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Autor: Grete Meisel-Heß
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Titel: Das Leid
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aus: Suchende Seelen
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Erscheinungsdatum: 1903
Verlag: Hermann Seemann Nachfolger
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Commons
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[3]


Das Leid.

[5]


I.

Stefan Feodor Ilitsch machte seiner Geliebten – nein: seiner Braut, die seit fünf Jahren auf ihn wartete – die große Eröffnung.

Sie saßen im Kaffeehaus beim Eckfenster, jedes in die rote Sammetbank hineingedrückt, vor sich die Melange und den Berg Zeitungen, in der bläulich feinen, Behagen ausströmenden Atmosphäre des „gutventilierten“ Wiener Cafés.

Draußen hatte ein lauer Februartag, den die Menschen für Frühling nahmen, [6] eine Menge hinausgelockt, die geschäftig durcheinander schob, den Ring hinauf, von der Wollzeile bis zur Oper, und wieder hinab und wieder hinauf, mit wichtiger, strahlender Miene, wie jemand, der sich beim Empfang einer Majestät einfindet. Die Wiener Frauen strahlten und waren noch schöner als sonst: mit den kurzen Miederchen, die die Büste frei lassen, und den knappen, o so knappen Röcklein, eng, eng, die unten mächtig, weit, wogend, auseinander fluten, schleppend, rauschend, prächtig...

Die Lotti hatte auch solch ein Secessions-Röcklein. Denn sie war aus gutem Wiener Hausherrn-Haus, wo man mit der Mode gehen kann, Gott sei Dank. Aber [7] sie hatte noch etwas anderes: große, dunkle, sehnsüchtige Augen. Und die hatte sonst niemand in der Hausherrn-Familie. Alle hatten sie runde, blitzblaue, wie auf Stäbchen herausgesteckte Augen und den Blick satter, zufriedener Kühe, samt dem dazu gehörigen Doppelkinn. Nur die Lotti war ganz aus der Art geschlagen – leider, leider. Der liebe Gott mochte wissen, wieso. Ganz aus der Art geschlagen. Denn Augen, das weiß man ja, machen’s nicht allein. Aber alles, was zu diesen Augen gehört: das war’s eben „Gelehrte“ Neigungen und wenig Pietät und sehr wenig Worte – zu Hause – und so ein Ausweichen überhaupt, so einen höchst befremdlichen [8] Zug hinaus aus der Familie und lauter „draußige“ Freundschaften, wo einem doch die Verwandtschaft über alles gehen soll

Seit sie ihr aber auf das mit dem „Judenbuben“ gekommen waren, da war alles aus. Der Herr Gruber raste und tobte. Ein Judenbub, ein russischer noch dazu, sollte in seine urarische Familie hineinkommen? Er, Hausherr am Alsergrund, Christlich-Sozialer vom reinsten Wasser, Schwiegervater eines – eines – – Er hätte einen Ritualmord begehen können! Und noch dazu so eine Null: ein Student!

Aber es half ihm nichts. Die Lotti blieb fest. Trotzdem er ihr in die Ohren schrie, von den vierzigtausend Gulden, [9] die als Mitgift für sie angelegt waren, bekäme sie nichts, aber schon gar nichts, einen Dr…, wenn sie dabei bleibe. „Ich warte, auf wen ich will und solange ich will,“ war ihre einzige Antwort.

Der Schädel, der verfluchte Schädel, den das Mädel hatte! Überhaupt war sie nie nach seinem Sinn gewesen. Weiß der Teufel!

Die Frau Hausherrin hatte ihm nicht mit gewohntem Temperament sekundiert. Wie sie von dem Juden hörte, war sie ganz bleich fortgeschlichen: „Jesses Marand Joseph, das ist die Straf’! Das ist die Straf’!...“

Seitdem waren fünf Jahre vergangen. Fünf gräßliche Jahre. [10]

Schneller ging’s nicht. Seit einem halben Jahr war er Arzt und auf der Jagd nach Praxis. Er mußte es endlich möglich machen, er mußte Was hatte sie erlitten um ihn Qualen, Pein, Schande –, die Schande der Unfreiheit. Aber er war auch das Leben für sie gewesen. Wie die große Erweckung war er ihr gekommen. Sie: still, scheu, wie eingefrorenes Leben unter dem Eise, er: voll Kraft und Wollen, ein heißer Fön, hatte die Erstarrung gesprengt. Tiefes Staunen erst und dann ein Jubel! Das war das Glück...

Sie hatten gekämpft für ihre gemeinsame Zukunft mit wildem, unüberwindlichem Trotz. Den Verhältnissen die paar Stunden Beisammensein in den fünf Jahren [11] unter tausend Schwierigkeiten abgerungen. Alles war schwer, kompliziert, alle Götter waren gegen sie. Stefan mußte sich durchfristen mit Stunden. Als kleines Kind war er nach Wien geschickt worden zu einer Verwandten, die gestorben war, als er fünfzehn Jahre gewesen. Seitdem brachte er sich allein durch. Seine Eltern, arme russische Juden, hatten kaum Brot und Zwiebeln für sich selbst. Vor zwei Jahren waren sie aus Rußland hinausgejagt worden; da waren sie nach Wien gekommen, hatten sich einen Branntweinschank aufgemacht in Hernals draußen und „ernährten“ sich. Damals hatte Stefan seine Eltern besucht, die ihm wie unsagbar traurige, groteske Gestalten einer verlorenen [12] Welt erschienen. Und er sann über das Wunder der Assimilation, die Blut und Rasse wandelt. Wie aber erst, wenn sie unterstützt wird durch bewußte Wahl: Mischlinge! Was würden er und Lotti für prächtige Kinder haben! Lotti! Mütterchen! Eine heiße Blutwelle durchflutete und erschütterte ihn...

Er arbeitete rastlos; er ließ nicht nach. Nicht mit ungeduldigem Rütteln wollte er das Schicksal zwingen, nein: mit zäher, eiserner Ausdauer. So mußten sie siegen. Natürlich, wenn kein Elementarereignis dazwischen kam. Das Elementarereignis räumten sie ein, devot, untertänig sich beugend, zitternd vor der Scheelsucht der Götter, dem kleinlich neidischen Pöbel, [13] der das große Glück nicht duldet und in stupider Grausamkeit mit Tyrannen-Vollmacht protzt.

Die klingende Freiheit, die wollte er erobern, ja! Immer vorausgesetzt natürlich, daß nicht am Ende...

Wie eine schwarze Wolke schwebte es über ihnen. Lächerlich, daß sie so oft daran dachten; absurd. „Aber weißt du, es ist ein so unheimlicher Gedanke,“ sagte Lotti einmal, „daß alles an das gebunden sein soll, was fortwährend in tausend Gefahren schwebt...“ - - - - - -

Sollte es das sein? Alles war so behaglich da; unmöglich...

Langsam löste sich die Erstarrung:

„Was sagst du, Stefan?“ [14]

Und er wiederholte, langsam und deutlich... Er mußte es ihr sagen, er konnte nicht länger schweigen. Seit einem halben Jahr trug er es mit sich herum. Heute war er beim Professor gewesen. Der hatte es bestätigt.

Sie hörte Worte aus einer grauen, fremden, unendlichen Ferne. Etwas tönte, schwang, näherte sich, kroch bis ans Hirn und wollte sich hineinbohren. Es bohrte und bohrte... Draußen ging eine vorbei, die hatte das Kleid so hoch gehoben, daß unter dem schönen Seidenjupon ein gestreiftes Barchentröcklein zum Vorschein kam. Mit geschlungenen Zacken. Das sah spaßig aus... Gedämpft fielen die Worte, wie stille Wassertropfen... [15]

Sie faßte es nicht. Aber sie hätte schreien mögen, einen langen, wehen, tobenden Schrei. Lebte sie denn? War das wahr? Sie krallte sich unter dem Tisch mit den Nägeln der einen Hand in den Arm, bis sie wirklich einen Laut ausstieß. Und sie sah ihn an. Lippen, Lider, Nasenflügel vibrierten, das Kinn und die Mundlinien zogen scharfe, spitze Ecken. Der Zwicker hielt wie eine Klammer die Nase eingezwängt und zog einen roten Streif: die Augen aber waren fahl...

War sie blind gewesen? Sonst hatte er immer etwas Dunkles, Fiebriges, Glühendes in seinen Zügen gehabt. Jetzt war er wie ausgebleicht. Kein Fieber mehr [16] in den Zügen. Nur entsetzliche Müdigkeit.

Die Hetzjagd um den Bissen Brot war eben zu toll gewesen. Ein ununterbrochener Kampf seit Jahren. Ohne Ausruhen, ohne Atemholen. Nur, wenn er sich rührte, hatte er zu essen. Drum mußte er sich rühren. Rastloser, wilder, rasender Lauf dem Ziele zu. „Das Leben ist logisch,“ sagte Stefan, als das Ziel immer näher rückte. Ja, er sah es schon vor Augen. Es winkte, verheißend, verlockend; er lief weiter drauf zu...

Da zeigten sich Blutspuren in seinem Auswurf. Und er mußte innehalten auf seinem Weg.

„Und was hat der Professor gesagt?“ [17]

„Nun, er meint, es sei noch nicht unheilbar; ein Jahr im Süden, ohne Arbeit, ohne Sorgen, in Ruhe und guter Pflege: das wäre die Heilung. Immer tiefer, meint er; Luftveränderung: erst Italien, dann Kairo, Palästina.“

Er brach in grelles, heiseres Lachen aus; ein Lachen voll verzweifelter, hilfloser, ohnmächtiger Wut: ein Zusammenbrechender, der noch das Bewußtsein nicht verloren hat.

Also da war es wirklich.

Ein Jahr im Süden. Er! Wenn er vierzehn Tage nicht arbeitete, wußte er nicht, woher den Zins für sein möbliertes Zimmer nehmen. Und die Kost. Und alles, was der ganze Apparat täglich frißt. Und wofür man sein bißchen Leben ausschroten [18] muß, um es nachzuziehen, immer geringer, erlöschender, elender, ein Kapital, das sich langsam vermindert.

Und wie er jetzt Lotti ansah, dieses erstarrte, fassungslose Gesicht, da stieg es plötzlich wie ein Fragen, ein Zweifeln in ihm auf. Das sollte wahr sein? Und der brennende, rüttelnde Lebensinstinkt, der nicht glauben will, der alles leugnet, erfaßte ihn. Es war nicht möglich. Einfach unmöglich. Blödsinn! Gewiß: die Lunge war angegriffen – er war ja Arzt und wußte Bescheid –; aber warum sollte er sich nicht auch in Wien erholen können Das Wiener Klima ist doch nicht schlecht, Schonung, weniger Arbeit...und jetzt kam ja der Frühling! [19]

„Lotti, mach dir nur gar keine Sorgen. Hätte ich dir nur nichts gesagt! Du brauchst gar keine Angst zu haben, wirklich nicht. Schau: ich werde weniger arbeiten; faulenzen, sage ich dir. Du wirst sehen, wie schnell ich mich erhole.“

Sie war wie versteinert. Sie hatte nicht gefaßt, daß es wirklich da sein sollte, das, wogegen man nichts tun kann. Was er jetzt sprach, nahm sie auf, willig, gierig. Er würde sich schonen; und der Frühling kam.

Er war nachdenklich und still geworden. So ruhig... Und dann, auf einmal, konnte er es ihr sagen, fest, was er ihr sagen mußte.

„Lotti, du liebe, wirst du’s nur nicht vergessen, unser – Motto?“ [20]

So ruhig, als wäre nichts geschehen, sah er sie an: „Über alles, alles zur Tagesordnung übergehen!“

Sie erschrak. Warum? Ja: das war ihr Motto gewesen. Hinauskommen können über alles Persönliche: der gesicherte Mensch. Von ihm hatte sie es gehört und begriffen und verstanden. Aber die glühende Überzeugung hatte es nicht in ihr ausgelöst. Nur jenes andere Wort von ihm, aus dem sein Motto entsprungen war, das war ihr aus der Seele gesprochen: „Das jammernde Leid ist häßlich.“ Mit jeder Fiber hatte sie das gefühlt. Ächzend, winselnd, stöhnend am Boden kriechen, eine Beute des eigenen Leides: das war grauenhaft häßlich. Überall sah sie [21] Menschen herumschleichen, mit gefurchten Stirnen, grauen, scharfen, verstaubten Sorgenwinkeln in den Zügen, jammervoll niedergeduckt, und die Welt war ihnen voll ihrer Kümmernisse, die Welt, die mächtige, weite, ewige, gleichgültige, die gar nichts wußte von ihnen.

Sie hatte sich gewehrt gegen das Leid in den fünf gräßlichen Jahren ihres Doppellebens, wo sie in der tiefsten Schande lebte: unfrei. Gefesselt „zu Hause“, während ihre Sehnsucht irrte und taumelte zu dem, dem sie gehören sollte. Sie hatte sich gewehrt gegen das kleine, persönliche Leid, das so häßlich war in seinem Terrorismus, mit der ganzen Kraft ihrer fröhlichen Sonnennatur, die an das [22] Leben glaubte, weil sie das Leben wollte. Sie hatte die Welt immer groß und weit und licht gesehen. Und ihre Augen waren hell geblieben und ihre Stirn klar.

… Als sie an diesem Abend auseinander gingen, lag es über ihnen grau, beklemmend. Und sie konnten einander lange nicht sehen; sie wurde bewacht.

„Aber du schreibst mir, Stefan, wenn ich kommen soll, wenn etwas ist; ich bitte dich, Stefan –

Er küßte sie im Dunkel der Straßenecke; und ihre Herzen schlugen aneinander, bebend, ungläubig.


II.

Sie fing an, die Umrisse zu erkennen, die ihr bis jetzt verschwommen gewesen [23] waren. Mit starren Augen sah sie hin, wie es sich reckte und dehnte und langsam die mächtige Pranke hob. Ein riesiges, sphinxhaftes Ungetüm hinter tausend wirren, düsteren Schleiern, die nur der Blick durchdringt, den das Leid geschärft – Überall sah sie es jetzt. Wie die Menschen sich abmühten, den Koloß zu erklimmen Und er ließ sie an sich heran. Und sie klommen, in Schweiß und Blut gebadet, rastlos, unermüdlich. Es hielt still, mit steinernem Lächeln. Aber was sie nicht merkten, war, daß es ihnen heimlich, langsam, stetig die besten Kräfte stahl. Und wenn sie dort waren, wo sie hingewollt und hingemußt, dann fielen sie zusammen wie morscher Zunder. [24] Das Leben hatte ihr Mark aufgesogen, als Zoll und Steuer, und lächelte weiter, ruhig, steinern, ewig.

Sie konnte jetzt keinen Schritt tun, keinen Blick hinauswerfen, ohne das zu sehen, wofür der Glückliche mit grauem Star gesegnet ist. Den alten Mann dort drüben im Haus, der immer still und stumpf am Fenster saß, hatte sie früher nie bemerkt. Und er saß doch da zehn Jahre lang. Der war früher ein schmucker Herr gewesen. Ein Herr in einem blauen Frack mit goldenen Tressen und schwarzen, gesalbten, duftenden Haaren. So hatte er dreißig Jahre lang in einem adeligen Kasino – an der Tür gestanden. Hatte dreißig Jahre lang die Tür [25] geöffnet und sich dreißig Jahre lang verbeugt. Das war eine feine Stellung gewesen. Sogar eine Pension trug sie ihm ein, als er sich nach dreißig Jahren „zurückziehen“ mußte, weil er vom vielen Stehen Muskelschwund in den Beinen bekam –

Und ihre Lehrerin fiel ihr ein, die arme kleine Sprachlehrerin, die so glücklich gewesen war, als sie einen Mann fand. Ganz verwandelt, strahlend vor Seligkeit, war sie gekommen und hatte es erzählt, das Wunderbare: ein Mann wolle sie heiraten. Und er heiratete sie wirklich. Ihre stille, bescheidene Art hatte ihm gefallen. Aber das Haus allein erhalten: das konnte er nicht. Er hatte [26] nicht so viel. Wie gern gab sie weiter ihre Stunden Sie mußten eben zusammen arbeiten, rastlos, ohne Pausen, wenn sie zusammen leben wollten. Und sie lief weiter vom Omnibus zur Tramway, von einem Bezirk in den anderen, treppauf, treppab, ihren Stunden nach. Auch als Übelkeiten und Ohnmachtanfälle kamen. Im vierten Monat war sie ins Spital gekommen und lange Zeit hörte man nichts von ihr. Als sie wiederkam, war sie keine Frau mehr. Sie weinte bitterlich, denn ihr Mann – Aber sie konnte jetzt wieder laufen, treppauf, treppab; nur die kleinen Schmerzen bei jedem Schritt waren schlimm.

Gleich Schemen stiegen diese Gestalten [27] jetzt vor Lotti auf, wie aus Nebeln eines Lebens, das jenseits liegt von jener Welt, in der man ausruht und doch satt wird. Und in die langen Stunden, die sie einsam in ihrem Zimmer verbrachte, müde und willenlos, wie sie es früher nie gekannt, krochen langsam die Zweifel, die entweder zur Verzweiflung werden oder die große Befruchtung bringen, heilige, gefährliche Schwangerschaft und neues Leben. Zweifel an allem, woran sie bis jetzt geglaubt, wofür sie sich eingesetzt in seliger Begeisterung, mit heißen Wangen und klopfendem Herzen, wonach sie gelebt und gestrebt, wofür sie eiserne Bande zerbrochen und neue, fröhliche, grünende geknüpft hatte. Daß die Frauen hinaus [28] sollten und das Leben mitleben, wie sie bis jetzt geglaubt: war denn das nicht Unsinn? War’s nicht besser, zu fliehen, sich zu verstecken, zu verkriechen irgend wohin, wo es sicher und warm ist und tief verborgen, wo man nicht gefunden wird und ruhig und still liegen kann, wie sie jetzt in ihrem Zimmer lag? Hinter vier dicken, sicheren Mauern sich zu verbergen vor dem Leid?

In die Lebendigkeit hatte sie hinausgestrebt, ihr Leben nach eigenem Willen leben wollen; und die Philister hatten ihr gewehrt und sie zurückzuhalten versucht bei sich, im Schutz der satten Sicherheit, die ihr erschienen war wie ein verlorener Sumpf erstarrten Fettes. [29]

Und hatten die Philister nicht recht gehabt?

Das waren die schwarzen, qualmenden Nebel: sie verstand das Leben nicht mehr. Irr, wirr, unheimlich war alles um sie herum, und sie hätte einen Sprung machen mögen in irgend ein Jenseits, wo die Lösung war. Und sie suchte und bohrte und rang nach einer Antwort –

Dann kamen Stunden, wo die schwere Lähmung von ihr wich, das dämmernde Nirwana, in das sie langsam versank, sich zerteilte und sie herausschritt wie aus Nebeln, voll zuckenden, geknebelten Lebens, zitternd, tastend. Dann ging sie in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, langsam erst, dann schneller und schneller, [30] bis sie zusammengekauert niederglitt auf das weiße Fell vor ihrem Bett, den Kopf in die Polster vergraben, die nach ihrem Körper rochen. Und Gedanken, Bilder, Vorstellungen, Erinnerungen, glühende, schwüle Phantasien umfluteten sie und strömten heran. Das ganze Zimmer war voll davon. Aus den Ecken tauchten sie auf, weiß und rot und gelb, ein jubelndes Farbenbacchanal, aus ihrem Hirn quoll es warm, und alle Sinne kosten und schwangen die zitternden Nervenfäden in vibrierender Wonne. Nur der arme, jungfräuliche Leib zuckte und wand sich, weil er noch immer des großen Schmerzes harrte.


[31]


III.

Eines Tages kam ein Brief. Sie wartete auf diesen Brief. Aber als sie ihn gelesen hatte, drehte sich ihr das Zimmer im Kreis, in rasend schnellen Kurven, dann langsamer und langsamer, bis es still stand. Dann kleidete sie sich an, ruhig, mechanisch und ging auf die Gasse. Sie schlug einen Weg ein, den sie noch nie gegangen war. In den düstersten Proletarier-Bezirk, wo Dirnen wohnen in ganzen Gassen und die Schnapsschenken das beste Geschäft machen.

Dort lag Stefan, weil er sich nicht mehr erhalten konnte, bei fremden, russischen Juden, die seine Eltern waren.

Sie kam an der Votivkirche vorbei.


[32] Nie war sie hier gegangen, ohne ihren Schritt zu verlangsamen und die großartige, vornehme Schönheit in sich aufzunehmen: die zwei mächtigen, schlanken Brudertürme, die wie in jubelndem Flug in die Höhe stürmen, in fröhlicher Krönung des ernsten, breit gestreckten Domes, der schwer, schwarz, massig daliegt und doch die subtilste Feinheit des kleinsten Schnörkels, des winzigsten Spitzbogens zeigt. Nie war sie hier gegangen ohne das dankbare, selige Beben vor der Schönheit.

Heute ging sie mit ruhigen, einförmigen Schritten vorbei, durch den Regen, die Kälte, den Schnee, die so schnell auf den falschen Frühling gefolgt waren. Nicht schneller, nicht langsamer ging sie weiter [33] und bog rechts die Alserstraße hinauf. Die große Perspektive verschwamm heute in Regen und Nebeldunst, aber ein wundersames, fahlgelbes Nachmittagslicht lag über Wien. Sie sah nicht auf, sie blieb nicht stehen; nur ein Erinnern überkam sie plötzlich: hier war es, wo er sie zuerst sehen gelehrt hatte. Blind, aber verlangend hatte sie an aller Schönheit herumgetastet. Bis er gekommen war und sie hineingeführt hatte in seine Heimat. Und sie sah. Alles, was sie gesucht, ward ihr offenbart: Formen und Farben und Töne und Rhythmen und wunderbare, jauchzende, schimmernde Gedanken, die immer wieder sich in sich selbst vermehrten. Das Leben, die Bedeutung, das [34] Ereignis in der winzigen Ereignung hatte er ihr gewiesen. Und dann, als er ihr ganz unten im kleinsten Geschehen den kosmischen Gang gezeigt hatte, dann hatte er sie hinaufgeführt auf die hohe, winkende Warte, wo man nur die ungeheure, unendliche Weite sah, den großen, schwingenden Kreislauf, in dem alles versank, auch das kleine, kleine Menschenleid. Und jetzt, als sie weiter ging in den Straßen, die immer enger, schmutziger wurden, je näher sie ihrem Ziel kam, da stieg die große, bittere Sehnsucht in ihr auf, die Sehnsucht nach der Heimat, die Sehnsucht, sich heraus zu verlieren aus der eigenen, einzigen Welt, die sie war und in der sie litt. Und die Triebkraft [35] dieser Welt, der starke Menschenwille, nahte sich dem Wesenlosen, dem Ungreifbaren: sie wollte, sie wollte helfen. Und darum würde sie helfen. Und darum war sie ruhig und fest und brach nicht zusammen, trotzdem sie jetzt nach Hernals ging, wo er krank lag bei fremden, russischen Juden, die seine Eltern waren –, ihr Geliebter, der ihr das Leben noch bringen mußte ...

Darum durfte es nicht an sie heran, das große Leid. Darum eine starre Gewißheit in ihr, daß sie helfen würde, helfen mußte, weil alles gar so entsetzlich war, weil es mehr und gräßlicher war, als ein Mensch ertragen konnte, und weil es kein „mehr“ gab in der Natur ... [36]

Sie hielt an. Das war die Straße. Sie ging hinüber auf die andere Seite, die Nummer suchend: zwei – vier – sechs – es war ganz unten. Ein paar Leute begegneten ihr. Arme Leute, ein Hausierer, ein bettelnder Krüppel; drüben taumelte ein Betrunkener. Die verbaute, enge Gasse starrte von Kot und Schmutz. Immer mehr regnete es in die großen Wasserpfützen hinein. Von ihrem Schirm, von ihren Kleidern, von ihren Haaren troff die Nässe. Noch ein Mädchen begegnete ihr, in ein großes, braunes Tuch gewickelt, mit zerlumpten Schuhen, aus denen kleine Bäche rieselten, dick und feucht in die Stirn hinein hängenden Haaren, mit einem Hut auf dem Kopf und schmutzig-weißem [37] Schleier, der über ein alterndes, müdes Gesicht gezogen war, ein Gesicht voll Falten und Rissen unter billiger, schlechter Vorstadtschminke. Das Mädchen kam ihr gerade entgegen auf dem schmalen Trottoir, wich aus, scheu, verlegen und tappte an ihr vorbei in die großen Pfützen hinein ... Danach traf sie keinen Menschen mehr.

Sie stand still. Vor einem graugetünchten, drei Stock hohen Proletarierhaus. Unten, neben dem Haustor, war ein Gassenladen. Eine schmutzige, braune Tür mit verwischten Kreidemalereien von Gassenbuben, daneben ein Schild: Trebern Slivowitz Caj.

Die Türglocke läutete, als sie auf die [38] Klinke drückte. Sie sah undeutlich in dem Qualm, der ihr entgegenschlug: viele Männer. Einer lag auf einer Bank und schnarchte, andere schrien, spielten Karten, rauchten, auf einem Tisch saß ein Frauenzimmer und machte allerlei Gesten, Männer standen herum und brüllten vor Lachen. Undeutlich sah sie das alles; aber die Atmosphäre nahm ihr fast den Atem: die Ausdünstung armer, schmutziger Menschen. Branntwein-, Schweiß-, Knoblauchgeruch – ein Chaos vor ihren Augen. Schnell, bevor noch einer der Männer, die stier nach ihr hinblickten, ein Wort hätte sagen können, löste sich aus dem Gewirr und den Dünsten, die vor ihren Augen verschwammen, eine kleine, [39] schwarze Gestalt in langem Kaftan, nahm sie bei der Hand und führte sie mitten durch, bis hinter den Ladentisch, wo eine Tür mündete. Er machte auf.

Sie stand in einer Küche. Fett- und Speisereste, Kübel mit schmutzigem Wasser, in denen Teller, Gabeln, Gläser schwammen, standen herum. Eine Frau stand vor den Kübeln und wusch das Geschirr. Sie trug einen roten Flanellrock und eine schmutzige Nachtjacke. Unter einer dicken, kohlschwarzen Perücke sah ein gelbes, runzliges, altes Gesicht hervor. Der Mann im Kaftan sagte etwas in einem Jargon, den Lotti nicht verstand. Die Frau wischte ihre nassen Hände ab und kam langsam auf Lotti [40] zu. Sie schaute sie an und wies dann auf eine zweite Tür. Taumelnd, bebend ging Lotti hin, durch die Küche. Zitternd legte sie die Hand auf die Schnalle. Sie trat in das Zimmer, wo Stefan lag –

Sie sah nicht das Zimmer. Sie sah nichts. Sie kniete neben dem Bett und hielt ihn mit beiden Armen umschlungen, sie übergoß sein Gesicht mit Tränen, bedeckte die armen, blassen Hände mit Küssen. Ihre Herzen schlugen fliegend aneinander, ihre Körper bogen sich in konvulsivischem Zucken, als ob sie sich bäumten. „Weine nicht, ich helfe ja“ Und dabei strömten ihr die Tränen aus den Augen, lautlos, undämmbar, unaufhörlich. [41]

Er lag längst schon still und erschöpft da, ruhig und tränenlos. Und während sie ihn umschlungen hielt unter tausend stammelnden Liebesworten und heißen Zärtlichkeiten, flüsterte sie ihm zu, daß sie helfen werde und daß sie gar nicht traurig sei, nein, denn ihr Stefan werde jetzt bald dort sein, wo er gesund würde, mit ihr, mit seinem Mädchen, nein: mit seinem Weib, gepflegt und behütet von ihr, irgendwo im Süden. Und mit heißen Wangen, ganz feucht von Tränen, erzählte sie ihm, wie dumm sie gewesen waren, alle beide, daß sie nicht eingesehen hatten, daß es sein müßte ... „Denn, weißt du, wenn man einsieht, daß etwas sein muß, dann setzt man’s [42] auch durch, natürlich, selbstverständlich“ Sie würde es durchsetzen. Eine Stelle annehmen, irgendwo im Süden, die so viel trug, daß sie beide davon leben könnten. Irgend eine Stelle. Das würde sich schon finden. Als Lehrerin oder deutsche Korrespondentin – oder – oder ...

Oder würden vielleicht – ihre Stimme sank und wurde leiser und langsamer – würden vielleicht – die Ihren, ihre Eltern, das Geld hergeben und sie heiraten lassen ...?

Es war fast dunkel geworden; sie konnten einander kaum mehr sehen.

Still saß sie auf seinem Bett und hielt seine Hände. Sie sprachen längst nicht [43] mehr. Aus der Schänke drang manchmal ein Ton herüber, ein Poltern, eine kreischende Stimme, Gelächter; dann war alles wieder still.

In dem Dunkel verschwammen die Töne von der Gasse, die Formen und Farben, das monotone Geplätscher des Regens, der an die Fenster schlug, das dumpfe Schwarz, das auf der Gasse lag und langsam hereinschwebte und den Raum füllte, immer dichter. Nur das Bett leuchtete wie ein matter, gespenstischer Schein und das weiße Gesicht, das auf den Polstern lag mit geschlossenen Augen und lächelndem Munde. Und langsam griff es in ihr Herz hinein, wie mit knöcherner Krallenhand.

„Stefan Was soll werden?“


[44]

Bebend glitt sie nieder, dumpf, fast bewußtlos.

Er streckte die Hand aus und tastete nach ihr im Dunkel. Er zog ihren Kopf an die Brust und streichelte ihr Haar, ruhig, leise, aus fremder Ferne. Wie ein stiller, feierlicher Strom ging es von dieser Hand aus, die langsam über ihr Haar strich. Und sie hörte Worte. Er sprach. Sie brachte ihr Gesicht ganz nah an das seine auf dem Polster:

- - - „Leise, leise,
Wie der Wellen weite Kreise
Leis erstreben im tiefen See,
So im großen Weltenschmerze
Leise stirb mein kleines Weh.“ – - -

Sie hielten einander umschlungen in der lautlosen Dunkelheit. Die betäubende [45] Stille sank auf sie herab und umhüllte sie wie ein Opiat, in dem alles Sein in leichte, schwankende Nebel zergeht.

Draußen wurde eine Tür geöffnet. Einen Augenblick schlug der Lärm aus der Schänke ungedämpft herein. Die Tür wurde wieder zugeworfen. Jemand hantierte in der Küche nebenan mit Glas und Porzellan. Dann näherten sich Schritte. Lotti stand auf. Die alte Frau kam herein, mit einer brennenden Kerze in der Hand. In gebrochenem Deutsch, mit schleifenden Gutturallauten, sagte sie etwas; daß sie eine Kerze bringe, weil die Lampe nicht brenne; daß sie sie aber putzen und dann gleich bringen werde; auch brauche das Fräulein beim Weggehen nicht durchs [46] „Geschäft“ zu gehen; hier führe auch ein Ausgang ins Freie. Dann ging sie.

Als sie nach einer Weile mit der Lampe wiederkam, war Stefan schon allein ...


- - - - - - - - - - - -


Durchnäßt bis auf die Haut, zitternd vor Kälte, kam Lotti nach Hause. Sie ging gleich in ihr Zimmer, wo sie sich so gern abschloß von der „Familie“. Sie zündete ein Licht an. Wie eine bleierne Last lag Müdigkeit auf ihr, beschwerte ihr die Glieder, wie zu Boden ziehende, lautlose Ketten. In ihren schweren, nassen Kleidern sank sie auf das Sofa nieder, mit geschlossenen Augen. Aber die nasse, eisige Kälte preßte ihren Körper zusammen. Sie stand auf und begann mühsam, sich [47] zu entkleiden. Die triefenden Schuhe, die nassen Kleider trug sie hinaus ins Vorzimmer. Die Strümpfe zog sie aus, auch die Röcke, und nahm aus dem Kasten frische, duftende Wäsche. Daneben wurde herumgegangen, gerückt, gesprochen. Man hatte ihr Kommen schon bemerkt. Wie es schien, gingen sie weg; ins Theater, die neue Operette ansehen; sie hatten Stammsitze dort. Sie hörte ihren Vater sprechen, in seiner Art, die ihr auf die Nerven fiel; einzelne Worte scharf herausgestoßen, doppelt unterstrichen, dann bis herunter zum Flüsterton und mählich wieder anschwellend zu besonderer Betonung der Hauptglieder. Einzelne Wörter hörte sie bis hinein. „Landstreicherin.“ Das galt offenbar [48] ihr. „Zu dem kranken Juden“ ... Sie wußten’s also schon.

Endlich gingen sie. Die Tür fiel dröhnend hinter ihnen zu.

Sie holte aus dem Kasten im Vorzimmer ihren Flanellschlafrock und schlüpfte hinein. Mechanisch schloß sie die vielen Knöpfe, zog die lange türkische Seidenschnur durch die Mitte und knüpfte sie zu. Dann löschte sie das Licht wieder und sank erschöpft auf das Sofa. So wohlig war’s, zu liegen auf den persischen Decken, so weich und warm. Und die himmlische Ruhe im Zimmer, in der ganzen Wohnung. Die Bronze-Uhr auf dem Schreibtisch tickt fein und leise – und kleine Goldglöcklein läuten irgendwo in der Ferne. Irgendwo. Wo [49] ist’s nur? Da kommen sie schon: eine große, stille Schar weißer, tanzender Mädchen; lautlos, mit fröhlichen Augen tanzen und schweben sie durcheinander; und die Goldglöcklein singen und läuten. Ein kühler, frischer Wind streicht über die Insel; er bringt Düfte von Narzissen und Jasmin. Das Meer schlägt blau und plätschernd an die Ufer und drängt und schiebt liebkosend seine Wellen, näher und näher, und die Mädchen tanzen. Und die Wellen netzen ihre Füße und höher und höher steigen sie, bis zu den Knien – Die Mädchen blicken süß und mild und still; und auf einmal spannen sie ihre Flügel auf. Feine, durchsichtige Flügel in allen Farben, rosig und gelb und lila. Und [50] sie kosen mit dem Meer, sie locken es, bis es ihnen an die Hüften steigt. Dann schweben sie empor. Still, mit klingenden Goldtönen, schweben sie höher und höher – und ferner und ferner, weit droben am Horizont, bis sie verschwinden. Das Meer weicht zurück. Die Insel liegt da, – im Winter. Nasser Winter ist’s. Schnee und Regen fällt und große braune Wasserlachen wachsen an. Niemand ist da; nur sie; mutterseelenallein. Sie irrt über die Insel, sie sucht etwas; hin und her irrt sie, in schweren, nassen Kleidern, von denen das Wasser niederrieselt; sie sucht etwas; sie friert. – - - - -

Trara, trara, – - unten fuhr die Feuerwehr vorbei.


[51]

Lotti erwachte fröstelnd.

Sie stand vom Sofa auf.

Sie ging im Zimmer herum, mechanisch, auf und ab. Etwas Kaltes, Schneidendes hielt sie umarmt, umklammert; sie wußte nicht, was es war. Sie wehrte sich dagegen, verzweifelnd, mit ihrer letzten Lebensenergie. Übergehen können: Das war’s! Hinüber zum Großen, Weiten, Allgemeinen, heraus aus dem persönlichen Leid! Stirb, mein kleines Weh, in dem großen Weltenschmerze! Die Umarmung wurde eisiger, klammernder. Es faßte sie an. Rüttelnd, tobend. Es brach aus ihr heraus: wie reißender Strom, wie heulender Sturm. Es warf sie nieder. Die Tür flog auf, schwarz kam es herein, schwarz [52] und massig, über sie hin, tretend, zerfleischend, erbarmungslos. Das war es. Das war das Leid, das wilde, furchtbare Menschenleid ... Sie lag auf dem Boden. Sie griff mit zuckenden Händen um sich, sie fuhr in ihr Haar, sie stieß gellende, fremde Schreie aus: Stefan, Stefan! Es würgte sie an der Gurgel, es riß ihr die Augen auf, sie mußte sehen, sehen ... den Kranken, der mit ihr ein Leben leben gewollt, so voll Schönheit, daß alle Götter zitterten vor Neid. Fünf Jahre hatten sie sich verzehrt in Sehnsucht. Sie sah ihn, jetzt erst: dort, wo sie ihn heute gefunden, dort lag er siechend, nicht sterbend, Jahre, Jahre lang Und sie, eine arme, verlassene Welt, einsam im großen Raum, verloren ... [53]

Nicht sehen Flüchten Irgendwohin in die Weite. Sich verbergen, tief untertauchen, in ein Meer hinunter. Oder nein. Tanzen, tanzen, bis die Besinnung schwindet. Tanzen, am Strand von Sorrent, wirbelnd, jagend, und höher und höher und kleiner und winziger ... ein flimmernder Punkt, hoch oben im Weltraum, schwirrend, tanzend ...

Heiß brachen die Tränen aus ihr hervor. Kein erlösendes Weinen: ein Strom, der jäh die Dämme überflutet, zurückgeworfen wird und gefesselt.

Sie richtete sich auf. Vom Fenster schien ein fahles Abendlicht herein. Draußen war die Weite, mit den sausenden Welten. Sie kroch, sie schleppte sich ans Fenster. Es [54] regnete nicht mehr. Weit, blauschwarz spannte sich’s droben. Und blitzten da nicht flimmernde Sterne? Und war da nicht ... hing dort oben nicht ...? Sie schaute hinauf, sie nickte, mit irrem, grüßendem Lächeln. Da hing er. Der eiserne Haken. Sie kannte ihn, sie hatte ihn schon früher einmal – wo war’s nur? – in irgend einem Traume gesehen. Der eiserne Haken mit der langen Schlinge. Bis herunter reichte sie zur Erde. Und kroch’s da nicht durch die schwarze, nächtige Gasse? Mit tausend Gliedern schleppte es sich heran, schwer und mühsam, mit tausend Gliedern und einem einzigen Kopf. Das litt. Das war die Menschheit. Die kleine Menschheit, die nicht sah, wie groß das alles [55] war. Jetzt richtete es sich auf, reckte die Glieder: mit tausend Fingern griff es nach der Schlinge und legte den einzigen Kopf hinein. Und oben wurde angezogen …

Sie lehnte am Fensterkreuz. Mechanisch, wie ein Traum, löste sie die Schnur vom Leib. Die schöne, türkische Seidenschnur. Sie ließ sie durch die Finger gleiten. Dann knüpfte sie zwei kleine, feste Schlingen. An beiden Enden. Eine zog sie durch die andere, daß es eine große, lose Schlinge wurde.

Ein Sessel stand da. Sie stieg hinauf, die Schnur in der Hand. Die kleine, feste Schlinge legte sie um das Fensterkreuz. Mit der großen, losen, spielte sie, glitt mit der Hand hin und her darin. [56] Und dann, mit einer plötzlichen, kleinen Bewegung, streifte sie sie über den Kopf. Wie locker das war! Wenn sie’s jetzt machte, wie der Schwimmeister immer kommandiert hatte? Die Schwimmschule fiel ihr ein, vom vorigen Sommer. „Eins, zwei, drei,“ hatte er kommandiert, „dann abstoßen mit den Füßen!“

Der Sessel fiel um, polternd, ins Zimmer hinein.