Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/411

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

So spinnen sich hier die Fäden hinüber zum Flottengesetz. Aus der europäisch orientierten Flotte, die Rußland und Frankreich, unsere kontinentalen Nachbarn, als ihre wahrscheinlichsten Gegner ansah, begann die Flotte herauszuwachsen, die des Deutschen Reiches Stellung in der ganzen Welt beschützen und, wenn es nicht zu vermeiden sei, auch der englischen sich zum Kampf stellen sollte. Denn die See macht alle Staaten zu Nachbarn, die an sie grenzen, und je mehr die industriellen und kommerziellen Wege sich verknüpften und kreuzten, je mehr der Wettbewerb aller Konkurrenten die Reibungsflächen und die möglichen Konfliktspunkte vermehrte, desto mehr mußte auch Deutschland als eine der Weltverkehrs- und Welthandelsmächte auf überseeische Kriegsmöglichkeiten gefaßt und vorbereitet sein.

Das Flottengesetz.

Veränderte Stellung der Staaten zum Seeverkehr.

Die allgemeine Begründung für die in den nächsten Jahren auf neuer Grundlage systematisch beginnende Verstärkung der deutschen Flotte ist in den Schlußworten des letzten Abschnitts schon enthalten. Den daraus im Auslande entstandenen Mißdeutungen und feindlichen Regungen gegenüber, wie zur Abwehr des jetzt allerdings geschwundenen Widerspruchs, den die maritimen Rüstungspläne des Kaisers in Deutschland selbst damals gefunden haben, muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß sie doch nur eine notwendige Folge der geschichtlichen Entwickelung waren. Auch die Schwierigkeiten der politischen Lage England gegenüber, die daraus entstanden sind, kann nur ein kurzer geschichtlicher Rückblick in richtige Beleuchtung rücken.

Wir müssen hierbei zurückgehen bis zum Abschluß der Napoleonischen Kriege. Ohne Konkurrenten stand England damals da in der militärischen Beherrschung des Meeres und in der wirtschaftlichen Bevormundung der anderen Staaten, denen es den Verkehr mit der Welt vermittelte und für die es die Industrie besorgte. Denn jede Konkurrenz hatte das Inselreich in der langen Kriegszeit mit Waffengewalt erdrückt, und während es im eigenen Lande trotz aller Erschwerung durch den Krieg doch an der Arbeit bleiben und die Vorteile ausnützen konnte, die die technischen Erfindungen der damaligen Zeit boten, hatte der Landkrieg direkt, der Seekrieg indirekt die wirtschaftliche Entwickelung der Kontinentalstaaten niedergehalten. So hatte sich der Abstand zwischen dem immer schon mehr agrarisch organisierten Kontinent und dem handel- und industrietreibenden Inselreich noch vergrößert, ja man kann sagen, eine Industrie im heutigen Sinne, d. h. auf Maschinenbetrieb sich gründende Großfabrikation, bestand nur in England. Die durch den Krieg verarmten Landstaaten geboten ja auch noch lange Zeit nach dem Kriege nicht über genügende Kapitalien, um sich eine Großindustrie zu schaffen.

Auch England hatte sich mit gewaltigen Schulden belasten müssen, um sich und seinen kontinentalen Verbündeten die Fortsetzung des Widerstandes zu ermöglichen. Der Verschiedenheit von Landkrieg und Seekrieg entsprechend, hatte es aber mehr mit Geld Krieg geführt als durch Einsatz von Menschenleben, und diese Finanzierung des Bündniskrieges

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/411&oldid=- (Version vom 12.12.2020)