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glich doch der Aufnahme einer Anleihe zur Vergrößerung des Betriebes. Sie hat England Früchte getragen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein: die Welt bildete damals sozusagen einen einheitlichen Wirtschaftskörper, in dem England fast allein den Typus des See- und Industriestaates vertrat. Sein Handel war das Bindeglied zwischen dem englischen workshop of the world und den übrigen Ländern der Welt, die ihm Rohstoffe und Bodenerzeugnisse lieferten und dafür seine Fabrikate und Kolonialprodukte aufnahmen. Kriegsflotten außer der englischen bestanden eigentlich nicht. Eigene Werte hatte auf der See ja auch nur England zu schützen.

Je mehr nun die anderen Staaten sich von den Folgen der langen Kriegszeit erholten, je mehr ihre Volkszahl wuchs, desto mehr vollzog sich auch in ihnen allmählich der Übergang zur Industrie. Auch für sie bekamen die ausländischen, die überseeischen Absatz- und Einkaufsmärkte Wert, sie wurden zu Seehandelsstaaten und sodann auch zu Kolonialstaaten. Begünstigt wurde diese Entwickelung durch die gewaltigen Fortschritte, die gerade in dieser Zeit das gesamte Verkehrs- und Nachrichtenwesen machte. Durch die Eisenbahnen, die Dampfschiffe und Telegraphen wurden die Völker einander näher gebracht. Sie lernten ihre wechselseitigen Bedürfnisse kennen, und es war nur natürlich, daß sich daraus ein stark vermehrter Güteraustausch entwickelte.

So entstand ganz von selbst aus dem einheitlichen Wirtschaftskörper der Welt, der einseitig englisch organisiert gewesen war, eine Weltwirtschaft anderer Art. Alle großen Staaten haben sich in ihrer Wirtschaftsweise dem englischen Typus genähert, und das Nebeneinanderhergehen dieser gleichartigen Wirtschaftsbetriebe auf der See kennzeichnet die Lage. Das Wirtschaftsleben aller Staaten ist heute – wenn auch in verschiedenem Maße, so doch in derselben Weise wie das ihres Vorbildes England – abhängig von der See.

Man kann ohne Übertreibung sagen: Die See ist die große Hauptstraße des Verkehres geworden, alle anderen Handelswege sind nur Anschlußlinien des Seeverkehrs. Darum hat aber auch die See erst diese Wichtigkeit für den Verkehr der Kontinentalstaaten gewonnen durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Binnenwasserstraßen, und es handelt sich bei dem Ausbau der Verkehrswege im Lande sozusagen immer darum, einen Ort der See näher zu bringen. Der Wohlstand jedes Volkes ruht also nach wie vor im Lande, sei es in Bodenschätzen, in Naturprodukten der Heimat oder in Werte schaffender Arbeit, aber die Wirtschaftsweise der Weltverkehrsstaaten bringt es mit sich, daß wir die See als Straße nicht entbehren können.

Die Weltverkehrsstaaten und der Krieg.

Hieraus ergibt sich die Stellung der heutigen Weltverkehrsstaaten zum Kriege. Der Landkrieg muß, wo nicht wie bei dem Inselreiche England die Flotte das mit besorgt, den territorialen Besitz wahren und die heimische Arbeit schützen. Dem Seekriege ist von dem ganzen Verkehrs- und Wirtschaftsapparat nur ein Glied zugänglich, der Seehandel, aber seine Unterbindung bringt fast den ganzen Betrieb zum Stillstand und zeigt, daß das ganze Land abhängig ist von der See und damit vom Seekriege. Denn nicht nur die Küste wird geschädigt, wenn der Feind unsere Häfen schließt, sondern das

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/412&oldid=- (Version vom 12.12.2020)