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man des Eingreifens der Flotte zu bedürfen, und der für Deutschlands Politik verantwortliche Reichskanzler war dieser Auffassung nicht entgegengetreten.

Unter dem zweiten Chef der Admiralität, dem General v. Caprivi, begann sich eine Änderung vorzubereiten. Dies zeigt sich in den Denkschriften zu den Etats für den Auslandsdienst der Flotte wie für deren Bedeutung überhaupt. Trotz aller Zweifel, die man dem Hochseeschlachtschiff in seiner jetzigen Gestalt entgegenbringe, läge in ihm doch der eigentliche Wert jeder Flotte. „Eine Marine, die ihren Schwerpunkt auf oder am Lande suchte, verdiente ihren Namen nicht mehr. Immer mehr hören die Meere auf, die Nationen zu trennen, und immer mehr scheint der Gang der Geschichte darauf hinzuweisen, daß ein Staat sich nicht von der See zurückziehen darf, wenn er auch über die nächste Zukunft hinaus sich eine Stellung in der Welt zu erhalten trachtet.“ So heißt es in der Denkschrift zum Etat von 1883, und es klingt wie eine Vorbereitung zum späteren Flottengesetz, wenn General v. Caprivi 1887 schreibt: „Die Erkenntnis des schnell wachsenden Wertes überseeischer Beziehungen, die Unmöglichkeit, den eigenen Einfluß noch länger auf Europa beschränken zu können, das Bewußtsein von der Rückwirkung anderer Weltteile bis in die intimsten Fragen eigener Wirtschaftspolitik, haben – ganz abgesehen von der Kolonialpolitik – fast alle europäischen Staaten im Laufe der letzten Jahre zu einer Vermehrung ihrer Seemacht geführt“ und weiter: „Das Deutsche Reich steht demnach vor der Frage, ob es durch personelle und finanzielle Rücksichten dazu genötigt ist, sich in diese Lage (des Zurückbleibens in seiner maritimen Rüstung hinter andern Flotten II. Ranges) zu schicken, oder ob und bis zu welchem Grade ihm jene Rücksichten die Vermehrung seiner eigenen maritimen Wehrkraft gestatten und rätlich erscheinen lassen.“

Die Zeiten hatten sich eben geändert und die Frage des Ausbaus der deutschen Wehrmacht zu Lande und zu Wasser nach den verschiedensten Richtungen hin beeinflußt. Als im Jahre 1884 die deutsche Kolonialpolitik einsetzte, hatte man in England die Zeit der Kolonialmüdigkeit noch nicht völlig überwunden, die, im Zusammenhang mit der Freihandelsbewegung, viele Gemüter beherrscht hatte. Mehr erstaunt als beunruhigt schaute man den neuen deutschen Bestrebungen zu, und auch als die von Bismarck unter Mitwirkung der in Kolonialdingen England abgeneigten französischen Republik im November 1884 nach Berlin berufene Afrikanische Konferenz internationale Festsetzungen traf, die tief eingriffen in bisher von England souverän auf der ganzen Welt gehandhabte Rechte, wurde kein formeller Widerspruch erhoben. Aber bald regte sich die öffentliche Meinung in England, eine eifrige Propaganda setzte ein, und es war zu übersehen, daß jedes weitere Hinausschieben deutscher Seeinteressen bald nur möglich sein würde, wenn eine genügende maritime Wehrkraft es unterstützte.

Andrerseits war auch die kontinentale Machtstellung des deutschen Reiches doch nicht mehr als so gesichert anzusehen, wie sie es 1873 gewesen war. Die nach dem russisch-türkischen Kriege im Sommer 1878 tagende Berliner Konferenz bedeutete einen Höhepunkt des deutschen Einflusses in der europäischen Politik. Sie hatte aber in ihren Folgen das Verhältnis des Deutschen Reiches zu Rußland getrübt, der Revancheidee in Frankreich dadurch neue Hoffnungen erweckt, und so war trotz des im Jahre 1872 mit Österreich

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/402&oldid=- (Version vom 12.12.2020)