Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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ionischer Tänzer
Band XI,1 (1921) S. 459462
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Kinaidos. Die Etymologie ist nicht aufgehellt, da weder die alten noch die modernen Deutungen befriedigen. Jene bringen K. entweder mit κενὸς αἰδοῦς oder mit κινεῖν τὸ αἰδοῖον zusammen (vgl. z. B. Etym. M. und Gud.); das letztere wäre diskutabel, wenn nicht die Quantität des ι verschieden wäre (κίναιδος). Auch der Versuch von Fick Bezz. Beitr. XXVIII 101, der von einer volleren Nebenform* κιναίω zu κναίω ,kratze, jucke‘ ausgeht und ein Adv. κιναιδόν (vgl. βαδόν) annimmt, aus dem hypostatisch K. gebildet wäre, bedarf keiner Widerlegung. Der Vogel K. (κιναίδιον), auch σεισοπυγίς (!) genannt (niederd. Wippstert, vgl. Hesych. Schol. Theokr. 2, 17. Schol. Plat. 121), wird wegen der Ähnlichkeit der Bewegung nach dem menschlichen K. genannt sein, und dasselbe kann bei dem nicht zu identifizierenden Fische K. (Oppian. Hal. I 127. Plin. n. h. XXXII 146) der Fall sein. Nach diesem ist wieder die Perle κιναιδία genannt, die sich angeblich in seinem Gehirn findet (Plin. XXIX 129. XXXVII 153). Offen bleibt die Frage nach dem Verhältnis zu κίναδος, für das ebenfalls eine befriedigende Erklärung nicht gefunden ist (auch als Eigenname Paus. III 22, 10. Κινάδων Xen. hell. III 3, 4 u. ö.). So ist es durchaus möglich, daß K. nicht griechischen, sondern fremden und zwar kleinasiatischen Ursprunges ist, wozu die Bedeutungsentwicklung durchaus paßt. Die arabischen Kinaidokolpitai (s. d.) haben mit K. nichts zu tun. Merkwürdig Plin. n. h. V 134 (karische Insel) vocata est Cinaedopolis, probrosis ibi relictis a rege Alexandro.

Wie Letronne Recueil des inscr. de l'Egypte II 100 gesehen hat, ist nicht von der Bedeutung pathicus anszugehen, sondern von der Bedeutung ,Tänzer‘. Zwei K. bezeugen ihren Besuch [460] des Isistempels zu Philai: Στρούθειν [Struthion] ὁ κίναιδος ἥκω μετὰ Νικόλα und Τρύφων Διονύσου τοὺ νέου κίναιδος ἥκω παρὰ τὴν Ἴσιν (CIG 4926): Tryphon war also bei dem für Brettlkunst begeisterten Ptolemaios Auletes als K. angestellt d. h. als Tänzer. Non. 5 cinaedi dicti sunt apud veteres saltatores vel pantomimi ἀπὸ τοῦ κινεῖν τὸ σώμα. CGL V 654, 7 c. qui publice clunem agitant i. e. saltatores vel pantomimi. Lucil. 31 stulte saltatum te inter venisse cinaedos braucht eine sprichwörtliche Wendung, die mit ,Eulen nach Athen tragen‘ gleichbedeutend war. Darauf geht auch Plaut. Mil. 668 ad saltandum non cinaedus malacus aequest atque ego, vgl. Pers. 804; Stich. 772. Scipio bei Macrob. Sat. III 14, 7 klagt darüber, daß römische Kinder cum cinaedulis et sambuca psalterioque in die Tanzschule gehen. Weist schon die Nennung dieser Instrumente auf orientalische Herkunft der K., so wird das durch anderes bestätigt. Beim Sklaventanz Plaut. Stich. 769 heißt es: qui Ionicus aut cinaedicust, qui hoc tale facere possiet? Der K. singt ionische Verse (Petron. 23, 2), der Kinaidologos wird auch Ionikologos genannt (Athen. XIV 620 e), die ionischen Verse des Sotades (s. d.) und Timon heißen geradezu K. (Antigonos bei Diog. Laert. IX 110. Mart. II 86, 1, vgl. Sacerd. GL VI 526. 4 de cinaediambico tetrametro brachycatalecto): das weist alles in das Gebiet der Ἰωνικὰ ᾄσματα (Athen. VII 293 a), zu denen ursprünglich Begleitung durch orientalische Instrumente (s. o. Scipio usw. Demetr. de eloc. 37 ὁ τὰ τύμπανα καὶ τἄλλὰ τῶν μαλθακῶν ὄργανα κιναιδίας εἰπῶν. Polyb. V 37, 10 κιναίδους καὶ σαμβύκας, vgl. Plut. Kleom. 33) gehört, die sich aber in alexandrinischer Zeit wie so viele Gattungen von der Musik lösen und Buchpoesie werden (Aristeid. Quint. I 13). So ist der Kinaidologos kein Sänger, sondern ein Rezitator, der beim Gelage und dgl. Anlässen auftrat und sich durch einen raffiniert mimischen Vortrag auszeichnete. Plin. ep. IX 17, 1. Strab. XIV 648. Inschrift aus Belgrad Athen. Mitt. IV 232 Πρόκλῳ κιναιδολόγῳ πατὴρ ἀνέθηκεν. Diog. epist. 11 γάλλοις καὶ κιναιδολόγοις. Nahe stehen die Magodoi usw.: ihre μάγαδις war kaum verschieden von der σαμβύκη, die wir gerade in der Hand der K. finden (s. u). S. den Art. Simodoi. Crönert Rh. Mus. LXIV 433.

Diese ionischen Tänze waren durch ihre Unzüchtigkeit verrufen: motus doceri gaudet Ionicos matura virgo klagt Hor. c. III 6, 21, das clunem agitare (s. o. CGL V 654) war ein Hauptkennzeichen (Petron. 23, 2 spatalocinaedi ... femore facili, clune agili), wenn auch schwerlich gerade auf diese Tänze beschränkt (Poll. IV 98f.). Firmic. Math. II 159, 12 cum effeminati corporis mollitie cinaedos efficient, qui veterum fabularum exitus in scaenis semper saltantes imitentur. 321, 24 erunt pantomimi sed cinaedi (vgl. 328, 21). Ob auf dem von O. Jahn Abh. Akad. Münch. VIII 254 veröffentlichten und besprochenen Wandbilde des Columbarium Pamphili (über ein ähnliches Samter Röm. Mitt. VIII 127) K. dargestellt sind, ist nicht ganz sicher. Eher möchte man die in ägyptischen Kleinbronzen dargestellten Tänzer so nennen, über [461] die Perdrizet Bronces grecs d'Égypte (Paris 1911) zu N. 102 handelt und von denen er auf Taf. XXIX–XXXI einige abbildet; namentlich der auf Taf. XXXI unten abgebildete Jüngling (Antiquarium Berlin 8451), der mit verrenktem Kopf sein Hinterteil beschaut, dürfte den Namen K. verdienen. Manches weist auf einen ursprünglichen Zusammenhang mit dem Kultus, z. B. werden die Galloi öfter K. genannt (Cumont o. Bd. VII S. 676), s. auch Firmic. II 271, 5 gallos abscisos dicito et cinaedos, 273, 3. 24 cinaedos efficiet matris deorum tympanis servientes. Schol. Aristoph. Av. 877 nach Didymos (Kleokritos) ὧς γυναικίας καὶ κίναιδος κωμῳδεῖται· ἐν δὲ τοῖς μυστηρίοις τῆς Ῥέας μαλακοὶ πάρεισι. So heißen die Priester der Dea Syria im Lukiosroman des Ps.-Lukian c. 35–40 K. (danach Apul. met. VIII 24–29). Vgl. Firmic. II 272, 21 cinaedos felices efficiet, quibus templorum officia credantur. 270, 28 cinaedos efficient templorum cantibus servientes. Doch kann alles das auch sekundär sein und K. ursprünglich den ionischen Tänzer unabhängig vom Kultus (oder doch wenigstens vom Kultus der Meter und Dea Syria) bezeichnen.

Begreiflich ist, daß K. früh den verweichlichten (mollis, μαλακός) Menschen und pathicus bezeichnete, zuerst Plat. Gorg. 494 e. Aischin. 2, 99. Gerade den orientalischen Priestern werden solche Laster nachgesagt (vgl. Ps.-Luk. Luc. 38). Diese Bedeutung ist namentlich den Römern geläufig (Thes. ling. lat. III 1059); es ist kein Zufall, daß das bei Firmicus so häufige K. (vgl. Zieglers Index) in der astrologischen Literatur der Griechen kaum vorzukommen scheint. Aber auch Poll. VI 126 stellt K. mit πόρνος, καταπύγων, μαλθακός, ἡταιρηκώς u. dgl. zusammen; vgl. Hesych. κ.· ἀσελγῆς, πόρνος. Catull verbindet es mit pathicus (16, 2. 57, 1), und diese Bedeutung hat es sehr oft, sowohl in der Literatur wie in volkstümlichen Inschriften, besonders in Pompei (meist in der Form Iulius c. CIL IV 4201[1] oder Albanus c. est 4917; Crescens publicus c. 5001. cinaedus et fellator 1825). Der Begriff der Impotenz liegt darin Mart. III 73, 4. VII 58, 2, wo das Stutzerhafte hinzukommt (vgl. Plaut. Asin. 627 cinaede calamistrate). Doch ist der K., wenn auch seltener, auch aktiv; Schol. Lukian 211, 3 R. κίναιδος ὅ τε ποιῶν ὅ τε πάσχων παρὰ τὸ τὴν αἰδὼ κινεῖν (s. Plut. praec. san. 7 = I 308, 15 B. CIL IV 2319[2] Vesbinus c. Vitalio(m) pedicavit. VI 248). Der Kuppler bei Herond. 2, 74 nennt sich selbst einen K., und kaum etwas anderes war der bei Strab. XIV 648 εἰς ἔρωτα ἐμπεσὼν κίναιδου τινὸς καὶ παιδίσκης ὑπὸ [τῷ] κιναίδῳ τρεφομένης (wohl einer Sambykistria). Auch pueri delicati fallen darunter, so Ganymedes Mart. II 43, 13. X 98, 2 (vgl. Iuv. 14, 30). Der von Bährens zu Catull. 57, 1 angenommene Bedeutungsunterschied von K. und pathicus (dieses Wort übrigens den Griechen unbekannt) läßt sich nicht erweisen. Bei der Beliebtheit sexueller Beschuldigungen im Altertum (Süss Ethos 249) ist K. eines der geläufigsten Schimpfworte geworden (Catull. 29, 5. 9. Buecheler Rh. Mus. LII 393). Wegen seiner Weichlichkeit kann aber auch der Dionysos der Frösche K. genannt werden (Schol. [462] Dionys. Thr. 475, 15). Vgl. auch Diogenian III 87 γέλως Ἰωνικός· ἐπὶ τῶν κιναίδων, παρόσον οἱ Ἴωνες ἐπὶ τούτῳ διαβάλλονται. Charis. 110, 5; inde effeminati hodieque in ludo syllae dicuntur, quos vulgo inprudenter populus appellat, von Fabricius richtig emendiert in quos vulgus i. psyllos a. (wo diese ,Flöhe‘ offenbar lustig springende Tänzer sind).

Anmerkungen (Wikisource)

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  1. Corpus Inscriptionum Latinarum IV, 4201.
  2. Corpus Inscriptionum Latinarum IV, 2319.