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Seemacht noch nicht Rechnung, stellt neben die größeren Seemächten gegenüber nur die Bedeutung einer „Ausfallsflotte“ tragende Hochseeflotte eine Küstenflotte und mißt überhaupt dem Küstenschutz und daneben dem Schutz des Handels besondere Bedeutung bei. Zwischen ihm und dem definitiven Flottengesetz liegt die Besitzergreifung von Kiautschau. Ein weiteres schnelles Wachstum unserer gesamten überseeischen Beziehungen und damit die Notwendigkeit vermehrten Schutzes entstand, sowie die Möglichkeit, auch größeren, ja dem seemächtigsten Gegner uns zum Kampf stellen zu müssen. Dementsprechend rückt das Flottengesetz von 1900 noch weiter von der Küste ab. Es läßt die Küstenpanzerschiffe ganz fallen und will sie nur vorläufig auf die Zahl der Schlachtschiffe anrechnen. Es forderte statt bisher 17 verwendungsbereiter Linienschiffe für die heimische Schlachtflotte deren 34, gegliedert in vier Geschwader, von denen zwei „aktiv“, d. h. permanent in Dienst, zwei in Reserve gehalten werden sollten. Dazu die nötigen großen und kleinen Kreuzer für die heimische Schlachtflotte und für den Auslandsdienst. Die Torpedobootsdivisionen waren in das Gesetz nicht eingeschlossen, sondern wurden nur summarisch angeführt.

Das Gesetz brachte also in feste Formen, was schon seit Jahren als notwendig erkannt war. Es schob die Organisation der Flotte näher an den Krieg heran, wie es der Verletzlichkeit der Seeinteressen aller großen Völker und der Natur des Seekrieges entspricht, der sofort mit dem Kriegsbeginn die Grenze vorzuschieben bemüht ist bis an die Küste des Feindes. Denn nur hierdurch kann er im Kriege von vornherein den nationalen Besitzstand auf der im Frieden allen Staaten gemeinsamen See sich bewahren. Vermag eine Flotte dies nicht, weil sie zu schwach dazu ist, so muß sie wenigstens dem Feinde soweit entgegengehen, wie es dem Verhältnis der Kräfte entspricht. Aber auch das Material an sich verlangt solche erhöhte Kriegsbereitschaft. Das moderne Kriegsschiff ist ein Apparat, den auch die sorgfältigste Konservierung in den Werften nicht in vollständig gebrauchsfähigem Zustand halten kann. Nur der Gebrauch selbst kann es.

Die in ihrem Hauptteil stets kriegsbereite Schlachtflotte steht also im Mittelpunkt des Gesetzes. Der Küstenschutz tritt hinter sie zurück, und auch der Schutz des Seehandels und der Kolonien soll nicht durch Verteilung der Kampfmittel über die ganze Welt erfolgen, sondern auch er ruht – soweit europäische Nationen als Gegner in Betracht kommen – auf der heimischen Schlachtflotte. Denn, so heißt es in den Motiven, „Deutschland muß eine so starke Schlachtflotte haben, daß ein Krieg auch für den seemächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine eigene Machtstellung in Frage gestellt wird.“

Das Flottengesetz nennt das Schlachtschiff ein Linienschiff und stellt es damit auf die taktische Grundlage des artilleristischen Formationskampfes, deren Entstehung wir kennen gelernt haben. Aber auch für die anderen Schiffstypen in der Dreiteilung: Schlachtschiff, Kreuzer, Torpedoboot, schafft es feste Normen. Soll in der heimischen Schlachtflotte der Hauptsache nach das verneint sein, was Deutschland zur Wahrung seiner Seeinteressen in der Welt braucht, so müssen alle Typen so beschaffen sein, daß sie nicht nur in heimischen Gewässern, sondern überall in der Welt gebraucht werden können. So kennt das Gesetz keine allein auf Schnelligkeit und Aktionsradius aufgebauten Handelsschützer

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/415&oldid=- (Version vom 12.12.2020)