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angelegt auf den Krieg mit zwei Fronten, also gegen bedeutende Übermacht, hatten sich auf Kämpfe um die Hafeneingänge und Flußmündungen beschränkt. Gefechte in freiem Wasser, die freie taktische Anschauungen über den Flottenkampf hätten fördern können, waren selten daraus entstanden. Wo sie aber vorkamen, da mußte die Übung schnell abgebrochen werden, denn der wilde Massenkampf, wie er damals als wahrscheinlich angesehen wurde, konnte weder dargestellt noch erprobt werden.

Erreichte dann im Herbst die Übungszeit ihr Ende, so wurden die Kampfschiffe wieder außer Dienst gestellt, das gesamte Personal für den Winterdienst neu verteilt und der geringe Lehrstoff, der im Sommer gewonnen worden war, zerrann fast völlig. Eine Tradition zu schaffen, die Gewonnenes festhielt, war auf diese Weise fast unmöglich, eine wirkliche Vorbereitung auf den Ernstfall des Krieges ebenfalls. Letzteres wurde noch dadurch erschwert, daß zwischen den Indienststellungen des Sommers und der für den Krieg geplanten Zusammensetzung der Flotte ein Zusammenhang nicht bestand. Selbst wenn während der Übungsperiode ein Krieg ausgebrochen wäre, hätte die Mobilmachung damit begonnen werden müssen, die notdürftig eingefahrenen Kampfschiffe neu zu besetzen, weil – nach den bestehenden Bestimmungen, die den Verhältnissen der Armee entsprachen – die für den Krieg zu bildenden Schiffsbesatzungen aus aktivem Personal und Reservisten gemischt wurden. Dazu mußte aber eine gänzlich neue Verteilung des gesamten Personals der Flotte eintreten: die Mobilmachung begann sozusagen mit einer Demobilmachung.

Trotz dieser so überaus ungünstigen Verhältnisse ist die deutsche Flotte als erste unter allen in den nächsten Jahren dazu gelangt, „durch zweckdienliche Versuche und daran geknüpfte richtige Folgerungen die Taktik schon im Frieden auf eine durchaus sichere Grundlage zu stellen.“ Schon die Sommerübungen der Manöverflotte in den Jahren 1889–1891 unter Leitung der Vizeadmirale Knorr und Deinhard brachten nach den vom Kaiser dafür erlassenen Bestimmungen wertvolles praktisches Material zur Klärung taktischer Fragen. Kommissarische Beratungen schlossen sich an, und gemeinsame Erwägungen der beiden obersten Marinebehörden sollten versuchen, die Schwieigkeiten zu beseitigen, die in der bestehenden Organisation der Flotte, wie ich sie soeben beschrieben habe, Hindernisse für eine gesunde Weiterentwickelung geschaffen hatten.

Bereits damals traten die Anschauungen des jetzigen Staatssekretärs des Reichsmarineamts, dessen organisatorische Begabung schon in seiner langjährigen Tätigkeit als Inspekteur des Torpedowesens sich bewährt hatte, hervor und fanden die Billigung des alles überwachenden, überall fördernd eingreifenden Chefs der Marine, des Kaisers. Und wie es sich schon beim Aufbau unseres Torpedobootswesens gezeigt hatte, mußte man bei all den weitschichtigen Arbeiten erkennen, daß eine Förderung nur zu erwarten sei, wenn bei dem nun in Gang kommenden Wiederaufbau der Flotte Organisation, Technik und Taktik in Einklang mit einander kämen, ja daß dem Taktiker, für dessen Tätigkeit im Kriege dieser ganze Apparat doch geschaffen werden sollte, auch bei seinem Aufbau eine entscheidende Stimme zukäme. Ich folge daher auch zunächst weiter den Schritten zur Förderung der taktischen Entwickelung.

Im Jahre 1892 haben nach Sichtung der bisher gewonnenen Ergebnisse und auf

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/407&oldid=- (Version vom 12.12.2020)