ADB:Stockmar, Ernst Freiherr von
Christian Friedrich Freiherrn v. Stockmar wurde am 7. August 1823 zu Coburg der erste Sohn, Ernst Alfred Christian, geboren. Da der Vater im Interesse seiner fürstlichen Freunde bis 1857 fast in jedem Jahre nur sechs Monate im Kreise seiner Familie zubrachte, fiel die Sorge um die erste Erziehung des Kindes der Mutter, Fanny v. Stockmar geb. Sommer, zu. In gut bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte diese ernste, gescheute Frau auch nach der Verbindung mit dem an den Verkehr mit Fürsten gewöhnten Stockmar ihre Schlichtheit bewahrt. Von ihr erbte Ernst die natürliche Einfachheit des Wesens und eine, in diesem Maaße selten anzutreffende Bescheidenheit in allen Ansprüchen an Lebensgenuß; vom Vater aber gingen auf ihn der klare Verstand, der sichere Blick, das menschenfreundliche Herz und leider auch der für Krankheit empfängliche, zarte Körper über. Schon in der Jugend zeigte sich jedoch bei Ernst ein großer Unterschied vom Vater: war letzterer ein kecker Bursche gewesen, der als Mann mit frischer Thatenlust in den Lauf der Ereignisse eingriff, so besaß der Sohn eine mehr betrachtende, sehr zurückhaltende Sinnesart; er liebte lautes Treiben nicht, sondern fühlte sich bei einsamen Studien oder beim traulichen Verkehr in der Familie oder mit nahen Freunden am wohlsten. Dann traten sein reiches Gemüth, seine Herzenswärme, sein reiner, kindlicher Sinn zu Tage und offenbarten, daß die von Fremden an dem Knaben, wie später an dem Manne wahrgenommene Kälte des Wesens nur ein Schleier war, der rasch verschwand, wenn vertraute Genossen ihn ansprachen.
Stockmar: Ernst Alfred Christian Freiherr v. St., Rechtsgelehrter und Geschichtsforscher. Dem bekannten StaatsmannEine innige Liebe empfand St. für die nur vier Jahre jüngere Schwester Marie, seinen Spielkameraden im elterlichen Hause. Nachdem die Mutter ihn in den Anfängen des Wissens unterrichtet hatte, kam die Zeit, wo Coburger Lehrer den rasch fortschreitenden Schüler unterweisen mußten. Dem Vater erschien es wünschenswerth, seinen Sohn einige Zeit im Verkehr mit fremden Knaben aufwachsen zu lassen; er brachte ihn deshalb 1835 nach Meiningen in das Privatinstitut des Dr. Bernhard. Aber schon im folgenden Jahre kehrte St. nach Coburg zurück und wurde von da ab längere Zeit von den Lehrern des dortigen Gymnasiums zu Hause weiter unterrichtet; in der französischen Sprache verdankte er das Meiste seinem Verkehr mit einem französischen Uhrmacher. Da der Vater für den ältesten Sohn die diplomatische Laufbahn ins Auge gefaßt hatte, sandte er ihn 1838 zu seinem Bruder Karl St. nach Paris, damit der Knabe im Collège Bourbon die Feinheiten des französischen Stils erlerne [306] und den Gesichtskreis erweitere. Hier zeigte sich die große Begabung Stockmar’s für fremde Sprachen: obschon Deutscher, wurde er nach kurzer Zeit Erster der französischen Schule. Im folgenden Jahre kehrte er nach Deutschland zurück, um von Michaelis 1839 ab die allgemeine Ausbildung auf dem durch ausgezeichnete Lehrkräfte hervorragenden Gymnasium illustre in Gotha zu vertiefen. Der rationalistische Generalsuperintendent Bretschneider, bei welchem er in Pension war, führte ihn in die Ideen des aufgeklärten evangelischen Glaubens ein und befestigte in ihm die Ueberzeugung, daß nicht das Bekenntniß, sondern das Handeln den sittlichen Menschen ausmache. Der in Gotha verbrachten Jugendzeit erinnerte St. sich stets mit großer Freude, weil ihm nicht nur die behagliche Häuslichkeit Bretschneider’s zusagte, sondern auch der nahe Thüringer Wald Gelegenheit zu erfrischenden Wanderungen bot. Ende Juli 1841 verließ er die Selecta des Gymnasiums mit einem Reifezeugniß, an dessen Schluß der Direktor Rost aussprach, daß dieser treffliche Jüngling zu den schönsten Hoffnungen berechtige.
18 Jahre alt bezog St. zunächst die landwirtschaftliche Akademie Hohenheim, weil der Vater meinte, daß jeder künftige Staatsmann sich mit der Landwirthschaft einigermaßen bekannt machen müsse. Aber er war froh, 1842 die ihm nicht zusagenden Studien aufgeben zu dürfen, um vom Herbst dieses Jahres ab auf der Universität Berlin sich mit Rechtswissenschaft, Geschichte, Philosophie, Litteratur und Sprachen zu beschäftigen. Er hielt sich hier von allem Verbindungs- und Kneipenleben fern und verkehrte fast ausschließlich mit zwei gleichfalls ernst strebenden Freunden Wilhelm Girtanner und Fritz v. Gülich. Von den juristischen Lehrern übte Puchta den nachhaltigsten Einfluß auf ihn, indem er zu selbständigem juristischem Denken anregte und in seinen Ausführungen das Muster knapper Darstellung bot. Persönlich wurde St. aber am meisten angezogen durch den jungen Privatdocenten Rudolf Ihering, der damals schon Gegenstände aus der Raritätenkammer des römischen Rechts in derselben geistvollen Weise vorführte, wie er sie später in seinem Buche „Scherz und Ernst aus der Jurisprudenz“, der ganzen Juristenwelt dargeboten hat. Bei dem großen Interesse Stockmar’s für die Geschichte war es natürlich, daß er den von Studirenden meist vernachlässigten Vorlesungen über öffentliches Recht eifrig folgte. Er drang auch in die zu jener Zeit als das Höchste gepriesenen Geheimnisse des Hegel’schen Systems ein, ohne jedoch von dem glänzenden Scheine desselben geblendet zu werden. St. war schwer zu bewegen, die durch manche Krankheiten unterbrochenen und durch hypochondrische Stimmungen erschwerten Studien abzuschließen und sich der ersten Staatsprüfung zu unterziehen, weil er sein reiches Wissen noch nicht für umfassend genug hielt. Endlich, zu Anfang des Jahres 1847, legte er auf Drängen der Mutter und auf Zuspruch der Prinzessin von Preußen (der nachmaligen Kaiserin Augusta), die sich seiner in Berlin liebevoll annahm, die Prüfung vor dem Kammergericht daselbst ab. Daß ihr Ergebniß mit dem äußerst selten gegebenen Prädicate „Sehr gut“ bezeichnet wurde, ist ein Zeugniß für seine gründlichen Kenntnisse in der Rechtswissenschaft.
Der junge Auscultator wurde nun beim Criminalgericht Berlin in die juristische Praxis eingeführt und am 6. September 1847 zum Stadtgericht daselbst versetzt. Assessor Wolfart, welcher ihn hier anzuleiten hatte, berichtete der vorgesetzten Behörde über den „rastlosen und unermüdlichen Fleiß“ Stockmar’s, über seine „ausgezeichnete Gabe der Auffassung schwieriger Sach- und Rechtsverhältnisse“, über die „bereits sehr bemerkenswerte Kenntniß des römischen und preußischen Rechts“, auch bezeichnete er seine Befähigung zum Verhandeln mit den Parteien, zum Abfassen von Erkenntnissen und zum Decretiren als vorzüglich. [307] Aber die richterliche Ausbildung sollte nach dem für St. maßgebenden Wunsche des Vaters nur die Vorstufe für eine einflußreichere Thätigkeit sein, für den diplomatischen Dienst. St. nahm im Sommer 1848 Urlaub im Justizdienste und wurde vom preußischen Ministerium des Auswärtigen der Gesandtschaft in London als Attaché beigegeben. Sein Vorgesetzter Bunsen lobte die Leistungen Stockmar’s sehr, dieser aber fühlte sich in der neuen Thätigkeit nicht wohl: die schwankende deutsche Politik Preußens mußte dem für ein starkes deutsches Reich begeisterten jungen Diplomaten die Beschäftigung mit auswärtigen preußischen Angelegenheiten verleiden; jedoch auch unter günstigeren Bedingungen würde er keine rechte Freude an dem Berufe gefunden haben, weil er, wie es in einem Briefe an seinen Freund Samwer vom 25. August 1849 heißt, am liebsten bei der „ordinären Ehrlichkeit“ blieb. Vom Vater eignete er sich zwar das unbefangene Urtheil über politische Verhältnisse und hochgestellte Personen an, aber das Leben in der großen Gesellschaft, das dem Menschen als Menschen nichts bot und dem er sich in London nicht entziehen konnte, gefiel ihm hier so wenig, wie anderwärts früher und später. Als Gewinn sah er es an, daß er aus unmittelbarer Nähe das constitutionelle Leben des britischen Volkes betrachten konnte; auch lernte er dessen praktische Veranlagung so schätzen, daß er wünschte, etwas davon möchte auf die Deutschen übergehen. Im J. 1849 erkannte Baron Christian v. Stockmar des Sohnes heißes Verlangen, aus dem diplomatischen Dienste auszuscheiden, in Deutschland ruhig und ungestört der Wissenschaft zu leben – und da das Glück des Sohnes ihm höher stand als sein eigener Herzenswunsch, willigte er darein, daß der Sohn die akademische Thätigkeit als Lebensberuf ergreife. Im October 1849 verließ St. nun endgültig den preußischen Justizdienst, im December desselben Jahres seine Stellung in London, um sich in Jena für das Lehrfach vorzubereiten.
Dort traf er Anfang Januar des Jahres 1850 ein und trat in anregenden geistigen Verkehr mit Wilhelm Girtanner, Hermann Schulze und Friedrich v. Hahn, die sämmtlich der juristischen Facultät angehörten, sowie mit dem Geschichtsforscher Heinrich Rückert; auch pflegte er die früher angeknüpften freundschaftlichen Beziehungen zu dem badischen Freiherrn Franz v. Roggenbach, dem Schleswig-Holsteiner Karl Samwer und dem Hamburger J. H. Sieveking eifrig weiter. Als ein großes Glück empfand St. es, daß sein Schwager Hermann Hettner mit Frau und Kind im Frühjahr 1851 nach Jena übersiedelte, um die akademische Jugend durch seine Vorträge für Kunst- und Litteraturgeschichte zu begeistern.
Wissenschaftlich befaßte er sich zunächst mit dem Naturrecht: im Herbst 1850 erregte er durch eine scharfe, aber nur zu sehr begründete Kritik der von dem Hallenser Professor H. F. W. Hinrichs verfaßten Geschichte des Natur- und Völkerrechts in der Gelehrtenwelt Aufsehen (Heidelb. Jahrb. XLIII, 830–836). Dann arbeitete er an der Besprechung der Girtanner’schen Bürgschaft (ebd. XLIV, 418–421, 907–915), an der Kritik über die v. Kaltenborn’sche Geschichte des Natur- und Völkerrechts (daselbst, S. 707–720), sowie an einer Dissertation über den Begriff des Völkerrechts. Zu Anfang des Jahres 1851 trug er der juristischen Facultät den Wunsch vor, sich für die Fächer des öffentlichen Rechts zu habilitiren. Man war seinem Vorhaben sehr geneigt; bevor jedoch alle Schritte zur Erfüllung geschehen waren, stellte sich bei St. ein anhaltendes Kopfweh ein, verbunden mit „gräulicher Mattigkeit“ und „zeitweiliger Unfähigkeit zu gehen“.
Schon vorher hatte die schwache Constitution des Körpers sich in ernsten Gesundheitsstörungen offenbart; eine volle Kräftigung wurde namentlich auch durch die überscharfe, unbarmherzige Kritik Stockmar’s gegen sich selbst verhindert: [308] er wollte ein ausgezeichneter Mensch sein und marterte sich mit Selbstvorwürfen wegen jeder verlorenen Stunde; dieses fortwährende Ringen ließ seiner Seele keine Ruhe und zehrte an seinem Körper. Im Juni 1850 hatte ihn nun gelegentlich einer Anwesenheit in Berlin ein heftiger Schmerz überfallen; es war ihm „als wäre der ganze Körper mit Blei ausgegossen“. Das lange unerklärbare Leiden schien nach einiger Zeit vorüberzugehen, aber bald nach seiner abermaligen Meldung zur akademischen Laufbahn trat es in milderer Form wieder auf und blieb bei ihm das ganze Leben lang, bald weniger, bald mehr fühlbar, im großen und ganzen betrachtet aber allmählich, fast unmerkbar fortschreitend. Der Besuch vieler Bäder, die Rathschläge vieler berühmter Aerzte vermochten bisweilen kurze Zeit zu helfen. Das Leiden selbst aber, eine Lähmung des Rückenmarks, war unheilbar.
Durch seinen Zustand im Sommer 1851 zu ernster geistiger Thätigkeit unfähig gemacht, glaubte St. auf die Habilitation verzichten zu müssen und bat auf Grund seiner Dissertation nur um die Verleihung des juristischen Doctorgrades, der ihm auch am 23. Juli 1851 ertheilt wurde. Der günstige Verlauf einer langen Cur erfüllte ihn dann aber mit neuen Hoffnungen; am 18. November 1851 erklärte er dem Decan, daß er den früheren Plan wieder aufnehme, und am 6. März 1852 überreichte er der Juristenfacultät eine reiflich durchdachte kritische Untersuchung über die Frage, ob der deutsche Richter an Gesetze gebunden sei, welche ohne die nach Vorschrift der Verfassung einzuholende ständische Zustimmung erlassen sind. („An judicem teneat principis constitutio etc.“ Jenae 1852.) Er gibt darin eine Kritik der Lehren hervorragender deutscher Juristen über das richterliche Prüfungsrecht, faßt scharf ins Auge, wie die Frage zu stellen sei, und scheidet alle für die Beantwortung angeführten unwesentlichen Momente aus. Er macht auf das Widerspruchsvolle der Behauptung aufmerksam, daß der Richter an ungültige Normen nicht gebunden sei, dennoch aber die Gültigkeit der Norm nicht zu prüfen habe. Flüchtig streift St. die preußische Verfassung von 1850, nach welcher der König Gesetze nicht ohne Zustimmung der Stände erlassen darf, alle gehörig verkündeten Normen aber, also auch die mit Verletzung des ständischen Zustimmungsrechts erlassenen, gültig sind – eine Thatsache, die ihn noch später zu fruchtbaren Studien über das preußische Verfassungsrecht veranlaßte. In der lateinischen Habilitationsschrift erörterte er außerdem die praktischen Folgen der Gewährung und der Verweigerung des Prüfungsrechts, und sprach sich vom gesetzgeberischen Standpunkte dafür aus, die Richter im allgemeinen an alle ordnungsmäßig verkündeten Gesetze zu binden, einen besonderen Gerichtshof aber auf Anrufen des Fürsten, der Stände oder einer Privatperson, endgültig über die Verbindlichkeit jedes Gesetzes entscheiden zu lassen. In der deutschen Bearbeitung der Schrift (Zeitschrift für Civilrecht und Proceß. N. F. X, 18–78, 213–243. Gießen 1852) ließ er diesen Abschnitt fort, führte dafür aber andere Theile genauer aus.
Am 8. Mai 1852 vertheidigte er die Dissertation öffentlich gegen seine Freunde Girtanner und Hermann Schulze, am 17. desselben Monats hielt er eine Probevorlesung über die Geschichte des Völkerrechts vor Hugo Grotius; nun durfte der junge Privatdocent seine Vorlesungen über juristische Encyklopädie und Methode, europäisches Völkerrecht und deutsches Staatsrecht, sowie seine Seminarübungen in staats- und völkerrechtlichen Fragen beginnen. Der Vortrag Stockmar’s zündete nicht wie der Ihering’s, zog aber durch die Eleganz der Form, die vollendete Klarheit des Inhalts und den feinen Humor, mit dem gegnerische Ansichten widerlegt wurden, die Hörer an. Seine Vorlesungen wurden fleißig besucht, und er nahm die Vorbereitung für dieselben so ernst, daß er die ursprüngliche Absicht, in der Hauptsache publicistisch thätig zu sein, fallen lassen [309] mußte. Im J. 1852 finden sich nur zwei Arbeiten aus seiner Feder in den Heidelberger Jahrbüchern, eine Kritik über die Darstellung der Rechtsphilosophie des Hugo Grotius, welche der scharfsinnige Gustav Hartenstein veröffentlicht hatte (XXXXV, 375–384), und ein zweiter Feldzug gegen die Oberflächlichkeit und Unkenntniß des schreibseligen Hinrichs, welcher sich durch Stockmar’s frühere Kritik nicht hatte abhalten lassen, seine Geschichte des Natur- und Völkerrechts durch einen neuen dicken Band zu vermehren (XXXXV, 536–544).
Daß das Studium der Geschichte nicht unterbrochen wurde, versteht sich bei dem Gegenstande der juristischen Vorträge Stockmar’s von selbst, da das öffentliche Recht nur dem genauen Kenner der politischen Geschichte ein volles Erfassen ermöglicht. Er vertiefte sich in die Ursachen der großen französischen Revolution, um die zur neuesten Zeit überleitenden Ideen zu erkennen; auch übernahm er einen jener „Rosenvorträge“, die in Jena vor gebildeten Frauen und Männern gehalten zu werden pflegen, und zwar gab er hier ein harmonisches Bild Washington’s, des Lieblingshelden seines Vaters (gedruckt 1854).
Gegen Ende des Jahres 1854 trat sein Leiden beschwerlicher auf und rief trübe Stimmungen hervor; im Frühjahr 1855 mußte er auf ärztlichen Rath die Vorlesungen aussetzen, um in Begleitung des Vaters zu Franzensbad und am Rhein seine Gesundheit zu kräftigen. Den darauf folgenden Winter brachte er zu weiterer Erholung in Coburg zu – er sollte die akademische Lehrthätigkeit, die ihm innere Befriedigung und gute Aussichten bot, nicht wieder aufnehmen. Denn nachdem inzwischen im Stillen der Herzensbund des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen mit der Prinzeß Royal von Großbritannien geschlossen worden war, wünschte Baron Christian v. Stockmar, daß sein Sohn zur Befestigung der zwischen England und Preußen angeknüpften freundlichen Beziehungen beitrage. St. fühlte sich jedoch hierzu nicht geschaffen. Noch im J. 1850 hatte er es zwar für möglich gehalten, die akademische Thätigkeit unter günstigen Voraussetzungen später mit einer politischen zu vertauschen, aber in den Jenaer Docentenjahren war er von der juristisch-wissenschaftlichen Beschäftigung innerlich so erfüllt worden, daß er sich für unfähig zu jeder praktischen Thätigkeit hielt. Der Vater erachtete jedoch diese Einwendungen nicht für begründet und vermochte ihn mit dringenden Bitten, einen ehrenvollen Antrag des Prinzen von Preußen (des späteren Kaisers Wilhelm I.), St. möge ihn während des Sommers 1856 als Secretär für politische und vertrauliche persönliche Angelegenheiten begleiten, anzunehmen. St. ging mit dem Prinzen und seiner Gemahlin nach England. Die ausgezeichnete Erledigung mehrerer Geschäfte durch St. war für den Wunsch des Prinzen entscheidend, ihn dauernd an sich zu fesseln. Da trat bei den persönlichen Verhandlungen der Eltern des jungen fürstlichen Brautpaares über dessen künftige Hof- und Haushaltung, die Ueberzeugung der Königin von England und des Prinzen Albert zu Tage, daß die jugendliche Prinzeß Victoria eines klugen, treuen Rathgebers bedürfen werde, wenn sie in den schwierigen Berliner Verhältnissen ehrenvoll bestehen solle; sie richteten ihre Blicke auf St., der ihnen persönlich genau bekannt und schon vom Vater her vertraut war. Der Prinz von Preußen verzichtete unter diesen Umständen darauf, seine Absichten auf St. weiter zu verfolgen; wie er diesem am 23. März 1857 schrieb, brachte er dem jungen Paare ein Opfer, welches dasselbe länger genießen, als er entbehren werde – denn ein Sechziger habe bald ausgespielt! St. bat zunächst um Bedenkzeit für seine Erklärung auf den Antrag der englischen Herrschaften. Diese überwanden jedoch seine Bedenken im Frühjahr 1857 soweit, daß er sich zur Annahme der Stellung bei der Prinzessin bereit erklärte, sich aber vorbehielt, jederzeit zurückzutreten, wenn er nicht genüge. Bald aber traten bei ihm starke Zweifel an sich selbst wieder auf: es schien ihm ein Unrecht, der [310] jungen, von ihm so hoch verehrten Prinzessin einen nicht für praktische Arbeit gemachten Secretär beizugeben, dem nach seiner qualvollen Selbstprüfung Einsicht und Geschick in den alltäglichsten Dingen mangelten. In diesem Sinne schrieb er dem Prinzen Albert am 25. September 1857, fügte jedoch hinzu, daß er, wenn der Prinz auch jetzt noch einen Versuch mit ihm wünsche, dazu bereit sei. Die Königin und der Prinzgemahl hatten St. besser erkannt, als er sich selbst: sie baten ihn, den Versuch zu machen, da er gerade die für den Privatsecretär erforderlichen Eigenschaften, Herz, Charakter und Geist, besitze. Und so kam St. am 21. October 1857 in Windsor an, um den Prinzgemahl bei der Berathung der Ehepacten zu unterstützen und der Prinzessin Victoria bei dem Eintritt in den wichtigsten Lebensabschnitt zur Seite zu stehen. Als ihr Privatsecretär siedelte er mit dem jungen Paar nach Berlin und Potsdam über und wurde von dem Prinzen von Preußen durch einen Orden und bald darauf durch die preußische Kammerherrnwürde ausgezeichnet, damit der in Preußen ungewöhnlichen Stellung eines Privatsecretärs der officielle Stempel aufgedrückt würde, und dem Liberalen ein guter Paß für den Berliner Hof zu Gebote stände.
An den äußeren Ehren, an dem glänzenden Treiben des Hoflebens, lag St. nichts; es war ein ganz uneigennütziges, warmes persönliches Interesse an Prinz und Prinzeß Friedrich Wilhelm, das ihn hier festhielt, so lange es die bald wieder auftretenden Störungen seiner Gesundheit erlaubten. Er wollte dem Fürstenpaare helfen, die Schwierigkeiten zu überwinden, welche aus dessen selbständiger, volksthümlicher Gesinnung, dem unbefangenen Auftreten bald erwuchsen; er wollte es unterstützen, auf dem eingeschlagenen richtigen Wege zu beharren. Und St. war, wie der Prinzgemahl schreibt, „wahrer Priester der heiligen Flamme“, die den Prinzen Friedrich Wilhelm nicht minder als seine Gemahlin durchglühte. Das Fürstenpaar erkannte die Selbstlosigkeit, den alles klar durchdringenden Verstand, die Zuverlässigkeit, die treue, aber unabhängige Gesinnung ihres Rathgebers und wurde ihm von Herzen zugethan. Beide zogen ihn in allen schwierigen Fragen, auch nach seinem Ausscheiden aus ihrem Dienste, zu Rathe.
St. war ein Privatsecretär, wie ihn nur selten Fürsten besitzen werden. Von dem größten Pflichtgefühl beseelt, behandelte er uninteressante, mehr mechanische Geschäfte mit derselben Sorgfalt und Genauigkeit, wie die großen Angelegenheiten, welche allein seinem Geiste Befriedigung gewähren konnten. Das Pflichtgefühl ging so weit, daß er z. B. an dem Tage, an welchem der älteste Sohn des prinzlichen Paares geboren wurde, nach Absendung aller Depeschen und Briefe sich und seinem Gehülfen nur kurze Ruhe gönnte, um noch Abends die unter den Vorbereitungen für dies freudige Ereigniß verzögerte Revision älterer Rechnungen vorzunehmen. Selten vereinigten sich in demselben Menschen mit solchem Pflichtbewußtsein, solcher Genauigkeit, eine so ausgezeichnete Sprach- und Rechtskenntniß, eine solche tiefe allgemeine Bildung, solch scharfer Verstand und lauterer Charakter. Ueber die verschiedensten staatsrechtlichen und politischen Gegenstände verfaßte er dem Prinzen auf dessen Wunsch Denkschriften, die in ihrer gedrungenen Kürze und Klarheit das beste Mittel zur Orientirung boten.
St. war streng constitutionell gesinnt und ganz einer volksthümlichen Politik zugethan. Er hielt im allgemeinen zu den Liberalen, hatte jedoch ein offenes Auge für die Fehler dieser Partei, welche aus Mangel an praktischem Sinn und aus ungeeigneter Führung hervorgingen. Als Liberaler an einflußreicher Stelle, und als Sohn seines am Berliner Hofe als „revolutionärer Maulwurf" und „Intrigant“ verketzerten Vaters, wurde er von den damaligen conservativen Kreisen mit scheelen Augen betrachtet; er lächelte darüber, daß er eine Zeit lang das Hauptstadtgespräch bildete und von vielen Seiten hörte, er werde bald nach [311] England – wo er doch gar nichts zu suchen hatte – zurückkehren. Freudig begrüßte er den Anbruch der neuen Aera, aber bald vermißte er feste Ziele und Thatkraft bei dem altliberalen Ministerium. In der Zeit der Gährung suchte der preußische Kronprinz, von St. und Max Duncker berathen, den König für Zugeständnisse an die Liberalen zu gewinnen. Als aber das Ministerium Bismarck ans Ruder gekommen war und in Parlamentsreden, sowie durch die octroyirte Preßordonnanz die preußische Verfassung eigenartig auslegte, wünschte St., der Kronprinz möge jeden Anschein einer Gemeinschaft mit der herrschenden unconstitutionellen Richtung vermeiden, ähnlich wie sein Vater sich gegen Manteuffel’s Regime verhalten hatte. Duncker dagegen war der Ansicht, daß der Kronprinz seine abweichenden Anschauungen nur dem König und dem Ministerium offenbaren solle, so daß draußen niemand etwas von einem Zwiespalt der Meinungen merke. Der Kronprinz folgte dem klar begründeten Rathe Stockmar’s. Daß er in Danzig am 5. Juni 1863 öffentlich für die verletzte Verfassung eintrat, billigte St. sofort; er tadelte aber in einem Briefe an den Kronprinzen freimüthig die Form der Rede. St. hatte seinem fürstlichen Freunde bereits vor dessen Abreise von Berlin Ende Mai 1863 gerathen, durch Schreiben an den König und das Ministerium gegen Octroyirungen zu protestiren; nachdem dies geschehen, wünschte er, daß die Thatsache des Protestes bekannt werde, der Wortlaut jedoch nur, wenn weitere Octroyirungen folgen sollten, die aber glücklicher Weise ausblieben. Dagegen mißbilligte er die Veröffentlichung über Einzelheiten des zwischen dem König und dem Kronprinzen geführten ernsten Briefwechsels als unnütz und unrecht. Trotzdem wurde eine eidliche Vernehmung Stockmar’s über den muthmaßlichen Urheber der Veröffentlichung ins Auge gefaßt; schließlich aber begnügte man sich damit, von ihm die Ableistung des üblichen Kammerherrneides, ohne jede Beziehung auf die unliebsame Publication, zu verlangen.
Die zweite wichtige politische Angelegenheit, bei welcher St. betheiligt war, betraf die schleswig-holsteinische Frage. Er betrachtete diese als eine günstige Gelegenheit für Preußen, sich die Herzen des deutschen Volks zu erobern und einen deutschen Bundesstaat unter preußischer Führung zu gründen. Er schwärmte nicht für die Entstehung eines neuen Mittelstaats im Norden, erkannte aber, daß diese Lösung einzig dem Rechte und den Wünschen nicht nur des schleswig-holsteinischen, sondern des deutschen Volkes entspreche. Eine preußische Vergrößerungspolitik hielt er für eine „Verfälschung“ der besten deutschen Politik Preußens. Demnach wirkte er zu Gunsten des Herzogs Friedrich von Schleswig-Holstein, und dies noch zu einer Zeit, als die Annexionsideen einen Theil der preußischen Liberalen angesteckt hatten. Freilich wußte niemand besser als St., daß Herzog Friedrich von Anfang an seine Hoffnung auf Preußen gesetzt, sich zur Einräumung der vom König verlangten Vortheile für Preußen freudigen Herzens bereit erklärt hatte und auch später noch weitere annehmbare Forderungen bewilligen wollte. Denn St. war es, durch dessen Hände der Briefwechsel zwischen dem preußischen Thronfolger und dem Herzog Friedrich lief und der von dem Rathgeber des Herzogs, seinem Freunde Samwer, über alles unterrichtet wurde. Daß der von echt deutschem Gefühl erfüllte Kronprinz und ein so klarer, gerechter Mann wie St. bis zum Ausbruch des deutschen Krieges das Recht Herzog Friedrich’s unterstützt haben, ist eine handgreifliche Widerlegung des viel verbreiteten Irrthums, der Herzog habe engherzig particularistische Ziele verfolgt. St. hatte von der deutschen Gesinnung, dem Verstand und Charakter des Herzogs eine vortreffliche Meinung. Als jedoch durch den 1866er Krieg die Selbständigkeit Schleswig-Holsteins verloren gegangen war, änderte er zwar seine Ansicht über das, was recht und erstrebenswerth gewesen sei, nicht, aber im Interesse [312] der Befestigung des neu gegründeten Norddeutschen Bundes wünschte er, daß der Spruch des Schicksals über die Herzogthümer endgültig sei.
Ehe diese Frage erledigt war, hatte sich Stockmar’s Befinden verschlimmert; er sah ein, daß, wenn er überhaupt wieder gesund werden könne, er dies „als alleiniges Geschäft betreiben“ müsse. Schwer wurde es ihm, im Juni 1864 den Kronprinzen und dessen Gemahlin um seine Entlassung zu bitten, denn er hatte eine tiefe Zuneigung zu Beiden gefaßt, und empfand die Beweise ihres unbegrenzten Vertrauens als Sonnenstrahlen, die warm in sein einsames Leben fielen. Die beiden fürstlichen Freunde wollten jedoch von einer Trennung für immer nichts wissen, sie beurlaubten ihn vom 1. Juli 1864 ab für unbestimmte Zeit und baten, seinen Rath auch vor seinem Wiedereintritt in Anspruch nehmen zu dürfen. Berathen hat St. sie bis zu seinem Tode – wieder eintreten konnte er nicht.
Die im Süden unternommene Cur brachte keine Besserung; bei Beginn des Jahres 1865 vermochte er nur noch sehr wenig zu gehen, fühlte aber den Kopf wieder freier. Nun benutzte er seine Muße, zu der geliebten Rechtswissenschaft zurückzukehren und in seinen „Studien über das preußische Staatsrecht“ (in Aegidi’s Zeitschrift für deutsches Staatsrecht Bd. I, S. 179–243 und S. 477 bis 484 von 1865–67 erschienen) öffentlich-rechtliche Ausführungen zu liefern, die durch die scharf logische, auf echt wissenschaftlicher Methode beruhende Untersuchung, durch die ausgezeichnete klare Darstellung und das merkwürdige Ergebniß das größte Aufsehen hervorriefen, und den Ruhm des Verfassers als eines der besten juristischen Schriftsteller fest begründeten. Mit Ingrimm hatte St. gesehen, wie die Liberalen bei der Berathung der preußischen Verfassung von 1848 herrliche Grundsätze in den Verfassungsentwurf aufnahmen oder darin stehen ließen, ohne sich klar zu machen oder doch auszusprechen, welche rechtliche Wirkung die Verletzung dieser Grundsätze haben solle, welche Rechtsmittel zu ihrer Aufrechthaltung zu Gebote ständen. Diesem Mangel an praktischem Sinn oder juristischer Klarheit legte er es mit Recht zur Last, daß nahezu alle Hauptpunkte der auf jenen Arbeiten von 1848 fußenden preußischen Verfassung von 1850 unklar und streitig waren. Ja, er gelangte zu der Ueberzeugung und begründete dies in dem ersten Abschnitt der „Studien“ unwiderleglich, obigen Mängeln sei es zuzuschreiben, daß der König von Preußen jedes Gesetz, und sogar die Verfassung selbst, durch eine Verordnung, zu welcher er nur der Gegenzeichnung eines Ministers bedürfe, rechtsgültig und verbindlich abändern könne. Trotzdem St. in seiner Arbeit selbst darauf hingewiesen hatte, daß moralische und politische Erwägungen das preußische Königthum vom „legalen Umsturz“ der Verfassung abhalten würden, daß das preußische Volk sein Verfassungsleben unter keinen Umständen aufgeben könne und werde, zogen die Liberalen gegen den durch die Chiffre „E. A. Chr.“ verhüllten, für einen Gesinnungsgenossen des Rundschauers der Kreuzzeitung gehaltenen Autor ins Feld. H. A. Zachariä behauptete, die in dem Aufsatz ausgesprochene Meinung involvire den reinsten Absolutismus; R. John und L. v. Rönne griffen die Beweisführung mit unzureichenden Gründen an. Gegen die beiden letzteren richtete er die schlagende Replik: „Dr. E. A. Chr., Zur Entstehungsgeschichte und Auslegung des Artikels 106 der preußischen Verfassung (Hamburg 1866)“. Er war befriedigt davon, in strenger Wahrhaftigkeit und ohne Rücksicht auf Parteien oder Personen den wundesten Punkt des preußischen Verfassungsrechts bloßgelegt zu haben, damit spätere Geschlechter ihn heilen und jedenfalls vor ähnlichen gesetzlichen Bestimmungen bewahrt bleiben möchten.
St. war es auch, der in diesen Studien den Gegensatz zwischen Gesetz im materiellen und im formellen Sinne, den andere vor ihm nur dunkel geahnt [313] hatten, mit scharfem Geiste erfaßte; er erhob die in der Wissenschaft des Staatsrechts jetzt herrschende zwiespältige Auffassung des Begriffs des Gesetzes zu einer allgemeinen und grundsätzlichen Bedeutung, wie Albert Hänel in den Studien zum deutschen Staatsrecht (II, 99 fg. 1888) treffend bemerkt.
Hatte St. bisher für andere gelebt, von seinen Freunden verehrt und geliebt, aber ohne von ihnen so viel zurückzuempfangen, wie er gegeben, weil er die umfassendste Bildung, das sicherste Urtheil, das zur Hülfe bereiteste Herz besaß, so wurde ihm jetzt noch das große Glück zu theil, eine Lebensgefährtin zu gewinnen, welche ihm reichlich alles vergalt, was er ihr entgegen brachte. Am 15. Mai 1869 vermählte er sich mit der verwittweten Frau B. v. Mitzlaff, geborenen v. Schmidthals, einer Freundin seiner Schwester, die er seit seiner Jugend innig verehrt hatte. Nun begann für St. die glücklichste Zeit des ganzen Lebens. Denn diese Frau von seltener Begabung und Liebenswürdigkeit sorgte nicht nur für möglichste Linderung der körperlichen Schmerzen, sondern nahm auch an allen seinen geistigen Interessen und Arbeiten lebhaften Antheil; sie ward seine Mitarbeiterin und Vertraute in allen Dingen.
Die Krankheit, welche ihn mit der Zeit vollständig am Gehen hinderte und seit der Mitte der siebziger Jahre ihm auch das Schreiben erschwerte, wurde von St. ohne eine Klage, ohne einen Ausdruck des Schmerzes im Antlitz, mit eiserner Selbstbeherrschung ertragen. Mit inniger Theilnahme empfing er den Besuch naher Freunde und seines um 13 Jahre jüngeren Bruders Karl zu Berlin im Winter und auf der 1872 erworbenen Friedrichrodaer Besitzung im Sommer. Oft zeigte sich dann, daß sein Leiden den feinen Humor und die Freude an liebenswürdigen Scherzen nicht zu zerstören vermocht hatte. Auch Damen besuchten ihn häufig, wurden von ihm mit herzlicher Freundlichkeit empfangen und, wenn sie der Hülfe bedurften, gern berathen. Der Verkehr mit Fremden aber, die ihn aufsuchten, wurde ihm von Jahr zu Jahr schwerer und anstrengender; gar mancher von ihnen wird sich über die dann eintretende Frostigkeit seines Wesens gewundert und den Wunsch ferneren Verkehrs ohne weiteres aufgegeben haben. Der deutsche Kronprinz und die Kronprinzessin kamen fast jeden Sonntag zu St., wenn dies in Berlin möglich war; die Kaiserin Augusta ließ sich, selbst nicht mehr des Treppensteigens fähig, in Stockmar’s Haus tragen, um den von ihr ganz besonders geschätzten Mann in Angelegenheiten des größten persönlichen Vertrauens zu sprechen. Der Großherzog von Baden und seine Gemahlin, Mitglieder des englischen Königshauses und der holsteinischen Herzogsfamilie, die Kinder des kronprinzlichen Paares erfreuten ihn durch Beweise treuer Anhänglichkeit.
Auch in dieser Lebensperiode beschäftigte ihn eine wichtige politische Angelegenheit in hervorragender Weise. Als 1867 in Frage gestanden hatte, ob die echt deutsche, Preußen freundliche Haltung des Herzogs Friedrich von Schleswig-Holstein gegen geflissentliche Entstellungen durch Veröffentlichung des urkundlichen Materials erhärtet werden solle, hatte St. entschieden davon abgerathen, weil man zu jener Zeit nur wenige bekehrt, sich gegenseitig aber gereizt haben würde. Dieser Rath sollte gute Früchte bringen. Kronprinz und Kronprinzessin wünschten, der herzoglichen Familie eine Genugthuung für das 1866 erlittene Unrecht zu geben und begünstigten daher die Neigung, welche im Frühjahr 1878 der älteste Sohn zu der Prinzessin Auguste Victoria von Schleswig-Holstein gefaßt hatte. St. verhandelte für die kronprinzlichen Herrschaften mit Samwer, dem Vertrauten der holsteinischen. Da der Kaiser und Fürst Bismarck einen Verzicht des Herzogs Friedrich forderten, dieser aber nur zu der Erklärung bereit war, daß das Wesentliche dessen, was er früher erstrebt habe, nämlich die Verbindung der Herzogthümer mit Deutschland erreicht, das nicht Erreichte aber [314] nicht von solcher Bedeutung sei, daß er auch nur eine Agitation zur Erreichung desselben vor seinem Gewissen rechtfertigen könne, so zogen die Verhandlungen sich hin. St. bemühte sich lebhaft, eine Fassung der Erklärung zu Stande zu bringen, deren Annahme dem schwer kranken Herzog möglichst leicht sei. Am 3. Januar 1880 hatte dieser Samwer ermächtigt an St. zu schreiben, daß er die vom Kronprinzen gestellten Amendements seines Entwurfs annehme. Ein befriedigendes Ergebniß schien gesichert. Aber ehe der Thronfolger dem Kaiser die Erklärung des Herzogs vorlegen konnte, starb dieser zu Wiesbaden am 14. Jan. 1880. St. schrieb am selben Tage an Samwer: „Venit mors velociter. Das Geschick des armen Herrn, den ich aufrichtig verehrte, rührt mich tief. Er stirbt vor einer sich vorbereitenden glücklichen Wendung, sein Leben wird durch die Schwierigkeiten dieser verkürzt und seine letzte Sorge betrifft diese Erklärung, welche eine Art Abrechnung mit der Vergangenheit enthält.“ Da die Vormünder des jungen Herzogs von Schleswig-Holstein zu einem Verzichte nicht befugt waren, erledigten sich alle Schwierigkeiten rasch; schon am 27. Januar 1880 konnte der Kronprinz der Herzogin-Wittwe die Genehmigung des Kaisers zur Werbung des Enkels mittheilen. St. wurde auch später noch in vielen mit dieser Verbindung zusammenhängenden Fragen um Rath gefragt.
In der Hauptsache aber beschäftigten ihn seit seiner Vermählung geschichtliche Forschungen, bei denen seine Gattin ihm hülfreich zur Seite stand. Vom Vater war ihm ein Schatz von eigenen Aufzeichnungen und von Documenten vererbt worden, die für die Erkenntniß der neueren politischen Geschichte Europas werthvoll waren. St. ordnete das reiche Material, prüfte mit sicherem Tact, was davon aus Rücksicht für Lebende der Mitwelt vorenthalten bleiben müsse, und verband das Andere durch einen aus seiner reichen Geschichtskenntniß oft ergänzenden, scharf beleuchtenden Bericht. Seine eigene Arbeit suchte er möglichst zu verdecken, so das er dem oberflächlichen Blicke nur als Herausgeber erscheint; schon früh hat aber der Historiker R. Pauli (in den Göttingischen gelehrten Anzeigen 1872, Stück 37) Stockmar’s Antheil gewürdigt und seine Arbeit als Ausfluß feinster geistiger und stilistischer Bildung bezeichnet. Man bemerkt in diesem vor dem deutsch-französischen Kriege geschriebenen Werke in den Frankreich betreffenden Partien, welcher politische Scharfblick auch dem Sohne St. inne wohnte. Im J. 1872 erschien das Buch unter dem Titel: „Denkwürdigkeiten aus den Papieren des Freiherrn Christian Friedrich v. Stockmar, zusammengestellt von Ernst Freiherrn v. Stockmar.“ Es wird allgemein als das Muster eines Memoirenwerks und als eine reiche, vorzügliche Quelle für die Erkenntniß der neueren Geschichte anerkannt und ist 1872 in englischer Uebersetzung (2 Bde., herausgegeben von Max Müller), sowie 1878 in französischer Verunstaltung (Saint-René Taillandier: le roi Léopold et la reine Victoria, 2 Bde.) auch weiten ausländischen Kreisen bekannt geworden. Die auf den Staatsstreich Napoleon’s bezüglichen Actenstücke waren von ihm in Gemeinschaft mit F. H. Geffcken, dem die treffliche Relation in diesem Buche zu danken ist, bereits 1870 bei Duncker & Humblot unter dem Titel „Der Staatsstreich vom 2. December 1851 und seine Rückwirkung auf Europa“ anonym herausgegeben, weil er den Ursprung der Veröffentlichung verbergen wollte. Auf dasselbe Thema bezieht sich seine Mittheilung über „den Staatsstreich und die Orléans“, welche er im „Neuen Reich“ (Jahrg. 1876, Bd. 2, S. 881 fg.) aus Anlaß der damals bekannt gewordenen Palmerston’schen Aufzeichnungen machte. Auch ergriff er noch einige Male die Feder zur Abwehr ungerechter Angriffe gegen den heißgeliebten Vater (vgl. Deutsche Rundschau 1884, Bd. 40, S. 461 fg.).
Sonst aber beschäftigte er sich in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens eingehend mit der französischen Revolution, die ihn schon als Docenten in Jena zu Studien angeregt hatte. Bei seinen, mit strenger Prüfung der Quellen in [315] die kleinsten Einzelheiten dringenden Forschungen fand er viel neues, aber die Arbeit schritt bei dieser Gründlichkeit, zumal nach der Behinderung im Schreiben, nur langsam vorwärts. Er entwarf eine Reihe von Bildern der französischen Zustände und Personen; aber nur eins „Die Flucht des Grafen von Provence (Ludwig XVIII.)“ wußte Heinrich Kruse dem Schreibfach zu entlocken, um es 1877 in Nord und Süd (IV, 66–83) dem Publicum zugängig zu machen. Die andern Schilderungen waren theils nicht abgeschlossen, theils genügten sie St. noch nicht: er war gegen sich selbst der strengste Richter und beherzigte bei seinen Arbeiten fast zu sehr das Wort, welches er seinem Freunde Girtanner 1851 öffentlich zugerufen hatte: „Klarheit ist die erste Tugend des Schriftstellers, denn ars longa, vita brevis.“ Er brachte daher nur Besprechungen über die von ihm studirten Werke in Sybel’s historischer Zeitschrift an die Oeffentlichkeit. Aus Stockmar’s litterarischem Nachlaß aber ist inzwischen das Gegenstück zur Flucht des Grafen von Provence, die ergreifende Schilderung „Ludwig XVI. und Marie Antoinette auf der Flucht nach Montmédy im Jahre 1791“ (Berlin 1890), von Emil Daniels herausgegeben worden.
St. fühlte in den letzten Jahren, daß die fortschreitende Lähmung ihm auch das Hören erschwere, und hoffte, daß er von hinnen scheiden werde, ehe sein klares Denkvermögen stumpf werde. Diesen Wunsch erfüllte ein gütiges Geschick: in der Frühe des 6. Mai 1886 raffte ihn ein kurzes Magenleiden dahin. Er verschied sanft, den Namen der inniggeliebten Frau auf den Lippen. Neben dem Vater ruht er in der Coburger Familiengruft.
St. hat sich in die Frage der menschlichen Willensfreiheit vertieft und hierbei die Ueberzeugung bekannt, daß der Mensch nicht sich selbst, wohl aber Andere zu bessern vermag, und daß wir deshalb „einander helfen müssen wie der Blinde und der Lahme“. Diesen Glauben im Herzen, ist er seinen Nebenmenschen mit der tiefsten Liebe, deren die menschliche Natur fähig ist, gegenüber getreten.
- Quellen: Ungedruckt: Briefwechsel Stockmar’s mit K. F. L. Samwer. – Jenaer Universitätsacten. – Mehrere im Besitze der verwittweten Frau Baronin v. Stockmar befindliche Schriftstücke. Gedruckt: Gustav Freytag in den gesammelten Werken XVI, 89–99. Leipzig 1887. – Heinrich Kruse in der Kölnischen Zeitung v. 25. Juli 1886, zweites Blatt. – Karl Samwer in: Die Frau im gemeinnützigen Leben, Jahrg. 1886, S. 97–102. – R. Haym, Max Duncker. Berlin 1891. – Th. Martin, Das Leben des Prinzen Albert. Uebers. von Lehmann. Bd. 3–5. Gotha 1879–81. – A. Sohr, Heinrich Rückert. Weimar 1880. – A. Stern, Hermann Hettner. Leipzig 1885. – H. Schulze, Preußisches Staatsrecht Bd. 2, Abth. 2, S. 230 fg. Leipzig 1874.