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Autor: W. Neuhofer
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Titel: August Summers Ehe
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Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ein Sittenroman.
Band 1 der Romanheftreihe Intimes. Skizzen aus dem Leben.)
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[1]

W. Neuhofer
August Summers Ehe

[2]

[3]
August Summers Ehe
von
W. Neuhofer.


Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.


[4]
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.


Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.


[5]
1. Kapitel.
Theater.

Über dem runden Stammtisch im Hamburger Hof schwammen die dicken Rauchschwaden von sechs Zigarren und einer Zigarette in der Luft. Trotzdem saßen acht Herren um den Tisch herum. Aber der Regierungsbaumeister August Summer war eben Nichtraucher.

Der große eiserne Ofen in der Ecke spie Glutwellen aus. Es war auch nötig. Draußen zeigte das Thermometer 15 Grad unter Null. – Das kleine Honoratiorenstübchen war im übrigen leer; die beiden anderen Stammtische hatten heute Feiertag.

Amtsgerichtsrat Schacht, Junggeselle, von den Damen stets heimlich Schuft genannt, weil er nur mit einer sehr stattlichen Wirtschafterin zusammenhauste, der [6] man mehrere uneheliche Kinder nachsagte, schlug derb mit der Faust auf die blendend weiße Tischplatte.

„Herrschaften – laßt mich mit all dem Roman- und Novellenzeug in Ruhe! Da schreiben diese Herren Dichter Seiten und Seiten von Liebe und Liebesglück, von Sichfinden, von Sichnichtverstehen, von keuschem Empfinden, reinen Gefühlen und so weiter. Alles verlogenes Zeug, alles Unnatur! Ich bitt’ Sie: wie soll ein Schriftsteller wohl zum Beispiel eine Ehe, die in die Brüche geht, richtig schildern, wenn er nie den Kernpunkt entblößen darf. Er muß ja stets das Wichtigste weglassen. Sonst schreien die Philister Zeter und Mordio! – Das Wichtigste: und das ist in jeder Ehe doch das intime Verhältnis zwischen Mann und Weib, das sind jene Beziehungen, die man nur in den – verdammten französischen Romanen mal angedeutet und enthüllt findet! – Was ist denn die Ehe? Hat der Staat sie etwa deshalb unter gesetzlichen Schutz genommen, damit „er“ „sie“ nur anhimmelt – wie man’s in dem Romanquatsch lesen kann! Nein: die geschlechtlichen Beziehungen sind und bleiben der Kernpunkt! Die Ehe wird stets glücklich sein, in der die beiden Gatten ihre volle körperliche Befriedigung finden. Hungert ein Teil, so ist der Konfliktsstoff schon da –“ Er unterbrach sich plötzlich, wandte sich an August Summer, [7] der mit hochrotem Kopf stier in sein Bierglas geschaut hatte.

„Entschuldigen Sie, bester Baumeister, – ich hatte ganz vergessen, dass Sie uns heute mal ausnahmsweise hier am Stammtisch die Ehre gegeben haben, daß Sie sich verlobt haben und außerdem Ihrer strengen Moralbegriffe wegen überall hier im Städtchen gepriesen werden, – nein, wurden, denn diese Lobgesänge auf Ihre Tugendhaftigkeit, die in allen Häusern mit heiratsfähigen Töchtern erschollen, dürften nun verstummt sein, nachdem Sie gewählt haben. – Ja, bester Baumeister, so ist nun mal die böse Welt: dem Ehekandidaten flicht man Kränze, den Bräutigam „der Anderen“ beschmeißt man dann mit Äpfeln, die die Pferde verloren haben. Entschuldigen Sie, – Sie werden schon wieder rot. Aber ein Pferdeappel ist wirklich nichts Unmoralisches, ist etwas ganz Natürliches, genau so, wie die beiden Ehebetten im Schlafzimmer nichts Unmoralisches an sich haben – wenigstens nicht für vernünftige Leute. Im übrigen schwärme ich für das französische, einschläfrige Ehebett. Es wirkt belebender –“

August Summer erhob sich, stotterte: „Die Herren gestatten, daß ich mich empfehle. Ich muß meine Braut noch von der Theaterprobe abholen –“

[8] Und weg war er, – überhastet, als fliehe er vor der Hölle.

Als er hinaus war, sagte der Zigarettenraucher, der Assessor Max Scharpka: „Armer Kerl! Seine Eltern verdienten noch heute eine Tracht Prügel für so ne blödsinnige Erziehung! Ich habe nie geglaubt, daß es solche hahnebüchnen Erziehungsprodukte geben könnte, – bis dann dieser Summer hier vor vier Wochen erschien, um die Vorarbeiten für den Bau der neuen Kirche zu leiten. Da hab’ ich denn dieses Unglückswurm gleichsam studiert und schon nach drei Tagen Gott auf Knien gedankt, daß er mir einen Vater beschert hat, der schon zu mir, dem Untersekundaner sagte: „Junge, wie’s mit dem kinderbringenden Storch bestellt ist, das werden Dir schon Deine Freunde beigebracht haben. Ich will Dich nur vor jenen Weibern warnen, die für Geld ihren Körper feilbieten; nicht vor allen. – Sie sind ein notwendiges Übel. Hüte Dich vor einer Vergiftung Deines jungen Körpers. Sei vorsichtig!“ – Er hat dies Thema noch weiter ausgesponnen. Und seine Offenheit hat mir wahrlich nicht geschadet. Gewiß – ein Duckmäuser bin ich nicht, aber auch kein Wüstling. – Wenn ich mich mal verlobe, dann wird’s –“ Er schwieg, hüstelte, lachte verschmitzt.

Und der Gymnasialdirektor Berg rief: „Was heißt [9] das, Scharpka: „Wenn ich mich mal verlobe!“ – Sie sind doch verlobt, tragen einen Ring, erzählen, schwärmen überall von Ihrer Braut, haben ja auch mindestens sechs Bilder in Ihrem Arbeitszimmer stehen –“

Der Assessor schaute sich um. Der Kellnerjunge war nicht da. Dann meinte er leise:

„Bitte um Ihr Wort, meine Herren, daß Sie reinen Mund halten – gegen jedermann. – Danke – die Versicherung genügt mir. – Ich bin nicht verlobt. Der Ring ist Messing vergoldet. Die Photographien meiner „Braut“ sind die meiner letzten Berliner Freundin. Ich gebe mich seit meinem Assessorexamen stets als verlobt aus. Das hat seine großen Vorteile. – Man vergleiche nur hier: als ich vor drei Monaten zur Vertretung hier nach Bernburg kam, nahm man mich überall freundlich auf. Ich erwecke in töchterreichen Familien keinerlei Hoffnungen. Ich blieb für alle der angenehme Gesellschafter. – Und Summer?! Die Frau Steuerrat nennt ihn nur „Heuchler, Familientäuscher“, die Frau Sanitätsrat nur noch einen „betrogenen Betrüger“ – und so fort. Mir sind alle diese Ehrentitel erspart geblieben. Die jungen Damen verkehren mit mir ganz harmlos, geben sich mir gegenüber, wie sie wirklich sind, und so lerne ich jede ganz genau kennen, während Summer immer nur die frisch lackierte Hülle gezeigt wurde. Allerdings [10] – er hätte ja nie Spreu vom Weizen zu scheiden verstanden. Und nun – ist er verlobt.“

„Das heißt: verlobt worden!“ meinte der Tierarzt Doktor Grüttner, der ein entzückendes Frauchen hatte. „Meine Else ist ja dabei gewesen. Aber – ich will mir den Mund nicht verbrennen –“

Schucht-Schuft winkte mit der Hand ab. „Brauchen Sie auch nicht, Doktor. Das pfeifen ja die Spatzen von den Dächern. Doll muß’s gewesen sein! – Ja – die Frau von Blüler versteht’s –“

Direktor Berg bat um Einzelheiten. – „Gut,“ meinte der Rat. „Aber – Diskretion Ehrensache. – Ich hab’s von meiner Anna, meiner Wirtin; und die hat’s von der Köchin von Blülers – also totsichere Quelle – Die Geschichte war so: Damenkaffee bei Blülers; zum Abendessen auch ein paar Herren, natürlich nur Kandidaten für die beiden Mädels – pardon, jungen Damen – Summer als lohnendstes Objekt wird für halb sieben gebeten, erscheint, legt im Flur ab, und die Köchin muß ihn in das dunkle sogenannte Rauchzimmer bringen, wo Klärchen bereits – weinend am Fenster saß, weiter Krokodilstränchen vergoß, bis der total vertatterte Baumeister schließlich wohl fragte, was ihr fehle. Und da wird sie sich an ihn geschmiegt haben, und dann kam die teure Mama, holte flugs die [11] ganze Damengesellschaft, drehte das Licht an – und da saß Klärchen ihm auf dem Schoß: Verlobung fertig! – Ja – schlau muß man sein, nur schlau. – In einem Roman finden Sie so was selten, meine Herren. Da lieben sie sich immer bis zum Verrücktwerden – ganz keusch natürlich, und nachher – „schenkte Gott ihnen einen Sohn –“ – auch ganz keusch. – Alles Schwindel, meine Herren! Wie anders könnten die meisten Ehen sein, wenn die Männer nicht so dämlich wären und so – schüchtern, so ängstlich vor der Ehe – vor der Ehe. Der Durchschnitt heiratet ja, ohne auch nur im entferntesten zu wissen, ob das Bräutchen ihn auch nicht enttäuschen wird. Und nachher haben sie dann so ’n Geschöpf auf dem Halse, das ihnen nichts anderes ist als – Reinmachefrau und Köchin, nur nicht – Geliebte. – Alles Schwindel –“ –

Inzwischen wanderte August Summer durch das Schneegestöber und die halbdunklen, holprigen Straßen nach dem Hotel Prussia, wo der Bernburger Gesellige Verein jetzt wieder einen Theaterabend vorbereitete. – Der Schnee zerrann ihm auf dem heißen, empörten Gesicht, dem braven Baumeister, und wütend murmelte er: „Nie wieder an den Stammtisch, wo dieser Schucht-Schuft den ordinären Ton angibt – nie wieder!“ Und er dachte an sein zartes, zärtliches, reines Klärchen, [12] das ihm nur ganz selten einen Kuß bewilligte und das stets aus dem Zimmer lief, wenn die Mama von der baldigen Hochzeit sprach. Ja – noch vier Wochen. – Dann war er Ehemann.

Aber – er freute sich nicht auf den großen Tag. – Nein – ihm graute so etwas davor. – Denn – dem Tage folgte ja die Nacht. Und was er da mit Klärchen beginnen sollte, besser, wie er’s anstellen sollte, wirklich Ehemann zu werden, das – das war ihm vorläufig noch unklar. Mut gehörte dazu – erprobter Mut. – Und – er hatte ja nie in seinem Leben geprobt. Er hatte stets nur gearbeitet und gearbeitet, um das durch Fleiß zu ersetzen, was ihm an Begabung fehlte. Leider hatte stets recht viel gefehlt. Und trotz aller Ochserei waren seine Examina stets recht mäßig gewesen.

So schritt er dem Hotel Prussia zu. Und nach langem Grübeln kam er zu dem Entschluß, sich vertrauensvoll an den Assessor Scharpka zu wenden. Der war ja auch verlobt, und der meinte es gut mit ihm; das fühlte er. Scharpka hatten sicherlich schon häufig – geprobt, und daher würde er ihm fraglos so einige Winke geben können – von wegen: wie, wann, wo, wie lange – und so weiter. –

Klärchen von Blüler – der Papa war verkrachter Rittergutsbesitzer, jetzt Agent für all und jedes, Spieler [13] und Schürzenjäger, aber ein prächtiger Mensch trotz alledem – stand mit dem Regierungsreferendar von Schlitz in dem kalten, dunklen Garderobenraum hinter der Bühne und – fror doch nicht.

Zu sehen war von den beiden nichts. Es war wirklich ganz dunkel in dem einfenstrigen Zimmer, in dem es nach Staub, Parfüm, Schminke und Zigaretten roch.

Klärchen weinte leise. Heute echte Tränen. Man hörte sie klagen: „Ach, Egon, – ich konnt’ ja doch nicht anders. Du hättest mich ja doch nie geheiratet – mit Deinen Schulden, wo ich doch nur die Ausstattung kriege. Und – alte Jungfer will ich doch nicht werden. – Egon, sei lieb zu mir, ich beschwör’ Dich. Ich bleibe Dir treu – so lange Du willst –“ Sie weinte stärker.

„Dummchen,“ meinte der lange Schlitz. „Dummchen – treu bleiben! Nach vier Wochen bist Du Frau Summer. Und dann – dann bin ich erledigt, ohne daß Du mir je auch nur ein bißchen mehr erlaubt hast, als mal – Dir in Deine Wade zu kneifen –“

Klärchen schwieg, schmiegte sich enger an ihn, flüsterte dann: „Wir – wir waren ja nie – recht allein –“

„Oho!“ verteidigte er sich. „Nicht allein?! – Nein – Du warst vielmehr stets so gräßlich prüde, mein Stüpschen, daran lag’s –!“

[14] „Nenn’ mich doch nicht immer Stüpschen. Was kann ich für meine Stupsnase –“

Er hörte nicht hin. Er tastete mit der linken nach dem alten Glanzledersofa, setzte sich dann, zog sie auf den Schoß, küßte sie, preßte sie an sich – mit der Linken.

Es war gut, daß es hier so finster war. Klärchen hatte nämlich sehr bald allen Grund, sehr rot und verlegen zu werden. Aber – sie hielt still – und küßte wieder, bat dann nur flehend: „Oh – Egon – wenn jemand kommt – sei doch vernünftig – ich flehe Dich an. Sei nicht – so – so wild – Egon! – Lisa fährt morgen auf drei Tage zu Schönburgs aufs Gut, – dann bin ich allein oben in unserer Erkerstube. – Dann – dann –“

Sie schrie auf, riß sich los, flüchtete zur Tür, schlüpfte hinaus hinter die Kulissen.

Man probte gerade den zweiten Akt eines Birch-Pfeiffer-Stückes, in dem „sie“ sich zum Schluß natürlich kriegten – nebst zwei anderen Paaren.

Schlitz folgte, klemmte das Monokel fester, näselte dann, da die Frau Apotheker Gruber ganz in der Nähe stand:

„Gnä’jes Fräulein müssen mit mehr Temperament die Rolle spielen –“

[15] Da flüsterte ihm Klärchen zu: „Dein Schlips sitzt ganz schief – Du. – Sieht man mir was an?“

„Nischt – reineweg nischt, Stüpschen. – Übrigens, da ist ja eben auch Dein teurer Geliebter erschienen. Geh’, gib ihm die Pfote. Aber keinen Kuß! Er könnte noch meine Zigaretten schmecken –“

„Der?! – Hast Du ne Ahnung, Egon! So wie der küßt! – Addio, Langer. Also morgen. Um elf – pünktlich. Ich laß Dir den Hausknochen am Bindfaden herab. Zieh’ aber gleich unten die Schuhe aus. Mama hat so’n leisen Schlaf, wenn sie nicht genug Kognak im Hause hat. Und heute war keiner da, und der Kaufmann pumpt nicht mehr –“ –

August Summer putzte seine goldene Brille. Ohne Brille sah er so gut wie nichts. Er hatte die Gummischuhe anbehalten, und seine an den Knien weit ausgebeulten Beinkleider legten sich in charaktervollen Harmonikafalten auf diese Gummigaloschen. In seinem dünnen, langen Schnurrbart hing noch Schnee. Und sein gelb und grün gestrafter Schlips hatte vorn einen großen nassen Fleck.

Er erkannte sein Klärchen nicht eher, bis sie ihn ansprach:

„Tag, Du. Nett, daß Du gekommen bist. Ich habe mich schon so gesehnt –“ Wonach – das ließ sie offen.

[16] Sie gab ihm die Hand, nachdem er schnell seine Brille aufgesetzt hatte. Dann brachte sie ihn zu der Mama, die mit der Frau Landrat vor der Bühne saß und über Lisas Heiratsaussichten sprach.

August Summer küßte den Damen die Hände – sehr ungeschickt, was beiden sehr unangenehm war, denn der Tatarenschnurrbart hatte auf den Handrücken feuchte Spuren hinterlassen.

„Wie geht’s, lieber Sohn?“ meinte Frau von Blüler süßlich lächelnd. Ihr Gesicht flammte zumeist in verdächtiger Röte, und die böse Fama wollte wissen, daß sie ihrem Mann wacker geholfen hätte, das Rittergut – durch die Gurgel zu jagen.

„Danke gehorsamst, liebe Mama,“ stotterte er in tödlicher Verlegenheit, denn er hatte gesehen, wie die Frau Landrat sich die nasse Hand sehr deutlich abtrocknete.

Dann nahm Klärchen ihn beiseite. „Gusti, Du hättest die Gummischuhe ablegen können,“ sagte sie mild. „Du wirst Dich sonst nachher draußen erkälten. Und morgen gehen wir und kaufen zusammen einen anderen Schlips. Schade – dieser Grün-Gelbe ist jetzt leider ganz naß, und die Farben werden verlaufen. Er war so geschmackvoll. Aber ich liebe doch mehr die einfarbigen, lieber Gusti.“

[17] Da trat Egon von Schlitz hinzu.

„’n Abend, Herr Regierungsbaumeister. Lange nicht jesehn. Wie steht’s? – Ob ich mitspiele – Jott bewahre! Meine Cheffeuse, die Landrätin, hat mich mit herjeschleppt. Ich bin für’s Theater totaliter talentlos. Ich könnt’ nicht mal ’n Schirmständer mimen, würde sicher umfallen vor Kulissenfieber – Tatsache!“

„Ja – ja, deshalb habe ich ja auch ablehnen müssen, mitzuwirken,“ meinte Summer eifrig. „Also Sie leiden auch an Kulissenfieber? Das hätte ich nicht gedacht – wirklich nicht –“

„Oh – ich bin schüchterner, als Sie sich’s vorstellen können. Bei mir macht’s nur die Energie – Tatsache! – Versuchen Sie’s nur mal. Nehmen Sie sich recht fest vor: Jetzt bin ich nicht schüchtern! – Dann geht’s schon. – Soeben sprach ich auch mit Ihrem Fräulein Braut über dieses Thema. Fräulein Klara hat jetzt ebenfalls die Überzeugung gewonnen, daß ich zuweilen kaum weiß, wo ich die Hände lassen soll – Tatsache!“

Der lange Schlitz machte dazu ein so todernstes Gesicht, daß Klärchen sich schnell abwandte und das Losprusten durch ein falsches Hatschi! verdeckte.

Summer nickte hocherfreut. „Sehen Sie, so geht’s auch mir sehr oft! Die Hände sind mir geradezu lästig. [18] Am liebsten trage ich stets etwas. Dann hat man sozusagen einen Halt –“

„Ganz recht – oder man faßt etwas an – sei es, was es sei, – ich meine, man stützt sich darauf – auf einen Stuhl, ein Ledersofa, – na – es gibt ja so vieles, was sich anfassen läßt –“ –

Nachher brachte Summer Schwiegermutter und Braut heim. Und als er dann vor dem Hause anlangte, in dem auch Assessor Scharpka zwei möblierte Zimmer bewohnte, sah er hinter dessen Fenstern noch Licht.

Da faßte er sich ein Herz und klopfte noch bei Scharpka an, um – über hochzeitliches Benehmen sich belehren zu lassen.




[19]
2. Kapitel.
Hochzeitslehren.

Der Assessor hatte sein möbliertes Arbeitszimmer, obwohl er doch so alle drei Monate anders wohin zur Vertretung eines erkrankten oder sonstwie beurlaubten Kollegen geschickt wurde, sehr behaglich mit Hilfe einer Menge Sachen, die er stets in zwei Holzkisten mit sich schleppte, herausstaffiert. Er besaß Geschick dazu, und er liebte ein gemütliches Heim. Die meisten dieser Dekorationsgegenstände waren ebenso eigenartig wie wertvoll, alles eben Andenken an Reisen, die Scharpka selbst bis nach China hingeführt hatten – heutzutage nichts Besonderes mehr, da man ja von Berlin in knapp drei Tagen mit der sibirischen Bahn bis an die Gestade des Stillen Ozeans gelangen kann. Die guten Bernburger [20] hatten sowohl dieser Reisen als dieser kostbaren Reiseandenken wegen dem Assessor zunächst ein Riesenvermögen angedichtet, bis er achselzuckend erklärt hatte, leider wäre das nicht der Fall, und die Reisen hätte er stets nur als Gast eines prinzlichen Freundes sich leisten können.

Der Assessor, der gerade einen Brief geschrieben hatte, empfing den Baumeister ehrlich erfreut.

Ihm tat Summer leid. Ganz besonders deswegen, weil dieser ausgerechnet auf Klärchen hineingefallen war, deren wahren Charakter Scharpka sehr bald durchschaut hatte. Aber auch sonst. Der Baumeister war ja fraglos ein hochanständiger, wenn auch für diese miserable, verderbte Welt völlig unbrauchbarer Mensch.

„Nehmen Sie Platz. Schade, daß Sie nicht rauchen, Verehrtester –“ meinte er und deutete auf einen der alten Plüschsessel am Mitteltisch. „Ein Laster muß nämlich jeder haben – mindestens!“ scherzte er, um die feierliche Miene seines Gastes etwas aufzuhellen. „Wir können unmöglich als reinblütige Tugendbolde durchs Leben pilgern – wirklich nicht. Da werden wir ja uns und den lieben Mitmenschen langweilig, – Tatsache! Sie sehen, dieses Bekräftigungswort habe ich mir leider bereits durch den häufigen Umgang mit Egon von Schlitz-Bilgenstein angewöhnt. – Aber ein Glas Wein [21] müssen Sie trinken – müssen! – Nein, mein lieber, keine Widerrede. – Zumal es sich um einen Roten handet, der erstklassig ist –“

„Entschuldigen Sie, aber zu dem, was mich hergeführt hat, paßt wirklich kein Getränk der Leichtfertigkeit –“

„Nanu?! – Das klingt ja, als ob Sie mir den Tod eines lieben Verwandten mitteilen wollten –“

„Es handelt sich auch um eine sehr – ernste Angelegenheit, die mir schon seit Tagen die Ruhe nimmt –“ Summer stotterte schon wieder etwas. Aber Scharpka hatte Mitleid mit ihm, half ihm liebenswürdig, sagte herzlich:

„Legen Sie sich keinen Zwang auf. Tun Sie, als wäre ich Ihr Beichtvater oder Ihr Rechtsanwalt. Diskretion Ehrensache – selbstredend. – Aber – ein Glas von meinem Rotspon müssen Sie doch kosten. – So – funkelt der nicht geradezu prächtig. Und die Blume – dieser feine Duft! – Prosit, Baumeister. – Machen Sie ein anderes Gesicht! Einen Mord haben Sie ja kaum auf dem Gewissen. Mithin wird die Beichte Ihnen wohl nicht so arg schwer werden –“

Summer trank. Dann begann er, während der Assessor sich in die Sofaecke neben ihn setzte:

„Ich heirate doch nun in kurzem. – Hm – und – [22] davor habe ich – Angst –“ Er drehte vor Verlegenheit Zöpfchen aus den Fransen der Tischdecke.

„Wovor? – Etwa vor den Pflichten, die jeder Mann mit der Ehe übernimmt, – ich meine – vor den ehelichen Pflichten?“

„Ja. – Sehen Sie, lieber Assessor, ich – ich bin noch nie mit einer Frau nachts in einem Zimmer allein gewesen – noch nie. – Sie verstehen wohl. Und nun, wenn wir uns von der Hochzeitstafel zurückziehen müssen und wenn wir dann in das neue Heim kommen, dann – dann ist es doch Nacht, und wenn man auch noch so lange zögert, schließlich muß man ja doch mal ans Schlafengehen denken, muß – sich neben seine Frau in das andere Bett legen – und – und – Ja – das Weitere ist mir eben ganz – ganz unverständlich. Ich – ich würde mich nie getrauen, zu Klärchen zudringlich zu werden – niemals. Sie ist ja so harmlos, so rein. Letztens, als wir auf ihrem Hofe standen und die Hühner fütterten, und als da plötzlich der Hahn – hm – also der Hahn – sehr frech einer Henne gegenüber wurde, da rief Klärchen: „Ach, Gusti, – jag’ den Hahn doch herunter. Er tut der Henne sicher weh – er scheint so wütend zu sein –“ – Ja – so harmlos ist sie –“

„Kleine Kanaille!“ dachte Scharpka.

[23] „Und – einem so reinen Wesen soll ich nun – soll ich – soll ich – Nein – das kriege ich nie fertig, nie, – oder doch nur, da ’s ja nun doch zu den gesetzlichen Pflichten gehört, nur dann, wenn Sie – Sie mir so etwas helfen dabei – natürlich nicht persönlich, nein – ich meine so – durch gute Ratschläge –“

In diesem Augenblick erscholl unten auf der Straße eine gellende Trillerpfeife.

Scharpka sprang auf. „Es ist Schlitz’ Signal. Darf ich ihn rauflassen, Baumeister? – Wissen Sie, ich glaube, der Egon Schlitz kann Ihnen in Ihrem schwierigen Fall weit bessere Ratschläge geben. Meine Erfahrungen mit der holden Weiblichkeit sind nicht so vielseitig wie die Egons – lange nicht so vielseitig –“ Scharpka hatte keine Ahnung, daß gerade Schlitz derjenige war, der mit dem reinen Klärchen seit Wochen ein zärtliches Techtelmechtel unterhielt.

Dann trat der dünne, patente Schlitz ein.

„’n Abend allerseits. – Ein Sauwetter. – Wenn’s jetzt in Berlin auch so schneestürmt, machen die Jüngerinnen der promenierenden Venus vaflucht schlechte Jeschäfte. – Sie auch noch auf, Herr Regierungsbaumeister? – Ich kann Ihnen nur raten: meiden Sie Scharpkas Bude. Hier jewöhnt man sich’s Saufen an – Tatsache!“

[24] Er warf den eleganten Gehpelz über einen Stuhl, setzte sich in den andern Klubsessel, nahm eine Zigarette aus der Schale, musterte Summer und meinte: „Jott noch mal – machen Sie aber ein Jesicht! Wie ’n Leichenträger –“

Der Assessor wurde nun von Summer gebeten, was wieder nur stotternd geschah, Schlitz „den Fall“ vorzutragen.

Schlitz hörte andächtig zu. Als Scharpka ebenfalls als Beweis für Klärchens absolute Reinheit die Hühnergeschichte erzählte, nickte Schlitz eifrig: „Ja – ja, ganz recht, was Ähnliches hab’ ich mit Fräulein Klara auch schon erlebt – ganz etwas Ähnliches – bei Gallbergs auf dem Gut, als wir zufällig hinzukamen, als der Deckhengst – na – ich will nicht deutlicher werden. – Da tat Ihr Fräulein Braut eine ähnliche Äußerung. – Im übrigen: ich bin bereits genügend unterrichtet, worüber Sie genaue Anweisungen haben möchten. – Hm – das ist nun ein schlimme Sache – besonders da Sie so gänzlich Neuling in derartigen Betätigungen unseres Mannestums sind. Wenn ich Ihnen raten darf: unternehmen Sie zunächst gar nichts! Seien Sie sehr lieb zu Ihrer jungen Gattin, nehmen Sie jede, jede Rücksicht auf ihre Schamhaftigkeit und – warten Sie ab, bis ganz von selbst das enge Zusammenleben [25] gewisse kleine Vertraulichkeiten herbeiführt, bis das Schamgefühl der keuschen Frau langsam abstumpft, und – dann, wenn Sie glauben, endlich etwas weiter gehen zu können, dann – kaufen Sie drei Flaschen Sekt, trinken sie zu zweien aus und – blättern dabei ein wissenschaftliches Werk durch, das sehr viele Bilder hat und das ich Ihnen leihen werde. Es heißt: Die Liebe bei den Naturvölkern.“

Er prostete Summer zu. „Ihr Spezielles! – Jedenfalls ist diese Art, Ehemann zu werden, die vornehmste. Alles Tierisch-Wilde fällt dabei weg; die junge Gattin wird entzückt sein über des Liebsten zarte Rücksichtnahme; ihre Liebe wird wachsen; und aus dem Übermaß der idealen Zuneigung wird allmählich die gesunde Sinnlichkeit aufkeimen, die schließlich in jedem Wesen schlummert –“

Scharpka sagte gar nichts. Er war nicht ganz einig mit sich, ob dieser große Filou, der Schlitz, all das ernst meine oder ob er den armen Baumeister nur aufziehe. Diese „vornehme Art“, Ehemann zu werden, war ja zweifellos diesem Rackerchen von Klärchen gegenüber gänzlich unangebracht. Aber – er konnte Summer doch nicht sagen: „Hören Sie – Ihr reines Klärchen ist meines Erachtens mit allen Salben gesalbt. Und ich halte die andere Methode, die tierisch-wilde, [26] hier eigentlich für die passendere.“ – Nein – das konnte er nicht. Er mußte die Dinge schon ihren Lauf gehen lassen – Schlitz’ Ratschläge waren ja schließlich nicht gerade schlecht. –

Und die Dinge nahmen ihren Lauf.

Während der Hochzeitstafel im Hotel Prussia, die durch die Geldspende eines reichen Onkels der Blülers ziemlich üppig ausgefallen war, trank die teure Schwiegermama außer ihrem Gatten so ziemlich am meisten. Summer saß da wie ein – „Harzer Käse“, – so flüsterte Schlitz dem Assessor Scharpka zu. „Tatsache, Assessor, wie ein Harzer Käse, der schon läuft. – Und Gustichen möchte auch laufen. – Er hat Angst vor dem Kommenden – trotz meiner weisen Lehren –“

Neun Uhr war’s, als der leicht angeheiterte Schwiegerpapa den Herrn Schwiegersohn unter den Arm nahm, in eine Ecke zog und sagte: „Du – Aujust, es wird Zeit, daß Ihr verduftet. – Verstanden! – Mensch, setz’ ne andre Miene auf! Ich glaube gar, Du hast Bammel vor meinem Klärchen. – Du – im Vertrauen, – ich hab’ sie mir heute früh so etwas vorgenommen. – Sie ist darauf präpariert, daß Du noch ein Lämmchen weiß wie Schnee bist und daß – Na kurz – Du brauchst nicht zu zittern wie vorm Duell mit Kugelwechsel über das Schnupftuch. – Also – abmarschiert jetzt, – ganz [27] heimlich drückt Ihr Euch –“ Er preßte ihm die Hand. „Mein Sohn – werde glücklich und mach’ mir mein Kind glücklich –“ Er war nun doch gerührt.

Währenddessen stand die junge Frau Summer mit Schlitz in der anderen Ecke des kleinen Saales.

„Also – Stüpschen, Du weißt Bescheid. So bald er sich in seinem Zimmer auf den Diwan gebettet hat, öffnest Du das Fenster –“

Stüpschen nickte zerstreut, meinte dann: „Wenn er nun aber doch – bei mir bleibt?“

„Ausjeschlossen, Kind. Ich hab’ ihm jestern noch nahejelegt, die ersten Nächte Dich allein zu lassen – das wär’ die vornehmste Art.“

Klärchen zog den Brautschleier nachdenklich durch die Finger, schaute zu Boden. Die Musik – Klavier, Geige, Cello – spielte einen prickelnden Walzer.

Da trat Frau von Blüler zu den beiden. Sie glühte wie ein – Krater, der oben Feuer speit. Auf Schlitz hatte sie seit langem eine Pike. Sie argwöhnte so allerlei, schwieg aber. Letztens gegen Morgen hatte sie wieder jemand die Treppe hinabschleichen gehört; und wieder war ihre Jüngste, die Lisa, damals bei Bekannten auswärts auf Besuch.

Sie entführte jetzt Klärchen diesem – fragwürdigen [28] Menschen und flüsterte ihr zu: „Du, Kind, – Gusti hat Sehnsucht nach seinem neuen Heim –“

Stüpschen war sofort bereit, aufzubrechen. Vor dem Hotel stand schon ein geschlossener Wagen, der das junge Paar nach der Wohnung in der Nähe des Bahnhofs bringen sollte. Diese lag in einem neueren Hause in der ersten Etage rechts, – vier Zimmer, deren Ausstattung ebenfalls der Onkel übernommen hatte. Es goß in Strömen, als der Wagen durch die Straßen rumpelte. Und es war recht kühl noch, obwohl der März seinem Ende entgegenging. August Summer saß da, hatte Klärchens Rechte in seinen kalten Händen und sprach kein Wort. Er fürchtete sich.

Stüpschen aber dachte an den langen Schlitz. Oh – der war ihr längst über geworden – total – gänzlich! So über, daß sie jetzt mit einer gewissen raffinierten Erregung diese Nacht und deren ungeahnte Reize sich in Gedanken ausmalte. Der Schlitz – ach, das war ja ein ganz „ausgekochter“ gewesen. Das hatte sie so an allem gemerkt. So einer mit verschiedenen „Vergangenheiten“. Gewiß – sie hatte von ihm so manches gelernt. Vielleicht war’s ganz gut so, denn – Gusti würde sich heute doch wahrscheinlich ganz so benehmen, wie dieser – verlebte Egon es ihm eingeredet hatte. – Und – das sollte nicht sein, – nein, – sie wollte wirklich [29] seine Frau werden, und es mußte doch recht interessant werden, mal zu beobachten, wie so ein gänzlich Reiner sich benahm. Und überdies: eigentlich hatte sie den Gusti jetzt wirklich lieb. Er war ja so seelensgut. Da mußte man schon ein ganz herzloses Geschöpf sein, wenn man das nicht anerkannte. Und herzlos war sie nicht. Nur leichtsinnig und so etwas abenteuerlustig.




[30]
3. Kapitel.
Die Nacht.

Der Wagen hielt. Sie schlüpften ins Haus. Oben empfing das neue Mädchen sie mit einem Blumenstrauß. Die Anna war keine Unschuld vom Lande – ach nein. Sie war nach Bernburg zu ihrer Tante für vier Monate gekommen – aus Berlin, um hier ein freudiges Ereignis abzuwarten, an dem ein reicher Kaufmann schuld war, der jetzt stets viel Geld schickte. Und da hatte Anna nun diese Stelle angenommen, weil sie dann doch stets zur Tante konnte, um ihr Püppchen zu nähren.

Und nun war das junge Paar im Speisezimmer allein. Dieses grenzte an das Schlafzimmer. Die Tür stand offen. In beiden Räumen brannte Licht.

[31] Gusti sah im Schlafzimmer die beiden Betten dicht nebeneinander – ohne Steppdecken – abgedeckt, und auf dem einen Kopfkissen lag etwas Langes, Weißes, Spitzenbesetztes: Stüpschens Nachthemd.

Und unter jedem Bett grinste höhnisch ein hellrosa Fleck. Das waren die bekannten Porzellangefäße, die nun mal zum Schlafzimmer gehören.

Gusti wirbelten die Gedanken im Kopf wie ein Wespenschwarm. Er stand da, verlegen, rot, – dachte: „Nun mußt Du Deinem Klärchen doch ein paar liebe Worte zur Begrüßung sagen –“

Aber ihm fiel absolut nichts ein.

Stüpschen schaute ihn an. Sie ahnte, was in ihm vorging. Sie bedauerte ihn. Sie kam sich plötzlich im Vergleich zu ihm so bodenlos schlecht vor. Und – etwas wie Haß gegen Schlitz keimte in ihr auf.

Da ging sie um den Tisch herum, legte ihrem Gusti die Arme um den Hals, küßte ihn, stammelte dann:

„Ich – will Dich stets lieb behalten – stets! Und nie werde ich Dich betrügen –“

„Betrügen?“ stotterte er. „Betrügen? Wie – wie meinst Du das?“

„Betrüben – betrüben – sagte ich, Gusti, – nicht betrügen –“ Und sie küßte ihn wieder.

Dann mußte er ihr Kranz und Schleier abnehmen, [32] mußte ihr aus dem Schrank im Schlafzimmer einen Morgenrock holen.

„Zieh Dir doch den Frack aus,“ sagte sie leichthin. „Tante Asta hat Dir doch die hübsche Hausjacke mit den blauen Aufschlägen geschenkt –“

Er fand diese Jacke geradezu unmoralisch. Aber – er zog sie an. Nun mußte er ihr das Brautkleid aufhaken. Er benahm sich furchtbar ungeschickt. Sie lachte vergnügt. Und wenn er vier Haken bewältigt hatte, bekam er einen Kuß.

Nach den ersten sechzehn Haken sah er dann etwas, das ihm heiße und kalte Schauer über den Leib trieb – einen zarten, bloßen Nacken, Spitzen, Teile eines Mieders.

Und – als Klärchen sich nun umdrehte und ihn küßte, da sah er noch mehr. Und da wurde ihm so schwindelig, daß er sich setzen mußte.

„Mir – mir ist nicht gut,“ stöhnte er mit niedergeschlagenen Augen.

Stüpschen holte aus dem Büfett die Kognakflasche, schenkte ihm gleich ein halbes Weinglas voll.

„Trink’! – Bitte trink’ aus, Schatz –“ Und er tat’s.

Ach – der Kognak klärte so schnell die Gedanken.

[33] Und als Klärchen nun den duftigen Morgenrock überzog, da schielte er bereits ein wenig hin.

Dann mußte er ihr die Pantöffelchen holen, mußte ihr die weißen Schuhe ausziehen, ihr die Füßchen kneten. „Sie sind so kalt,“ klagte sie. „Auch die Enkel[ws 1], Schatzi, – bitte – erwärme mir auch die ein wenig –“

Er kniete jetzt vor ihr. Und sie raffte die Röcke höher und höher. Und wieder wurde ihm schwindelig, wieder bekam er Kognak – aber nur ein viertel Weinglas voll.

Dann gingen sie durch die neue Wohnung. Sein Arbeitszimmer lag nach der Straße hinaus neben dem Salon. Und dort stand ein breiter Diwan mit einer Decke von Eisbär – imitiert.

Klärchen schickte ihn abermals nach dem Schlafzimmer.

„Hol’ mir bitte meine Gitarre. Sie liegt oben auf dem Schrank –“

Und nun hockte sie wie ein kleiner Kobold auf dem Diwan, zupfte eine Melodie und sang leise dazu:

 „Wenn zwei sich lieben,
So steht’s geschrieben,
Dann pochen die Herzen,

[34]

Erlöschen die Kerzen
Im trauten Gemach –“

Sie hörte plötzlich auf.

„Du, Schatzi, – Du gibst ja gar nicht acht auf das, was ich singe. Also, Du, wenn ich singe: „Erlöschen die Kerzen,“ dann mußt Du das Licht ausdrehn – verstanden?“

Er gehorchte. Und ihm war dabei gar nicht mehr so ängstlich zumute. Und sie sang im Dunkeln weiter:

„Wenn zwei sich lieben,
Innig sich lieben,
Dann kommt das Sehnen,
Kommt süßes Stöhnen,
Kommt er zu mir –“

„Du – Schatzi, Du paßt schon wieder nicht auf. Jetzt mußt Du doch –“

„Ah – das Licht andrehn –“

Ein silbernes Lachen. „Nein – zu mir kommen. – So komm’ doch –“

Und er kam. Und Stüpschen legte die Gitarre weg, kletterte auf seinen Schoß, schmiegte sich an ihn.

Gusti durfte jetzt nicht schwindelig werden, sonst [35] wären sie ja beide vom Diwan hinabgeplumpst. Und seltsam – im Dunkeln war er gar nicht so schüchtern, wie er gedacht hatte, zumal Klärchens Küsse alle guten Vorsätze hinwegwischten – alles, was Schlitz geraten hatte – alles. Ja – sogar ein wenig brutal wurde er. Aber Klärchen reizte ihn auch dazu, behauptete plötzlich, stärker als er zu sein. Es kam zu einem ganz kurzen Ringkampf, zu viel Lachen, viel Küssen.

Und plötzlich wurde es ganz still im dunklen Zimmer – ganz still. –

Eine halbe Stunde später trug Gusti mit starken Armen sein Klärchen hinüber ins Schlafzimmer. Und sie kuschelte sich an ihn, schnurrte wie ein Kätzchen und dachte: „Der Schlitz, der kann mir fortan gestohlen bleiben.“ –

Egon von Schlitz war gleich nach der Tafel mit Scharpka in ein Nebenzimmer in eine gemütliche Ecke geflüchtet, rauchte seine Zigarette und brummte:

„Der Deubel hole die Lisa von Blüler. Wieder hatte die Alte sie mir zur Tischdame gegeben. So’n verliebtes neunzehnjähriges Schäfchen. – Übrigens drücke ich mich sehr bald. Ich schütze Kopfschmerzen vor. Tanzen ist mir gräßlich. Tatsache!“

Der Assessor schaute ihn von der Seite an. „Schlitz – ich hab’ Sie beinahe im Verdacht, daß Sie für diese [36] Nacht irgend einen Gaunerstreich planen. Hm – ich sah da vergangene Woche so gegen halb zwölf nachts jemand den in das Blülersche Haus schlüpfen. Dieser Jemand war sehr lang. Hm – ob Sie etwa – Na, kurz und gut, Schlitz: Lassen Sie jetzt die Finger von dem Klärchen weg. Wirklich – es wäre ein gemeiner Streich, wollten Sie heute etwa das zu Ihrem Vorteil ausnutzen, was Sie damals dem armen Summer rieten. – Ich spreche ganz freundschaftlich zu Ihnen – Tatsache!“

Egon machte plötzlich ein sehr – sehr offizielles Gesicht, erhob sich, meinte kalt:

„Gemeine Streiche begehe ich nie. Daß der Baumeister ein so ausgewachsenes Rindvieh ist, dafür kann ich nicht. Und – in meine Angelegenheiten lasse ich mir von keinem dreinreden. – Hab’ die Ehr’ –“

Er ging davon.

Scharpka pfiff leise durch die Zähne. „Dieser Schlitz ist ein ziemlich übler Patron. Habe ihn bisher falsch eintaxiert. – Wenn ich recht hätte?! Wenn er wirklich etwa gerade diese Nacht – Pfui Deubel – das wär’ eine Lumperei!“

Er folgte Schlitz. Aber – der war schon verschwunden. Scharpka fragte Lisa von Blüler nach ihm.

Die hatte die Augen voll Tränen. – „Denken Sie, [37] Herr Assessor, – schreckliche Migräne hat er plötzlich bekommen – angeblich. Nun bin ich meinen Tänzer los –“

„Keine Sorge, Fräulein Lisa. Ich als Verlobter war ja ohne Tischdame. Ich werde so viel tanzen, daß Sie ein wenig entschädigt werden. Freilich – ich bin ja nicht Egon –“

Da schaute sie ihn offen an. „Ach – zu Ihnen haben ja alle so viel Vertrauen. Sie sind ja auch Bräutigam. – Ich bin so unglücklich. Ich liebe Schlitz. Und er – er muß wohl heimlich Klärchen sehr verehrt haben, sonst hätte er ihr nicht einen seiner Manschettenknöpfe als Andenken geschenkt. Ich fand den Knopf in unserem Mädchenstübchen in – Klärchens einem Halbschuh versteckt –“

„Ahnungslose Seele!“ dachte Scharpka.

Dann belegte ihn die Landrätin mit Beschlag. Neben ihr saß Fräulein Toni Renner, eine der Lehrerinnen der Bernburger höheren Töchterschule.

Die Frau Landrat war Tonis mächtige Gönnerin. Sie hatte für das ernste, schöne, kluge Mädchen geradezu eine Schwäche. Sie hätte sie gern gut verheiratet. Aber – Toni Renner schien sehr wählerisch zu sein. Drei Freier, die die Landrätin im Laufe des letzten Jahres glücklich aufgetrieben, hatten sich über so geringes [38] Entgegenkommen vonseiten der jungen Lehrerin zu beklagen, daß sie bald wieder – abschnappten, worüber die Frau Landrat so untröstlich gewesen, daß sie zu Toni gesagt hatte: „Aber Kind – auf die Weise bekommen Sie nie einen Mann. Kind, lassen Sie sich warnen: das Alter ist nur zu schnell da, – und dann auch die Reue, weil man so große Ansprüche stellte –“

Und da hatte Toni ehrlich erwidert: „Ohne Liebe heirate ich nicht. Dann bleibe ich lieber allein. Ich muß wissen, daß ich auch mit ganzem Herzen an dem Manne hänge, dem ich mich zu eigen gebe – nicht nur mit dem Verstande.“ –

Die Landrätin hatte noch einen Schützling: Scharpka! – Nein – der war ihr doch mehr jüngerer Freund, mit dem sie gern plauderte. Sie war eine welterfahrene Frau, und sie hatte sehr bald herausgemerkt, daß der Assessor trotz all seiner Lebemannsgewohnheiten tiefer veranlagt war, als weniger gute Menschenkenner es herausfühlten.

Auch jetzt hatte sich zwischen den dreien sehr schnell eine rege Unterhaltung entsponnen. Dann rief der Landrat seine Gattin zu sich, hakte sie unter und führte sie zu Bekannten.

Scharpka sprach mit Toni Renner über Berlin. Beide liebten sie die Großstadt; beide hatten in Berlin [39] Jahre zugebracht. Toni meinte plötzlich: „Sie haben dort ja auch wohl alles, wofür Ihr Herz schlägt: Ihre Braut –“

Da war er etwas verlegen geworden. – Braut – ja – eine Braut, die er nur als Abschreckungsmittel erfunden hatte.

„Erzählen Sie mir von Ihrer Braut, Herr Assessor,“ bat sie jetzt. „Wir beide sind doch hier in Bernburg schnell gute Kameraden geworden. Deshalb werden Sie diese Bitte nicht als bloße Neugier auffassen. Schon längst wollte ich –“

Sie sah, daß er rot wurde. – Nicht nur deshalb, weil er daran dachte, er müßte Toni Renner jetzt belügen, war ihm das Blut zu Kopf geschossen. Belügen. Denn er hätte ja allerlei Einzelheiten erfinden müssen über jemanden, der nicht existierte. – Nein – nicht nur deshalb. Andere Gedanken waren blitzartig in ihm aufgestiegen: Toni Renner fragte nach der, die er liebte. Warum? Schon zuweilen hatte es ihm geschienen, als ob sie ihn heimlich mit besonderen Blicken anschaue – ganz heimlich, als ob in diesen Blicken verstecktes Sehnen lag. – Und jetzt – jetzt plötzlich tauchte in ihm die Vermutung auf: Wie, wenn sie eine stille, tiefe Neigung zu Dir gefaßt hätte; wenn sie nun, halb um sich selbst zu quälen, halb um „seine Braut“ sich [40] schildern zu lassen – vielleicht um sie mit sich selbst zu vergleichen, diese Bitte an Dich gerichtet hätte? –

Und da sagte Toni Renner auch schon leise: „Zürnen Sie mir ob dieser Bitte? – Ihr Gesicht sieht so verändert aus plötzlich –“

„Ich – ich spreche nicht gern über meine Braut,“ erklärte er schnell. Und dann fügte er absichtlich hinzu: „Nicht alle Verlobungen sind glücklich. Ich gehöre auch zu denen, die die Welt in dieser Beziehung zu täuschen suchen –“ Er schauspielerte recht gut. Und – er erreichte seinen Zweck.

„Mein Gott – sind Sie wirklich etwa – unglücklich?“ entfuhr es dem schönen, schlanken Mädchen, und aus ihrer Stimme klang deutlich ein tiefes Mitleid, Herzensangst und auch etwas wie schwermütiges, eigenes Weh hindurch.

„Und wenn ich’s wäre, Fräulein Toni? – Auch Sie könnten mir nicht helfen,“ meinte er – und wieder gelang es ihm, den richtigen Ton zu finden.

„Nein – ich – könnte Ihnen nicht helfen,“ wiederholte sie selbstvergessen. Und ihre Augen schienen dabei sein Gesicht zu streicheln.

Nun – nun hatte er Gewißheit! – Kein Zweifel: sie liebte ihn!

Und er? Weshalb war er denn so glücklich über [41] diese Offenbarung?! Weshalb wohl?! – Da ging auch ihm eine große Erkenntnis auf: An Seelenharmonie zwischen ihnen beiden hatte er ja längst geglaubt! Aber – nie hatte er seine Gefühle genauer geprüft. Und gerade heute, an August Summers Hochzeitstag, kam ihm nun die Erleuchtung!

Da setzte die Musik zum ersten Walzer ein.

Kaum hatte Tonis Tischherr sie an ihren Platz zurückgeführt, da verbeugte Max Scharpka sich vor ihr.

Und als er den Arm um sie legte, zog er sie ganz fest an sich. Und sie sträubte sich nicht gegen die enge Berührung. Sie tanzte – er sah’s nur zu gut – mit Tränen in den Augen.

Tränen, die der heimlichen, aussichtslosen Neigung galten.

Ihm schwoll das Herz vor Jubel in der Brust. – Gefunden, dachte er, – gefunden die, die Dich um Deiner selbst willen liebt, die nicht auf Deine Millionen spekuliert, – endlich gefunden!

Und als Toni Renner dann in ihrem bescheidenen Stübchen den Hochzeitsstaat ablegte, als der graue Alltag wieder nach dieser Nacht begann, wo Max Scharpka so unendlich lieb wie der beste, treueste Freund zu ihr gewesen, da wühlte sie plötzlich den Kopf in die Kissen ihres einsamen Lagers und schluchzte: „Wenn er nur [42] glücklich würde! Auch mit einer anderen. Aber glücklich. Und wenn Du nur ein einziges Mal ihn küssen dürftest, nur einmal an seinem Herzen ruhn. Dann hättest Du ja eine Erinnerung als Trost für das, was Deiner wartet: eine glücksarme Zukunft.“




[43]
4. Kapitel.
Das Komplott.

Egon von Schlitz lag im Fenster seines Schlafzimmers, hielt einen aufgespannten Schirm über sich und schaute immer wieder zu den beiden Fenstern ein Stockwerk tiefer hinab.

Dort mußte sich ja nun bald der eine Flügel öffnen und eine winkende Hand erscheinen.

Es goß noch immer in Strömen. Und es war auch noch genau so kalt wie vorhin, als das junge Paar nach Hause fuhr.

Egon fror – wie ein Dutzend Schneider. Er fluchte leise auf das Sauwetter, auf Scharpka, den Tugendbold, auf die ganze Welt.

Und er fluchte schließlich auch auf Stüpschen.

[44] Zum Teufel – weshalb erschien der Arm nicht? Sollte etwa dieser August Summer all die Ratschläge in den Wind geschlagen und …

„Ausgeschlossen,“ tröstete Egon sich und hielt den Schirm tiefer, denn der Regen sprühte ihm ins Gesicht, und das wirkte noch abkühlender. „Ausgeschlossen – der fade Gusti, – wo sollte der wohl den Mut hergenommen haben, gleich am ersten Abend Rechte geltend zu machen, auf die er früher so gern verzichtet hätte.“

Egon fror und wartete. – Vom Kirchturm schlug’s Mitternacht.

Noch immer nichts! Die beiden Fenster unten blieben geschlossen; die Vorhänge waren zugezogen.

Egon packte plötzlich eine Wut – eine Wut! Er klappte die Regenspritze zusammen, schmetterte das Fenster zu, drehte das Licht an, sah seinen Frack auf dem Bett liegen.

Ha – ein Gedanke. Rache! – Ja – er würde sich rächen! Stüpschen sollte vor Eifersucht vergehen.

Und zehn Minuten später betrat er wieder das Hotel Prussia, meldete sich bei den Brauteltern mit tadeloser Verbeugung zurück, erklärte harmlos:

„Kopfschmerzen sind weg. Habe Pulver genommen. Gleich ne ganze Schachtel voll.“

Frau von Blüler blieb kühl, obwohl sie jetzt so [45] ziemlich die Höchstgrenze ihrer Alkoholaufnahmefähigkeit erreicht hatte und dementsprechend glühte. – „Sehr nett, daß Sie wiedergekommen sind,“ meinte sie und wandte sich wieder der Landrätin zu. Egon verschwand. Und Frau von Blüler sagte zu ihrer Nachbarin: „Man weiß nie, woran man mit diesem Schlitz ist! Sehen Sie nur – gleich stürzt er nun auf meine Lisa los, als ob … – Das arme Kind. Wäre der Mensch nie hierher gekommen. Er muß ja reich heiraten. Schulden soll er haben – Schulden! Kein Wunder übrigens – bei seinen Lebensansprüchen –“

Da lachte die Landrätin. „Meine Liebe, – Schulden?! Glauben Sie doch nicht an das Märchen! Ich habe erst vorgestern zufällig die Wahrheit erfahren. Er stammt ja aus dem Westen, aus der Rheinprovinz. Seine Eltern sind tot. Er besitzt Millionen – übrigens genau so wie unser Assessor Scharpka, der sich auch stets als bettelarm ausgibt. Bei Schlitz ist das vielleicht verständlich. Er will die Damen abschrecken. Ein verschuldeter Freier ist nie gern gesehen. Aber bei Scharpka?! Den begreife ich nicht recht. Als Bräutigam fällt bei dem doch –“

Frau von Blüler verlor trotz energischer Alkoholvertilgung nie die klare Überlegung. Sie hörte gar nicht mehr darauf hin, was die Landrätin sprach. In [46] ihrem mütterlichen Herzen dröhnte jetzt eine Riesenglocke: Millionen – Millionen – Millionen.

Mein Himmel, – wenn’s doch nur ein Mittel gäbe, diesen Schlitz irgendwie für die Lisa einzufangen! Lisa war doch weit hübscher als Klärchen. Und Lisa war auch klüger, war berechnender. Und – sie liebte diesen langen, eleganten Menschen mit der ganzen Schwärmerei ihrer neunzehn Jahre.

Wenn’s doch nur ein Mittel gäbe.

Und sie ließ sich Brauselimonade bringen. Trank drei Flaschen hintereinander. Sie wollte einen ganz klaren Kopf haben.

Sie beobachtete Schlitz. Sie sah, daß er Lisa geradezu auffällig die Tour schnitt; daß Lisa in tausend Seligkeiten schwamm.

Schade, daß Schlitz kein Summer ist, dachte sie. Bei dem Gusti war’s so leicht, die Verloberei. Aber Schlitz – dieser mit allen Hunden gehetzte Lebejüngling – da mußte man schon etwas ganz Besonderes erfinden, eine Falle, die unweigerlich das Opfer festhielt, – eine Falle, die er nicht merkte, der gerissene Holodri. –

Am folgenden Vormittag gegen elf ging Lisa zu Klärchen. Sie wußte, daß Gusti dann in seinem Bureau auf dem Bahnhofsgebäude war.

Klärchen empfing die Schwester mit einem Kuß, [47] nahm sie mit ins Schlafzimmer, denn sie war noch beim Frisieren.

Lisa schaute sich hier sehr neugierig um. Sehr neugierig.

Dann fragte sie zögernd: „Du, Klärchen, – wie war’s?“

Klärchen lächelte harmlos.

„Was meinst Du, Kind?“ Sie nannte Lisa zum ersten Male Kind.

Und Lisa ärgerte sich. „Ach – spiel’ Dich nur nicht auf die verheiratete Frau auf, Du! Und – Du weißt ganz gut, was ich mit dem: „Wie war’s?“ meine – ganz gut!“

„Darüber spricht man nicht, Kind –“

„War Gusti sehr – sehr schüchtern?“

„Es ging. Er war erst etwas sehr schwindelig. Aber der Kognak half – genau wie bei Mama. – Wie lange habt Ihr noch getanzt?“

„Bis gegen vier. Ach – und Schlitz war reizend zu mir. Er hat mich zweimal „süße Lisa“ genannt. – Bist Du auch nicht eifersüchtig, Klärchen?“

Die lachte hell auf. „Nein, Kleines, – auch nicht die Spur. – Ah – Mamas Stimme –“ Sie sprang auf und lief zur Tür.

Frau von Blüler verlangte zunächst eine kleine [48] Herzstärkung, trank stehend drei Kognaks, setzte sich dann auf den Bettrand, nachdem sie die ehelichen Lagerstätten sachverständig und befriedigt gemustert hatte, und begann nun:

„Denkt Euch, Kinder, – auch für Dich habe ich diese Überraschung bis jetzt aufgespart, Lisa – also denkt Euch: dieser Schwindler, der Schlitz, ist mehrfacher Millionär –“ Und dann wiederholte sie all die Gedanken, die ihr schon gestern durch den Kopf gegangen waren, sprach von – der Falle, die für einen Schlitz leider erst erfunden werden müßte, seufzte und schloß ihren Vortrag mit den Worten:

„Kinder, wenn uns das Glück beschert würde, dieser Egon, – Kinder, dann könnte der Papa vielleicht das Gut zurückkaufen und brauchte nicht mehr „in Lebensversicherungen, in Schmieröl und Gedärmen zu machen“. – Aber – wie – wie nur?! Die ganze Nacht hab’ ich gegrübelt, kein Auge zugetan. Doch – für den Schlitz reicht meine Erfindungsgabe nicht aus!“

Klärchen kämmte das schöne, lange Haar, das ihrem Gusti so viel Freude gemacht hatte, als sie ihm die Strähnen übermütig um den Hals gewickelt hatte.

Plötzlich warf sie den Kamm auf den Frisiertisch, rief:

„Ich hab’s – ich hab’s!“

[49] Frau von Blüler sagte nur: „Na na – Du stellst Dir das zu leicht vor. Schlitz ist nicht Dein Gusti –“

„Das stimmt!“ erklärte Stüpschen sehr ruhig. „In diesem Falle ist’s sogar ein Segen, daß er etwas – kühner als Gusti vorgeht, wenn – Kurz und gut: Laßt mich nur machen! Ich bin ganz siegesgewiß! Mein Gedanke ist nicht von Schiller, er ist mehr – französisch angehaucht. Aber er verheißt dafür auch vollen Erfolg.“

Die Mama zuckte die Achseln, „Klärchen, wenn nur wirklich etwas Erfolgversprechendes –“

Da sagte Klärchen mit allem Nachdruck: „Schlitz wird Lisa heiraten – ganz bestimmt! Für Edelwild braucht man besondere Fangmethoden, auf die Du, Mama, gar nicht kommen konntest, weil Dir – die Vorkenntnisse fehlen. – Wie ich Schlitz ködern will, bleibt mein Geheimnis. Lisa muß nur nachmittags nochmals zu mir kommen – gegen fünf, dann ist Gusti wieder im Bureau –“ –

Mittags ein Uhr erschien der junge Ehemann. Er nahm sein Klärchen gleich sehr stürmisch in die Arme, und als Anna das Essen auftrug, mußte sie fünfmal an die Schlafzimmertür klopfen, ehe das Paar sich meldete[1] und Gusti rief: „Zum Donnerwetter – stellen Sie die Suppe warm! Ich bin beschäftigt.“

Anna grinste.

[50] Nach Tisch, als Klärchen und Gusti im Herrenzimmer vorn den Kaffee tranken, sagte Stüpschen plötzlich:

„Du, Schatzi – in unserem Schlafzimmer sind Mäuse. Und vor Mäusen hab’ ich eine schreckliche Angst. Ich werde zu morgen vormittag den alten Drewke bestellen, daß er die Mauselöcher alle zugipst. Natürlich können wir diese Nacht dort nicht schlafen –“

Gusti machte ein furchtbar enttäuschtes Gesicht.

„Wo denn aber“ fragte er verstimmt.

„Nun – hier natürlich. Wir rücken den Diwan an das Sofa. Das ist dann so gut wie zwei Betten –“

„Ach so!“ Gustis Gesicht strahlte wieder. „Damit bin ich ganz einverstanden. Mäuse sind nämlich auch mir schrecklich.“

Um halb fünf ging er aufs Bureau. Und eine Viertelstunde später traf Egon von Schlitz „zufällig“ auf der Treppe mit Stüpschen zusammen.

Das heißt: an dem „zufällig“ war Stüpschen schuld. Sie hatte ihm aufgelauert.

Er wollte mit kühlem Gruß an ihr vorbei. Aber sie bat so lange, bis er dann doch mit in den Summerschen Salon kam. Hier erklärte Stüpschen weinerlich:

„Ich hatte gestern nacht so entsetzliche Kopfschmerzen. Ich konnte nicht winken. Ich war wie betäubt. Aber –“

[51] Und als Egon drei Minuten später in sein Heim hinaufstieg, da dachte er: „Ich wußte ja, daß dieses überlebensgroße Kamel von Baumeister nischt riskieren würde. Na – mir soll’s recht sein.“ –

Zu derselben Stunde etwa begegnete Assessor Scharpka Toni Renner auf der nach dem Stadtwalde führenden Promenade. Toni errötete jäh, als er plötzlich vor ihr stand. Sie war tief in Gedanken versunken gewesen, hatte ihn gar nicht kommen sehen. Erst dicht vor ihm hob sie den Kopf.

Er bemerkte die helle Glut auf ihrem feinen, etwas blassen Gesichtchen. Und wie er ihre Gestalt jetzt so prüfend überflog, sagte er sich: diese Frau müßte die Deine sein! Ihr müßten die Mittel zur Verfügung stehen, sich anders zu kleiden, – eleganter, dann würde sie überall geradezu auffallen.

Er reichte ihr die Hand. Zwanglos, sicher und mit herzlicher Kameradschaftlichkeit begrüßte er sie.

„Nun – etwas Ballkater, Fräulein Toni?“ meinte er. „Gestatten Sie, daß ich Sie noch ein Stück begleite? – Ein Segen, daß wir wieder leichtes Frostwetter bekommen haben. Sehen die Bäume im Rauhreif nicht geradezu prachtvoll aus? – Ja, Gottes freie Natur! Die geht doch über alles! Wenn nur die Menschen mehr als bisher erkennen würden, welch wundervolle Trösterin [52] und Freundin Mutter Natur ihnen sein kann. Ich kann ohne meinen täglichen Spaziergang in den Wald nicht leben.“

Sie griff aus seinen Sätzen ein einzelnes Wort auf: Trösterin, erwiderte nach kurzer Pause:

„Ich habe viel an Sie denken müssen, Herr Assessor. – Ich bin für ein Mädchen vielleicht eine zu gerade, offene Natur. Ich – bedauere Sie so sehr. Ich denke mir es als das schlimmste, verlobt und nicht glücklich zu sein. Ihre Spaziergänge sind wohl mehr Versuche, Ihre Gedanken abzulenken, denn – trösten wird Sie ja auch die Natur kaum können. Eine Enttäuschung im Liebesleben wiegt ja schwerer als alles andere, wenigstens für tiefer veranlagte Menschen.“

Jetzt war Scharpka wieder rot geworden. – Wie Toni um sein Glück, um seine Seelenruhe besorgt war! Und er? Er – verdankte all dies Interesse nur seiner Lüge, seinem freilich bewährten Trick, sich als verlobt auszugeben. Es blieb eine Lüge trotz allem! – Sollte er diese auch Toni gegenüber aufrecht erhalten?

Grübelnd schritt er neben ihr dahin. Er fühlte ihren Blick, er wußte: sie nahm jetzt an, daß er wieder mit seinem Geschick haderte, das ihm – angeblich – wahres Liebesglück versagt hatte.

Und nun kam’s ganz leise über ihre Lippen:

[53] „Auch ich habe eine Enttäuschung hinter mir. Und – sie war auch sehr hart, denn ich wurde dadurch tief gedemütigt. Ich kann Ihnen das, was ich durchgemacht, aus bestimmten Gründen nicht näher andeuten, denn damals gab ich mir selbst ein Versprechen, das ich unbedingt halten werde, obwohl es mich zu einer ständigen Lüge zwingt –“

Er schaute überrascht auf. – Ständige Lüge? – Das war ja genau so, als ob er dies gesagt hätte, er, der ja auch mit einer Unwahrheit operierte.

Sie blickte zur Seile, wechselte schnell das Thema. Dann bogen sie in einen Weg ein, der am Waldrand entlang auf die Försterei zuführte. Dort gab es vorzüglichen Kaffee und zumeist auch frischen Kuchen. Im Winter freilich war wochentags der Besuch sehr schwach.

„Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?“ meinte Scharpka. „Oder – fürchten Sie das Gerede der guten Bernburger? Zwei unverheiratete Leutchen – Sie verstehen!“

„Oh – Sie sind ja verlobt. Und mich kennen die Bernburger als – angebliche Männerfeindin –“ Sie dachte dabei an die drei abgewiesenen Freier.

Ganz allein waren sie dann in der kleinen Wohnstube der alten Förstersleute. Nur Scharpka genoß den [54] Vorzug, diesen Raum betreten zu dürfen. Die Frau Försterin liebte ihn. Er hatte ja überall Liebe.

Der grüne Kachelofen strömte behagliche Wärme aus. Und Förster Gruber kam und stand breitbeinig an ihn gelehnt und erzählte allerlei Geschichten – vom Frühling, der sich jetzt überall melde, von den ersten Schneeglöckchen, von den Hasen, deren Hochzeitszeit schon wieder vorüber, von den Liebesspielen der Eichkätzchen die Stämme auf- und abwärts – wie rote Blitze so schnell, von seiner Tochter, die jetzt den dritten Jungen an der Brust habe. – „Ja, ja, der Frühling. Wie schön ist’s doch, wenn er sich so langsam ins Land schleicht. Jeden Tag neue Überraschungen –“ – Dann ging er hinaus, das Vieh abfüttern. Er hatte vergessen, die Lampe anzuzünden.

Tiefe Dämmerung erfüllte den wohnlichen Raum.

Toni und Scharpka waren einsilbig.

Plötzlich hörte er unterdrücktes Aufschluchzen. Da setzte er sich schnell neben sie auf das alte, quietschende Sofa, tastete nach ihrer Hand.

Ihm war das Herz übervoll. Die Liebe war gekommen – über Nacht, mit all ihrer Wundergewalt.

„Weshalb weinen Sie, Toni?“

Keine Antwort.

Und nochmals fragte er. – Und da brach’s über [55] ihre Lippe hervor wie ein Strom von Sehnsucht und Leidenschaft.

„Fragen Sie nichts – jetzt nichts. Ich möchte glücklich sein – ein einziges Mal. – Sagen Sie mir, lieben Sie mich?“

„Ja – ich liebe Dich –“ Und er preßte ihre Hände.

„Ich liebe Dich auch – unendlich liebe ich Dich. Vom ersten Sehen an. Du bist mein Schicksal. Ich will Dein sein, Du, Du Lieber, – ganz Dein. – Ein einziges Mal. Und dann werde ich flüchten von hier – Lehrerin kann ich so ja nicht bleiben – das ginge gegen mein Gewissen. Nie wieder wirst Du von mir hören. Aber – die Erinnerung wird mir bleiben, – und vielleicht noch mehr – eine lebende Erinnerung an Dich. – Verachte mich nicht, stoße mich nicht zurück. Ich bin ein Weib – ganz Weib, ganz voller Sehnsucht nach Erfüllung dessen, was unsere Bestimmung ist –“

Er zog sie in die Arme, küßte sie. Worte fand er nicht. Nur ein Dichter hätte das ausdrücken können, was ihn bewegte.

„Heute abend bin ich bei Landrats,“ flüsterte sie weiter. „Komm auch hin, Lieber. Und dann begleite mich heim. Meine Wirtin ist verreist. Wir sind ganz allein –“




[56]
5. Kapitel.
Irrtümer.

Lisa saß im Salon in demselben Sessel, in dem kurz vorher Egon von Schlitz seiner Ansicht nach den Triumphator gespielt hatte.

Lisa schaute Klärchen ganz entsetzt an, stammelte:

„Das – das sollte ich tun? – Niemals – niemals – ich kann es nicht; ich würde mich zu Tode schämen –“

Stüpschen lächelte. „Kind – meinst Du, ich habe mich damals nicht geschämt, als die Mama die Verlobungskomödie inszenierte? – Oh – ich habe ja so viel gutzumachen an Gusti, noch weit mehr als diesen Betrug und diese – Liebelei mit Schlitz. Und ich werde alles gutmachen. Wir Frauen können alles, wenn wir [57] nur wollen. Und – ich denke, auch Du möchtest Dir Egon gern erringen, Kleines. Lange Zeit zum Überlegen hast Du nicht. Anders heiratet er Dich nie. Und wenn Du ihn dann zu behandeln weißt, werdet Ihr recht glücklich werden. Schlecht ist er nicht. Nur durch seinen Reichtum so geworden, wie er ist. – Denk’ nur damals Weihnachten, als der Tagelöhner Mielke mit seinen acht Kindern ein Riesenpaket vor der Tür fand, – Süßigkeiten, Geschenke und noch fünfhundert Mark. – Damals hat die Frieda Mielke den Schlitz schnell vom Hause fortlaufen sehen. Der Landrätin gegenüber hat er stets geleugnet, hat gesagt: „Ich – fünfhundert Emmchen. Die kann ich allein besser brauchen.“ – Und doch ist er der Spender gewesen. Das ist jetzt ganz klar, wo wir wissen, wie reich er ist. – Und so was tut nur einer, der das Herz doch auf dem rechten Fleck hat trotz aller Weibergeschichten.“ –

Um neun Uhr abends rückten Herr und Frau Summer im Herrenzimmer den Diwan an das Sofa und begaben sich zur Ruhe – was man so in den Flitterwochen Ruhe nennt.

Anna, die Berliner Perle, war für die Nacht zu ihrer Tante beurlaubt worden. Dort hatte sie jetzt einen braven Zimmermann kennen gelernt, der ganz in sie verschossen war und der sie heiraten wollte – trotz [58] des Kindes. – Das hatte sie heute Klärchen anvertraut und gemeint: „Ich würd’ ihn ja gern nehmen. Aber – vielleicht würd’ er nachher zu meinem Püppchen nicht lieb sein. Die Angst wird’ ich nicht los. Und mein Püppchen soll’s gut haben – immer! Lieber schufte und rackse ich den ganzen Tag, als daß so ein Mannsbild dem Kinde je vorhalten dürfte: „Du unehelicher Balg!“ – oder so was Ähnliches. – Nur wenn er das Würmchen als sein eigen anerkennt, sag’ ich ja. Heute ist er wieder bei der Tante abends. Und da will ich mich mit ihm aussprechen.“ –

Egon von Schlitz lag von zehn Uhr abends an in seinem Fenster und wartete.

Es schlug vom Kirchturm ein Viertel elf. Egon rauchte eine Zigarette. Er war heute seiner Sache sicher.

Aber – er freute sich nicht darauf. – Nein – gar nicht! Der Vorwurf Scharpkas: „gemeiner Streich!“ war doch auf fruchtbaren Boden gefallen. Gerade jetzt abends hatte sich Schlitz so allerlei überlegt, hatte dabei recht ehrlich sich gesagt, daß der von ihm so weidlich verspottete Baumeister doch an anständiger Gesinnung turmhoch über ihm stand.

Und jetzt dachte er plötzlich: „Verflucht – wenn Du Dich nur nicht mit Stüpschen verabredet hättest! Aber – schließlich kannst Du der Geschichte ja einen [59] ganz harmlosen Ausgang geben und ihr in aller Herzlichkeit erklären: „Stüpschen – ich bin ein Schweinhund. Das hab’ ich jetzt eingesehen. Und deshalb – leb wohl für immer! Werde Deinem Gusti ein braves Weib und vergiß, was gewesen. Das wär’ für uns beide am besten – Tatsache!“

Da flammte unten hinter den Vorhängen die Beleuchtung auf, nur für Sekunden. Dann wurde ein Fensterflügel geöffnet. Eine Hand winkte – verschwand wieder. Das Fenster blieb offen.

Schlitz seufzte: „Verflucht – der Kelch geht nicht an mir vorüber! Dieser verdammte Esel von Summer! Könnte der Kerl nicht mehr Mann sein – das Rindvieh! Nun liegt er allein artig auf dem Diwan in seiner Bude, und ich! Eine verdrehte Welt. Aber – der Scharpka soll nicht noch mal von Gemeinheit und so zu reden haben. Ich werde tugendhaft! Die Lisa tut mir auch so’n bißchen leid. Ich merke ja, wie – wie sie mich liebt. Und – das bin ich ja gar nicht wert, ich scheußlicher alter Knabe!“

Dann band er die kurze Strickleiter am Fensterkreuz fest, kletterte abwärts, kletterte unten in das fremde Allerheiligste hinein.

Tiefste Dunkelheit. Aber – er wußte ja leidlich Bescheid. Stüpschen hatte ihm heute einen Blick zur [60] Orientierung in das Schlafzimmer gegönnt – einen kurzen Blick.

Er tastete sich vorwärts, trat auf etwas Weiches.

Aha – das war schon der Fellbettvorleger. Und nun beugte er sich vor, fühlte kühles Linnen, fühlte auch einen Arm, eine Hand, setzte sich auf den Bettrand.

Er streichelte diese Hand, begann:

„Stüpschen, hör’ mal, ich bin nur gekommen, um Dir ade zu sagen. Ja, Stüpschen, – ade für immer. Ich – ich merke, daß ich vor dem verheirateten Stüpschen doch so etwas wie eine heilige Scheu empfinde, – wirklich – Tatsache – heilige Scheu! Du sollst brav bleiben, Stüpschen. Und morgen werde ich mir den Gusti vornehmen und werd’ ihm raten, abends ne Buddel Knallkümmel seinem inneren Angstmeier zuzuführen. Und Du, Stübschen, – Du mußt dann recht zärtlich zu ihm sein. – Sieh mal, Stüpschen, – noch mehr, noch was anderes. Gestern hab’ ich mit der Lisa wie verrückt poussiert. Sie sollte es Dir erzählen, und Du solltest Dich ärgern. Aber – die Lisa hat nu mal so ne liebe, anschmiegende Art, so was Reines, Gutes, das mich geradezu rührte. Und auch diese Poussiererei wär’ ne üble Jemeinheit gewesen, wenn ich nicht bald wirklich Freude dran gehabt hätte, sie, die Lisa, so froh zu sehen. Und all das, Stüpschen –“

[61] Da umschlangen ihn zwei Arme. Ein Mund suchte den seinen.

Armer Egon! Was nutzten alle guten Vorsätze! Du hättest ein Obereunuch sein müssen, wenn Du in dieser Stunde fest geblieben wärest. Die Küsse waren so anders als sonst – so viel unschuldsvoller und doch hingebender. Und dabei sprach Stüpschen kein Wort – nichts. – Sie weinte sogar ein wenig.

„Du bleibst ein Schweinhund!“ dachte Egon, als er seine Widerstandskraft schwinden fühlte. Und dann – war ihm alles gleich.

Und eine Stunde später wußte er ganz plötzlich, was er angerichtet hatte. Da schluchzte Lisa, nicht Stüpschen, an seiner Brust. Und sie log so sehr mit Überwindung, aber – sie log:

„Ach – Klärchen hat gewollt, daß ich diese Nacht hier schlafe. Und sie hat mir auch gesagt, ich solle gegen viertel elf winken und das Fenster offen lassen – Du hättest sie so gebeten, uns – diese vertrauliche Aussprache zu ermöglichen, – so sehr gebeten. Und – ich liebe Dich doch so aufrichtig, so heiß –“

„Das hab’ ich gemerkt! – Tatsache! Das bedarf weiter keiner Beteuerungen!“ flüsterte er und streichelte ihr das Haar und die erhitzten Wangen. „Ich weiß ja nun Bescheid, Lisa. Das ist Stüpschens Rache, [62] weil ich dem Gusti so – bescheiden machende Lehren gegeben habe. Schadet aber nichts, kleines Rackerchen, Du! – Nein – Tatsache – schadet nischt. Ich wird’ Dir die Wahrheit sagen: ich bin nämlich verflucht bejütert, Du, – und deshalb geb’ ich Dir jetzt auch in aller schuldigen Ehrfurcht den – Verlobungskuß. Natürlich muß Dein alter Herr nun den Ajenten und so an den Nagel hängen. Ich werd’ ihm seine Klitsche zurückkaufen. Er wird jetzt ja wohl vernünftiger wirtschaften als früher. Na – und in fünf Wochen spätestens heiraten wir. Vorsicht is die Mutter vons Porzlanjeschäft, Rackerchen. Unglück schläft nicht. Und unser Erstes darf doch allerhöchstens ein – Achtmonatskind sein – wie gesagt – Vorsicht ist ratsam.“

Und um dieselbe Zeit begleitete Scharpka Toni Renner von Landrats heim.

Wie die Diebe schlichen sie die Treppe hinauf. Oben in ihrem Stübchen schaltete Toni das Licht ein. Scharpka setzte sich in den Rohrsessel am Mitteltisch, schaute sich um.

Wie bescheiden alles war, fast ärmlich.

Sie legte Hut und Mantel ab. Ihr Gesicht brannte in heller Glut. – Dann trat sie zu ihm:

„Willst Du’s Dir nicht etwas bequem machen, Lieber?“

[63] Er zog sie auf seinen Schoß.

„Nein, Toni, – ich werde sofort wieder gehen,“ sagte er leise.

Sie erblaßte. – „Du – Du verachtest mich,“ meinte sie trostlos und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.

„Ich liebe Dich über alles, Toni. – Höre mich an. – Es ist nicht wahr, daß ich verlobt bin. – Ich gab mich stets nur als Bräutigam aus – als Abschreckungsmittel gegen heiratswütige Damen. – Bleib’ sitzen, Liebling. Ich habe noch mehr zu beichten. Und – Du wirst dann noch deutlicher erkennen, daß das Glück nun wirklich zu Dir gekommen. – Ich war nie verlobt, ich wollte meiner selbst wegen, nicht meines – Geldes wegen geheiratet werden, – denn ich bin sehr reich, sogar so reich, daß ich es nicht nötig hätte, Assessor zu spielen –“

„Genau so wie ich,“ erklang’s da leise an seiner Brust. – „Ja, Du – Du Einziger, – genau so wie ich, denn auch ich bin reich. Ich war verlobt – vor drei Jahren – kurze Zeit. Ich merkte bald, daß jener Mann nur mein Geld wollte – nicht mich. Ich bin Waise – lange schon. Und da habe ich diesen Beruf ergriffen, habe es verstanden, stets die arme Lehrerin zu spielen. Auch ich wollte keine Enttäuschung mehr durchmachen: Mich sollte der Mann lieben, den ich liebe, – mich, die [64] mittellose Toni. Und nun – nun bist Du da – dieser Mann, nun – ist wirklich das Glück gekommen.“

Wie ein Jubelruf diese letzten Worte.

Da küßte er sie. Und dann ging er: „Lebwohl, mein Alles. In kurzem bist Du ganz mein. Heute – bist Du meine Braut, die ich achte und liebe.“

Sie verstand ihn. Sie hing an seinem Halse, lächelte selig: „Wir brauchen uns die Erfüllung unserer Liebe jetzt nicht mehr zu stehlen. Wir können warten.“ –

Scharpka wanderte heim. Plötzlich tauchte vor ihm der lange Schlitz auf, blieb stehen.

„Sie Assessor, – nehmen Sie jefälligst die gestrige Beleidigung zurück, mein Lieber. Ich – ich habe mich soeben mit Lisa von Blüler verlobt – richtiggehend verlobt – Tatsache!“

„Was Sie sagen?! – Mensch, Schlitz, – das müssen wir noch begießen, denn – auch ich bin jetzt endlich veritabler Bräutigam geworden. – Sie wollten wohl auch an den Stammtisch – was?“

„Stimmt. – Los denn. Die ganze Bande soll heute in Sekt schwimmen. Schade nur: der Aujust Summer müßte auch dabei sein. Er ist doch ’n anständiger Kerl – hol’s der Deibel!“


Ende!


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Intimes

Skizzen aus dem Leben


Bisher sind folgende Bände erschienen resp. befinden sich in Vorbereitung.

1. August Summers Ehe

2. Im blauen Affen

3. Asphaltblumen

4. Anders als die Andern

5. Hochstapler der Liebe

6. Die Gorilla-Bar

7. Das Jungfernstift

8. Die Litzberger Mali

9. Der schöne Hektor

10. Das Lächeln der Venus

11. Kokottchen

12. Zwirns Badeabenteuer

13. Halbe Jungfrauen

14. Der nackte Schnucki

15. Sündige Triebe

16. Die schwarze Maske

Anmerkungen (Wikisource)

  1. norddeutsch Enkel = vorspringender Knochen am Fußansatz.

Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: eldete