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Artikel „Grün, Karl“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 583–589, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gr%C3%BCn,_Karl&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 07:49 Uhr UTC)
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Band 49 (1904), S. 583–589 (Quelle).
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Grün: Karl Theodor Ferdinand G., Publicist, wurde am 30. September 1817 zu Lüdenscheid in Westfalen als Sohn eines sehr unbemittelten Volksschullehrers Johann Samuel G. geboren. Er besuchte anfänglich daheim die Volks-, dann wol auch die damalige Rectoratsschule, schließlich in Wetzlar das Gymnasium. Daselbst hatte nämlich der Vater von Grün’s Mutter Sophie, der herzogl. nassauische Hofrath und Doctor der Medicin Karl Friedeman de Groote (1764–1842); Sohn des nassauischen Generalsuperintendenten zu Usingen und Nachkommen von Hugo Grotius) lange gewohnt, der ihn dann vom Dorf Kirchen aus „treu überwachte und einen ehrsamen Landpfarrer aus mir machen wollte, weil ich ein gutes Gedächtniß und ziemliche Redegaben hatte“; „meine damals jungen Dichtergaben mußten das Ihrige zu der Feier beitragen“, als der Großvater am 13. October 1834 das 50jährige Arztjubiläum feierte, und der Enkel hat dem hochverehrten originellen Manne acht Jahre später mitten aus „der wildesten Katastrophe meines politischen Leidens“ einen schön pietätvollen Nekrolog geschrieben, am Ende des Abschnitts „Charaktere“ seiner „Bausteine“. In Bonn sollte er Theologie studiren, ging aber bald zur Philosophie und Philologie über, welche Studien er an der Berliner Universität fortsetzte. Hier gerieth er ganz und gar in den Bann des Hegel’schen Dogmas und seines Namengebers, und darin hat er danach als feuriger Kämpe lange verharrt, bis er nach vielen politischen Erlebnissen und litterar- wie culturhistorischen Arbeiten 1876 in einem Compendium sich völlig bekehrt zeigen sollte. Ob, wo, wie er die akademischen Studien zu einem greifbaren Abschlusse gebracht, ob der Doctortitel, dessen er sich übrigens in keiner seiner Schriften bedient, ihm zugestanden hat, ist nicht bekannt. Seit 1838 übernahm der 21jährige eine Stellung als professeur, d. i. Lehrer, der deutschen Sprache und Litteratur, wol auch des Englischen am Collège zu Colmar im Elsaß. Aus dieser bald geschieden, warf er sich freier Schriftstellerei in die Arme. Die jungdeutsche Bewegung, deren Stimmführer gerade damals durch die bundestaglichen Verbote u. ä. der Märtyrer-Nimbus umgab, hatte es ihm angethan. Durchaus in ihrem Geiste gehalten ist Grün’s, nach der verschollenen fraglichen Schrift „Nord und Süd“ (1838), erste Buch-Veröffentlichung: „Buch der Wanderungen. Ostsee und Rhein. Von Ernst von der Haide. Herausgegeben von Karl Grün“ (1839): „Herrn Dr. Karl Gutzkow zu Hamburg“, dem er zwei Jahre vorher in Frankfurt a. M. näher getreten war, als dem kritischen Haupte jener verfolgten Litteraten-Schar, mit einem breiten social- und litteraturpsychologischen Ueberblick der Zeitlage unter ständiger Rücksicht auf Gutzkow’s Verlautbarungen gewidmet, von der Plattform des Straßburger Münsters aus über deutsches und französisches Land hin das Evangelium des Guten, Wahren und Schönen im Zeichen des Ausgleichs der Nationen und Confessionen predigend. Der eigentliche Text, S. VIII durch die Blume als Grün’s Erzeugniß eingeräumt, bringt, meistens dem landschaftlichen Momente geltende, Reisebriefe damals üblichen Kalibers, denen gelegentliche Blicke in das ökonomische Milieu und die begegnenden Menschen eingestreut sind: zum größern Theil einen Berliner Ausflug nach Pommern, zumal nach Rügen schildernd, zum kleinern „Rheinische Briefe“ aus dem Sommer 1838 von Bonn bis zur besprochenen Düsseldorfer Kunstausstellung an seinen Freund Moriz Carriere mittheilend, von welchem „jungen Helden“ er in der Philosophie für „eine Verschmelzung des Idealismus und Realismus “ das Beste erwartet; eine Skizze vom Abstecher in das Ahr-Gebiet ist [584] angehängt. Interessant sind gegen das Ende der ausgesponnenen Vorrede die Bruchstücke seines angekündigten, nie erschienenen Zeitspiegels „Oswald, ein Roman“, aus dem er besonders ein kosmopolitisch-philosemitisches Gespräch für die Emancipation der Juden heraushebt. Dieses Thema erörterte er in den nächsten Jahren wiederholt: 1844 in gründlicher Monographie „Die Judenfrage. Gegen Bruno Bauer (s. d.)“, den bekannten scharfen Religionskritiker (dessen „D. J.“ 1843), aber hauptsächlich vom Standpunkte des Verlangens völliger Trennung von Kirche und Staat. Letztere Tendenz verquickte sich bei ihm immer mehr mit einem ins Socialistische – damaliger Farbe – ausartenden Junghegelianismus, und er gerieth mehrere Jahre hindurch in unablässige Zusammenstöße mit der Polizeigewalt und Preßcensur. 1842 gründete er die „Mannheimer Abendzeitung“ als erstes radicales Tagesblatt in Deutschland, die unterdrückt wurde. Durch das Ministerium Blittersdorf – die Vorgänge schildert G. in „Meine Ausweisung aus Baden und meine Rechtfertigung vor dem deutschen Volke“ 1843 – und dann auch aus der bairischen Pfalz ausgewiesen, ging er rheinabwärs, wo er etwa 11/2 Jahre in Köln blieb und anfänglich als ungebundener Journalist sowie durch Vorträge allgemeineren Inhalts aufklärerisch zu wirken suchte, doch auch in Litteratur- und Culturgeschichte sich umthat. Solche Reden hielt er mit ganz besonderem Erfolge im Frühlinge 1843 in Osnabrück und „Ueber wahre Bildung. Eine Vorlesung gehalten den 28. April 1844 zu Bielefeld zum Besten der armen Spinner im Ravensbergischen“ (1844), der die Nothwendigkeit humanitär-socialen Eingreifens in den Vordergrund stellte und G. „Die Bielefelder Monatsschrift“ ins Leben zu rufen veranlaßte. Letztere hat Juni 1844 gemäß höherer Anweisung der Mindener Bezirkscensor „in der Geburt erstickt“. Den Osnabrücker Eindruck belegen die ,allmählich aus den Armen des Preßbengels herauskommenden‘ „Bausteine. Zusammengetragen und mit einem Sendschreiben an seine Osnabrücker Freunde begleitet“ (1844): längere und kürzere Aufsätze aus seiner publicistischen Thätigkeit seit 1837, über Agrippa von Nettesheim, Börne, Walesrode, Herwegh, K. Heinzen, K. Seydelmann, Heinr. König und den eigenen Großvater (s. o.), über actuelle Preß- und Censurangelegenheiten, Schutzzoll, „Nationalschifffahrt“, gleichzeitige Gesetzgebungsacte und inner-, zumal kirchenpolitische Streitfragen; im ‚Sendschreiben‘ S. VIII eine von Freiligrath’s bekanntem Dictum ‚Deutschland ist Hamlet‘ wol unabhängige Darlegung dieses Gedankens.

Vom 1. Juli bis 30. September 1844 besorgte G. unter den größten Schwierigkeiten seitens der Behörden die Redaction des Journals „Der Sprecher oder Rheinisch-Westphälischer Anzeiger“. Infolge der amtlichen „vielen großen und kleinen Nadelstiche“ wich „selbst das Zutrauen der Abonnenenten“, und G. wandte sich nun, nachdem er noch, in fünf nur einzeln zu Tage geförderten Heften sein Buch über Friedrich Schiller (es erhält unten eine nähere Besprechung) herausgegeben hatte, der Plackereien müde Ende 1844 nach Paris, dessen deutsch-radicale Kreise er schon bei einem Besuche im Winter 1842/43 kennen gelernt hatte[WS 1]. Von da aus ließ er im Februar 1845 „Neue Anekdota“ ausgehen, eine Auslese seiner für den „Sprecher“ bezw. jene „Bielefelder Monatsschrift“ geschriebenen, aber confiscirten oder gar nicht zum Drucke zugelassenen politischen, volks- und socialwirthschaftlichen u. ä. Beiträge nebst actenmäßiger Darlegung des gegen ihn eingeschlagenen Verfahrens. G. hat in diesen Jahren seine Bücher, deren Hervortreten in Preußen nicht möglich, bei C. W. Leske in Darmstadt drucken und erscheinen lassen, die Flugschrift über seinen Mannheimer Ausgang in Zürich und Winterthur. Als G. im Winter 1845/46 in Paris Vorträge über deutsche Litteratur und [585] Geistesentwicklung halten wollte, erkundigten sich mouchards (Polizeibeamte) bei ihm angelegentlich nach seinem Verhältnisse zu dem „Communisten“ – L. Feuerbach, und als er diese abfahren ließ, erfolgte das Verbot der Vorlesungen. Auch seine ziemlich oberflächliche Schrift „Ueber Goethe vom menschlichen Standpunkte“ (1846) datirt aus Paris, während er sich dort im übrigen in die sociale Frage weiter vertiefte und als Ergebniß die Schrift „Die sociale Bewegung in Frankreich und Belgien. Briefe und Studien“ (1845), sowie eine deutsche Bearbeitung des „Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère“ Pierre Joseph Proudhon’s (Original 1846) vorlegte (2 Bde., 1847), welchem originellen anarchistisch angehauchten unabhängigen Socialisten Hegel’scher Schule er damals brieflich recht nahe trat. Als G., 1847 wegen seiner engen Verbindung mit deutschen communistischen Arbeitern vom Ministerium Guizot-Duchâtel ausgewiesen, nach Belgien gegangen, 28. Februar 1848 über Lille nach Frankreich und Paris hineinlugend, im Frühling 1848 nach Deutschland zurückkehrte, war die erste Veröffentlichung, die er als Niederschlag der inzwischen ausgebrochenen Umsturzbewegung auf den Markt brachte, die schon im Juni 1848 von Frankfurt ausgehende Broschüre „Die französische Februar-Revolution. Aus dem Französischen des P. J. Proudhon“, als erstes Heft einer Serie „Die Revolution im Jahre 1848. In zwanglosen Heften“; Grün’s leidenschaftliches „Einleitendes Wort“ kündigte als Fortsetzung eine „Kritik der deutschen Revolutionen von 1848“ und eine Mittheilung des Proudhon’schen Finanzplans an – die Ereignisse überholten und durchkreuzten diesen Plan. G. wurde für den Kreis Wittlich 1848 in die preußische Nationalversammlung gewählt, wo er zur äußersten Linken gehörte, auch 1849 in die statt dieser einberufene Zweite Kammer. Nach deren Auflösung wurde er wegen Theilnahme am Zeughaussturme zu Prüm, auch wegen „intellectueller“ Betheiligung am Aufstande der Pfälzer Republikaner verhaftet und angeklagt. Es scheint mir, daß dabei eine Verwechslung Karl Grün’s mit seinem jüngeren Bruder Albert (geb. 1822), dem noch jetzt hochbetagt zu Straßburg lebenden Dichter und Aesthetiker, untergelaufen ist. Dieser hatte nämlich, 1846 vor einer Anklage wegen Majestätsbeleidigung nach Belgien entwichen, sich sofort bei Losbruch der 48er Unruhen mitten in den Trubel gestürzt, ward als ehemaliger Bergakademiker Vorsitzender der Königstädter Gruppe der Berliner Maschinenbauer, die, gut bewaffnet, des Haupträdelsführers F. W. Held gefürchtete Leibwache bildeten (O. v. Corvin, Erinnerungen aus m. Lbn. III, S. 8 f.), floh beim Einmarsche Wrangel’s, rüttelte Sachsen mit auf, dessen revolutionäre Regierung ihn nach Frankfurt delegirte, und von da ging er mit radicalen Abgeordneten nach der empörten Pfalz als Civilcommissär, wurde nach dem Fehlschlagen in effigie hingerichtet, betheiligte sich am badischen Aufstande und entkam nach dessen Fehlschlagen im Juni 1849 nach Straßburg, wo er fürder, seit 1870 als treuer Anhänger der nationalen Gestaltung der Dinge, gelebt hat, schließlich Professor an der neudeutschen höheren Töchterschule. Er hat, laut brieflicher Angabe (21. März 1904), mit dem Bruder Karl „nur als Knabe und später einige Wochen in Belgien zusammengelebt“, ist „auch seiner litterarischen Thätigkeit nicht gefolgt, da wir in vielen Beziehungen ziemlich weit auseinandergingen“ – jedoch sind Action und Schicksal Beider in jenen Jahren so mannichfach ähnlich, daß dem ältern, gerade 1848/49 weniger explosiven, möglicherweise Ausschreitungen des später so abgeblaßten Albert versehentlich aufs Kerbholz gesetzt worden sind, wie sie auch sonst ja, sogar in sorgsamen Nachschlagewerken, öfters verwechselt oder wenigstens einzelne ihrer Erlebnisse zusammengeworfen worden sind. Karl G. wurde, da insbesondere über einen [586] angeblichen Antheil am Pfälzer Aufstand nichts Greifbares zu erbringen war, nach achtmonatiger Haft im Januar 1850 von den Geschworenen freigesprochen.

Nun ging G. nach Belgien und lebte das Jahrzehnt bis 1861 in Brüssel schriftstellerisch thätig, namentlich in Zeitschriften – vor allem auch dem Jahrbuch zu Brockhaus’ Konversations-Lexikon, „Unsere Zeit“ – über Statistik; doch schrieb er auch mehrere Aufsehen erregende Broschüren über das ihm verhaßte ‚second empire‘: „Louis Napoleon Bonaparte, die Sphinx auf dem französischen Kaiserthron“ (3. Aufl. 1866) und „Frankreich vor dem Richterstuhl Europas“ (1860, beide anonym), und auch in seinem Beitrage zu den von L. Walesrode 1860 im 1. Jahrgange herausgegebenen „Demokratischen Studien“, unter deren Mitarbeitern ihn das Titelblatt in der Elite demokratischer Publicisten nennt, macht er die neunapoleonische Aera dafür verantwortlich, daß die eklektische und reactionäre Philosophie und Sociologie unter clerikaler Aegide über die geistig bedeutendere moderne Minorität im Lande triumphire, welch letztere, zugleich dem „Chauvinismus gründlich abhold, den deutschen humanitären Bestrebungen mit sympathetischem Ohr lauschen“. Letztere Schlußbeobachtung dieses, an den alten im Brüsseler Exil sitzenden Freund Proudhon anknüpfenden Aufsatzes „Die jüngste Literatur-Bewegung in Frankreich“ (a. a. O. [I] S. 343–376), in dem allerdings von Litteratur im landläufigen Sinne gar nirgends die Rede ist, vielmehr von sociologischen und nationalökonomischen Anschauungen und Studien bekannter zeitgenössischen Franzosen, erneuert einen alten Gedanken Grün’s: die energische Befürwortung eines auf Aussöhnung zielenden Vergleichs zwischen Deutschland und Frankreich, der sodann den von Rußland drohenden Angriffen vorzubeugen erlaube. Dieser Angriffe Basis hat zufällig im 2. Bande der genannten „Demokrat. Studien“ (1861, S. 79–91) ein Aufsatz Arnold Ruge’s „Der asiatische Geist in seiner Herrschaft über Europa“, gekennzeichnet, während G. selbst seine Doppelidee in zwei Schriften des Brüsseler Aufenthalts näher ausgeführt hatte: „Westeuropäische Grenzen“ und „Die Osteuropäische Gefahr“; selbständig ist erst ganz neuerdings ein vielerfahrener globetrotter, Heinrich Basse aus Bonn, unter dem Pseudonym „Quidam“ für dasselbe Verhalten gegenüber Frankreich und entschiedene Hut vor Rußland eingetreten („Die europäische Gefahr“, 1895; vgl. auch ebendesselben „Deutschland am Scheidewege!“ 1897). Wie A. Ruge, L. Bamberger, F. Kapp, H. B. Oppenheim, A. Stahr u. a. Mitarbeiter der Walesrode’schen „Demokratischen Studien“, die sich dann allmählich mit der nationalen Neuordnung der deutschen Dinge völlig befreundet haben, sehen wir bei G. das charakteristische Merkmal jener älteren Generation der radicalen Demokratie, den unverbrüchlichen heißen Hang zu Deutschthum und Vaterland. Dahin rechnet auch die Schiller-Begeisterung, die die Männer dieses Schlags durchdrang, aber in G. stets besonders stark war. Abgesehen von häufiger gelegentlicher Bezugnahme auf den gewaltigen Genius, als den G. den Meister verehrte, hat er drei Mal litterarisch zu ihm Stellung genommen. Zuerst in der Jugend mitten in der journalistischen Drangsal 1844 in dem starken Bande „Friedrich Schiller als Mensch, Geschichtschreiber, Denker und Dichter. Ein gedrängter Commentar zu Schillers sämmtlichen Werken“, welch letztere Eigenschaft aber nur als Erläuterung im ganzen ohne Rücksicht auf die von ihm bespöttelte philologische Einzelauslegung zu verstehen ist. Die Einleitung (S. 1–38), „Kritik sämmtlicher beachtenswerther Standpunkte der Kritik über Schiller“, läßt Grün’s Vorgänger Revue passiren; er erscheint da, wie sein scharfer Recensent in Viehoff’s „Archiv für den Unterricht im Deutschen“ II 2, 155–160 sofort nach Erscheinen aussprach, als einer, „der [587] zwar die Bezeichnung ‚Hegelianer der äußersten Linken‘ zurückweist, dessen Weltbetrachtungsweise aber darum nichts weniger in jenem Boden wurzelt“. G. tritt für des Hegelianers Hinrichs Schiller-Commentar (1837/38) ein, dessen Darstellungsweise er jedoch zu abstract und daher theilweise mit sieben Siegeln verschlossen findet, und setzt das methodische gute Schillerbuch K. Hoffmeister’s (1838–42), der Hinrichs hohle, gewaltsame Dialektik vorgeworfen hatte, tief herab, da er kein Jota von Philosophie verstehe, als unfähig Schiller zu zeichnen. Grün’s anspruchsvolle Absicht, die Besprechung der Schiller’schen Werke für weiterhin zu erledigen, erfüllt das damals vielerörterte Buch (neue Ausgabe 1849) nicht, auch nicht in der, arg phrasenvollen, vergebens auf das „Mittel zwischen abstract und ordinär“ abzielenden Form; so steckt auch nichts hinter seinem Kernsatze, den ihm jener, wegen der Verunglimpfung Hoffmeister’s durch G. sehr erboste Referent z. unter die Nase reibt: „Die philosophische Wahrheit bleibt immer ein öffentliches Geheimniß, bis sie einen öffentlichen Vermittler findet, der in einer faßbaren und zugleich gehaltenen Sprache das Abstraktum mundgerecht macht“. Von Brüssel aus ging im Jubeljahr 1859, da auch die exilirten Deutschen des ganzen Erdenrunds sich mit den Landsleuten daheim im Zeichen des großen nationalen und Freiheitssängers begegneten, Grün’s etwas flüchtig – 62 Seiten – hingeworfene Festschrift „Frédéric Schiller. Sa vie et ses oeuvres. A l’occasion du centième anniversaire de sa naissance“, die als wol einzige französische Schillerschrift aus deutscher Feder immerhin Facten und Hauptgesichtspunkte ordentlich zusammenfaßt und (S. 42) für weiteres à notre grand commentaire: „Schiller, l’homme …“ verweist; die Buchhändler-Reclame „Sehr elegant ausgestattet mit vortrefflichem photographirten Bildniß Schillers“ übertrieb. Auch gelangte in Druck G.’s „Schillerrede gehalten zu Brüssel am 10. Novbr. 1859“, deren Ertrag zur Verfügung der Freifrau v. Gleichen, Schiller’s Tochter, bestimmt war, um „auch nur Eine der zahllosen Thränen in der Menschenwelt damit zu trocknen“ gemäß einer „Clausel im Testamente ihres großen Vaters.“ Die Festrede feiert beredt den Vater gewaltiger sittlicher Kräfte, den deutsch-volksthümlichen Meister des Dichterworts, den Prediger der Vaterlandsliebe und echten Freiheit; und G. selbst sehen wir für Ersehntes und Werdendes entflammt, wo er den Wallenstein hinstellt als „den Mann der Reichseinheit, den gewappneten Patrioten, der es uns laut sagt: ‚Es soll im Reiche keine fremde Macht Mir Wurzel fassen, und am wenigsten die Gothen sollen’s‘“ – man kann dies damals auf die Dänen oder – 1859 anläßlich der Niederlage Oesterreichs durch den G. so verhaßten Napoleon III.! – die Napoleonskrieger deuten.

Eben die Veränderungen, die Folgen der jüngsten Politik trieben G. um Neujahr 1861 nach Berlin, wo er in der Abgeordnetenkammer seine 48er Vergangenheit auffrischte, von da über Belgien mit Paßschwierigkeiten über Paris nach Turin, wo er der Eröffnung der ersten Nationalvertretung Jungitaliens am 18. Februar anwohnte. Seine herbe Antipathie gegen das napoleonische Frankreich vermählt sich bei allem was er bei seiner nun, nach curiosen Audienzinterviews bei Cavour und Ratazzi, folgenden sechsmonatigen Durchwanderung Italiens bis Neapel sieht, hört und darüber aufschreibt, mit der Hoffnung auf Erhebung und Neu-Festigung Deutschlands im vorwiegend kleindeutschen Sinne, aber in innigem Bunde mit Niederländern, Skandinaviern und sogar Engländern zu einer germanischen Union. Offenen Auges hat sich G. auf der Apenninenhalbinsel damals umgeschaut und aus der Fülle der Eindrücke aus der Antike und der neuen Welt zwei starke fesselnde Bücher niedergeschrieben: „Italien im Frühjahr 1861“ (1861), dies der eigentliche, auch Hin- und Rückfahrt nebst Rückblick umfassende lebendige Reisebericht, und [588] „Fragmente aus Italien. Natur und Kunst“ (1862), eine Sammlung von Spiegelbildern, wie er sie zu Haus in Ruhe ausgeführt hat und Mitte März 1862 aus Brüssel seinem 76jährigen „Unsterblichen Alten“ dedicirt, von dem er ein offenes grades Gemüth und Liebe zur Wahrheit geerbt habe. Diese beiden frischen Niederschläge eines köstlichen Halbjahrs (es kommt ihm vor, als habe er die 40 Jahre vorher nur „vegetirt“) gehören als ungezwungene Erzeugnisse unmittelbarer Stimmung zu Grün’s erfreulichsten Veröffentlichungen und zeigen ihn auch nach dem Decennium der Brüsseler Verbannung im besten Mannesalter von einem zerflatternden Weltbürgerthum verwaschen socialistischen Anstrichs zu festeren Problemen übergehen. Noch 1862 wurde er Professor an der Handels- und höheren Gewerbeschule zu Frankfurt a. M., in welcher Eigenschaft er wol zu „Musik und Kultur. Festrede zur Jubelfeier der Mozartstiftung (25. Juni 1863). Gehalten von K. G.“ Anlaß erhielt: nach ganz kurzem Ueberblick der Kunst, insbesondere der Musik der Neuzeit gelangt er da zum Preise Mozart’s, unter dessen Namen seit 1838 die Frankfurter Mozart-Stiftung junge begabte Musiker ausbilden läßt, und als Programm-Nummer fügte sich diese Rede (die S. 7 in dem Satze gipfelt, die beiden Stichworte des Titels bedingten einander) zwischen musikalische Fest-Darbietungen. Diesen Lehrer-Posten gab er 1865 auf, um sich in Heidelberg niederzulassen und von da aus die Studien in Cultur-, Kunst- und Litteraturgeschichte, die ihn neuerdings ausschließlich beschäftigt hatten, durch mannichfache Wandervorträge, besonders in den rheinischen Städten, nutzbar zu machen. „Da G. die Kraft des zündenden Wortes und des hinreißenden Ausdruckes in seltenem Maße besaß“, sagt der Nekrolog der „Neuen Freien Presse“ in Harmonie mit dem oben citirten Urtheile des Großvaters über den Knaben, fanden seine Vorträge wie in ganz Deutschland, auch in Wien lebhaften Beifall und Anklang, und so übersiedelte er, zumal das dortige Leben ungemein anregend auf ihn einwirkte, 1868 zu bleibendem Wohnen nach der Kaiserstadt an der Donau. Diese fand namentlich auch wegen ihrer Kunstschätze in ihm einen begeisterten Lobredner, wofür er sich durch „Wien und seine Kunstschätze. Ein Führer durch Galerien, Kunstsammlungen, Museen, mit einem alfabetischen KünstlerLexikon“ schon 1868/9 erkenntlich erwies. Grün’s reifste, gehalt- und werthvollste Bücher sind während des achten Jahrzehnts aus Wandervorlesungen entstanden. Voran die „Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts“ (1872), eine aus eigenen Studien erwachsene Betrachtung, die den Erscheinungen des Geisteslebens, sodann des Fortschritts der großen Humanitäts- und Befreiungsideen vor allem Rechnung trägt. Seltsamer Weise räumte G. in der späteren „Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts“ (2 Bde., 1880) dieser doch viel weniger seiner Geschmacksrichtung entsprechenden Periode 3/5 Mal mehr Platz ein. Diese seine letzte selbständige Veröffentlichung verarbeitet viel mehr und abgelegeneres Material, kommt aber nicht durchweg über Reproduction einzelner Scenerien hinaus, bekundet deutlich den Abschluß seiner Lieblingsstudien. Jedenfalls verdienen die zwei kräftigen Versuche, die Grundlagen der neueren Geschichte auf dem europäischen Culturboden bloßzulegen, schon grundsätzliche Anerkennung, und man möchte den vielen Fachleuten, die jene drei dicken Bände bewußt oder unbewußt ignoriren, zurufen: „Besser machen!“. Seine von jeher tiefwurzelnde Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, eine moderne Weltanschauung ohne stricte Rücksicht auf die Dogmen philosophisch aufzubauen, hatte ihn auf Feuerbach (s. o.) geführt; dem verdanken wir das wichtige Werk „Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlaß, sowie in seiner philosophischen Charakterentwicklung dargestellt“ (2 Bde., 1874), dem Prantl in der Bibliographie seines Artikels über Feuerbach (A. D. B. 71, 753) den Ehrenplatz zubilligt. [589] Der Gegensatz seiner Auffassung L. Feuerbach’s zu der als fehlerhaft erkannten in F. A. Lange’s „Geschichte des Materialismus“ (1875) erfüllt noch die Vorrede zu Grün’s eigener Uebersicht über „Die Philosophie der Gegenwart. Realismus und Idealismus. Kritisch und gemeinfaßlich dargestellt“ (1876), welches Compendium auch „Von Feuerbach bis heute“ heißen könnte. Feuerbach, ruft G. hier hingerissen aus, habe das scholastische Hegelthum zerbrochen und das Denken der Wirklichkeit proclamirt, und alle Errungenschaften der realen Wissenschaften, in die er sich staunenswerth vertieft hat, ruft hier G. zu Hülfe, um die Philosophie auf dem Neuland, auf das sie die heutige Erkenntnißtheorie Hand in Hand mit der Naturforschung geführt hat, unter möglichst weitgehender Verdrängung der endlosen Formeln und Schulausdrücke fest anzusiedeln. Den eisernen Eifer, nicht nur auf dem Laufenden zu bleiben, sondern die Ergebnisse allerjüngster Untersuchungen nebst den modernsten Thesen unserm Anschauungsvorrath einzuordnen, müssen wir in diesem Grünschen Handbuche bewundern. Im übrigen darf man für alle seine Publicationen seit 1861 die allgemeine Charakteristik am Ende des ihm geltenden Artikels in Bornmüller’s „Schriftsteller-Lexikon“ mit Nachdruck anwenden: „Seine Schriftstellerei zeichnet sich durch großen Freisinn, geistreiche Behandlung und lebendige Darstellung aus“, wozu für die letzten noch gründliche Herrschaft über weitschichtige und verwickelte Stoffgebiete tritt. Ueber die Zeit seit jenem seinem breiten Culturgemälde des siebzehnten Jahrhunderts ist nichts zu bemerken. Wir copiren daher den Endsatz des schon angezogenen Nekrologs der „Neuen Freien Presse“: „In den letzten Jahren war er leidend und lebte deshalb zurückgezogen und auf den Umgang mit wenigen Freunden beschränkt, war aber bis an sein Ende mit Studien und Arbeiten beschäftigt“. Ebenda heißt er eingangs „ein Schriftsteller von ausgebreitetem Wissen und glänzender Darstellung“; dem mag man zustimmen, weniger aber der Bezeichnung als Cultur- und Litterarhistoriker, auf die man häufig stößt, denn auch als solcher war er stets in erster Linie eben der Publicist. Gestorben ist er zu Wien in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar 1887.

Nachruf von Verständniß wol nur „Neue Fr. Presse“ (Wien) Nr. 8075 v. 19. Febr. 1887, S. 5. – Bornmüller’s Biogr. Schriftsteller-Lexikon d. Gegenw., S. 295 f.; Meyer’s Konversationslex.3 VIII (1876), S. 278 u. 5 VIII (1895), S. 14. Benutzt wurde oben auch mein abgezogener, aber vor dem Einschub gestrichener authentischer Artikel für Brockhaus’ Konversationslex.14. – Kürschner’s Litteraturkldr. IX (1887) II 104 u. X (1888) I 29. – Chr. Petzet, Die Blüthezeit d. dtschn. polit. Lyrik 1840–50 (1903) S. 470. – Allerlei Einzelheiten in Büchern Grün’s aus versteckten Winkeln zu entnehmen oder herausulesen. Bezüglich des Bruders Albert s. Heinr. Kurz, Gesch. d. dtsch. Litt. IV; Brümmer, Lexikon d. dtsch. Dichter d. 19. Jahrhdts.4 u. 5 II, 58, Leimbach, Die dtsch. Dichter d. Neuzeit u. Gegenwart III, 62.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: halte