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bestimmt war, der Träger des Kampfes zu werden? Jeder Taktiker gab dem Konstrukteur auf diese Frage eine andere Antwort, und so ist die Musterkarte verschiedenartigster Schiffe entstanden, die in den 70er und 80er Jahren die Flottenlisten füllten. Die Rückwirkung konnte nicht ausbleiben: die Vielgestaltigkeit der Schiffstypen steigerte nur die Vielgestaltigkeit der taktischen Ansichten, ein allgemeiner Wirrwarr war die Folge.

Die preußisch-deutsche Marine.

Auch die preußisch-deutsche Marine hatte sich diesen Einflüssen nicht völlig zu entziehen vermocht; aber außer den kleineren Fahrzeugen, die dem Küstenschutz dienen sollten, wurden in den Flottenplänen von 1863 und 1865 doch auch größere gepanzerte Schiffe als „Schlachtflotte“ gefordert. Diese Forderungen drangen nicht durch, aber als nach Gründung des Norddeutschen Bundes die Mittel reichlicher flossen, waren im Ausland eine Anzahl von Panzerfregatten bestellt worden, und das Jahr 1869 brachte mit der Einweihung von Wilhelmshaven den ersten Schritt in die dem Weltmeer näher liegende Nordsee. Dann kam die Errichtung des Deutschen Reiches, die der Flotte zwar erweiterte Aufgaben zuwies, ihr einen dementsprechenden Machtzuwachs aber nicht gebracht hat. Die Gründe hierfür sind von der verschiedensten Art.

Nach Beendigung des Krieges war für die Marine die bis dahin bestehende Trennung für Kommando und Verwaltung aufgehoben worden. An die Spitze der neuen Zentralbehörde, der Kaiserlichen Admiralität, trat der General v. Stosch. Der von ihm dem Reichstage im Jahre 1873 vorgelegte Flottengründungsplan hat bis in den Beginn des jetzigen Flottengesetzes hinein seine Bedeutung behalten, und die ihm beigegebene Begründung läßt die damalige Stellung zur Flottenfrage am besten erkennen. Daß man in einer Zeit, da die Siege der Armee eine so gewaltige Machtstellung für Deutschland errungen hatten, der Mitwirkung der Flotte kaum zu bedürfen glaubte, um aufrecht zu erhalten, was gewonnen war, ist ja vielleicht erklärlich. Die Zahl der erforderlichen Schlachtschiffe, die Preußen im Etat von 1865 von 6 auf 10 hatte erhöhen wollen, wurde auf 8 herabgesetzt, und neben diese eigentliche Schlachtflotte sollten „Ausfallskorvetten“ treten. Der Rückzug auf die Küstenverteidigung begann, der, was den Schiffstyp anbetrifft, dann seine Fortsetzung fand in dem Bau kleiner gepanzerter Kanonenboote. Wie in den ganzen Erwägungen dieses Flottengründungsplanes der Landkrieg obenan stand, zeigt am klarsten der Satz: „Die Wegnahme einer ganzen feindlichen Kriegsflotte gewährt höchstens das Mittel, eine Eroberung zu beginnen.“ Daß die Beherrschung der See das besiegte Land von der See scheidet und ihm alles das nimmt, was aus der großen Welt ihm an Kräften zufließt, ist aus solchen Anschauungen nicht zu erkennen.

Die früheren Etats für die Marine hatte der Kriegs- und Marineminister v. Roon aufgestellt, aber in ihnen war die Ansicht der im Marineministerium selbst wie namentlich im Oberkommando der Marine diensttuenden Seeoffiziere doch mehr zur Geltung gekommen, als es hier geschah. Man kann es nicht leugnen: die Schaffung des Reiches hatte dem Flottengedanken zunächst einen Rückschritt gebracht. Nur in Gebieten, die so losgelöst von der europäischen Machtsphäre und so wenig zugänglich für den Klang deutschen Waffenruhms seien, daß für sie etwas besonderes geschehen müsse, glaubte

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/401&oldid=- (Version vom 14.9.2022)