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Sachlicher wird der englische Minister in dem was er über die Maßnahmen sagt, die für England notwendig seien, um sich solchem Druck zu entziehen. Vollkommen zustimmen kann man dem an Deutschland gerichteten Satz: „Beide Nationen müssen vollkommen frei sein, bei den Rüstungen zur See den Kurs einzuschlagen, der ihnen zu irgend einer Zeit der weise und richtige zu sein scheint; sie müssen frei sein, die Ausdehnung ihres Programms zu beschränken, ihren Standard zu erhöhen oder abzuändern, wie es ihnen passend zu sein scheint.“ Würde hiernach stets gehandelt, so könnten viele lange Reden ungehalten bleiben, die nur Unruhe und Schaden stiften.

Wichtiger aber als das Hin- und Herreden über Stärkevergleiche, als der utopische Vorschlag zur Einschaltung eines Ferienjahres im Weltschiffbau, als die im Parlament aufgeworfene und vom Minister bejate Frage, ob Englands Kräfte ausreichen, um den Personalbedarf für den Betrieb der Werften und die Besatzung der Schiffe zu decken, bleiben die Ansichten, die maßgebende Persönlichkeiten in England noch immer über die Flottenrüstungen der beiden Länder haben. Am 18. März 1912 sagte derselbe erste Lord der Admiralität: „Wir sind ein unbewaffnetes Volk, wir besitzen nur ein sehr kleines Heer, wir sind die einzige Großmacht in Europa, die keine große Armee hält. Wir können nicht die Unabhängigkeit oder die Lebensinteressen irgend eines großen Festlandstaates bedrohen. Wir können keine Invasion gegen eine Kontinentalmacht unternehmen. Wir wollen es nicht, und selbst wenn wir es wollten, so hätten wir nicht die Macht dazu. Das sind Tatsachen, die Englands Oberhoheit zur See in den Augen der Welt rechtfertigen.“ Weiß denn das seegewaltige England wirklich nicht, welche Waffe es in seiner Flotte hat Festlandstaaten gegenüber, die wie Deutschland immer abhängiger von der See werden? Taucht nicht diese Flotte als Kriegsdrohung auf, sowie wir, wie bei den Verhandlungen mit Frankreich über Marokko, für unsere Seeinteressen irgendwo in der Welt etwas erstreben? Wir wollen England die Oberhoheit über die See nicht entreißen, wir wollen es nicht, und wenn wir es wollten, so könnten wir es nicht, denn eine Flotte, die stark genug wäre, um die englische zu besiegen, können wir uns nicht schaffen. Aber eine Flotte, die nicht imstande wäre, England zu schaden und damit unsere Seeinteressen gegen England zu schützen, wäre das Geld nicht wert, das Deutschland auf sie verwendet.

Die Stärke einer solchen Flotte in absoluten Zahlen richtig zu bemessen, ist schwer, aber die für die Politik und die Wehrkraft Deutschlands verantwortlichen Personen hatten es im Flottengesetz von 1900 nach pflichtmäßigem Ermessen versucht. War es für England förderlich, sie 1911 dadurch in die Höhe zu treiben, daß man Frankreich den Rücken stärkte und dann wie ein Schiedsrichter uns gegenübertrat? Es hat uns dadurch vor Augen geführt, daß die Rüstung, die wir planten, nicht in allen Fällen imstande sein würde, uns den Frieden in Ehren zu sichern, und nun wir beschlossen haben, sie zu verbessern und – um drei Linienschiffe! – zu erhöhen, da wir ja vollkommen frei sind, „bei den Rüstungen zur See den Kurs einzuschlagen, der weise und richtig zu sein scheint“, spricht man drüben hierüber als von „einer verschwenderischen, zwecklosen, nichtigen Torheit“ . Solchem Hin und Her der Argumente ist schwer beizukommen, und die deutsche Regierung tut gut, wenn sie dazu schweigt und ihren Weg weitergeht.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/424&oldid=- (Version vom 12.12.2020)