einfluß noch länger auf Europa beschränken zu können, das Bewußtsein von der Rückwirkung anderer Weltteile bis in die intimsten Fragen eigener Wirtschaftspolitik, haben – ganz abgesehen von der Kolonialpolitik – fast alle europäischen Staaten im Laufe der letzten Jahre zu einer Vermehrung ihrer Seemacht geführt“ und weiter: „Das Deutsche Reich steht demnach vor der Frage, ob es durch personelle und finanzielle Rücksichten dazu genötigt ist, sich in diese Lage (des Zurückbleibens in seiner maritimen Rüstung hinter andern Flotten II. Ranges) zu schicken, oder ob und bis zu welchem Grade ihm jene Rücksichten die Vermehrung seiner eigenen maritimen Wehrkraft gestatten und rätlich erscheinen lassen.“

Die Zeiten hatten sich eben geändert und die Frage des Ausbaus der deutschen Wehrmacht zu Lande und zu Wasser nach den verschiedensten Richtungen hin beeinflußt. Als im Jahre 1884 die deutsche Kolonialpolitik einsetzte, hatte man in England die Zeit der Kolonialmüdigkeit noch nicht völlig überwunden, die, im Zusammenhang mit der Freihandelsbewegung, viele Gemüter beherrscht hatte. Mehr erstaunt als beunruhigt schaute man den neuen deutschen Bestrebungen zu, und auch als die von Bismarck unter Mitwirkung der in Kolonialdingen England abgeneigten französischen Republik im November 1884 nach Berlin berufene Afrikanische Konferenz internationale Festsetzungen traf, die tief eingriffen in bisher von England souverän auf der ganzen Welt gehandhabte Rechte, wurde kein formeller Widerspruch erhoben. Aber bald regte sich die öffentliche Meinung in England, eine eifrige Propaganda setzte ein, und es war zu übersehen, daß jedes weitere Hinausschieben deutscher Seeinteressen bald nur möglich sein würde, wenn eine genügende maritime Wehrkraft es unterstützte.

Andrerseits war auch die kontinentale Machtstellung des deutschen Reiches doch nicht mehr als so gesichert anzusehen, wie sie es 1873 gewesen war. Die nach dem russisch-türkischen Kriege im Sommer 1878 tagende Berliner Konferenz bedeutete einen Höhepunkt des deutschen Einflusses in der europäischen Politik. Sie hatte aber in ihren Folgen das Verhältnis des Deutschen Reiches zu Rußland getrübt, der Revancheidee in Frankreich dadurch neue Hoffnungen erweckt, und so war trotz des im Jahre 1872 mit Österreich [387] abgeschlossenen Bündnisses die Drohung des Krieges nach zwei Fronten für uns entstanden, die in den Jahren von 1884–1888 sich immer mehr verschärfte.

Zweierlei Bestrebungen gehen also in der auswärtigen Politik Deutschlands in dieser Zeit nebeneinander her: die Sicherung des durch den Krieg gegen Frankreich gewonnenen Territorialbestandes des Reiches und sein Eintritt in die Reihe der Weltstaaten durch Förderung der Seeinteressen. Dem Hissen der deutschen Flagge in Togo, Kamerun und Südwestafrika, der Subventionierung überseeischer Dampferlinien durch das Reich, dem Erlaß des Schutzbriefes für die Neuguinea-Kompagnie, der Erwerbung der Marschallinseln, folgen die Gesetze zur Vermehrung des Heeres, die 1887 nur durch die Auflösung des Reichstages erzwungen werden konnte, während im folgenden Jahre die große Februarrede Bismarcks die Durchbringung der erweiterten Vorlage bewirkte. Beiden politischen Bestrebungen durch Ausbau von Heer und Flotte gleichzeitig Rechnung zu tragen, wurde immer schwieriger, weil einerseits die Bewahrung des Besitzstandes am Lande als Grundlage alles weiteren das Wichtigste war, andrerseits jedes Hinausgehen auf die See die nun erwachte Rivalität Englands reizte, des Staates, dessen Seeinteressen überall in der Welt vertreten und durch die stärkste Flotte beschützt waren. Bezeichnend aber ist es, daß von Flottenrüstungen England gegenüber damals noch nie die Rede gewesen ist.

So geht durch die Ausführungen des zweiten Chefs der Admiralität neben der Betonung der Notwendigkeit vermehrter Rüstungen ein Zug der Resignation her und Zweifel darüber, ob bei den noch ungeklärten Fragen des Panzerschiffbaus und der Schlachtentaktik es nicht doch besser sei, sich mit kleineren Schiffen und mit Torpedobooten zu begnügen. „Eine Marine, wie die unsere, kann sich den Luxus fehlgeschlagener Experimente nicht erlauben; sie darf konstruktiv wenig wagen.“

Umschwung im Panzerschiffbau.

Inzwischen hatte nun aber – namentlich in dem auf die Seebeherrschung angewiesenen Weltreich England – der Panzerschiffbau angefangen, sich von den ihm mit Recht vorgeworfenen Mängeln zu befreien. Neben die wenigen langsamfeuernden schweren Geschütze war eine leistungsfähige leichte Artillerie zur Abwehr der neuen Gegner getreten. Das Zweischraubensystem hatte die Beweglichkeit, verbesserte Maschinen die Schnelligkeit der Panzerschiffe vermehrt. Wirksamere Unterwasserteilung und Schutznetze verminderten die Gefahr der Torpedotreffer, schiffbauliche Einrichtungen im Bug des Schiffes die Gefahr, die beim Gebrauch der eigenen Ramme entstehen konnte, und schließlich war es auch gelungen, Einrichtungen für das Schießen von Torpedos auf den Panzerschiffen selbst einzubauen. Die drei Waffen, derentwegen man zum Bau von Spezialschiffen für jede hatte schreiten wollen, waren auf diesem modernen Schlachtschiff wieder vereint und gaben ihm neben der ihm innewohnenden, im Bereich des Kohlenvorrats unbeschränkten Seefähigkeit die Überlegenheit und allgemeine Gebrauchsfähigkeit zurück, die ihm verloren zu gehen drohten, als die neuen Anschauungen über den Seekrieg eingesetzt hatten.

[388] Diese Überlegenheit war allerdings nur zu haben in vergrößertem Deplazement und für einen gegen früher erheblich gesteigerten Preis. Was aber Deutschland zu dieser Zeit an Panzerschiffen besaß, war dem Typ nach veraltet und entsprach der Zahl nach nicht einmal den Festsetzungen des Flottengründungsplanes von 1873. Ein Ersatzbau für das 1878 infolge eines Zusammenstoßes mit „König Wilhelm“ gesunkenen Panzerschiffs „Großer Kurfürst“ war zunächst hinausgeschoben worden. Als später im Reichstage ein Ersatzbau für das Panzerfahrzeug „Prinz Adalbert“ wiederholt abgelehnt wurde, war die Forderung eines Ersatzschiffes für „Großer Kurfürst“" aussichtslos und wurde unterlassen, heißt es in einer Denkschrift von 1883. Seitdem waren die Aussichten für Bewilligung von Neubauten großer Schiffe infolge der oben geschilderten politischen Verhältnisse noch ungünstiger geworden.

Die Panzerfahrzeuge der „Siegfried“-Klasse, die jetzt in Bau gegeben wurden, waren ein Produkt des Sichfügens in eine Lage, die abzuwenden man sich zu schwach fühlte. Typenmäßig und taktisch bedeuteten sie, je weiter ihr Bau vorschritt, einen Verzicht auf den Hochseekampf. Sie banden die deutsche Flotte immer mehr an die Küste.

Ähnlich so war es mit dem Teil unserer damaligen maritimen Wehrkraft, der seiner geringen pekuniären und personellen Anforderungen wegen von den beiden Chefs der Admiralität am weitesten gefördert worden war, mit den Torpedobooten. Auch sie konnten die fehlenden Panzerschiffe nicht ersetzen. Aber der Mikrokosmos, den unser in der Torpedoinspektion eine einheitliche Spitze tragendes Torpedowesen damals schon bildete, bedeutete doch mehr. Er bildete in seiner Zusammenfassung technischer, organisatorischer und taktischer Elemente, auf selbständigem Gebiet Neues schaffend, den Kern einer Neubelebung für die ganze Flotte. Was aber auch der Entwicklung des Torpedobootswesens zu ihrer vollen Entfaltung fehlte, war die Anlehnung an eine Hochseeflotte von Panzerschiffen, deren Taktik bei uns sie sich anpassen, deren Studium beim Feinde ihr den richtigen Weg zeigen konnte zu seiner Bekämpfung.

Unsicherheit in der Seetaktik.

Denn eine Taktik des Flottenkampfes gab es im Jahre 1888 weder in anderen Marinen, noch bei uns. Was man als solche ansah, bestand nur in dem Aneinanderführen der Flotten, das in frontalem Aufeinanderstoß zum Durchbruchsgefecht oder – damit vielleicht ohne weiteres verbunden – zur Auflösung in Einzelgefechte zwischen den Schiffen führen mußte. Organisieren ließ sich ein solcher, auf gleichzeitigen Gebrauch von Geschütz, Ramme und Torpedo ausgehender Massenkampf nicht. Drum sprachen gewichtige Stimmen für sofortiges Aufgeben der Formation, sobald nach einleitendem Artilleriefeuer der Kampf begann, und seit 1874 war solch ein Verlauf der Schlacht bei uns sogar reglementarisch festgelegt.

Allmählich begann man dann zu befürchten, daß der Führer durch ein derartiges Umstürzen des Würfelbechers doch alles aus der Hand gebe; das wilde Durcheinander einer solchen Melee ließ sich auch durch taktische Friedensschulung kaum vorbereiten. So trat in dem Denken der Seeoffiziere aller Flotten allmählich ein Umschwung ein. Man bezweifelte, daß in solch regellosem Kampfe wirklich die richtige Ausnutzung des hochentwickelten [389] technischen Instrumentes einer modernen Flotte läge, aber man war überall taktisch in eine Sackgasse hineingeraten, und es war schwer, einen Ausweg aus diesem Wirrsal zu finden.

Als im Winter 1887/88 General v. Caprivi eine Reihe von Seeoffizieren zu einer Aussprache über diese Frage veranlaßte, herrschte Einstimmigkeit darüber, daß angestrebt werden müsse, die Formation – und damit die Möglichkeit zum einheitlichen Gebrauch der Artillerie als Hauptwaffe – so lange als irgend möglich zu erhalten; einen bestimmten Weg hierzu vermochte aber, außer der eigenen Überzeugung, daß es möglich sei, keiner von ihnen anzugeben. Das Nebeneinander der drei Waffen, von denen Ramme und der vom Panzerschiff aus geschossene Torpedo in seiner damaligen Form freie Beweglichkeit forderten, also Lösung der Ordnung, während die Artillerie zur Entfaltung ihrer höchsten Kraft stetigen Kurs und Fahrt, also Fahren in bestimmter Ordnung nötig hatte, ließ eben eine Gewißheit hierin nicht aufkommen.

So bestand neben dem Versuch des geschlossenen Gefechtes „das aufgelöste Gefecht“ bei uns noch reglementarisch zu recht, als Kaiser Wilhelm II. im Juni 1888 den Thron bestieg, und die Unzulänglichkeit der materiellen Rüstung zur See wurde gesteigert durch die Unsicherheit der taktischen Anschauungen. Wir aber haben uns durch diese vorbereitenden Ausführungen einen Einblick in die Mißlichkeit der damaligen Lage verschaffen müssen, weil wir erst daran werden ermessen können, was in den folgenden 25 Jahren geleistet worden ist.

Die Übergangszeit.

Maßnahmen beim Regierungsantritt Wilhelms II.

Kurz nach dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. bat General v. Caprivi um Entbindung von seiner Stellung. Ein Chef der Admiralität, der die gesamte Leitung der Marine in seiner Hand vereinte, ist fortan nicht wieder ernannt worden. Der zur Stellvertretung berufene älteste Seeoffizier, Vizeadmiral Graf v. Monts, erhielt vielmehr den Auftrag, eine Organisation in die Wege zu leiten, die Kommando und Verwaltung der Marine wieder voneinander trennte. So sind denn im Frühjahr 1889 das Reichsmarineamt und das Oberkommando der Marine eingesetzt worden. Der Kaiser machte sich zum Chef der Marine, ein Marinekabinett trat ihm zur Seite.

In diese Zeit des Übergangs fällt der Umschwung in unserer Schiffbaupolitik. Im August 1888 war, dem Entschluß des Kaisers folgend, der Entwurf zu Etat für 1889/90 dahin abgeändert worden, daß neben den andern Bauten vier große Panzerschiffe (die nachherige „Brandenburg“-Klasse) gefordert wurden. Die vier Schiffe sollten zu gleicher Zeit gebaut werden, um möglichst schnell den Kern einer Schlachtflotte zu bilden. Denn einer solchen könne das Deutsche Reich ebensowenig entraten, wie einer genügenden Anzahl moderner geschützter Kreuzer zum Schutz des eigenen und zur Schädigung des feindlichen Handels. Die in den Denkschriften zu früheren Etats geäußerten [390] Bedenken bezüglich der Panzerschiffbauten könnten jetzt als überwunden angesehen werden. Hierfür sprächen sowohl das Beispiel anderer Nationen wie bei uns gemachte Erfahrungen und eingehende Untersuchungen, heißt es in der betreffenden Denkschrift.

Wir wissen, wie viel damals noch fehlte, um, namentlich in taktischer Beziehung, den Weg klar zu erkennen, der damit beschritten wurde. Aber der Mut der Überzeugung brachte den Erfolg. Die vier Schiffe wurden dem jungen Kaiser bewilligt, der Bann war gebrochen.

Die Wiederaufnahme des Flottengedankens, die 1888 allein kaiserlicher Entschließung entsprungen ist, hat uns aber nicht nur die vier Schiffe der „Brandenburg“-Klasse gebracht, sie bedeutet in ihrer Weiterentwicklung auch einen Wendepunkt in der deutschen Politik und eine rechtzeitige Angliederung an den Übergang, der sich damals in der Welt vollzog: den Übergang zur Weltwirtschaft und zur Weltpolitik. Am 25. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches wurden vom Kaiser die Worte gesprochen: „Unser Deutsches Reich ist ein Weltreich geworden!“ Am 18. Oktober 1899 folgte im Hamburg, dem Hauptplatz deutscher Seeinteressen, der Ausspruch: „Bitter not tut uns eine starke deutsche Flotte“, der dem Gefühl schwerer Verantwortung dafür Ausdruck gab, diese immer freier sich entwickelnden friedlichen Elemente deutscher Seemacht noch weiter ohne wirksamen Schutz zu sehen. Diese Kaiserworte sind zu Marksteinen geworden auf dem Wege zum Flottengesetz von 1900. Ehe wir ihn weiter mit unserer Schilderung begleiten, müssen wir aber zunächst erfahren, was in der Zwischenzeit geschehen ist, um nun wirklich „auf Grund bei uns gemachter Erfahrungen und eingehender Untersuchungen“ zu erkennen, was uns not tue und wie wir die zu bauenden Schiffe gebrauchen wollten.

Organisationsveränderungen und taktische Erprobungen.

Der Weg hierzu war nicht leicht zu finden. Auch in England hat man sich im Jahre 1889 bei einer später hier noch zu besprechenden großen Flottenvermehrung mit Entschiedenheit auf den Grund des Baues großer Panzerschiffe gestellt, und doch schrieb in demselben Jahre Admiral Colomb, einer der kundigsten englischen Seeoffiziere, die Wissenschaft der Seetaktik befände sich immer noch in einem durchaus unbestimmten und unbefriedigenden Zustande. Er glaube zwar, daß zweckdienliche Versuche und daran geknüpfte richtige Folgerungen dazu ausreichen würden, sie schon im Frieden auf eine durchaus sichere Grundlage zu stellen, müsse aber mit einer gewissen Sorge erkennen, mit welcher Gleichgültigkeit die Leiter der englischen Flotte der Sache gegenüberständen. Wenn nun die größte Seemacht der Welt mit ihrem reichen Schiffsmaterial, den ständigen Indiensthaltungen und mit ihrem altgedienten Personal damit nicht weiter kann, was sollte bei uns geschehen?

Zwar waren auch in Deutschland schon seit der Zeit des Generals v. Stosch Übungsgeschwader in Dienst gewesen, bevor man in anderen Marinen an solche Übungen dachte, waren auch Manöver abgehalten worden, die, namentlich unter dem zweiten Chef der Admiralität, das Bestreben zeigten, der Wirklichkeit des Krieges näher zu kommen. Aber die kurzen Sommermonate, für die diese Geschwader in Dienst waren, genügten kaum, um die Schiffsbesatzungen einzufahren und die Manöver, namentlich in der letzten Zeit, [391] angelegt auf den Krieg mit zwei Fronten, also gegen bedeutende Übermacht, hatten sich auf Kämpfe um die Hafeneingänge und Flußmündungen beschränkt. Gefechte in freiem Wasser, die freie taktische Anschauungen über den Flottenkampf hätten fördern können, waren selten daraus entstanden. Wo sie aber vorkamen, da mußte die Übung schnell abgebrochen werden, denn der wilde Massenkampf, wie er damals als wahrscheinlich angesehen wurde, konnte weder dargestellt noch erprobt werden.

Erreichte dann im Herbst die Übungszeit ihr Ende, so wurden die Kampfschiffe wieder außer Dienst gestellt, das gesamte Personal für den Winterdienst neu verteilt und der geringe Lehrstoff, der im Sommer gewonnen worden war, zerrann fast völlig. Eine Tradition zu schaffen, die Gewonnenes festhielt, war auf diese Weise fast unmöglich, eine wirkliche Vorbereitung auf den Ernstfall des Krieges ebenfalls. Letzteres wurde noch dadurch erschwert, daß zwischen den Indienststellungen des Sommers und der für den Krieg geplanten Zusammensetzung der Flotte ein Zusammenhang nicht bestand. Selbst wenn während der Übungsperiode ein Krieg ausgebrochen wäre, hätte die Mobilmachung damit begonnen werden müssen, die notdürftig eingefahrenen Kampfschiffe neu zu besetzen, weil – nach den bestehenden Bestimmungen, die den Verhältnissen der Armee entsprachen – die für den Krieg zu bildenden Schiffsbesatzungen aus aktivem Personal und Reservisten gemischt wurden. Dazu mußte aber eine gänzlich neue Verteilung des gesamten Personals der Flotte eintreten: die Mobilmachung begann sozusagen mit einer Demobilmachung.

Trotz dieser so überaus ungünstigen Verhältnisse ist die deutsche Flotte als erste unter allen in den nächsten Jahren dazu gelangt, „durch zweckdienliche Versuche und daran geknüpfte richtige Folgerungen die Taktik schon im Frieden auf eine durchaus sichere Grundlage zu stellen.“ Schon die Sommerübungen der Manöverflotte in den Jahren 1889–1891 unter Leitung der Vizeadmirale Knorr und Deinhard brachten nach den vom Kaiser dafür erlassenen Bestimmungen wertvolles praktisches Material zur Klärung taktischer Fragen. Kommissarische Beratungen schlossen sich an, und gemeinsame Erwägungen der beiden obersten Marinebehörden sollten versuchen, die Schwieigkeiten zu beseitigen, die in der bestehenden Organisation der Flotte, wie ich sie soeben beschrieben habe, Hindernisse für eine gesunde Weiterentwickelung geschaffen hatten.

Bereits damals traten die Anschauungen des jetzigen Staatssekretärs des Reichsmarineamts, dessen organisatorische Begabung schon in seiner langjährigen Tätigkeit als Inspekteur des Torpedowesens sich bewährt hatte, hervor und fanden die Billigung des alles überwachenden, überall fördernd eingreifenden Chefs der Marine, des Kaisers. Und wie es sich schon beim Aufbau unseres Torpedobootswesens gezeigt hatte, mußte man bei all den weitschichtigen Arbeiten erkennen, daß eine Förderung nur zu erwarten sei, wenn bei dem nun in Gang kommenden Wiederaufbau der Flotte Organisation, Technik und Taktik in Einklang mit einander kämen, ja daß dem Taktiker, für dessen Tätigkeit im Kriege dieser ganze Apparat doch geschaffen werden sollte, auch bei seinem Aufbau eine entscheidende Stimme zukäme. Ich folge daher auch zunächst weiter den Schritten zur Förderung der taktischen Entwickelung.

Im Jahre 1892 haben nach Sichtung der bisher gewonnenen Ergebnisse und auf [392] ihrer Grundlage weiterbauend, systematische Übungen in größerem Maßstabe begonnen. Das Oberkommando, in das der Kapitän zur See Tirpitz als Chef des Stabes berufen worden war, übernahm ihre Leitung. Dieser Behörde sind daher vom Kaiser auch weitergehende Befugnisse im Rahmen des Ganzen zugewiesen worden, als sie bisher hatte. Das Reichsmarineamt wurde immer weiter den aus der Front kommenden Organisationsplänen zugänglich, stellte an Schiffen zur Verfügung was notwendig war, zeitweilig geschah dies sogar auf Kosten der sonstigen Friedensausbildung und des Dienstes im Ausland. Denn die Erprobungen gingen im großen Rahmen vor sich, und dies mußte, selbst unter zeitweiliger Zurückschiebung anderer Aufgaben, geschehen, wenn Bleibendes geschaffen werden sollte. Wollten wir doch ein Bild davon gewinnen, wie größere Verbände von Schiffen, größere als wir damals für den Kriegsfall an Kampfschiffen überhaupt zur Verfügung hatten, geführt werden müßten. Zugleich war man sich aber darüber klar, daß das Einzelschiff und die Unterverbände in ihrer Schulung um so fester gefügt sein mußten, je größer der Schlachtverband war, dem sie angehörten. Daß dies bei der vorher geschilderten Art und Weise der kurzen Indiensthaltung beliebig ausgewählter Schiffe nicht zu erreichen war, hatte man erkannt, und so ist denn damals schon damit begonnen worden, innerhalb der verfügbaren Mittel den Kern der Schlachtflotte in der für den Krieg geplanten Zusammensetzung dauernd in Dienst zu halten.

Wie wenig zahlreich diese Schiffe waren, wie wenig sie den Anforderungen moderner Kriegführung für den Hochseekampf entsprachen, wissen wir. Da mußte oft die Phantasie ersetzen was fehlte. Die noch mit voller Takelage versehenen Schulfregatten stellten Panzerschiffe dar, Torpedoboote taten Kreuzerdienste, und der als Artillerieschulschiff gebaute „Mars“ fungierte als Flottenflaggschiff. So haben wir in der Reihe der folgenden Jahre eine Zeit durchgemacht, die – man kann es ohne Überhebung sagen – einzig dasteht in der Geschichte der Flotten. Wir haben uns von Irrtümern nicht freigehalten, vieles, was uns zeitweilig als unumstößlich richtig erschien, ist heute überholt, aber die deutsche Flotte, die an Zahl und Brauchbarkeit der Schiffe hinter vielen anderen zurückstand, ist ihnen allen vorangegangen in ihrer taktischen Entwickelung. Mit ungeeigneten Schiffen, die eigentlich nur Substitute waren für das Schiff, mit dem gefochten werden sollte, haben wir die artilleristische Linientaktik geschaffen, die bald darauf in allen großen Flotten sich durchzusetzen begann.

Nur auf diese Weise konnten aber auch die Entschlüsse gefaßt und die Pläne vorbereitet werden, aus denen dann später das Flottengesetz geboren worden ist. Denn um diese taktische Entwickelung hat sich auch alles gruppiert, woraus der Aufbau unserer Flotte, wie er heute vor uns steht, entstanden ist: die strategische Grundidee, die in der Schlachtflotte gipfelt, die Ausgestaltung der Schiffstypen und ihre Zusammenfassung zur Flotte, die Einteilung des Übungsjahres in Abschnitte für die neu geschaffenen aktiven Geschwader und Divisionen, die Aufstellung der Reglements und der Anleitungen für den Seekrieg. Auch die strategischen Manöver konnten nun neben Klärung anderer Fragen weitere Fortschritte in der Taktik bringen. Wo bei ihnen die Parteien aufeinanderstießen und so stets wechselnde, der Wirklichkeit angenäherte Kampfesaufgaben entstanden, gelang es, zur Förderung der Kommandierenden und der Unterführer das in [393] freiere taktische Formen überzuführen, was die mehr systematischen Übungen an Ergebnissen geliefert hatten.

Je mehr die Ansichten sich klärten, je mehr das gegenseitige Sichverstehen Hindernisse beseitigte und Schwierigkeiten überwinden ließ, desto näher konnten die Übungen sich heranschieben an die Wirklichkeit des Krieges und an die Gefahrgrenze. Auch hierin folgten wir der in früheren Jahren bei der Ausbildung der Torpedobootsdivisionen gewonnenen Erfahrung. Zwar hat sich, als an die Stelle der kleinen Boote Schiffe traten, die Millionen an Kapital repräsentieren und Hunderte von Menschen tragen, der Einsatz vergrößert, aber die Methode blieb. Von leichteren zu schwereren, kriegsmäßigeren Übungen fortschreitend, wuchs das Gefühl der Sicherheit in Führern wie Geführten, das nicht auf laienhafter, leichtsinniger Verachtung der Gefahr sich aufbaut, sondern auf dem freudigen Gefühl, ihr gewachsen zu sein. Und hieraus allein kann schließlich auch im Kriege die Freiheit des Entschlusses entstehen, die alles einsetzt, um alles zu gewinnen. Wo aber die harte Notwendigkeit des navigare necesse est Menschenleben schon im Frieden fordert, da sind es die Sieger, die für die Zukunft in den Tod gehen. Denn eine Flotte, die im Frieden den Einsatz scheut, der notwendig ist, um den Krieg vorzubereiten, kann nicht Menschen erziehen, die dereinst den Sieg an ihre Flagge fesseln sollen.

Ich bin, um ein abgeschlossenes Bild zu geben, den Dingen vorausgeeilt. Die Organisationen und die Menschen, die sie trugen, haben gewechselt, der Geist, der das Ganze erfüllte, ist geblieben. Was das Oberkommando der Marine 1892 begann, haben das Flottenkommando – ich nenne als langjährigen, verdienstvollen Flottenchef den Großadmiral v. Köster – und der Admiralstab der Marine unter Leitung des Kaisers fortgesetzt, der nach Abschaffung ersterer Behörde im Jahre 1899 beschlossen hatte, den Oberbefehl selbst zu übernehmen.

Das Hauptergebnis der 1889 begonnenen taktischen Erprobungen aber habe ich schon dadurch vorweg genommen, daß ich von artilleristischer Linientaktik sprach. Unsere Übungen ließen nämlich immer klarer erkennen, daß eine Flotte, die, wie man es 1888 plante, darauf ausging, im direkten Vorschreiten möglichst schnell zum Durchbruchsgefecht oder gar zur Lösung der Ordnung im Nahkampf zu kommen, doch großer Gefahr entgegenging. Dies setzte allerdings voraus, daß ihr Gegner sich dessen bewußt war, welche wichtige Waffe er in der ferntragenden Artillerie besaß. Je mehr aber beide Flotten dies erkannten, je mehr sie darauf ausgingen, die Artillerie, die durch Verkennung ihrer eigentlichen Bestimmung zur Nahwaffe herabgesunken war, wieder zur Fernwaffe zu entwickeln, desto mehr löste sich ihr Gefechtsfeld von dem des Torpedos und der ausgesprochensten Nahwaffe, des Sporns. Nun mußte, wer den Feind am wirksamsten bekämpfen wollte, ihm nicht mehr mit nebeneinander gestellten Schiffen und Schiffsabteilungen den Bug zudrehen, sondern die die Artilleriekraft erst zu voller Geltung bringende Breitseite. Die fechtenden Flotten fuhren in Kiellinie (d. h. mit hintereinander gestellten Schiffen) im „laufenden Gefecht“ nebeneinander her. Nicht mehr Lösung der Ordnung, sondern Innehaltung der Linienformation wurde wieder wie in der alten Zeit zum Kampfprinzip, und sein Träger ist das moderne Linienschiff geworden.

[394]

Innerpolitische Schwierigkeiten für den Ausbau der Schlachtflotte.

Während wir so begonnen hatten, Klarheit darüber zu erlangen, wie eine moderne Flotte beschaffen sein müsse und wie sie im Kriege zu verwerten sein würde, kamen die Verhandlungen mit dem Reichstage über Verstärkung unseres Schiffsmaterials wenig vorwärts. Dem ersten Staatssekretär des Reichsmarineamts, Admiral Heusner, der schon nach kurzer Zeit krankheitshalber seinen Abschied nehmen mußte, war Admiral Hollmann gefolgt. Er trat im Jahre 1897 mit einer Denkschrift vor den Reichstag, in der an der Hand des zwar längst überholten, der Öffentlichkeit gegenüber aber immer noch eine Rolle spielenden Flottengründungsplanes von 1873 der Schiffsbestand der Flotte einer Prüfung unterzogen und Vorschläge zur Besserung gemacht wurden.

Dieses Zurückgreifen auf einen Plan, der noch mit Panzerfregatten, Panzerkorvetten, Monitors, schwimmenden Batterien, Korvetten, Avisos und Segelbriggs zur Schiffsjungenausbildung rechnete, der durch Neubewilligungen fast jedes Jahr abgeändert worden war und der namentlich nach den jetzt das Offizierkorps erfüllenden Ideen kaum noch einen Anhalt bot, war vielleicht geboten durch parlamentarische Rücksichten. Auch bei Einbringung des Flottengesetzes hat er noch eine Rolle gespielt, eine durchgreifende Neubildung der Flotte war aber auf dieser Grundlage kaum zu erreichen. Wie sollte man den neuen gährenden Wein in diese alten Schläuche füllen?

Um nicht länger mit der Fiktion zu rechnen, daß die alten Panzerfregatten noch für die Schlacht brauchbar seien, waren drei von ihnen durch eine Allerhöchste Kabinettsordre in die Klasse der Kreuzer versetzt worden. Als der Staatssekretär den mit dieser reduzierten Bestandszahl an Schlachtschiffen rechnenden Etat und die daraus entstehenden Mehrforderungen für Neubauten in der Budgetkommission des Reichstages zu vertreten hatte, fiel zuerst das Wort „uferlose Flottenpläne“. Man verlangte Aufklärung, ließ sich an dieser nicht genügen und lehnte, später auch im Plenum, das Wesentliche der Neuforderungen ab. Durch Zustopfen von Lücken, selbst durch den Bau einzelner Panzerschiffe und Kreuzer, die in diesen Jahren bewilligt worden sind, war dem unbefriedigenden Zustand nicht abzuhelfen.

In der dem Reichstag damals vorgelegten Denkschrift waren Tabellen enthalten, die zeigten, was andere Staaten im Vergleich zu Deutschland seit 1890 für ihre Flotten getan hatten, um daraus die Notwendigkeit größerer Zuwendungen für uns nachzuweisen. Unter den Flotten, die hierbei zu der deutschen in Beziehung gebracht werden, taucht zum erstenmal die englische auf, ferner die der Vereinigten Staaten, und im Text wird auch auf die japanische hingewiesen. Ich möchte hierin einen markanten Unterschied sehen zu der Denkschrift von 1889/90, die nur die Marine Rußlands, Italiens und Frankreichs der unsrigen gegenübergestellt hatte. Zwar sind strategische oder politische Darlegungen hier wie dort nicht an diese Gegenüberstellung geknüpft, aber der Unterschied läßt doch – absichtlich oder unabsichtlich – erkennen, wie die Bedeutung einer Flotte für Deutschland sich zu verschieben begann. Hatte man erkannt, daß die See die Hochstraße der Welt ist, und fand nun England vor unserer Tür mit seiner starken Flotte und mit dem Handelsmonopol, das es in der Welt besessen hatte und nicht verlieren wollte?

[395] So spinnen sich hier die Fäden hinüber zum Flottengesetz. Aus der europäisch orientierten Flotte, die Rußland und Frankreich, unsere kontinentalen Nachbarn, als ihre wahrscheinlichsten Gegner ansah, begann die Flotte herauszuwachsen, die des Deutschen Reiches Stellung in der ganzen Welt beschützen und, wenn es nicht zu vermeiden sei, auch der englischen sich zum Kampf stellen sollte. Denn die See macht alle Staaten zu Nachbarn, die an sie grenzen, und je mehr die industriellen und kommerziellen Wege sich verknüpften und kreuzten, je mehr der Wettbewerb aller Konkurrenten die Reibungsflächen und die möglichen Konfliktspunkte vermehrte, desto mehr mußte auch Deutschland als eine der Weltverkehrs- und Welthandelsmächte auf überseeische Kriegsmöglichkeiten gefaßt und vorbereitet sein.

Das Flottengesetz.

Veränderte Stellung der Staaten zum Seeverkehr.

Die allgemeine Begründung für die in den nächsten Jahren auf neuer Grundlage systematisch beginnende Verstärkung der deutschen Flotte ist in den Schlußworten des letzten Abschnitts schon enthalten. Den daraus im Auslande entstandenen Mißdeutungen und feindlichen Regungen gegenüber, wie zur Abwehr des jetzt allerdings geschwundenen Widerspruchs, den die maritimen Rüstungspläne des Kaisers in Deutschland selbst damals gefunden haben, muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß sie doch nur eine notwendige Folge der geschichtlichen Entwickelung waren. Auch die Schwierigkeiten der politischen Lage England gegenüber, die daraus entstanden sind, kann nur ein kurzer geschichtlicher Rückblick in richtige Beleuchtung rücken.

Wir müssen hierbei zurückgehen bis zum Abschluß der Napoleonischen Kriege. Ohne Konkurrenten stand England damals da in der militärischen Beherrschung des Meeres und in der wirtschaftlichen Bevormundung der anderen Staaten, denen es den Verkehr mit der Welt vermittelte und für die es die Industrie besorgte. Denn jede Konkurrenz hatte das Inselreich in der langen Kriegszeit mit Waffengewalt erdrückt, und während es im eigenen Lande trotz aller Erschwerung durch den Krieg doch an der Arbeit bleiben und die Vorteile ausnützen konnte, die die technischen Erfindungen der damaligen Zeit boten, hatte der Landkrieg direkt, der Seekrieg indirekt die wirtschaftliche Entwickelung der Kontinentalstaaten niedergehalten. So hatte sich der Abstand zwischen dem immer schon mehr agrarisch organisierten Kontinent und dem handel- und industrietreibenden Inselreich noch vergrößert, ja man kann sagen, eine Industrie im heutigen Sinne, d. h. auf Maschinenbetrieb sich gründende Großfabrikation, bestand nur in England. Die durch den Krieg verarmten Landstaaten geboten ja auch noch lange Zeit nach dem Kriege nicht über genügende Kapitalien, um sich eine Großindustrie zu schaffen.

Auch England hatte sich mit gewaltigen Schulden belasten müssen, um sich und seinen kontinentalen Verbündeten die Fortsetzung des Widerstandes zu ermöglichen. Der Verschiedenheit von Landkrieg und Seekrieg entsprechend, hatte es aber mehr mit Geld Krieg geführt als durch Einsatz von Menschenleben, und diese Finanzierung des Bündniskrieges [396] glich doch der Aufnahme einer Anleihe zur Vergrößerung des Betriebes. Sie hat England Früchte getragen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein: die Welt bildete damals sozusagen einen einheitlichen Wirtschaftskörper, in dem England fast allein den Typus des See- und Industriestaates vertrat. Sein Handel war das Bindeglied zwischen dem englischen workshop of the world und den übrigen Ländern der Welt, die ihm Rohstoffe und Bodenerzeugnisse lieferten und dafür seine Fabrikate und Kolonialprodukte aufnahmen. Kriegsflotten außer der englischen bestanden eigentlich nicht. Eigene Werte hatte auf der See ja auch nur England zu schützen.

Je mehr nun die anderen Staaten sich von den Folgen der langen Kriegszeit erholten, je mehr ihre Volkszahl wuchs, desto mehr vollzog sich auch in ihnen allmählich der Übergang zur Industrie. Auch für sie bekamen die ausländischen, die überseeischen Absatz- und Einkaufsmärkte Wert, sie wurden zu Seehandelsstaaten und sodann auch zu Kolonialstaaten. Begünstigt wurde diese Entwickelung durch die gewaltigen Fortschritte, die gerade in dieser Zeit das gesamte Verkehrs- und Nachrichtenwesen machte. Durch die Eisenbahnen, die Dampfschiffe und Telegraphen wurden die Völker einander näher gebracht. Sie lernten ihre wechselseitigen Bedürfnisse kennen, und es war nur natürlich, daß sich daraus ein stark vermehrter Güteraustausch entwickelte.

So entstand ganz von selbst aus dem einheitlichen Wirtschaftskörper der Welt, der einseitig englisch organisiert gewesen war, eine Weltwirtschaft anderer Art. Alle großen Staaten haben sich in ihrer Wirtschaftsweise dem englischen Typus genähert, und das Nebeneinanderhergehen dieser gleichartigen Wirtschaftsbetriebe auf der See kennzeichnet die Lage. Das Wirtschaftsleben aller Staaten ist heute – wenn auch in verschiedenem Maße, so doch in derselben Weise wie das ihres Vorbildes England – abhängig von der See.

Man kann ohne Übertreibung sagen: Die See ist die große Hauptstraße des Verkehres geworden, alle anderen Handelswege sind nur Anschlußlinien des Seeverkehrs. Darum hat aber auch die See erst diese Wichtigkeit für den Verkehr der Kontinentalstaaten gewonnen durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Binnenwasserstraßen, und es handelt sich bei dem Ausbau der Verkehrswege im Lande sozusagen immer darum, einen Ort der See näher zu bringen. Der Wohlstand jedes Volkes ruht also nach wie vor im Lande, sei es in Bodenschätzen, in Naturprodukten der Heimat oder in Werte schaffender Arbeit, aber die Wirtschaftsweise der Weltverkehrsstaaten bringt es mit sich, daß wir die See als Straße nicht entbehren können.

Die Weltverkehrsstaaten und der Krieg.

Hieraus ergibt sich die Stellung der heutigen Weltverkehrsstaaten zum Kriege. Der Landkrieg muß, wo nicht wie bei dem Inselreiche England die Flotte das mit besorgt, den territorialen Besitz wahren und die heimische Arbeit schützen. Dem Seekriege ist von dem ganzen Verkehrs- und Wirtschaftsapparat nur ein Glied zugänglich, der Seehandel, aber seine Unterbindung bringt fast den ganzen Betrieb zum Stillstand und zeigt, daß das ganze Land abhängig ist von der See und damit vom Seekriege. Denn nicht nur die Küste wird geschädigt, wenn der Feind unsere Häfen schließt, sondern das [397] ganze Land. Seine Schiffe müssen haltmachen, wo die See endet, aber über die Küste hinweg greift die gepanzerte Hand der Seeherrschaft, sie pocht an das Kontor des Kaufmanns drinnen im Lande, an die Tore der Fabriken in den großen binnenländischen Zentren der Industrie, wie an die Türe des Arbeiters.

Solcher Verletzlichkeit für den Seekrieg, die für England schon lange vorhanden war, hatten sich die Festlandsstaaten immer mehr genähert, und dadurch ist das Verhältnis, das am Ende der Napoleonischen Kriege bestand, verschoben worden: die wirtschaftliche Abhängigkeit des Kontinents von England, die der Beginn des vergangenen Jahrhunderts gebracht hatte, besteht im damaligen Sinne nicht mehr. Sie hat sich aber dadurch in eine militärische verwandelt, daß die Festlandsstaaten verwundbarer geworden sind für Englands Hauptwaffe, den Seekrieg. So ist ihnen, den Konkurrenten Englands, die Flottenrüstung aufgezwungen worden, die ihrem Anteil am Seeverkehr entspricht. Sonst leben sie von Englands Gnade.

Dieser Staat ist es denn auch gewesen, der als erster seine Folgerungen aus der neuen Lage gezogen und das „Wettrüsten“ begonnen hat. In der richtigen Überlegung, daß das Hinausgehen seiner wirtschaftlichen Mitbewerber auf die Verkehrswege der See nur einen Sinn habe, wenn sie durch den Ausbau ihrer Flotten für den nötigen Schutz sorgten, beschloß er, ihnen zuvorzukommen. Ehe die Flotte Frankreichs, die bisherige einzige Rivalin, sich von den sie schwächenden Einflüssen der nouvelle école erholt hatte, in demselben Jahre, da Deutschland durch die Inbaugabe der vier „Brandenburg“-Schiffe den Bau von großen Schlachtschiffen endlich wieder aufnahm und die Vereinigten Staaten das erste seegehende Panzerschiff in Auftrag gaben, im Jahre 1889 hat England in der naval defence act 430 Millionen Mark zu einer sprungweisen Verstärkung seiner damals schon alle anderen weit überragenden Flotte auf den Etat gebracht, für die 10 Schlachtschiffe, 42 Kreuzer und 18 Torpedokanonenboote gebaut werden sollten.

In die erste Reihe dieser wirtschaftlichen Konkurrenten Englands begann nun Deutschland zu treten. Die Bismarcksche Schutzzollpolitik von 1879 hatte viele Zweige der Großindustrie so erstarken lassen, daß der innere Markt ihnen nicht mehr genügte. Sie waren, als die Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. politische Beruhigung und damit weiteren Aufschwung von Handel und Wandel zu bringen begann, wohlgerüstet, um hinauszutreten auf den Weltmarkt, wie es die steigende Volkszahl in Deutschland ja auch gebieterisch forderte. Die vielumstrittenen und viel verurteilten Caprivischen Handelsverträge von 1891 gaben dann die Möglichkeit zu langfristigen gewinnbringenden Geschäftsabschlüssen, und schnelles Wachstum der überseeischen deutschen Beziehungen war die Folge. Mit immer scheleren Blicken sah man in England auf diesen Umschwung, immer dringender trat für uns die Notwendigkeit hervor, für einen wirksamen Schutz zu sorgen, wenn nicht Gefahren entstehen sollten.

Auf kolonialem Gebiet war nach innen hin Ruhe eingetreten, nach außen hin Stillstand. Nachdem zuerst in Kamerun, dann auf den Samoa-Inseln und in Ostafrika das Personal der Flotte in mehrfach verlustreichen Gefechten am Lande hatte eingreifen müssen, um Aufstände niederzuwerfen, setzte allmählig der friedliche Ausbau ein; im [398] Jahre 1890 aber fand in Ostafrika eine Abgrenzung umstrittenen kolonialen Besitzes zwischen England und Deutschland statt, die, von vielen als ein unnötiges Aufgeben deutscher Rechte angesehen, viel Bitterkeit gegen den Reichskanzler, General v. Caprivi, erregt hat. Daß dieser Vertrag uns den Besitz von Helgoland brachte, wurde als genügender Ersatz nicht angesehen. Wir brauchen auf die kolonialen Erörterungen nicht einzugehen, uns beschäftigt in erster Linie die Flotte und was ihr damals not tat. Hierfür genügt aber zu fragen: wie stände es trotz unserer heutigen Flottenstärke um unsere Stellung in der Nordsee, wenn Helgoland jetzt noch englischer Besitz wäre? um zu zeigen, wie das Jahr 1890 dem Flottengesetz vorgearbeitet hat. Einem zur See wehrhaften Deutschen Reich hätte auch England die Insel nie ausgeliefert, zur Wehrhaftigkeit aber gehören Schiffe und nicht der Küste vorgelagerte Inseln.

Einbringung des Flottengesetzes.

Wir haben gesehen, was in der von mir als Übergangszeit bezeichneten Periode geschehen war, um das strategische und taktische Denken der Flotte loszulösen von der Küste und hinauszuführen auf die See. Vor derselben Aufgabe stand nun der im Juni 1897 von seinem Posten als Chef der Kreuzerdivision in Ostasien vom Kaiser heimberufene neue Staatssekretär des Reichsmarineamts, Kontreadmiral Tirpitz, gegenüber dem Reichstage und dem Deutschen Volke. Wohl hatte die Hebung des überseeischen Handels und Verkehrs und der Besitz von Kolonien die Blicke hinausgelenkt über den Ozean, der schon seit Anfang der achtziger Jahre bestehende Anschluß von Hamburg und Bremen an die Zollgemeinschaft des Reiches hatte Binnenland und Küste einander näher gebracht, jedes Jahr trugen Tausende von ausgedienten Mannschaften der Kriegsmarine den Flottengedanken über das ganze Land, aber noch immer fehlte in den breiten Klassen der Wähler wie der Abgeordneten das richtige Verständnis dafür, was Wehrhaftigkeit zur See für das ganze deutsche Volk bedeute und wie sie beschaffen sein müsse. So hat denn damals neben den vorbereitenden Arbeiten für die dem Reichstag vorzulegenden Entwürfe zunächst eine umfassende Aufklärungsarbeit des Reichsmarineamts eingesetzt, um die öffentliche Meinung für sich zu haben, wenn die Vorlage zur Erörterung käme.

Auch das Flottengesetz von 1900 ist nicht aus einem Guß entstanden, auch hier galt es, vorzubereiten und loszulösen von früher dem Reichstage gemachten Vorlagen. Der Gedanke, das was man fordern wollte in die Form eines Gesetzes zu bringen und damit frei zu machen vom Wechsel der jeweiligen politischen Lage und der Parteigruppierung im Reichstage, hat aber von Anfang an bestanden. Er war notwendig, um einen stetigen, ökonomischen Aufbau des Flottenmaterials und des Personals zu gewährleisten; er war möglich, weil die strategischen und taktischen Anschauungen in allen Marinen sich gefestigt hatten, unser eigenes Denken hierüber, dank der gut genützten Vorbereitungszeit, aber unabhängig vom Auslande geworden war und wohlvorbereitet, um auch einer größeren, schnell wachsenden Flotte als Träger zu dienen.

Der erste, 1898 eingebrachte Entwurf zum Flottengesetz ging noch darauf aus, die Durchführung des Flottengründungsplans vom Jahre 1873 in zeitgemäßem Schiffsmaterial sicherzustellen. Er trägt daher der Möglichkeit eines Seekrieges gegen eine große [399] Seemacht noch nicht Rechnung, stellt neben die größeren Seemächten gegenüber nur die Bedeutung einer „Ausfallsflotte“ tragende Hochseeflotte eine Küstenflotte und mißt überhaupt dem Küstenschutz und daneben dem Schutz des Handels besondere Bedeutung bei. Zwischen ihm und dem definitiven Flottengesetz liegt die Besitzergreifung von Kiautschau. Ein weiteres schnelles Wachstum unserer gesamten überseeischen Beziehungen und damit die Notwendigkeit vermehrten Schutzes entstand, sowie die Möglichkeit, auch größeren, ja dem seemächtigsten Gegner uns zum Kampf stellen zu müssen. Dementsprechend rückt das Flottengesetz von 1900 noch weiter von der Küste ab. Es läßt die Küstenpanzerschiffe ganz fallen und will sie nur vorläufig auf die Zahl der Schlachtschiffe anrechnen. Es forderte statt bisher 17 verwendungsbereiter Linienschiffe für die heimische Schlachtflotte deren 34, gegliedert in vier Geschwader, von denen zwei „aktiv“, d. h. permanent in Dienst, zwei in Reserve gehalten werden sollten. Dazu die nötigen großen und kleinen Kreuzer für die heimische Schlachtflotte und für den Auslandsdienst. Die Torpedobootsdivisionen waren in das Gesetz nicht eingeschlossen, sondern wurden nur summarisch angeführt.

Das Gesetz brachte also in feste Formen, was schon seit Jahren als notwendig erkannt war. Es schob die Organisation der Flotte näher an den Krieg heran, wie es der Verletzlichkeit der Seeinteressen aller großen Völker und der Natur des Seekrieges entspricht, der sofort mit dem Kriegsbeginn die Grenze vorzuschieben bemüht ist bis an die Küste des Feindes. Denn nur hierdurch kann er im Kriege von vornherein den nationalen Besitzstand auf der im Frieden allen Staaten gemeinsamen See sich bewahren. Vermag eine Flotte dies nicht, weil sie zu schwach dazu ist, so muß sie wenigstens dem Feinde soweit entgegengehen, wie es dem Verhältnis der Kräfte entspricht. Aber auch das Material an sich verlangt solche erhöhte Kriegsbereitschaft. Das moderne Kriegsschiff ist ein Apparat, den auch die sorgfältigste Konservierung in den Werften nicht in vollständig gebrauchsfähigem Zustand halten kann. Nur der Gebrauch selbst kann es.

Die in ihrem Hauptteil stets kriegsbereite Schlachtflotte steht also im Mittelpunkt des Gesetzes. Der Küstenschutz tritt hinter sie zurück, und auch der Schutz des Seehandels und der Kolonien soll nicht durch Verteilung der Kampfmittel über die ganze Welt erfolgen, sondern auch er ruht – soweit europäische Nationen als Gegner in Betracht kommen – auf der heimischen Schlachtflotte. Denn, so heißt es in den Motiven, „Deutschland muß eine so starke Schlachtflotte haben, daß ein Krieg auch für den seemächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine eigene Machtstellung in Frage gestellt wird.“

Das Flottengesetz nennt das Schlachtschiff ein Linienschiff und stellt es damit auf die taktische Grundlage des artilleristischen Formationskampfes, deren Entstehung wir kennen gelernt haben. Aber auch für die anderen Schiffstypen in der Dreiteilung: Schlachtschiff, Kreuzer, Torpedoboot, schafft es feste Normen. Soll in der heimischen Schlachtflotte der Hauptsache nach das verneint sein, was Deutschland zur Wahrung seiner Seeinteressen in der Welt braucht, so müssen alle Typen so beschaffen sein, daß sie nicht nur in heimischen Gewässern, sondern überall in der Welt gebraucht werden können. So kennt das Gesetz keine allein auf Schnelligkeit und Aktionsradius aufgebauten Handelsschützer [400] und Handelszerstörer, die früher als Sonderschiffe den Kreuzertyp so vielgestaltig gemacht hatten. Jeder Kreuzer muß dem Dienst bei der Schlachtflotte gewachsen sein, Heimatsflotte und Auslandsflotte sind den Typen nach gleichartig und daher austauschfähig.

In seinem knappen Rahmen gibt das Flottengesetz von 1900 also nicht nur Normen für den Aufbau der Flotte, sondern für den, der es zu lesen versteht und seine Vorgeschichte kennt, auch dafür, wie diese Flotte als politisches Machtmittel strategisch und taktisch gebraucht werden soll. Es wird dadurch zu einem Programm für die Wahrung der Seemachtstellung des Deutschen Reiches. Drum beginnt seine Begründung mit dem Satz: „Für das Deutsche Reich ist die Sicherung seiner wirtschaftlichen Entwickelung, im besonderen seines Welthandels, eine Lebensfrage. Zu diesem Zwecke braucht das Deutsche Reich nicht nur Frieden auf dem Lande, sondern auch Frieden zur See – nicht aber den Frieden um jeden Preis, sondern einen Frieden in Ehren, der seinen berechtigten Bedürfnissen Rechnung trägt.“

Die englische Flotte wird Maßstab für unsere Flottenrüstung.

Das Flottengesetz wollte also den bewaffneten Frieden, wie er für das Land längst besteht, weil politisches Gleichgewicht nur auf militärischem Gleichgewicht sicher ruhen kann, auf die See übertragen. Als Maßstab für die zu schaffende Rüstung mußte nach richtigen militärischen Grundsätzen unter den Flotten der möglichen Gegner die des seemächtigsten ausgewählt werden, die englische. Hierdurch schloß man nicht nur alle anderen Gegner mit ein, sondern es wurde auch dem Umstande Rechnung getragen, daß für England in dem schnellen Anwachsen unseres Handels und unserer Industrie der stärkste Anlaß zum Zurückdrängen unserer friedlichen Bestrebungen und damit zu Maßregeln liegen kann, denen wir nicht wehrlos gegenüberstehen durften.

Dem dadurch entgegenzutreten, daß wir eine stärkere Flotte bauten, wie England sie hat, war unmöglich und ist auch nie beabsichtigt gewesen. Aber der Anreiz zum Kriege sollte ausgeglichen werden durch den Preis für den Sieg: Deutschland sollte eine so starke Flotte bekommen, daß die Lücke, die ihr Niederringen in Englands Flottenrüstung brächte, seine Machtstellung an anderer Stelle der Welt in Frage stellte. Denn wer zum Kriege gerüstet sein will, darf nicht auf reine Abwehr ausgehen (Küstenschutz, Handelsschutz), er muß vielmehr imstande sein, durch die Form seines Widerstandes auch dem stärkeren Gegner einen Schaden zuzufügen, den dieser schwerer empfindet als die Bedingungen, die der schwächere für Erhaltung des Friedens stellt. Diese politisch-militärische Überlegung hat das Flottengesetz, soweit dies möglich ist, in Zahlen gebracht und hierfür – ruhige Überlegung sieht dies jetzt auch in England ein – einen Maßstab gefunden, der eine Bedrohung unserseits ausschließt. Eine Überspannung der deutschen Flottenstärke, die England aus sich heraus, d. h. allein durch ihr Vorhandensein, zum Kriege drängen könnte, wäre vom politischen wie militärischen Standpunkt aus unklug, und auch das deutsche Volk stellt einen Frieden in Ehren höher als kriegerische Lorbeeren. Es würde zum Kriege als letztes Mittel sich nur entschließen, wenn man seine Ehre antastet oder ihm das vorenthält, was es zum Leben braucht. Und nimmt man als notwendig [401] hierfür, soweit Seeinteressen in Betracht kommen, auch nur den Grundsatz der „offenen Tür“, so ist dabei zu bedenken, daß er doch nichts anderes bedeutet als allgemeine Konkurrenz, wirtschaftlichen Kampf aller gegen alle, bei dem schließlich hinter dem Kaufmann der Staat steht und hinter dem politischen Einfluß die bewaffnete Macht. So hat es England stets gehalten und wird es auch ferner tun. Auch hier können Lebensfragen für uns liegen.

Der deutsch-englische Gegensatz und die Novellen zum deutschen Flottengesetz.

England nimmt Stellung zum deutschen Flottengesetz.

Die Annahme und Durchführung des Gesetzes hat der Entwickelung der Flotte bis heute einen gedeihlichen, stetigen Fortgang gegeben. Man wollte, wie dies ja schon durch den allmählichen Ersatz des veralteten Schiffsmaterials, das auf den Bestand angerechnet wurde, sich von selbst ergab, ohne Überstürzung vorgehen. Aber es war doch ein gutes Zeichen für die bisherige Organisation und für das der Hauptsache nach noch aus der Zeit des alten Regimes stammende Personal, daß die Flotte, von vorübergehenden Schwierigkeiten abgesehen, den ihr zugeführten Zuwachs an Schiffen und an Menschen sich gut angliedern konnte. Wohl spielt das Material eine große Rolle bei dem Aufbau einer Flotte, aber seine Entstehung muß sich richten nach dem Kampfzweck: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut.“ Schnell wurde das neue, moderne Schiffsmaterial zum Träger der Ideen, die wir als Vorläufer des Flottengesetzes kennen und was die Nation nach dem Willen ihres Kaisers der Flotte gab, ruhte in wohlvorbereiteten Händen. Für die technische Fortentwickelung aber bedeutete es einen guten Anfang, daß die deutsche Schiffbauindustrie, der der General v. Stosch einst den Bau der alten Schlachtschiffe übertragen hatte, sich und ihre Materiallieferanten immer weiter gefördert und uns dadurch vom Ausland unabhängig gemacht hatte.

Denn das Ausland sah mit gemischten Gefühlen, wie hier nun, schneller als man gedacht hatte, eine technisch auf der Höhe stehende, gut organisierte und – soweit ihm ein Einblick gestattet war – mit der Wirklichkeit des Krieges in enger Fühlung stehende Flotte entstand.

Am lebhaftesten äußerte sich diese Stimmung in England. Man wollte nicht einsehen, daß die deutsche Flottenrüstung nur der natürlichen Entwickelung der wirtschaftlichen Verhältnisse Rechnung trug, sondern in einer Nervosität, die schwer verständlich ist für ein Land, das sich seiner Stärke bewußt ist, glaubte man auf Angriffspläne Deutschlands schließen zu müssen. Ja das Gespenst der Invasion tauchte auf, einer Verbindung von Landkrieg und Seekrieg also, die der ruhige, fachmännische Vergleich der Stärke der beiden Flotten doch von vornherein als unmöglich ausschließen mußte. Wie man in Überschätzung der militärischen Stellung Deutschlands auf dem Kontinent und in Verkennung seiner Pläne historische Parallelen zog zu der Zeit Ludwig XIV. und Napoleons, so glaubte man, oder wollte die öffentliche Meinung glauben machen, Deutschland sei [402] im Begriffe sich eine Flotte zu bauen, die bald stärker sein werde als die englische, im Verein mit seiner Heeresmacht den europäischen Frieden bedrohe und England zu seiner Beschützung verpflichte.

So ist im Jahre 1904 das Abkommen mit Frankreich zustandegekommen, das diesen alten Rivalen, der noch 1898 in Faschoda zähneknirschend zurückgewichen war, in Nordafrika zufriedenstellte gegen Einräumung weiterer englischer Rechte in Ägypten. Aber darüber hinaus ist dann allmählich ein politisches Zusammengehen zwischen beiden Reichen entstanden, das, den seit 1870 bestehenden politischen Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland geschickt ausnutzend, England Anlehnung gab an eine Macht „mit vielen Bataillonen“, deren nach Bismarcks Ausspruch die englische Politik bedarf. In Ostasien durch den japanischen Krieg und das Bündnis mit Japan entlastet, den Vereinigten Staaten gegenüber sich auf die Blutsverwandtschaft berufend, die Rivalität trotz der schneller als die deutsche wachsenden Seerüstung jenseits des Atlantischen Ozeans ausschlösse, hat England nun die politische Einkreisung Deutschlands begonnen, die seit 1904 ihren maritimen Ausdruck darin fand, daß die englische Flotte unter Entblößung aller auswärtigen Stationen und unter Erhöhung ihrer Kriegsbereitschaft sich immer mehr in der Nordsee konzentriert.

In Deutschland konnten diese englischen Bestrebungen, die später durch Hinzunahme Rußlands in die „Entente“ und durch Abschwächung des japanischen Bündnisses zur Herstellung besserer Beziehungen zu den Vereinigten Staaten im Stillen Ozean ihren Abschluß fanden, nur den Eindruck erwecken, daß sie sich richteten gegen ein weiteres Erstarken des deutschen Wirtschaftslebens, dem die im Bau begriffene Flotte Schutz gewähren sollte. Denn nirgends sonst bestanden politische Gegensätze zwischen den beiden Staaten, die der einem Kriegsaufmarsch nahekommenden Vorschiebung der englischen Flotte in die Nordsee zur Rechtfertigung hätten dienen können. Sollte sie eine Einschüchterung sein? Sollte sie dem Drängen der Stimmen Rechnung tragen, die dazu rieten, den unbequemen Emporkömmling zu erschlagen, ehe er noch mehr erstarkte? Denn selbst wenn man der deutschen Seite so gradezu törichte Angriffsgelüste für spätere Zeiten zutraute, so waren doch unsere damaligen Seestreitkräfte eine derartige Kraftanhäufung nicht wert.

Marinevorlage von 1906.

Die Weiterentwickelung der politischen Lage im einzelnen gehört nicht hierher. Uns interessiert mehr das Spiegelbild, das sie im Ausbau der deutschen Flotte gefunden hat. Denn wie das Flottengesetz in seinen Motiven sich vorbehalten hatte, den gesetzgebenden Faktoren neue Vorschläge zu machen, sobald die Verhältnisse im Inneren Abänderungen bedingten, so war Deutschland auch nach außen hin berechtigt und verpflichtet, seine Seerüstung so auszubauen, wie das Anwachsen seiner überseeischen Interessen, die Verhältnisse des Seekrieges und das Vorgehen anderer Staaten es erforderten. Es war also nur natürlich, daß Deutschland in einer besonderen Marinevorlage vom Jahre 1906 sich den veränderten Verhältnissen anpaßte, die der russisch-japanische Krieg für den Schiffbau zur Folge hatte. Dem Vorgehen Englands und anderer Staaten folgend, wurde eine sprungweise Vergrößerung der Schiffe und Torpedoboote für unsere [403] Flotte im Etat in Vorschlag gebracht, die eine bedeutende Steigerung des Geld- und Personalbedarfs gegen das Flottengesetz bedeutete. Ferner sollte die dort nur summarisch eingestellte Zahl der Torpedoboote vermehrt und Unterseeboote sollten geschaffen werden. Eine Novelle zum Flottengesetz stellte die – 1900 abgelehnte – Forderung von 6 weiteren großen Kreuzern für das Ausland wieder her. Von ihnen sollten 4, als Kreuzergeschwader formiert, stets zur Verwendung bereit sein, wo ihre Anwesenheit notwendig würde, während die anderen auf die Auslandsstationen zu verteilen seien. Da aber damals schon auch die Verwendung großer „Linienschiffskreuzer“ in der Schlacht sich durchzusetzen begann, sind diese Schiffe, soweit sie schon vollendet sind, später nicht dem Auslandsdienst, sondern der heimischen Schlachtflotte zugeteilt worden.

Mit erfreulicher Einmütigkeit und in richtiger Einschätzung ihrer Richtigkeit hat der deutsche Reichstag mit Ausnahme der Sozialdemokraten diese Forderungen angenommen, deren finanzielle Konsequenzen noch dadurch erhöht wurden, daß durch die Vergrößerung der Schiffe nicht nur die Dock- und Werftanlagen, sondern auch der Kaiser-Wilhelm-Kanal weitgehend beeinflußt wurden. Das Verständnis für die Notwendigkeit unserer Seerüstung in den Grenzen, wie sie das Flottengesetz vorsah, hatte sich eben jetzt bei allen Einsichtigen Bahn gebrochen, und das Verhalten Englands trug, fern davon als Einschüchterung zu wirken, nur dazu bei, die Richtigkeit des beschrittenen Weges zu bestätigen.

Englische Unterstellungen.

Das Jahr 1908 brachte ein neues Aufflammen der öffentlichen Meinung in England, das, aus Abneigung und Mißtrauen gegen Deutschland gemischt, zeitweilig beinahe zu einer Panik ausartete. Daß es ohne ersichtliche politische Veranlassung dazu kommen konnte, hatte seinen Grund auch in dem Verhalten der englischen Regierung. Die von ihren Vertretern dem Parlament vorgetragenen Stärkevergleiche verkehrten nicht nur die deutschen Abwehrrüstungen in Angriffspläne, sie rechneten auch, um dies zu begründen, mit unrichtigen Zahlen der auf beiden Seiten zu erbauenden und verfügbaren Schiffe. Wir haben auch diesen Übertreibungen gegenüber die Ruhe bewahrt. Festhaltend an dem Grundsatz, daß wir allein über die Stärke unserer Flotte zu bestimmen hätten, haben die Vertreter der deutschen Regierung doch keine Gelegenheit versäumt, um im Interesse des Friedens im englischen Parlament auftauchende irrige Anschauungen und ungenaue Zahlen richtigzustellen. Die Antwort des Reichstages an die englische Nation aber bestand darin, daß alle bürgerlichen Parteien den Marineetat für das Jahr 1909 mit noch nicht dagewesener Einigkeit ohne jede Generaldebatte annahmen.

Der Übergang zum Dreadnaught-Typ brachte Deutschland allerdings deshalb eine schnellere Steigerung der Qualität der Flotte, weil wir uns bisher im Interesse der Sparsamkeit und in Berücksichtigung der Verhältnisse des Kaiser-Wilhelm-Kanals bemüht hatten, das Deplazement unserer Schiffe möglichst niedrig zu halten. Im Deplazement drückt sich aber in gewissem Sinne auch immer die Kampfkraft aus, und so brachte uns jeder Neubau eines Schiffes der großen Klasse, der ein altes kleines ausscheiden ließ, mehr Zuwachs an Kampfkraft, als dies bei der englischen Flotte der Fall war, deren vor [404] der Zeit der Dreadnaughts gebauten, noch voll verwendungsfähigen Schiffe viel stärker waren als die unsrigen aus derselben Periode. Sollten wir aber, nun England die ganze Welt zur Nachfolge im Deplazement gezwungen hatte, ihm zuliebe das von langer Hand her geplante Anwachsen unserer Schiffszahl im Rahmen des Flottengesetzes verlangsamen?

So griff denn dem festen deutschen Willen gegenüber und in allmählicher Erkenntnis unserer friedlichen Absichten in England eine andere Stimmung Platz. Mit dem größerem Kräfteausgleich hat dann auch wohl die Lust, den Frieden zu brechen, jenseits der Nordsee abgenommen. Die Durchführung des Flottengesetzes begann also ihre friedefördernde Wirkung zu äußern. Zwar hat die Drohung, die in der Zusammenziehung der englischen Flotte in der Nordsee liegt, weiter bestanden, sie wurde allmählich durch den Bau neuer Stützpunkte an der ostenglischen Küste zu einer ständigen Einrichtung, aber nebenher gingen doch Bestrebungen, die darauf abzielten, sich so oder so mit dem Bau der deutschen Flotte abzufinden. Aus Drohungen wurden Verhandlungen über Abrüstung oder über einen irgendwie gearteten Ausgleich. Sowie aber bestimmte Vorschläge versucht wurden, sah man doch, daß für ein natürlich nur international mögliches Abkommen über Beschränkung der Flottenrüstungen kaum je eine Formel sich würde finden lassen, die nicht in das souveräne Selbstbestimmungsrecht der Staaten eingriffe.

Die Londoner Seekriegsrechtskonferenz.

So ist das Jahr 1909, das im Februar die Beendigung der in London tagenden Seekriegsrechtskonferenz brachte, trotzdem das Unbehagen über Deutschlands Flotte in England bestehen blieb, doch als der Anfang eines neuen Zeitabschnittes anzusehen, der dazu berufen sein kann – nicht den ewigen Frieden zu bringen, den es auf der Welt nie geben kann – aber einen von allen Seiten anerkannten, weil geschichtlich notwendig gewordenen Gleichgewichtszustand auf der See. Schon daß England, das noch im Jahre 1874 abgelehnt hatte, an der Brüsseler Konferenz teilzunehmen, wenn nicht alle Fragen des Seekriegsrechts von der Besprechung ausgeschlossen würden, jetzt selbst zu einer solchen Besprechung eingeladen hatte, zeigte den Willen zum Einlenken. Man kann verstehen, daß es ihm schwer geworden ist, auf die souveräne Beherrschung der See und aller damit zusammenhängenden Fragen zu verzichten, ja daß, wie eine englische Stimme sagt, die Hindernisse, die England anderen Staaten in der Beziehung in den Weg gelegt hat, „mehr instinktiv als absichtlich“ herbeigeführt worden seien und wird sich doch des Umschwunges freuen und des Anteils, den Deutschlands Rüstungen daran gehabt haben.

Auch daß die Londoner Konferenz, teils der damaligen politischen Gruppierung der Mächte folgend, teils in Nachwirkung der Ereignisse des russisch-japanischen Krieges, eine im Sinne der Gleichberechtigung und daher der Gerechtigkeit eigentlich selbstverständliche Forderung nicht erfüllt hat, braucht uns an dem Glauben nicht irre zu machen, daß wir uns besseren Zuständen nähern. Ich meine die Frage, wie Staaten, die nicht über die ganze Welt hin verteilte Stützpunkte haben, in entfernten Gebieten Krieg führen sollen. Die Art und Weise, in der die Beschlüsse der Konferenz die Reise einer Flotte [405] zum Kriegsgebiet durch Bestimmungen über die Benutzung neutraler Häfen und über Zuführung von Kohlennachschub erschwert haben, kommt einer Verweigerung des höchsten Souveränitätsrechts der davon betroffenen Staaten, des Rechtes Krieg zu führen, nahe.

Die Flottennovelle von 1912.

Das Jahr 1911 hat allerdings wieder einen Rückschlag und in seinen Folgen die letzte deutsche Flottennovelle gebracht. Als, unserer Diplomatie unerwartet, hinter Frankreich plötzlich die Kriegsdrohung Englands wegen des Vorgehens Deutschlands in der Marokkofrage auftauchte, hat man bei uns von einem englischen „Überfall“ gesprochen. Dieser Ausdruck ist, wenn damit der Nebengedanke eines hinterlistigen Friedensbruchs verbunden sein soll, nicht ganz zutreffend. Es liegt, wie ich es schon gesagt habe, in der Natur des Seekrieges, daß er schneller zufaßt als der Landkrieg. Drum soll man der Offensive des Stärkeren, die im Augenblick der Kriegserklärung hinübergreift an unsere Küste, mit nüchternem Blick gewärtig sein und darauf rüsten. Dies hat unsere Flotten-Novelle von 1912 getan, indem sie statt zweier Geschwader deren drei mit voller Besatzung kriegsbereit halten und in sie die besten Schiffe einstellen will. Ferner hat sie uns, ebenfalls zur Verbesserung der Kriegsbereitschaft, eine Erhöhung des Mannschaftsstandes gebracht, sowie eine Vermehrung der Unterseeboote und die Einstellung einiger Luftschiffe in den Etat. Das durch Schaffung eines dritten aktiven Geschwaders erforderliche Mehr von Schiffen soll erreicht werden durch Verzicht auf die bisherige Materialreserve und durch Neubau dreier Linienschiffe und zweier kleiner Kreuzer.

Diese Novelle zum Flottengesetz verdankt Deutschland zum Teil der Stimme der öffentlichen Meinung, die den Ereignissen des Jahres 1911 gegenüber zur Vervollständigung der Rüstungen zu Wasser und zu Lande drängte, denn zum erstenmale hatten wir zur Wahrung überseeischer Interessen einer Kombination von Land- und Seekrieg gegenübergestanden, wobei noch nicht völlig feststeht, wieweit England sich damals auf letzteren beschränken oder seinem Verbündeten auch am Lande Hilfe leisten wollte.

Wir haben mit dieser Vervollständigung unserer Rüstungen den beiden Westmächten gezeigt, daß wir militärisch auf unserer Hut sind. Aber noch ein anderes ist erforderlich, wo die Möglichkeit kriegerischer Konflikte näherrückt: ein richtiges Zusammenwirken der diplomatischen und militärischen Maßnahmen in der Vorperiode solcher Konflikte. Außer der oben behandelten Eigenart des Seekrieges muß auch der Differenz in der Seekriegsrüstung Englands und Deutschlands Rechnung getragen werden, denn eine absolute Waffe ist unsere Flotte gegenüber England nicht und soll sie nicht werden, sondern nur eine präventive und bedingte. Rückt die Möglichkeit eines Krieges näher, so genügt also nicht wie im deutsch-französischen Kriege von 1870 eine politische Fürsorge, die dem Feinde Bundesgenossen fernhält, sondern wenn ein Krieg für uns Erfolg versprechen soll, so muß Aussicht dazu vorhanden sein, daß England durch den Kraftverlust, den das Niederringen der deutschen Flotte zur Folge hat, anderswo in der Welt in schweren Nachteil versetzt wird. Ob dies zutrifft, kann aber die Flottenleitung allein nicht übersehen. Ein Zusammengehen mit einer die Verhältnisse des Seekrieges richtig einschätzenden Politik ist notwendig, ehe eine politische Aktion begonnen wird und bei [406] jedem Schritte, der sie weiter führt, damit man nicht gezwungen ist, sie abzubrechen, weil man sich zu weit vorgewagt hat. Nur so kann man einem Rückzuge und vielleicht einer Einbuße an Ansehen vorbeugen. Solch Verzichten oder vorsichtiges Einlenken wird aber schwieriger, ja vielleicht unmöglich, wo Lebensfragen für uns auf dem Spiele stehen. Und da bleibt denn zu bedenken, daß, welchen Gang solch ein Krieg dann auch nehmen mag, schließlich doch kein Staat unter den wirtschaftlichen Folgen eines Weltkrieges schwerer leidet als England. Impavidum ferient ruinae!

So ergeben sich für einen kriegerischen Zusammenstoß mit England, wie er uns 1911 naherückte, militärisch-politische Grenzwerte, in die jeder Fall je nach den Umständen einzufügen sein wird, wenn man erkennen will, wieweit der Politiker unter vollem Einsetzen des Druckmittels, das unsre Flotte bietet, gehen darf, ohne den Krieg herbeizuführen, oder welchen Erfolg ein Krieg verspricht. Dies für die Ereignisse von 1911 nachträglich zu tun, wäre zwecklos. Hier kommt es nur darauf an, die Beziehungen festzulegen zwischen der Politik und dem Kriegswert der Flotte. Aber wir wollen dankbar dafür sein, daß es zu einem Einsetzen unserer Flotte nicht gekommen ist zu einer Zeit, da sie ihre volle Schlagkraft noch nicht erlangt hatte, und bei einer Gelegenheit, da es sich doch um Bestehen und Vergehen des Reiches nicht handelte. Drum muß auch die öffentliche Meinung in Deutschland bei solchen Anlässen ihre Ruhe bewahren und die Dinge mit richtigem Maßstabe messen.

England und Deutschland im Jubiläumsjahr.

Wenn man einen hinter uns liegenden Zeitabschnitt in seiner Gesamtheit erfassen will, so darf man den stets in Fluß befindlichen politischen Tagesvorgängen nicht zu große Bedeutung beilegen, trotzdem verdienen die Verhandlungen über die Flottenforderungen beider Länder für das Jubiläumsjahr 1913 der Erwähnung, weil sie einen gewissen Abschluß der Stellung Deutschlands zu England bedeuten.

Als der Staatssekretär des Reichsmarineamtes auf eine Anfrage in der Budgetkommission des Reichstages erklärte, ein vom ersten Lord der Admiralität 1912, wenn auch unter allerlei Vorbehalten besprochenes Stärkeverhältnis von 16 zu 10 zwischen den beiderseitigen Schlachtflotten sei für die nächsten Jahre annehmbar, da ging es wie ein Aufatmen durch einen Teil der englischen Presse. Solch Stärkeverhältnis war ja von uns noch nie erreicht worden, Großadmiral v. Tirpitz konnte es ruhig akzeptieren. Er sagte den Engländern damit aber eigentlich auch nichts anderes, als was ihnen als der Sinn unseres Flottengesetzes schon längst hätte bekannt sein können. Daß der Risikogedanke, der unseren Rüstungen zugrunde liegt und der England von einem Kriege gegen uns abhalten soll, klarer zutage tritt, wo er sich in bestimmte Zahlen kleidet, ist ja verständlich. Aber wer will solche Rechnungen prüfen in einer Zeit, da auch die englischen Kolonien für das Mutterland Schlachtschiffe bauen?

Im übrigen waren lange Begründungen für den neuen Etat im Reichstage nicht nötig. Bewegten sich doch die Forderungen ganz im Rahmen des Flottengesetzes und seiner Novellen, wie sie, zum Teil unter dem Einfluß des an politischen Erregungen so reichen Jahres 1911, zustandegekommen und bereits genehmigt waren. Daß an dem von langer Hand her Beschlossenen das zeitweilige politische Zusammengehen der beiden [407] Länder nichts ändern konnte, das die Lage auf dem Balkan gebracht hat, war selbstverständlich. Uns könnte es ja sogar nur erwünscht sein, und dem Frieden in der Welt würde es nur dienen, wenn England erkennen wollte, daß ein dauerndes Zusammengehen auch mit einem zur See wehrhaften Deutschland möglich ist. Damit es aber auch danach handelt, ist notwendig, daß solch Zusammengehen nicht eine societas leonina wird. Unsere Flottenrüstung, die wir ja übrigens auch nicht allein Englands wegen tragen, würde dadurch nicht überflüssig werden.

Den deutschen Etatsberatungen folgten die englischen. Ihnen war eine allgemeinpolitische Aussprache vorhergegangen, die dem Premierminister Asquith Gelegenheit gab zu erklären, daß eine Verpflichtung für England, Frankreich für den Fall eines Krieges gegen Deutschland mit Heeresmacht zu unterstützen, nicht bestände. Englische Blätter beeilten sich hinzuzufügen, die Absicht zu solcher Unterstützung bestände sicher, denn sie läge als ein wesentlicher Akt der Selbstverteidigung im englischen Interesse.

Bei Vertretung des große Forderungen stellenden Flottenetats bemühte sich der erste Lord der Admiralität alsdann, Deutschland gegenüber einen ruhigen Ton zu finden, doch ist ihm dies, trotz alles Lobes, das er unserer Flotte spendete, nicht ganz gelungen. Denn als eine ruhige Aussprache kann man es wohl nicht bezeichnen, wenn er die aus der Natur der Dinge herausgewachsene Lage zwischen den beiden Staaten einmal als eine „verschwenderische, zwecklose, nichtige Torheit,“ ein anderesmal als „eine der traurigsten und törichtsten Kapitel in der ganzen Geschichte der europäischen Zivilisation“ bezeichnet. Wenn man allerdings hört, daß er weiter die Vorherrschaft Britanniens zur See für „einen Teil des gemeinsamen Schatzes der Menschheit“ erklärt, so können solche, teils nervös gereizten, teils unsachgemäßen Urteile nicht wundernehmen. Gewiß, die nach den Siegen der Napoleonischen Zeit entfaltete Friedenstätigkeit des englischen Volkes, das sich im 19. Jahrhundert ausbreitete über die Welt, hat diese europäischer Gesittung erschlossen und den „gemeinsamen Schatz der Menschheit“ vermehrt. Aber soll jedes Gebiet, das weiter noch sich öffnet, auch England gehören? Ist für uns andere kein Platz an der Sonne?

Man findet ja oft bei englischen Politikern die Ansicht vertreten, Englands unbeschränkte Vorherrschaft zur See sei ein Segen für die Welt, und englisches Gerechtigkeitsgefühl werde den anderen Staaten schon zukommen lassen was ihnen gebühre. Es ist schwer, solche Auffassung mit den Lehren der Geschichte in Einklang zu bringen und mit den nüchtern-realpolitischen Anschauungen, die man doch sonst in England hat. Sollen wirklich alle anderen im Vertrauen auf englisches Gerechtigkeitsgefühl auf der See von seiner Gnade leben?

Aber noch schärfere Aussprüche finden sich in dieser Rede des englischen Ministers. Den Motiven zum deutschen Flottengesetz nachgebildet scheinen die drohenden Worte, England könne nie dulden, daß jemals eine andere Seemacht ihm so nahe käme, daß sie imstande sei, blos durch einen Druck zur See Englands politische Einwirkung abzulenken oder einzuschränken. Eine solche Lage würde ohne Frage zum Kriege führen. Soll denn zur See nicht recht sein, was zu Lande als billig gilt? Ist nicht jedes Heer ein Mittel, um politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen?

[408] Sachlicher wird der englische Minister in dem was er über die Maßnahmen sagt, die für England notwendig seien, um sich solchem Druck zu entziehen. Vollkommen zustimmen kann man dem an Deutschland gerichteten Satz: „Beide Nationen müssen vollkommen frei sein, bei den Rüstungen zur See den Kurs einzuschlagen, der ihnen zu irgend einer Zeit der weise und richtige zu sein scheint; sie müssen frei sein, die Ausdehnung ihres Programms zu beschränken, ihren Standard zu erhöhen oder abzuändern, wie es ihnen passend zu sein scheint.“ Würde hiernach stets gehandelt, so könnten viele lange Reden ungehalten bleiben, die nur Unruhe und Schaden stiften.

Wichtiger aber als das Hin- und Herreden über Stärkevergleiche, als der utopische Vorschlag zur Einschaltung eines Ferienjahres im Weltschiffbau, als die im Parlament aufgeworfene und vom Minister bejate Frage, ob Englands Kräfte ausreichen, um den Personalbedarf für den Betrieb der Werften und die Besatzung der Schiffe zu decken, bleiben die Ansichten, die maßgebende Persönlichkeiten in England noch immer über die Flottenrüstungen der beiden Länder haben. Am 18. März 1912 sagte derselbe erste Lord der Admiralität: „Wir sind ein unbewaffnetes Volk, wir besitzen nur ein sehr kleines Heer, wir sind die einzige Großmacht in Europa, die keine große Armee hält. Wir können nicht die Unabhängigkeit oder die Lebensinteressen irgend eines großen Festlandstaates bedrohen. Wir können keine Invasion gegen eine Kontinentalmacht unternehmen. Wir wollen es nicht, und selbst wenn wir es wollten, so hätten wir nicht die Macht dazu. Das sind Tatsachen, die Englands Oberhoheit zur See in den Augen der Welt rechtfertigen.“ Weiß denn das seegewaltige England wirklich nicht, welche Waffe es in seiner Flotte hat Festlandstaaten gegenüber, die wie Deutschland immer abhängiger von der See werden? Taucht nicht diese Flotte als Kriegsdrohung auf, sowie wir, wie bei den Verhandlungen mit Frankreich über Marokko, für unsere Seeinteressen irgendwo in der Welt etwas erstreben? Wir wollen England die Oberhoheit über die See nicht entreißen, wir wollen es nicht, und wenn wir es wollten, so könnten wir es nicht, denn eine Flotte, die stark genug wäre, um die englische zu besiegen, können wir uns nicht schaffen. Aber eine Flotte, die nicht imstande wäre, England zu schaden und damit unsere Seeinteressen gegen England zu schützen, wäre das Geld nicht wert, das Deutschland auf sie verwendet.

Die Stärke einer solchen Flotte in absoluten Zahlen richtig zu bemessen, ist schwer, aber die für die Politik und die Wehrkraft Deutschlands verantwortlichen Personen hatten es im Flottengesetz von 1900 nach pflichtmäßigem Ermessen versucht. War es für England förderlich, sie 1911 dadurch in die Höhe zu treiben, daß man Frankreich den Rücken stärkte und dann wie ein Schiedsrichter uns gegenübertrat? Es hat uns dadurch vor Augen geführt, daß die Rüstung, die wir planten, nicht in allen Fällen imstande sein würde, uns den Frieden in Ehren zu sichern, und nun wir beschlossen haben, sie zu verbessern und – um drei Linienschiffe! – zu erhöhen, da wir ja vollkommen frei sind, „bei den Rüstungen zur See den Kurs einzuschlagen, der weise und richtig zu sein scheint“, spricht man drüben hierüber als von „einer verschwenderischen, zwecklosen, nichtigen Torheit“ . Solchem Hin und Her der Argumente ist schwer beizukommen, und die deutsche Regierung tut gut, wenn sie dazu schweigt und ihren Weg weitergeht.

[409]

Der Abschluß.

Der Ausbau der Flotte eine politische Tat.

Bismarck schrieb über die preußischen Verhältnisse an den General v. Gerlach im Jahre 1857: „Wir sind die gutmütigsten und ungefährlichsten Politiker, und doch traut uns eigentlich doch niemand; wir gelten wie unsichere Genossen und ungefährliche Feinde. Ich spreche nicht von der Gegenwart; aber können Sie mir einen positiven Plan (abwehrende genug) oder eine Absicht nennen, die wir in auswärtiger Politik gehabt haben? Doch, den Jahdebusen; der bleibt aber ein totes Wasserloch.“

Wollen wir im Sinne dieser Bismarckschen Worte das Ergebnis der 25jährigen Regierungszeit unseres Kaisers ziehen, so können wir sagen: Der vollendete Aufbau unserer Flotte, der nahe bevorsteht, wird der Siegespreis der politischen Tätigkeit dieser Jahre sein. Der Jahdebusen ist kein totes Wasserloch mehr, unsere Stellung in der Nordsee vermag uns kein Staat mehr zu nehmen ohne einen Kampf auf Leben und Tod, und die Nordsee ist unsere Pforte zum Weltmeer.

Doch nicht nur den überseeischen Beziehungen dient unsere Flotte, sondern auch der europäischen Politik. Wir können sie unseren kontinentalen Nachbarn gegenüber nicht entbehren, und schauen wir auf Englands Geschichte, so sehen wir, daß in dem Mittelpunkt seiner die Welt umfassenden Bestrebungen doch immer sein Einfluß in Europa gestanden hat. Auch dessen Träger war seine Flotte, und ihr Einfluß auf die europäische Politik hat sich erhöht, seit Europa abhängiger geworden ist von der See. Der Ausspruch, den Napoleon III. 1857 Bismarck gegenüber tat, Preußen bedürfe einer stärkeren Flotte, um im Verein mit anderen das erdrückende Übergewicht Englands aufzuheben, galt der europäischen Politik und gilt für sie – mutatis mutandis – heute noch.

In der Gemeinschaft der Seestaaten, an deren Spitze unbestritten und unerreicht England steht, rangiert Deutschland heute an zweiter Stelle mit seiner Handelsflotte wie mit seiner Kriegsflotte. Es will England nicht bedrohen, aber es will frei neben ihm stehen; danach ist der Abstand bemessen, der seine Kriegsflotte von der englischen trennt.

Wenn unser Flottengesetz durchgeführt sein wird, sollen wir unter Anrechnung der Novellen von 1906 und 1912 haben:

a) Eine aktive Schlachtflotte (alle Schiffe dauernd in Dienst mit voller Besatzung) von 1 Flottenflaggschiff, 3 Geschwadern (zu 8 Linienschiffen), 8 großen und 18 kleinen Kreuzern.

b) Eine Reserveschlachtflotte (¼ der Schiffe in Dienst mit ⅓ des Maschinenpersonals und ¼ der übrigen Besatzung) von 2 Geschwadern (zu 8 Linienschiffen), 4 großen und 12 kleinen Kreuzern.

c) Außerdem in der Heimat 144 Torpedoboote, von denen 99 mit voller Besatzung verwendungsbereit und 72 Unterseeboote, von denen für 54 die volle Besatzung vorhanden ist.

[410] d) Eine Auslandsflotte von 8 großen und 10 kleinen Kreuzern.[1] Von allen diesen Verbänden ist die Auslandsflotte noch am weitesten zurück. Aber wie England doch jetzt nicht nur allein auf die Nordsee schaut, sondern sich wieder der ferner liegenden und außereuropäischen Seegebiete zu erinnern beginnt, so werden auch wir trotz der Wichtigkeit, die der heimischen Schlachtflotte zukommt, doch unserer Friedensaufgabe im überseeischen Auslande mehr Kräfte zuwenden müssen, wenn unsere Seeinteressen und unser Ansehen dort nicht Schaden leiden sollen. Was die Flottennovelle von 1906 dafür auf den Etat gebracht hat, ist immer noch nicht verfügbar, und schließlich leidet die Heimatflotte selbst, wenn in dringenden Fällen immer wieder auf sie zurückgegriffen werden muß.

Die deutsche Seemachtsstellung unter dem Schutz der Flotte.

Erweitern wir aber den Rahmen unserer Betrachtung wieder zu dem Begriff der Seemacht, von dem wir ausgegangen sind, so kann mit Befriedigung festgestellt werden, daß Deutschlands Handel, seine Industrie und seine Schiffahrt in dieser Zeit zwar Schwankungen der wechselnden Konjunktur ausgesetzt gewesen sind, daß sie sich aber innerhalb des stets wachsenden Welthandels und Weltverkehrs stärker vermehrt haben, als bei Bemessung der Stärke unserer Flotte im Jahre 1900 angenommen werden konnte. Wir haben in einzelnen Ausfuhrartikeln, z. B. Roheisen, England überflügelt, unser Außenhandel, von dem ein immer größerer Teil auf den Seehandel kommt, zeigt eine stärkere prozentuale Zunahme als der englische, und diese friedlichen Elemente der Seemacht sind des Schutzes wohl wert, den unsere Flotte innerhalb des Gesamtorganismus der Flottenrüstungen der Welt zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes auf der See darstellt.

Ein Wandel hat sich in gewissem Sinne vollzogen in der Frage der Kolonien. Seit Deutschland innerhalb der ihm gezogenen Grenzen ein große Werte ausführender Industriestaat geworden ist, haben sich die Erwerbsmöglichkeiten in der Heimat derart vermehrt, daß eine nennenswerte Auswanderung nicht mehr stattfindet. Die Notwendigkeit für den Besitz von Siedelungskolonien, die den Überschuß unserer Bevölkerung aufnehmen können, statt ihn fremden Ländern zugute kommen zu lassen, ist daher nicht mehr in dem Maße vorhanden, wie früher: der deutsche Kolonialhunger, insoweit er früher auf diesem Grunde beruhte, hat abgenommen. Da auch der Geburtenüberschuß abnimmt, wäre es zudem wohl besser, überschießende Menschenkraft zunächst zur inneren Kolonisation im Lande zu behalten. Denn Deutschland bedarf, um als Kontinentalstaat sich des wirtschaftlichen und militärischen Drucks auf seine Grenzen zu erwehren, einer zahlreichen arbeitsamen und wehrhaften Bevölkerung. Was wir aber an Kolonien besitzen und was uns darüber hinaus zur Schaffung eigener überseeischer Absatz- und Einkaufsgebiete [411] in Zukunft zu erwerben möglich sein wird, das müssen wir auf jeden Fall festhalten und ausbauen.

Auch hierin haben die vergangenen Jahrzehnte einen Umschwung zum besseren gebracht. Die Verhandlungen über die Kolonien und die Flotte, die sich überdecken im Etat von Kiautschou, den die Marineverwaltung im Reichstag vertritt, bilden in der heutigen Zersplitterung der Parteien einen Sammelpunkt für das nationale Denken. Ja selbst die grollend und negierend abseits stehende Sozialdemokratie kann ihre, wenn auch widerstrebende Anerkennung hier oft nicht versagen.

Ein Seevolk wie das englische mit all den damit verbundenen Nachteilen und Vorteilen wird das deutsche Volk nie werden. Wie die City das Herz der Weltstadt London ist, so sind die großbritannischen Inseln nur das Herz des englischen Weltstaates, des britischen Weltimperiums. Die Verteilung und Lagerung der Glieder des deutschen Weltimperiums muß anders geartet sein. Großer in sich geschlossener kontinentaler Besitz ist die Grundbedingung unserer Macht. Wollen wir ihn innerhalb der von allen Seiten ihn umdrängenden Gefahren uns erhalten, so bedarf unser Volksleben und unsere Volkswirtschaft einer Differenzierung, die einerseits auf den Doppelerwerb in Industrie und Landwirtschaft, andererseits auf die Teilung der Wehrmacht in Flotte und Heer sich stützt.

Aber beide müssen sich ergänzen. Handel und Industrie, wie sie ruhen auf den friedlichen Elementen der Seemacht, haben Deutschland zu einem reichen Lande gemacht. Auch für den inneren Markt, der sich zu einem europäischen erweitert, brauchen sie die überseeischen Einkaufsmärkte und als Regulator und Mitträger für ihren Erwerb die überseeischen Absatzmärkte des Weltverkehrs. Dieser innere Markt mit seiner geschlossenen Masse kaufkräftiger, gut gelohnter Industriearbeiter wird auch der Landwirtschaft die Preise bewilligen können, die sie braucht, um mit deutschen seßhaften Leuten den Boden zur höchsten Ertragsfähigkeit zu bringen. Solch reiches Land kann dann in Stadt und Land eine gesunde, wehrhafte Bevölkerung tragen, deren Deutschland für das Heer bedarf.

So soll das Jubiläumsjahr 1913, das zugleich das hundertjährige Erinnerungsjahr des Volkes in Waffen ist, das Deutschland von der Fremdherrschaft befreite, uns die allgemeine Wehrpflicht wieder neu aufrichten, um unserem Vaterlande seinen Besitzstand zu wahren gegen Jedermann. Eck- und Tragepfeiler dieses Gebäudes nach See hin aber ist eine starke kriegsbereite Flotte, kriegsbereiter noch als das Heer. Die Kraft des Landkrieges beruht auf der Zahl der Krieger, die ein Land wehrhaft machen kann. Zur Festhaltung der Grenzen und zur Vorbereitung des weiteren genügt dort auch ein allmähliches, wenn auch tunlichst schnelles Anwachsen zur Kriegsstärke. Der Seekrieg braucht weniger Menschen, er hat mit diesen aber gleich im Beginn des Krieges andere Aufgaben zu erfüllen. Jedes Hinausschieben der Entscheidung würde die Aufgabe stellen, zurückzuerobern, was man dem Feinde überließ von dem im Frieden gemeinsamen Besitz der See. Und hierzu hat unsere Flotte gerüstet und gearbeitet für den Fall, daß man uns zum Kampfe zwingt.

Als in den Jahren 1904 und 1905 der neuste große Seekrieg im fernen Osten seine Schlachten schlug, da konnten wir mit Genugtuung feststellen, daß sie in rein taktischer [412] Beziehung nichts anderes zeigten, als was unsere Friedenserprobung uns schon gebracht hatte. Seitdem hat sich vieles geändert. Die Verstärkung der Artilleriewirkung der neuen großen Linienschiffe war neben anderen Zwecken schon darauf berechnet, den Vorsprung gegen den Torpedo zu bewahren, der mit seiner Schußweite ständig nachdrängte und darauf ausging, der Artillerie den Rang als alleinige Entscheidungswaffe im Kampf auf großen Abstand streitig zu machen. Seitdem ist auch der Torpedo zu einer Fernwaffe geworden, wenn seine Anwendung als Konkurrent der Artillerie auch nicht mehr wie früher die Lösung der Ordnung bedingt und also an den äußeren taktischen Formen zunächst nichts ändern wird. Neben das große Linienschiff sind die ihm an Kampfkraft wenig nachstehenden, an Schnelligkeit es aber übertreffenden Linienschiffskreuzer getreten, die, zu Verbänden vereinigt, ihre Stellung freier wählen können und statt der einheitlichen Kampflinie für den Flottenkampf Kombinationen von Linien bedingen. Die Vermehrung der zu gleicher Zeit in einer Schlacht fechtenden Linienschiffsgeschwader drängt ebenfalls zu solchen Kombinationen, und nehmen wir noch die Vergrößerung und vermehrte Kampfkraft der Torpedoboote hinzu, die Unterseeboote, die Flugzeuge und Luftschiffe, so sehen wir, wie die Verhältnisse sich verschoben haben für die Vorbereitung zum Kampf, für seine Durchführung und für die Ausnutzung des Erfolges.

Je komplizierter der Schlachtenapparat wird, je mehr es sich darum handelt, neue, im Kriege noch nicht erprobte Kampfmittel anzuwenden, desto wichtiger wird es aber auch, die Kriegsvorbereitung schon im Frieden so nahe an die Wirklichkeit des Krieges heranzuschieben wie nur möglich. Daß wir uns dessen stets bewußt gewesen sind, das zeigt die Vorgeschichte unseres Flottengesetzes, das zeigt der Geist, der in unseren Schiffsbesatzungen und ihren Führern lebt. Von solchen kriegsmäßigen Übungen dürfen auch weder die hohen Indiensthaltungskosten der Schiffe abschrecken, noch die Gefahren für Material und Personal, die aus dieser Friedensarbeit entstehen. All dies kann nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Gefahr, in der Stunde der Entscheidung den Anforderungen des Krieges nicht gewachsen zu sein. Denn über das Schicksal großer Reiche und ihrer Millionen von Bewohnern entscheidet diese kurze Spanne Zeit der Schlacht, in der wie in einem Brennpunkt alles sich zusammenschließt, was jahrelange Friedensarbeit uns geben soll. Sie liegt unter der Oberleitung des Kaisers, dessen Initiative und dessen stetem Ansporn Deutschland seine Flotte verdankt, in guten Händen.


  1. Der heutige Stand des Ausbaus der Flotte sei kurz dadurch charakterisiert, daß die letzten der auf die Zahl der Linienschiffe im Jahre 1900 angerechneten Küstenpanzerschiffe von 4150 Tons Deplacement jetzt in Schiffen der neuen „Kaiser“-Klasse von 24 700 Tons Ersatz gefunden haben. Die Ersatzschiffe für die vier beim Regierungsantritt des Kaisers geforderten Schiffe der „Brandenburg“-Klasse sind im Bau.