Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Einunddreißigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Zweiunddreißigstes Kapitel
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Einunddreißigstes Kapitel.




Die Morgenstunden waren dem Unterrichte gewidmet, und in dieser Beziehung wie in so vielen anderen unterschieden sich die Ansichten der Madame S. von denen der Gräfin *. Diese betrachtete die Lernzeit einer Dame als völlig überflüssig und entband mich beinahe gänzlich vom Unterricht, während erstere nicht genug Weisheit aus mir heraus pressen zu können meinte. Damit es ja kein Intermezzo zwischen den Lectionen gebe, trug sie mir sehr ausdrücklich auf, des Abends alle Hefte noch zu liniiren, die Vorschriften zu schreiben, und wenn sie nicht an ihrem chronischen Uebel einer widrigen Halskrankheit zu Bette lag, was sehr oft der Fall war, so wohnte sie den Stunden bei. Dies hielt jedoch die Kinder keineswegs ab, sich auf das widerspenstigste und unbändigste zu betragen. Was die Verwilderung, Kühnheit und Bosheit der Damen und Kinder dieser Familie betrifft, so ist es nicht leicht, [318] einen Begriff davon zu geben, ohne Anstand und Würde zu verletzen. Die Damen, die mit den Aufmerksamkeiten ihrer Männer nicht zufrieden waren, entschädigten sich mit denen anderer Herren, ohne sich vor jenen, ihren Kindern und Dienern im geringsten zu geniren. Die Kinder ahmten natürlich das Beispiel der Mütter in allem nach, aber wenn ich ihnen ihre Unsitte verwies, fuhren mir die Damen wie Furien auf den Hals, schrieen, schimpften, tobten und droheten mit allerlei Strafen, wenn ich mich unterstehe, ihren Kindern den Respekt zu versagen. Ganz folgerecht fühlten sie sich in ihrer Würde beeinträchtigt, wenn ich ihre Laster an den hoffnungsvollen Sprößlingen rügte. Ich hatte bis dahin jederzeit eine gewisse politische Vorliebe für das israelitische Volk gehegt, will auch keineswegs behaupten, daß es nicht sehr vortreffliche Menschen darunter gebe; allein diese Familie trug sowohl in psychischer wie in physischer Beziehung alle Symptome einer uralten, gänzlich degenerirten Raçe an sich. Aeußerlich und innerlich siech und mit ekeln Krankheiten behaftet, welche diesem Volke eigen sind, dabei im höchsten Grade wollüstig und in ihren Leidenschaften zügellos, konnte sie mir nur Verachtung einflößen, die ich kaum mit aller Selbstüberwindung modificiren konnte. Kein Wunder, daß die beiden Schwiegersöhne des Ministers, echt polnische Edelleute, ihren Ehehälften keine sonderliche Huldigung widmeten.

Nachdem die Kinder von ein halb 9 bis 12 Uhr, wo wir frühstückten, ununterbrochen gearbeitet hatten, gingen wir bei schönem Werter spazieren, gewöhnlich rechts durch die etwas enge Straße in den sächsischen Garten, einen herrlichen Park, der seinen Ursprung dem prachtliebenden Könige August dem Starken verdankt. Von dessen Eingange führt ein breiter schöner Weg nach dem gegenüber liegenden neu erbauten sächsischen Palast, welchem nach der Revolution der alte hatte Platz machen müssen. Er besteht aus zwei Schlössern, welche durch zwei lange Reihen herrlicher Säulen verbunden sind. Diese tragen auf ihren Häuptern eine mit Statuen geschmückte Galerie und bilden die Grenze des sächsischen Gartens, der in allen Richtungen von angenehmen Spaziergängen durchschnitten und mit zahlreichen Bildsäulen, Fontänen, Pavillons und Blumen-Parthieen geziert ist. Die Bäume sind meist alte Riesen von verschiedenen Gattungen und müssen den Garten während des Sommers zu einem der schattigsten und kühlsten machen. Sobald man den Säulengang des sächsischen Palastes durchschritten hat, [319] befindet man sich auf dem sächsischen Platze, zu dessen beiden Seiten sich zwei schöne Parterre-Gebäude befinden, von denen das eine die colossale Hauptwache der Cavallerie, Infanterie und Artillerie bildet, das andere die Waffenkammer der Cavallerie und der Perser. Die vierte Seite dieses magnificenten Platzes, nach der Krakauer Vorstadt zu, besteht aus lauter opulenten neuen Gebäuden, deren Inhaber meist russische Potenzen sind. Im sächsischen Palaste wohnt der Fürst Gortschakoff mit seiner Familie, den ich mit seinen zwei Töchtern von 16 bis 18 Jahren sehr oft sah. Auf der anderen Seite wohnte der General U., und ich ahnete damals nicht, daß ich später seine Gemahlin würde in D… kennen lernen.

Auf der Mitte des sächsischen Platzes steht eine aus gußeisernen Platten zusammengesetzte, gegen sechszig Fuß hohe Pyramide, mit welcher die russische Regierung die Stadt beschenkt hat. Dieser eiserne Koloß mag großen industriösen Werth haben, künstlerischen gewiß nicht, auch bringt er nur den Eindruck der Schwerfälligkeit und des daraus entspringenden Mißbehagens hervor. Dieser eiserne Riese fordert den Vergleich mit den egyptischen Pyramiden heraus, und ist gegen sie doch nur ein Zwerg, der obendrein noch durch seinen Ursprung beleidigt und durch seinen Zweck erbittert. An der Spitze dieses Obelisken prangt an jeder der vier Seiten der in Bronze gegossene russische Doppel-Adler, der Fuß desselben ist ein aus Ziegelsteinen zusammengefügtes Viereck von ungeheuerem Umfange, aus dessen Ecken ein mannshohes, fünf Ellen vorspringendes Postament wächst. Auf diesen vier Piedestalen thronen acht majestätische Löwen, je über zweien schwebt wieder ein russischer Adler. Dieses Monument, welches 1840 errichtet wurde, ist dem Andenken der acht Generale gewidmet, welche in der letzten Revolution von dem wüthenden Volke theils an Laternenpfähle geknüpft, theils in Stücken gehauen wurden, weil sie, geborene Polen, der russischen Regierung als Spionen-Chefs gedient hatten. Jedenfalls sollten diese ehrenwerthen Männer keine Löwen, sondern Füchse zu Attributen haben.

Auf dem zwischen der sogenannten neuen Welt und der Krakauer Vorstadt liegenden Platze steht die colossale Bronce-Statue des großen Kopernikus. Der unsterbliche Entdecker der Gesetze des Sternenhimmels sitzt auf einem fünf Ellen hohen Marmor-Postament, in der Hand hält er einen Globus, auf den er den forschenden Blick heftet; der Ausdruck [320] des Gesichtes entspricht ganz dem starken Geiste, welcher den Erdball fortschleuderte und die Sonne fest hielt. Bewundernswürdig ist der Faltenwurf des Gewandes. Thorwaldsen und Tatakiowicz haben 1830, also 300 Jahre später als Kopernikus sein Welt-System verkündete, das Denkmal geschaffen. Der Platz, auf dem es steht, war ihm ehedem sehr entsprechend, denn es steht vor dem Palaste Joseph Poniatowski, welcher „die Gesellschaft der Wissenschaften" umfaßte; aber Rußland vernichtete diese und ließ ihre Bibliothek nach St. Petersburg schaffen. – Die Krakauer Vorstadt, eine halbstündige Straße, präsentirt an jedem ihrer Enden ein Denkmal. Geht man von dem des Kopernikus hinab bis zum Ende, wo sie in die Podwalstraße übergeht, so begegnet man einer Menge colossaler alter Adels-Paläste, fünf prachtvollen Kirchen, dem Postgebäude, und trifft zuletzt auf die herrliche Gedenksäule Sigismund III., welcher Warschau zur polnischen Residenzstadt erhob. Es gilt für das werthvollste Denkmal Warschaus. Aus einem umfangreichen viereckigen Postamente von Granit steigt eine schlanke Marmor-Säule empor, auf deren nach allen Seiten sie weit überragenden viereckigen Marmorkrone die aus Bronce gegossene und vergoldete Statue Sigismunds steht, in der rechten Hand das Schwert, in der linken das Kreuz haltend. Mit einem tiefen, stolzen Herrscherblicke schaut der alte königliche Stilit über die Stadt hin, als wolle er sie für alle Ewigkeit beherrschen, und scheint nicht zu wissen, daß sie schon längst eine russische Hauptstadt ist. Die Größe des Postamentes, die zarte Schlankheit der Säule mit ihrer ungeheueren Krone und dem Broncekoloß machen eine so überwältigende Wirkung auf den Beschauer, daß man zunächst fragt, wie das schlanke, über 50 Fuß hohe Werk aus eigenen Kräften stehen kann? Man ist optisch getäuscht, die dünne Säule scheint zu wanken, die Bildsäule scheint sich zu bewegen, als wolle sie zürnend herabsteigen, um zu fragen, was die schmucken Moskoviter-Nasen in Warschau wollen? So lange diese beiden Monumente noch stehen, darf die Regierung keinen Augenblick sicher sein, denn sie sind eine ewige Quelle des Patriotismus. Kein Pole geht an ihnen vorüber, ohne einen düster-glühenden Blick darauf zu werfen, viele murmeln Flüche, manche knirschen mit den Zähnen oder beißen in den Schnurrbart.

Um zwei Uhr kehrten wir zu unsern Studien zurück in das **-Ministerium, über dessen Bauart beiläufig bemerkt sei, daß dieser Palast an seinen beiden Enden einen hervorspringenden Flügel hat, [321] mehrere Höfe und nach hinten einen angenehmen Garten besitzt. – Von 2 bis 4 Uhr arbeiteten wir, von 4 bis 6 war Erholung, beziehendlich Diner, von 6 bis 8 Uhr wieder Arbeitszeit.

Ich lernte in Warschau mehrere Gouvernanten und Hauslehrer kennen, welche sämmtlich in die Klage über die Kinderzucht und unwürdige Behandlung der Lehrenden einstimmten. Eines Tages wurde ich von einem beim Liceum angestellten deutschen Professor aufgefordert, zu einer Collecte beizutragen, welche er in Verbindung mit einem deutschen Arzte für eine deutsche Erzieherin machte. Er erzählte mir, daß er und sein Freund kürzlich durch einen Auflauf vieler Leute an eine Hausthüre gelockt worden sei, wo er eine ohnmächtig hingesunkene Frauensperson erblickt. Der Arzt habe sogleich aus der nächsten Apotheke ein belebendes Mittel herbeigeholt und die Bewußtlose zu sich gebracht. Ihre Geschichte war eine höchst traurige. Eine polnische Familie hatte sie aus Danzig mit sich auf das Land bei Warschau genommen, die Dame des Hauses war bald durch die Verliebtheit ihres Gatten gegen die Gouvernante zur unmäßigsten Eifersucht gereizt worden und hatte sie durch ihre Knechte körperlich mißhandeln lassen. Die Unglückliche hatte sich durch ihren tugendhaften Widerstand auch die Feindschaft ihres Herrn zugezogen, von allen Seiten gemißhandelt das Haus verlassen und war nach Warschau gekommen, um beim Consul und der russischen Behörde ihr Recht zu suchen. Allein ihre pflichtvergessene Herrschaft hatte sie solcher Vergehen beschuldigt, daß sie noch bestraft worden war. Ohne Geld, ohne Schutz und Empfehlung, war sie bald in nackte Armuth gerathen, und hatte bereits zwei Tage keine Nahrung gehabt, als sie in einem Zustande völliger Erschöpfung gefunden worden war. Die Collecte fiel glücklicher Weise so reichlich aus, daß sie nicht nur Reisegeld, sondern auch noch eine bedeutende Summe erhielt, so daß sie Warschau bald verließ. Solche und ähnliche Fälle kommen in Rußland täglich vor, und wenn ein Deutscher oder eine Deutsche Hiebe bekommt, so krähet kein Hahn darüber, während Engländer und Franzosen durchaus respectvoll behandelt werden, zwar nicht ihrer selbst, sondern ihrer respectiven Kriegsflotten wegen.

Da mein Aufenthalt in Warschau gerade in die Zeit fiel, wo die Westmächte sich mit der Türkei verbanden (zu Anfang des Jahres 1854), so hatte ich trotz der großen Vorsicht, welche die Polen wegen des Spionier-Systems der russischen Regierung beobachten, dennoch oft Gelegenheit, [322] ihre Hoffnung aussprechen zu hören, daß das vielfräßige zweiköpfige Ungeheuer nun werde gedemüthigt werden. Damit Niemand jedoch den eigentlichen Kriegszustand erfahre, wurden alle Berichte darüber aus den Zeitungen geschnitten, ja selbst die Briefe, welche vom Auslande kamen, waren geöffnet worden, und diejenigen, welche eine politische Bemerkung oder Nachricht enthielten, erreichten nie den Ort ihrer Bestimmung.

An einem schönen Sonntage des Februar machte ich wieder einen Ausflug mit meinen neuen Freunden, wobei wir uns zunächst die Krakauer Straße entlang nach dem dreieckigen Sigismundplatze begaben, der nach dem alten Königsschlosse und dem Denkmale genannt ist. Das Schloß ist ein ganz schlichtes zweistöckiges Gebäude, welches durch nichts als durch einen ansehnlichen Thurm hervorsticht, aber demungeachtet nichts weniger als imposant aussieht. Zwei Haupteingänge sind in der Vorderseite, wo jeder von Wachtposten zurückgewiesen wird, der nicht Uniform eines russischen Ranges trägt oder nicht durch eine Karte beweist, daß er durch höheren Befehl berufen ist. Innerhalb des Schlosses sind mehrere geräumige, schlecht gepflasterte Höfe, die stets mit russischem Militair belebt sind und ganz das Ansehen von Kasernenhöfen haben. Es ist zu verwundern, daß Sigismund III., der Erbauer dieses Schlosses, welches die eine Seite des Platzes bildet, sich mit der Lage in Nähe einiger häßlichen Straßen begnügte, denn nach den Urkunden Warschaus war es das letzte Haus oder der Schlußstein bei der Erbauung der Stadt. Allerdings ist in späteren Jahrhunderten viel nachgebaut worden, aber es bildet doch immer mit der letzten Häuserreihe der alten Stadt einen spitzen Winkel, und mit ihm beginnt zugleich die schöne Krakauer Vorstadt. Demnach bildet es zugleich den Uebergang zu der neuen Stadt (nicht Neustadt). So häßlich die Lage des Schlosses von vorn ist, so reizend ist sie von der Rückseite, denn es steht auf dem äußersten Rande des zur Weichsel hinabführenden, hier über dreihundert Fuß hohen Abhanges, welcher sich in drei Terrassen abstuft. Den Vordergrund auf der rechten und linken Seite abgerechnet, welcher unten am Ufer mit häßlichen Hütten bedeckt ist, hat das Schloß eine reizende Aussicht über den mächtigen Strom, seine belebte Schiffbrücke, das weithin gedehnte Praga, den zur Festung gehörigen Brückenkopf, den Lustort Saska kepa – sächsische Insel –, das in stündiger Entfernung gelegene deutsche Dorf Grochow, was durch die bei ihm in der letzten [323] Revolution gelieferte Schlacht bekannt ist, über Wiesen und Felder und Wald; das Schloß bietet sogar von Praga, der Weichsel und Schiffbrücke aus einen stattlichen Anblick. Auf der obersten Terrasse befindet sich der Länge des Schlosses nach eine schöne Linden-Allee von alten Bäumen, auf der zweiten ein Garten, die dritte zieht sich bis an den Strom hinab und ist mit einzelnen Garten-Anlagen, Gebüsch und Rasen bedeckt. In diesem alten Königsschlosse wohnt jetzt Fürst Paskewicz und die vielen Offiziere des Generalstabes. Auf dem Nordflügel des Schlosses befindet sich der Telegraph, der Warschau in ununterbrochener Verbindung mit dem kaiserlichen Schlosse zu St. Petersburg erhält und seine Nachrichten in drei Stunden dorthin befördert. Was würde der alte Polenkönig sagen, wenn er diese Russificirung erblickte?

Eine erwähnenswerthe Eigenthümlichkeit Warschaus ist sein Bewachungssystem. Es hat 20 Hauptwachen, auf jedem Platze und in jeder Straße sind wieder Wachtbuden, welche von Veteranen besetzt sind, die in ihrer grünen Uniform und mit langen Hellebarden bewaffnet, das Treiben des Volkes beobachten. Bemerkt einer dieser Aufpasser etwas, das ihm verdächtig vorkommt, so giebt er seinem nächsten Nachbar mit dem Spieße ein Zeichen, was so lange weiter befördert wird, bis es in die Hauptwache kommt. Diese Wachtbuden fallen dem Fremden sehr auf, und es bedarf keines mehrtägigen Aufenthaltes, um den Ankömmling zu überzeugen, daß er sich in einer militairischen Stadt befindet. Hier ist alles Regierungs-Institut und militairisch: Lehranstalten wie Feuerlöschanstalten, Theater wie Spione, Versorganstalten für Dienstboten wie Essenkehrer, Lampenputzer wie Straßenkehrer, ja sogar die öffentlichen Mädchen, denn ich sah verschiedene Male ganze Trupps käuflicher Schönheiten in Reihe und Glied durch die Straßen nach dem für sie eigens bestimmten Spitale treiben.

Aber trotz des fabelhaften Ueberwachungssystems, das sich wie ein großes Netz über Warschau ausbreitet, werden hier fortwährend bei eintretender Dunkelheit und selbst bei Tage Raub- und Mordanfälle verübt, so daß ein einzelner Mensch sich nicht ohne Gefahr in entlegene Straßen begeben kann. Alle Tage werden Menschen auf der Straße beraubt, bisweilen ganz ausgezogen, viele ermordet gefunden. Diese Unsicherheit kommt aber daher, wie man mich bestimmt versicherte, daß alle Sicherheitsbeamte, Budniks (Veteranen), Nachtwächter, Polizei und Militair sich auf Straßenraub legen, und zahllose Menschen werden von diesen [324] Organen der Regierung angefallen, geknebelt und beraubt. Je nöthiger daher dieses Wachsystem dem russischen Gouvernement zur Beaufsichtigung des Volkes und zur Unterdrückung jedes Aufstandes ist, desto unheilvoller ist es für die Bevölkerung der Stadt, und der Haß der letzteren gegen das Russenthum wird dadurch noch gesteigert.

Unsere Wanderung richtete sich jetzt nach der Citadelle, dieser furchtbaren Zwangsjacke von Warschau, welche der Kaiser Nicolaus die Polen „zur Strafe“ selbst bauen ließ, die 1832 angefangen und schon 1835 vollendet ward, natürlich auch auf polnische Kosten. Herr D. hatte sich eine Eintrittskarte verschafft, vermittelst deren wir in dieses kriegerische Heiligthum gelangten.

An dem äußersten nördlichen Ende der Stadt, aber noch innerhalb ihrer Grenzlinien, finden wir das gewaltige Bauwerk, welches trotz seines tyrannischen Zweckes sehr viel zur Schönheit des Bildes beiträgt, das Warschau von der Ost- und Nordseite gewährt. Es liegt auf dem Plateau des Weichselufers und in gleicher Höhe mit der Stadt, von den letzten Häuserreihen nur einige hundert Schritte entfernt. Auf der Südseite hat die Festung vermöge des gemach aufsteigenden Stromufers nur eine unbeträchtliche Höhe, ihre Hauptstärke besteht in den zahllosen, an allen Ecken und Enden hinabzielenden Feuerschlünden. Durch das der Stadt zugewendete Thor gelangt man in einen tiefen künstlichen Hohlweg, der an mehreren Punkten gesperrt werden kann. Hinter einer ungeheueren Zugbrücke gelangt man zu dem Nachthore und auf die feste Brücke des Wallgrabens, in dessen Tiefe man mehrere fensterlose Häuser bemerkt, die als Pulvermagazine dienen. Der innere Raum der Festung bildet ein Viereck von enormer Größe. Zwischen den thurmhohen Gebäuden, welche weit über die Schutzwälle hinausblickten, befinden sich eine Menge großer, freier Plätze, die Hauptgebäude sind zusammenhängend in geraden Linien aufgestellt, so daß sie drei parallel laufende, in einander stehende Quadrate bilden. Die Seite nach der Stadt enthält Niederlagen, Stallungen und Werkstätten, die nach der Weichsel liegende aber Vorrathsgebäude, welche die Garnison im Fall einer Belagerung auf ein Jahr verproviantiren können.

In der Mitte des größten viereckigen Platzes steht ein funfzig Fuß hoher, aus Gußeisen erbauter Obelisk, der dem Andenken des Kaisers Alexander geweiht ist, dessen Namen mit verschiedenen Angaben auf der einen Seite in großen goldenen Buchstaben glänzt. Auf der entgegengesetzten [325] stehen Notizen aus der kurzen Geschichte der Citadelle, welche auch den Namen jenes Herrschers trägt. Die Kirche der Festung steht auf einem offenen Platze und ist mit allem Prunke des griechischen Cultus geschmückt. Die Festung selbst nimmt einen Flächenraum von dreiviertel Stunden Umfang ein, gehört zu den größten, die ich gesehen, ist aber weit davon entfernt, den Eindruck der Unbesiegbarkeit hervorzubringen. Doch genug der Beschreibung von Tod und Verderben bringenden Gegenständen, sie können mich höchstens genug interessiren, um sie kennen zu lernen, aber die Erinnerung daran bleibt eine unheimliche.

Den Abend brachte ich mit meinen Freunden in einer aus Deutschen und Polen bestehenden Gesellschaft zu, was mir reichlichen Stoff zu Beobachtungen, Vergleichen und Folgerungen gewährte. – Ich beschränke mich jedoch auf die Bemerkung, daß Polen sehr nachteilig auf die Entwickelung des deutschen Charakters wirkt und daß sich keine Nationalität so schnell verwischt als die deutsche. Das kommt vielleicht gerade von der gerühmten deutschen Universalität her, welche sich viel damit weiß, daß sie die Vorzüge aller Nationen in sich vereinige, aber darum auch in nichts die erste Rolle spielt, denn wer alles sein will, kann in Keinem außerordentlich sein. Wahr ist es, daß deutsche Treue und Mannhaftigkeit in aller Welt bekannt waren, seitdem jene alemannischen Gesandten den römischen Cäsarenknechten sagten: Nulla gens in orbe terrarum fide atque virtute supra Germanos! Allein die Tugend wird eben leicht durch böse Beispiele verdorben, Treue und Mannhaftigkeit zumal. Jene Vergänglichkeit der deutschen Originalität mag dazu noch in dem schnellen Fassungsvermögen der deutschen Natur ihren Grund haben, wie auch in der gerade daraus entspringenden Vorliebe für alle Fremde. Daraus entwickelt sich eine Virtuosität, die sich darin gefällt, alles Treffliche möglichst vollkommen nachzuahmen, aber darüber nur zu leicht das eigene Gute verlernt. – Was mich betrifft, so entsteht den Polen mein Mitgefühl, oft meine Bewunderung[WS 1], allein mich ihren Sitten und ihrem Treiben zu accommodiren vermochte ich nicht. Ueberdies war mir der Anblick der russischen Wirthschaft fatal, auch empfand ich kein Gelüst, mich der rohen Willkür moskowitischer Sklaven auszusetzen, deren Mißfallen man nur zu erregen braucht, um dem russischen Hauptprinzip, der Knute, zu verfallen. – Wahrlich, ich erröthete oft über den Eifer der deutschen Regierungsblätter, dem lieben deutschen Volke das Lob der Knechtschaft zu singen, den man selbst in meinen [326] Kreisen mit Verwunderung zu verspüren schien. Die Leipziger Zeitung erregte eines Tages mit den Worten große Heiterkeit: „Die Meisten hassen heut zu Tage Rußland nur darum, weil dort die Autorität herrscht,“ denn der Euphemismus „Autorität“ für das simple „Knute“ war doch noch Keinem vorgekommen.

Eines Tages faßte ich einen raschen Entschluß, die Warschauer Herrlichkeit zu verlassen und meine Stelle zu kündigen. Man hatte natürlich eher des Himmels Einsturz als diese Kühnheit erwartet, da man wußte, daß meine Position in finanzieller und materieller Beziehung nicht leicht übertroffen werden konnte; es wirkte wie ein elektrischer Schlag, so daß selbst die drei eifersüchtigen alten Närrinnen ellenlange Gesichter zogen. Niedrigdenkende Menschen vermögen ja nie zu begreifen, wie man irdische Vortheile aufgeben kann, um ein Höheres zu gewinnen, weil ihnen eben jene das Höchste sind. Für gutes Essen und Trinken und leidliches Geld sollte ich nach ihrer ehrlosen Weltansicht die elende Russenwirthschaft, die Fußtritte eines erbosten Weibes, Schlechtigkeit der Erwachsenen, Bosheit der Kinder, schmutzige Kniffe einer alten Bübin und all das Elend eines entarteten Geschlechtes angenehm finden, das dieser glänzende Mantel barg. – Herr S. gab sich Mühe, meinen Entschluß wankend zu machen und mich zu bewegen, meine erfolgreichen Bemühungen für die Weiterbildung seiner Kinder fortzusetzen, aber dadurch wurde das Mißtrauen seiner eifersüchtigen Ehehälfte, die doch ganz unverhohlen mit anderen Männern Einverständnisse unterhielt, noch unendlich gesteigert. Kein Wunder, dachte ich; aber da ich bei meinem Entschlusse stehen blieb, so hätte man meinen sollen, mir würde nun Frieden werden. Fehl geschossen! Nun trat erst die gesammte Hausgenossenschaft gegen mich in offene Fehde, jeder kleine Hund, der mich bisher innerlich beneidet hatte, kam jetzt aus seinem Winkel gekrochen und bellte mich an, jeder, den sein böses Gewissen zwickte, wollte den Zorn seiner Herren in meinem Blute kühlen. Ich fühlte herzliches Erbarmen mit dem Seelenzustande dieser Menschen, die so elend waren und es nicht wußten. Es wäre wahrhaftig kein Wunder gewesen, wenn ich mit dem Pharisäer gerufen hätte: Herr, ich danke dir, daß ich nicht bin wie andere Leute oder auch wie diese Zöllner! –

Gegen Ende des Monates März, als schon der Schnee geschmolzen war und der Lenz seine unwiderstehliche Kraft zeigte, wünschte ich vor meiner Abreise von Warschau noch einen Begriff von seinen Gärten und [327] Lustschlössern zu gewinnen, benutzte daher einen reizenden Sonntag, um mit meinen Freunden zunächst nach dem botanischen Garten zu fahren. Ueber die neue Welt, die Prachtstraße Warschaus, wo wir zu beiden Seiten neue opulente Gebäude erblicken und einem bunten Gewühle russischer, polnischer, deutscher, französischer und englischer Fuhrwerke begegnen, über den neuen Weg – die schöne, Warschau durchschneidende Chaussee, – an der kleinen, aber schönen, tempelförmigen Alexander-Kirche vorüber und durch die nach dem Lustschloß Belvedere führende Linden-Allee begeben wir uns zu diesem Ueberbleibsel der untergegangenen Universität. Der Garten hat einen Umfang von beinahe dreiviertel Stunden und liegt mit einem Dritttheil seiner Größe auf einer Hochebene, mit einem Dritttheil auf einem gegen Osten gewendeten sanften Abhange, und mit dem übrigen im Thale. Sein Grundriß ist ein sehr achtenswerthes Werk des Obersten Alphons, der nicht nur als Gartenkünstler, sondern auch als Baumeister in einem hohen Rufe steht. Die Hälfte der Hochebene prangt im Sommer mit den seltensten Gewächsen und Blumen, welche in phantastischen, aber geschmackvollen Gruppirungen arrangirt sind. Ein Theil des Gartens enthält die blüthen- und duftreichsten exotischen Gesträuche, durch die sich eine Menge zierlicher Wege schlängeln. Eines der zahlreichen umfänglichen Treibhäuser dieses Gartens ist einzig der Erzeugung edler Südweine gewidmet. Auf einem nach Süden schauenden Abhange zieht man auch deutschen Wein, der jedoch wegen des Klima’s nicht sonderlich gedeiht. Die Pflege des Gartens ist vortrefflich, weil ihn die russische Regierung als ein Zubehör des nebenanliegenden Lustschlosses Belvedere nach Aufhebung der Universität betrachtet und ihm ihre reichen Mittel in Verbindung mit sorglichster Aufmerksamkeit widmet.

In der Mitte des Gartens auf der Hochebene zeigt sich die Sternwarte, ein großes glänzendes Gebäude, das weniger einem Tempel der strengen Göttin Pallas Athene, als einem Feenschlosse gleicht. – Aus dem Dache dieses reichverzierten Bauwerkes erhebt sich ein gebrochener, mit einer Zinne gekrönter Thurm, von welchem aus man eine umfassende Aussicht auf die kaiserlichen Lustschlösser, das weite Weichselthal, Praga und Warschau genießt. Von diesem Gesichtspunkte aus verlieren sich alle die elenden Hütten aus dem Auge, wie die Mängel ausgezeichneter Menschen in der Entfernung, und nur ein harmonisch schönes Bild tritt ihm entgegen.

[328] In der dritten Abstufung des Gartens, dem Thale, erhebt sich ein zirkelrundes fensterloses Gebäude im Umfange von funfzig bis sechszig Schritten, an welchem man außer einer kleinen, stets verschlossenen Pforte keine Oeffnung bemerkt. Diese ist nach dem Lustschlosse Lazienki, den Kavallerie-Casernen und dem nach der Weichsel führenden Ausgange des Gartens gerichtet. Es wird behauptet, dieses Gebäude verberge den Ausgang eines unterirdischen, vom Schlosse führenden Ganges, den auch der Großfürst Constantin beim Ausbruche der Revolution zur Flucht benutzt habe. Allein Unbefangene meinen, es sei nichts weiter, als der höchst harmlose Aufbewahrungsort für Apparate und Gartengeräthschaften.

Dieser köstliche Spaziergang ist dem Publikum stets geöffnet, er wimmelte von Besuchern, aber leider bietet er weder dem Durstigen noch Hungrigen eine Restauration, worüber manche Klagen laut wurden. Wir fühlten jedoch kein irdisches Bedürfniß, sondern verließen den Garten völlig befriedigt, ja entzückt, und begaben uns sofort in das hinter demselben liegende Lustschloß Belvedere, welches der Großfürst Constantin erbaute und zu seinem Lieblingsaufenthalte machte. Belvedere ist ein auf dem äußersten Abhange gelegenes schönes Parterre-Gebäude, vor ihm breitet sich auf dem Plateau ein umgitterter, mit Linden bepflanzter großer Plan aus, an dem sich eine schöne Allee hinzieht; dieser zur Seite, dem Schlosse gegenüber, liegen die gewaltigen Gebäude des großfürstlichen Marstalles und Marschallamtes. Das Schloß enthält außer mehreren schönen, mäßiggroßen Sälen, in welchen sich einige gute Gemälde befinden, mehrere weite Zimmer, von denen das Lieblingsgemach Constantins das einfachste ist. Die Wand ist weiß tapezirt, und prunklose Mahagonimöbel nebst mehreren kleinen Marmor-Statuetten bilden den einzigen Inhalt. In der langen inneren Wand ist der einfache offene Kamin angebracht; gegenwärtig benutzt man es blos bei den Festgesellschaften des Fürsten P. und beim Empfange fürstlicher Personen. Die Anlagen, welche zum Schlosse gehören, breiten sich hinter demselben aus und bestehen aus einem großen Park mit zahlreichen Wegen, Ruheplätzen und einer reizenden Aussicht über die herrlichen Anlagen und das Weichselthal. Im Gebüsche des fernsten Hintergrundes, dicht an einem langen Teiche, über welchem sich dem Auge ein reizendes Gartenbild öffnet, liegt eine künstliche Grotte, von zwei wasserspeienden Löwen bewacht, in welcher Constantin halbe Tage mit seiner geliebten Gemahlin [329] zugebracht hat. Diese, eine reizende Landestochter, hatte aus dem Polenfeind einen Freund der Polen gemacht. In der Mitte des Teiches, auf einer kreisförmigen, mit Pappeln eingefaßten Insel, steht die Büste des Kaisers Alexander. Statuen besitzt der Garten nicht, sein Zauber liegt einzig in der Natur. Am Ausgange des Thales stößt man auf eine niedliche, im gothischen Style erbaute Kapelle; die Mauer derselben bildet am Fuße eine Grotte, aus der eine Quelle hervor rieselt. Diesen Garten fanden wir fast ganz unbesucht.

An die Lustanlagen von Belvedere stoßen die von Lazienki, in welchem die Galatage mit einem alle Begriffe übersteigenden Glanze gefeiert werden. Dort residirt der Kaiser gewöhnlich. Lazienki ist ein niedliches höchst brillant ausgestattetes, im herrlichsten Styl erbautes Landhaus. Auf der Nordseite steigt es in einer mit Bogenfenstern geschmückten Mauer unmittelbar aus dem kleinen See empor, der die ungefähr 400 Schritte im Umfang haltende Insel umgiebt, auf der es steht. Auf der Südseite liegt vor ihm ein freier Platz, auf welchem ein stolzer Springquell aus einem großen Sandsteinbecken in die Luft steigt. Viele zum Theil werthvolle, meist aber unanständige Satyr-Scenen in Sandstein und herrliche Orangenbäume zieren den Inselplatz, der durch zwei gegenüberliegende Brücken mit dem Lande verbunden ist. Auf ihm befindet sich der zum Palast führende Perron oder Stufeneingang. Ungemein hohe Fenster mit Riesenscheiben geben ihm ein großartiges Ansehen. – Im oberen Stockwerk, zu jeder Seite des Portales, befindet sich ein Balcon, welcher im Sommer mit den prachtvollsten Blumen geschmückt ist. Die Zinne des flachen italienischen Daches ist mit zahlreichen mythologischen Figuren besetzt, die dem reizenden Bauwerke ein stolzes Ansehen geben. Auf den beiden andern Seiten sind lange, überdachte, mit hohen Fenstern und Glasthüren versehene Galerieen angebaut, deren eine mit Bildern und Orangerie geschmückt, die andere, nach den Officiantenwohnungen führende aber leer ist. Ungefähr zweihundert Schritte vor dem Schlosse, an dem linken Ufer des Sees, liegt das Amphitheater. Dieses ist ein halbkreisförmiges Gebäude, in welchem sich schräglinig fünf terrassenähnliche Abstufungen erheben, jede zwei Ellen höher. Vor diesem amphitheatralischen Halbkreise schneidet ein Arm des See’s eine kleine Insel ab, welche als Bühne dient. Auf dem vordersten Theile des Prosceniums erblickt man gebrochene Säulen und Ruinen, welche den Eindruck eines römischen Tempels hervorbringen. Hinter diesem [330] Gemäuer beginnen die Coulissen, welche von dem Laubdache riesiger Bäume bedeckt sind; das Amphitheater selbst ist dachlos. Hinter dem Gebäude ist ein Gewölbe, worin die Theaterwache sich aufhält. Der Boden ist hier sehr schlammig, weil man, um das Regenwasser aus dem Theater abzuleiten, in der Spitze desselben Löcher angebracht hat, durch welche es sich in die Gewölbe ergießt. – Die Insel, auf der sich die Bühne befindet, hat ungefähr 200 Schritt im Umfange und ist durch eine scheinbar schwebende Brücke mit dem Lande verbunden. Ein großer prachtvoller Park umgiebt dieses Elfenschloß und macht Lazienki zu einem wahren Arkadien.

Wir kehrten hierauf nach Warschau zurück, wo ich mit meinen Freunden noch einen vergnügten Abend zubrachte.

Außer den bereits erwähnten Monumenten giebt es noch viele andere, wie auch Marien- und Heiligenbilder, von denen einige Abends sehr künstlich beleuchtet sind und eine schöne Wirkung hervorbringen. – Brillant nimmt sich auch die Bank bei Abend aus. Sie stößt, wie ich schon früher erwähnte, an das Palais des Finanzministers, und bildet ein von einer doppelten Säulenreihe umgebenes rundes Eckgebäude, in dessen oberem Stockwerk eine transparente Uhr wie ein riesiges Cyclopenauge funkelt. Bei heller Mondbeleuchtung ist Warschau zum Entzücken schön.

Da ich mich nun dem Ende meines Aufenthaltes in Polen nähere, kann ich nicht umhin, eine häßliche Eigenthümlichkeit dieses Landes zu erwähnen, ich meine die Weichsel-Zöpfe. Es giebt deren zweierlei, den männlichen und den weiblichen; bei ersterem entstehen zopfartige Filzkanäle, worein sich die Haare verfitzen und die von stinkendem Eiter triefen. Beim weiblichen bilden die Haare eine dicke Filzdecke, welche ganz dieselbe Ausdünstung und denselben Ausfluß erzeugt. Beide finden sich häufig und zwar unter beiden Geschlechtern, in allen Altern und Klassen ohne Unterschied, sogar Fremde bekommen ihn oftmals bei längerem Aufenthalte in Polen. Ich sah deren sowohl in Posen wie im Königreiche. Die Menschen sind dabei sehr krank und behalten ihn während eines Jahres und einiger Wochen; indessen ist er nicht ansteckend. Ihn abzuschneiden ist höchst gefährlich, weil dadurch der Eiter auf andere Theile fällt, wovon Verkrüppelungen, Tollheit, sogar bisweilen der Tod herbeigeführt wird.

Im Allgemeinen sind die Polen ein sieches, kränkelndes Volk und [331] deren physische Organisation eine durchaus südliche. Schnell und frühzeitig wie Treibhauspflanzen entwickelt sich ihr Körper und mit ihm die Leidenschaften, aber eben so schnell verblühen und verwelken sie wieder, und dies ohne Unterschied ihrer Lebensweise, denn der bemittelte Pole ist im höchsten Grade Sybarit, während der gemeine, namentlich auf dem Lande, in einer beinahe thierischen Vernachlässigung lebt. Die Gemüthsart der Bewohner des Königsreiches unterscheidet sich wesentlich von der der Posener Polen. Erstere sind weit lebhafter, leidenschaftlicher, erregbarer, prachtliebender und dabei schöner als diese, stehen ihnen aber an häuslichen Tugenden nach. Der vornehme Pole ist im Durchschnitt ein vollkommener Gentleman und weiß nichts von Niederträchtigkeit und Brutalität. Ich fand sie stets im höchsten Grade galant und ritterlich, sowohl in Gesellschaft wie bei anderen Gelegenheiten. War ich verirrt, so führte mich ein solcher stets mit außerordentlicher Artigkeit zurecht. Freilich ist auch hier die Regel nicht ohne Ausnahme.

Nach einem dreimonatlichen Aufenthalte in Warschau verließ ich Madame S., nicht jedoch ohne vorher noch vielfach von dem Höllenpack angefeindet worden zu sein, sonderlich von jener triefäugigen Hexe. – Der Minister und Madame, obwohl keinesweges geizig, wollten mir aus Zorn meinen Gehalt kürzen, als ich ihnen aber die Zusicherung ertheilte, daß ich solchen Falles mich augenblicklich an den Fürsten P. wenden würde, bezahlten sie mir blitzschnell und ganz richtig mein Guthaben. – Ich rathe Jedem, sich seinen Sold schriftlich und in Golde zusichern zu lassen, weil man an Papiergeld bedeutend verliert; nicht minder, sich mit Empfehlungen an dortige Deutsche zu versehen, was gewissenlose Vorgesetzte immer einigermaßen in Schranken hält.

Meine Rückreise nach D*** war eine sehr ergötzliche. Auf der zweiten Station nach Breslau kam ein junger, wohlgekleideter Herr, ein Violin-Futteral in den Händen, mit sichtlicher Aufregung in das Coupé, wo ich nebst einigen Herren und Damen Platz genommen hatte, und erzählte, daß er vor dem neugierigsten und lästigsten aller Spießbürger flüchte, mit dem ihn das Schicksal in Collision gebracht.

„Wenn mich der verdammte Kerl nur nicht etwa wieder hier ausspürt, denn in diesem Falle klammert er sich wieder an mich wie ein Polyp, sagte er, sich in eine Ecke drückend. Von Breslau aus, wo er mich auf dem Bahnhofe gleich in Beschlag nahm, hat er nicht aufgehört, mich und die übrigen Passagiere mit Fragen zu verfolgen, denn der [332] Unausstehliche will alles wissen. Was glauben Sie, plagte er mich doch, ihm auf meiner Violine vorzuspielen!“

Alle Anwesenden brachen bei diesem Lamento in ein höchst unsympathisches Lachen aus.

„Sie sollen nur sein Krähwinkler-Costüm sehen! Von einer Reisetasche scheint er gar keinen Begriff zu haben; da hat er einen alten, schmierigen Schlafrock, den er mit sich auf dem Arme herumschleppt und zum Besten der Beschauer mit seinen zahllosen Löchern und Bettfedern über seine Kniee breitet.“

Neues Gelächter.

„Dabei ist der Kerl so eselsdumm, daß er alle seine sogenannten Gedanken, Angelegenheiten und Pläne, für die sich kein Mensch interessirt, in der einfältigsten Sprache vorträtscht. So erzählte er mir z. B. von einem gewissen Schuster, der ein leidenschaftlicher Jagdliebhaber gewesen sei, aber niemals auch nur ein Loth Wildpret nach Hause gebracht und deshalb mit seiner Ehehälfte viel Verdruß gehabt habe. Um nun einen Beweis seiner Schieß- und Jagdkunst abzulegen, habe er sich eines Tages einen lebendigen Hasen gekauft, in seine Tasche gesteckt und in’s Freie getragen, um ihn dort zu erschießen und dann als Jagdbeute nach Hause zu bringen. Dieses Opfer habe der Schuster nun mit der langen Schnure seines Geldbeutels an einen Baum gebunden und mit freudezitternden Händen danach geschossen; aber, o Himmel, statt todt zu den Füßen des Sonntagsjägers zusammenzustürzen, sei der Hase mitsammt dem Geldbeutel mit Windeseile über das blühende Gefilde gesaust! Da jedoch der unglückselige Schuß auf fürstlichem Reviere geschehen und der Forstbeamte dazugekommen sei, der Schuster auch seine Unschuld nicht habe erhärten können, weil kein Richter seiner Erzählung Glauben geschenkt, so hätte man ihn auch noch drei Monate in’s Arbeitshaus gesperrt. – Ich frage Sie, kann man etwas Alberneres einem gebildeten Menschen erzählen?“ schloß der Violinist, und ein schallendes Gelächter antwortete ihm.

Der Musiker ließ sich nicht stören, sondern fuhr fort: „Das ist aber noch gar nichts, meine Herrschaften, sondern der Strohpinsel hat mir eine noch viel abgeschmacktere Historie erzählt. Hören und staunen Sie, lernen Sie begreifen, wie weit die Beschränktheit eines menschlichen Gehirns gehen kann. Der Schildbürger erzählte: ein liebendes Paar auf dem Lande habe nach Ueberwindung zahlloser Schwierigkeiten endlich [333] die Einwilligung der Eltern und Verwandten erlangt. Denken Sie sich, Verehrteste, nichts stand dem beseligenden Glücke Hansens und Liesens mehr im Wege, alle drei Aufgebote waren bereits erfolgt und die Hochzeit sollte bei den reichen Eltern der schönen Braut drei volle Tage dauern. Der Trauungstag ist erschienen, ein glänzender Kreis von Freunden und Vettern und Muhmen hat sich versammelt, Küche und Keller entsenden ihre lieblichen Düfte, Schalmey und Fiedel ertönen gar fröhlich. Der Brautzug setzt sich endlich, nachdem manches Glas provisorisch geleert, manches Stück Kuchen auf Abschlag verzehrt worden ist, in Bewegung, die Musikanten voraus, nur schweigen noch zu männiglicher Verwunderung die hehren Kirchenglocken. Jetzt tritt der Schulmeister und Küster aus seiner Amtswohnung den Nahenden mit freundlicher Feierlichkeit entgegen und führt sie nach dem Gotteshause, wo der Pfarrer eben im Ornat erscheint und den geistlichen Gehülfen verwundert[WS 2] fragt, warum man nicht läute und die Tempelpforten noch geschlossen seien? Da kommt plötzlich ein tragikomisches Geheimniß an den Tag. Die Kuh des Schulmeisters hatte Tages vorher den Klöppel aus ihrer Glocke verloren, was man heute früh hatte ausgleichen müssen; und so war denn der gute Lenker der populären Bildungs-Anstalt auf den Gedanken gerathen, einstweilen den Kirchenschlüssel als Klöppel zu benutzen, und hatte leider die ganze Sache nebst dem Brautgeläute rein vergessen, als die unerwartete Katastrophe eintrat. Jetzt entsteht ein gräulicher Lärm und Gelächter, die Jungen wie die Alten verlangen die Trauung, aber da die Heerde, in welcher die Kuh des Schulmeisters mit auf die Weide ging, sogleich nicht zu finden war, so mußte die Einsegnung bis zur Rückkehr derselben am Abend verschoben werden. Nun entscheiden Sie, welche Geschichte ist abgeschmackter, die erste oder die zweite?“

Der junge Mann, einer der größten Komiker, die mir vorgekommen sind, brachte auch in der That den Spießbürger auf der nächsten Station in Folge allgemeinen Verlangens in’s Coupé, ganz in dem beschriebenen Costüm. Leider brachen wir bei seinem Anblick in ein allgemeines Lachen abermals aus, wodurch das Original gewarnt wurde. Es war jedoch gar nicht so dumm, wie es aussah, sondern brachte uns sämmtliche Damen zur Strafe für unseren Hohn nach kurzem Ueberlegen in die Lage, Gelächter zu erregen. Der anscheinende Dümmling fing nämlich alsbald zu erzählen an, daß er in Breslau zur Brautschau gewesen [334] sei, auch manches hübsche Mädchen gesehen, und dennoch keine Frau gefunden habe.

Gelächter sämmtlicher Damen unter Assistenz einiger Herren; der Spießbürger fuhr mit einem köstlichen Schaafsgesicht fort, während sein Kopf wie ein betrübtes Lämmerschwänzchen hin und her wackelte: „Verstehen Sie mich aber recht, meine werthesten Herrschaften, die Mädchen wollten mich wohl, aber ich wollte die Mädchen nicht, weil sie mich nur wegen meines Geldes haben wollten.“

Bei diesen Worten fielen alle Blicke auf den eleganten Schlafrock, den dieser schäbige Gentleman wieder über seine Kniee gebreitet hatte; das Lachen war aber schon etwas gedämpfter, schon innerlicher, der Respect vor dem Gelde schloß schon ein wenig den Leuten beiderlei Geschlechts den Mund. An dem pfiffigen Schmunzeln des Philisters merkte ich, daß auch er diese Wahrnehmung gemacht hatte und daß er ein listiger Schalk war. Er fuhr in echt sächsischem breiten Dialekte fort: „Ich bin ein Tuchmacher aus L., mein Onkel hat mir in D*** ein schönes großes Haus hinterlassen, was ich vermiethet habe; außerdem hat er mir auch viel baares Geld hinterlassen; das macht mich aber alles nicht glücklich, wenn ich nicht weiß, daß mich eine Dame aus Liebe heirathen möchte.“

Jetzt sahen ihn Alle mit staunenden Blicken an und in den Mienen der Damen erkannte man durchaus keinen Abscheu mehr, als er fortfuhr: „Leider bin ich kein Modeherr, aber gewiß kein schlechter Geschäftsmann, denn ich habe soeben in Breslau für sechstausend Thaler Wolle gekauft, ich habe auch noch, trotzdem ich sie baar bezahlt habe, hier in meiner Brieftasche sechstausend Thaler Werthpapiere und auch in L. ein schuldenfreies Haus mit einem bedeutenden Geschäft.“

Als er jetzt ganz dummdreist eine strotzende Brieftasche öffnete und hinzeigte, fielen die Damen wie hungrige Geier darauf, und eine alternde Schönheit sagte flötend: „Einem würdigen Manne wird es niemals an einer liebenden Gattin fehlen!“

Das war wieder für die Herren das Zeichen zum Lachen, in welches selbst die Damen lustig einstimmten, als sie die Verlegenheit der Heirathslustigen bemerkten, während der Sonderling mit großer Genugthuung sein Portefeuille wieder einsteckte. In Görlitz zerstreute sich die ganze heitere Gesellschaft, doch hatte ich genug an den belustigenden Erinnerungen für die noch übrigen Stunden meiner Reise.

[335] In D*** lernte ich die russische Generalin U. kennen, welche in Warschau eine große Rolle spielte, jetzt aber trotz ihres großen Vermögens mit ihrer Tochter und polnischen Kammerfrau eine kleine Etage bewohnte. Um mich von ihrer eigenen strengen Sittlichkeit zu überzeugen, engagirte sie mich nur unter der Bedingung, daß ich ein obrigkeitliches Zeugniß meiner Unbescholtenheit beibringe. Natürlich hielt ich sie für einen Tugendspiegel, schaffte das Attestat herbei und trat meinen Dienst als Erzieherin ihrer Tochter an. Aber, o Himmel! in meinem Leben hatte ich nicht ein so entzündbares Fleisch und Blut, oder vielmehr Haut und Knochen gesehen, wie diese russische Hocharistokratin. Semiramis, Kleopatra und Melusine war hier in einer Person vereinigt, ich sah eine Oberpriesterin der Göttin von Amathunt vor mir, eine Repräsentantin der alleinseligmachenden Religion Aphroditens, welche die gesammte Männerwelt in ihren erbarmenden Busen nahm,

Und in der Lieb’ ein Ungeheuer
Auf einmal Millionen küßt.

Ich sollte ihren geflügelten Liebesboten spielen, und wirklich hatte ich schon mehrere ihrer zärtlichen Billete besorgt, als ich deren Inhalt erst ahnen lernte. Bei dem nächsten derartigen Auftrage, den sie mir ertheilen wollte, erklärte ich ihr jedoch offen, daß dergleichen Abenteuer in **sen keineswegs angebracht seien und sie doch ihren Ruf schonen möge. Sie entgegnete mir kalt lächelnd: „Allerdings für Sie nicht, aber ich mit meinem Geld und Rang kann thun, was ich will, und Jedermann wird sich durch meinen Umgang noch geehrt fühlen, ja Ihnen den Krieg erklären, wenn Sie sich mir widersetzen sollten.“

„Sie vergessen, erwiederte ich, daß wir nicht in Rußland sind und ich weder von Ihnen noch von Ihren Partisanen abhänge. Um Ihre Unterhändlerin abzugeben, brauchte ich kein besonderes Sitten-Zeugniß, und ich erkläre Ihnen, daß ich meinen Namen nicht hergebe, um Ihre erotischen Schwänke zu bemänteln.“

Das war das Finale meines Engagements bei der russischen Generalin U. in D***.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: oft meine Bewunderung nicht
  2. im Original: verwundet