Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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ziegenartiges Tier der Alpen, Abruzzen, Pyrenäen etc.
Band VII,1 (1910) S. 11161119
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Gemse, Antilope rupicapra. Als die wahre Heimat der G. dürfen die Alpen bezeichnet werden. Ihr Verbreitungsgebiet dehnt sich allerdings noch bedeutend weiter aus, da G. auch in den Abruzzen, Pyrenäen, den Gebirgen der kantabrischen Küste, Dalmatiens und Nordgriechenlands, auf den Karpaten, besonders den Gipfeln der Hohen Tatra, den Siebenbürgischen Alpen und endlich auf dem Kaukasus, in Taurien, Georgien und im südlichen Sibirien gefunden werden (Brehm III2 269. v. Heldreich Fauna Griechenlands. Pallas Zoograph. Rosso-asiatica I 7: in Sibirien und Rußland bis zum 50 Grad nördlicher Breite).

Von den G. in den Abruzzen handelte der alte Cato in seinen Origines (Varro r. r. II 3, 3). Er nennt sie caprae ferae und berichtet, daß sie auf dem Sauracte – gewöhnlich Soracte genannt – und auf dem Fiscellus hausen, und daß sie mehr als 60 Fuß weit von den Felsen springen. Varro selbst (r. r. II I, 5) gibt an, daß um den Fiscellus und die Tetrica herum viele G. seien. Aus dieser zweiten Stelle Varros, wo er vom Soracte als Fundort der G. schweigt, darf man wohl schließen, daß auf dem exponierten und Rom näheren Soracte zu seiner Zeit bereits die G. ausgerottet [1117] waren. Varro fügt noch bei, daß man die caprae der Abruzzen lateinisch rotae nenne.

In der Urzeit hat es jedenfalls im gebirgigen Teil von Latium selbst auch G. gegeben; dies kann man daraus entnehmen, daß an einem Fest der Iuno bei den Faliskern nach einer Ziege geschossen wurde. Sehr zu beachten ist auch die sonderbare Nachricht, daß dem römischen Flamen Dialis, dem Eigenpriester Iuppiters, verboten war, das Wort ,Ziege‘ auszusprechen oder gar eine Ziege zu berühren. Offenbar ist auch hier ursprünglich dic G. gemeint gewesen, die wie die Bezoarziege auf Kreta ganz selbstverständlich als eigenstes und unter Umständen heiliges Tier des Höhengottes Iuppiter betrachtet wurde (Keller Tierwelt I 297. 299).

Die Neugriechen nennen die G. ἀγρίμι oder ἀγριοκάτσικο d. h. Wildziege. Sie existiert faktisch auf den nordgriechischen Bergen, u. a. auf dem Parnaß, und auf dem Olympos ist das Tier ziemlich gemein (Heldreich). Einer Tradition aus troianischer Zeit zufolge wurden auch die Felsenberge des nördlichen Euboia von diesen Tieren besetzt (Pausan. II 23, 1). In einer Höhle des Vorgebirgs Kaphereus fanden die schiffbrüchigen Griechen ,Wildziegen‘, αἶγες ἄγριαι, deren Fleisch sie aßen und in deren Felle sie sich kleideten. Diese Rettung verdankten sie nach der Legende dem Dionysos, der ja auch den Beinamen αἰγοβόλος, d. i. G.-Jäger, führte (Paus. IX 8, 1). Basilius d. G. erzählt von G. im nördlichen Kleinasien am Iris, und damit harmoniert die Notiz Aelians, wonach es welche in Armenien gab (nat. an. XVII 31).

Von vielen Inseln sagt uns eine positive Tradition oder auch mit ziemlicher Sicherheit die Etymologie (Keller Tiere des class. Altert. 50. 51), daß einstmals in nicht geringer Anzahl Ziegen auf ihnen gelebt haben. Manchmal werden es verwilderte, manchmal auch zahme gewesen sein, ohne Zweifel aber auch in einigen Fällen G., so vielleicht in einer sehr frühen Periode auf Sizilien, wo nach Solin. V 11 auf dem Nebrodesgebirge dammae et inulei gregatim herumschweiften. Damit würde eine Münze von Agyrium stimmen, auf welcher nach Eckhel D. N. I 1, 195 lupus rupicapram depascens zu sehen sein soll. Die hochberühmte Wildziege auf Kreta, die dort auf dem Diktegebirge noch heute existiert und im Altertum als Tier des Höhengottes Zeus galt, ist, wie gesagt, nicht die echte G., welche bekanntlich anatomisch zu den Antilopen gehört, sondern die Bezoarziege, auch Paseng genannt (Keller Tiere d. class. Altert. 39. 40).

Die spanische G. ist in einer metrischen Inschrift aus Legio, jetzt Leon, in Gallaecien gemeint, wo von den Jagden eines römischen Generals auf volucris capreas, Hirsche, Eber und wilde Pferde die Rede ist (CIL II 2660[1] b). Vgl. Martial. ep. XIII 99 pendentem summa capream de rupe videbis. Die von demselben Dichter I 49, 23 erwähnten, in Spanien erlegten dammae sind gewiß auch G., nicht Damhirsche, wie Flach z. d. St. meint. Das heutige Spanisch besitzt für G. ein baskisches Wort, bicerra (Diez Roman. Wörterbuch 469). Damma, was bei Dichtern ein beliebtes Wort sowohl für G. als Gazelle ist, hält man für ein ligurisches Wort oder für ein [1118] gallisches (Zucker Vocab. Gall. apud Vergil. 43. 44). Von den Kelten als G.-Jägern spricht Arrian cyneg. 33, 1; er sagt nämlich, daß die Kelten, im Fall sie eine δορκάς erbeuten, hiefür der Artemis vier Drachmen opfern, weil das Tier groß sei und die Jagd für ehrenvoll gelte, für einen Fuchs eine Drachme, für einen Hasen zwei Obolen. Für die Ardennen und Vogesen ist die G. bezeugt durch Venantius Fortunatus c. VII 4 (a. 561), der sie unter dem Namen capra zwischen cervus und helix (Elch) als Jagdobjekt aufzählt. Bei Münster im Elsaß hat sich noch die Tradition von G.-Jagden Karls d. Gr. auf den Felsen von Montabey erhalten (Bresch La vallée de Munster 229). Ein Berg bei Zabern i. E. heißt der Gemsenberg, Gemseberg (Gérard Faune historique de l’Alsace, Paris 1871, 362). Das französische chamois und das deutsche Gemse kommen vom mittellateinischen, ursprünglich vielleicht rätischen cambissa. In dem Tiernamenverzeichnis des Polemius Silvius aus dem J. 448 finden wir sowohl damma als rupicaper und das merkwürdige camox, das mit Gams, cambissa und chamois zusammengehört. Von antiken Ausdrücken möchte ich an χίμαιρα erinnern: χίμαιρα ὀρέσσαυλος Coluth. rapt. Hel. 107. Ἴορξ (Hesych.) und ἴορκος (Oppian) (s. Tiere des class. Altert. 340, 104) dürften mit dem keltischen yorch = caprea zusammenhängen; auch ἴυρξ kommt vor und wird als αἴξ ἀγρία erklärt bei Hesych. Das von Varro als lateinischer Name für G. angeführte rota steht ganz isoliert, ebenso ψίναθος und σαννάς, welch beide Wörter ebenfalls nach Hesychios wilde Ziegen, d. h. vielleicht G. bezeichnet haben (Tiere d. class. Altert. 340, 102. 103). Ob unter den dammae, welche die Römer in ihren Vivarien hielten (Colum. VIII 1, 1), auch G. verstanden werden dürfen, ist nicht ganz sicher. Das Fleisch dieser dammae kam auf die römische Tafel (Iuven. 11, 121. Vespae iudicium coci 68). Ganz bestimmt sind unter den dammae (wie auch unter den δορκάδες – die ja unter Umständen = Gazellen sind) G. gemeint, wenn sie als Bewohner der höchsten Berge figurieren, z. B. Hor. carm. I 2, 12 und Claudian. in Olyb. et Prob. cons. (I) 169 [wo natürlich dammae, nicht damae gelesen werden muß]. Weiter werden die G. geschildert als äußerst scheu und ängstlich (timidae Verg. Stat., paventes Apul., imbelles Verg. Nemesian. Isidor.) und als außerordentlich flink (concitae Anthol. lat. R., pernices Symmach., volucres CIL). Es ist unmöglich, sie in Haustiere zu verwandeln (Aesop. fab. 12 H.), daher hießen sie agrestes dammae (Stat. Theb. IX 830). Sie sind sehr fruchtbar, wie die Hasen; sonst wären sie längst ausgerottet (Eustath. hexaem. IX 5 = LIII p. 961 M.). Ihre Hörner sind im Unterschied von den dammae im eigentlichen Sinn, den Gazellen, wie Haken nach hinten gebogen (Plin. XI 124). Wenn man ihren Talg mit Milch zu gleichen Teilen vermischt, hat er nach einem angeblich durchaus glaubwürdigen Gewährsmann des Plinius schon hochgradige Schwindsucht geheilt (Plin. XXVIII 231). Zum Teil gelungene Bronzestatuetten von G. findet man in verschiedenen Sammlungen, z. B. im Museum von Palermo. Im ganzen aber gehören deutliche antike Kunstdarstellungen des Tieres zu den größten [1119] Seltenheiten. Literatur: Keller Tiere des classischen Altertums in culturgeschichtlicher Beziehung, Innsbr. 1887.

[Keller. ]

Anmerkungen (Wikisource)

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  1. Corpus Inscriptionum Latinarum II, 2660.