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Artikel „Dulk, Albert“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 149–160, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Dulk,_Albert&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 03:24 Uhr UTC)
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Dulk: Albert Friedrich Benno D., Dramatiker und religionsphilosophischer Publicist, ein genialer Sonderling und Romantiker in Leben, Denken und Schreiben, wurde am 17. Juni 1819 zu Königsberg in Ostpr. als Sohn des Professors der Chemie an der Universität und Apothekers Frdr. Phil. D. (1788–1851) geboren. Nach dem Tode der Mutter – aus der Familie Hartung, langjährigen Besitzerin der großen liberalen „Königsberger H.’schen Zeitung“ –, schon in Dulk’s 3. Jahre, wuchs er unter der Obhut des wohlhabenden Vaters und einer trefflichen Stiefmutter auf. Der Vater ließ den körperlich wie geistig kräftig veranlagten Sohn sich austoben und früh an Selbständigkeit, an Freiheit in Urtheil und Handeln gewöhnen. Schwimmen, reiten, wandern durfte er so viel und wann er wollte. Schon während des, infolgedessen unregelmäßigen Gymnasialbesuchs functionirte er seit 1835 als Lehrling in der Officin des Vaters, um einmal diese zu übernehmen, und wurde 1839 Provisor und „Gehilfe“. Orthodox-religiös und patriotisch, dies nach dem Ideale Theodor Körner’s, war damals sein Denken gerichtet. Seit 1837, der Absolvirung des Gymnasiums, studirte er neben der pharmaceutischen Thätigkeit auf der heimatlichen Universität Medicin und Naturwissenschaften, sah sich dabei aber auch in Philosophie, Aesthetik, Philologie, fremder classischer und älterer deutscher Litteratur um, entwarf dramatische Pläne und verfing sich heimlich in der Ueberzeugung seines Dichterthums. In der Studentenschaft spielte der schöne, lebensfreudige und schneidige Burschenschafter eine bewußte repräsentative Rolle. Während dieser Studienjahre wurde Dulk’s Vaterstadt, besonders deren Hochschule, mehr und mehr Mittelpunkt einer energischen liberalen Opposition sowie modern litterarischer Bestrebungen, und beide wirkten auf die empfängliche Seele des in der Oeffentlichkeit auffallenden Jünglings stark ein. 1839, nach dem Provisor-Examen, verlobte er sich mit der erst 16jährigen Base Johanna D., einem anmuthigen, gemüthstiefen, richtig urtheilenden Mädchen. 1841 trat er in die Lazareth-Apotheke zu Breslau behufs einjährig-freiwilligen Militärdienstes ein, 1842 in die Apotheke zu Kupferberg i. Schl. Seit Anfang 1843 genügte D. zurückgezogen in der stillen ostpreußischen Kreisstadt Gumbinnen dem heißen Drange nach poetischem Schaffen, dessen Frucht „Orla“ ward, sein allseitig vordeutender poetischer Erstling. Bei dessen Erscheinen begab sich D., um sich in den Naturwissenschaften, besonders der Chemie, zu vervollkommnen, Ostern 1844 nach Berlin, schon im Sommer aber nach Leipzig, wo er nun, ungeachtet aller äußeren und inneren Zwischenfälle, in Professor Otto Linné Erdmann’s chemischem Laboratorium 1¾ Jahre unverdrossen gearbeitet hat.

In Leipzig fielen bald die Würfel über Dulk’s Zukunft, sowohl hinsichtlich des Berufs, wie der geistigen und seelischen Entwicklung. Der vorurtheilslose Vater, vom befreundeten Demokraten Johann Jacoby mit dem anonymen „Orla“ bekannt gemacht, schrieb dem Sohn: „Ich habe die Forderung an dich gestellt, etwas Tüchtiges zu leisten, sei es in welchem Felde des menschlichen [150] Wissens es wolle … Du hast jetzt eine tüchtige Leistung geschaffen, und nur das war es, was ich von dir forderte“; im Tagebuche des beglückten Freigegebenen heißt es: „Je mehr ich den Brief lese, desto seliger bin ich in ihm.“ Freilich hemmten ihn die öffentlichen und Herzensstürme, die ihn demnächst schüttelten, sofort nachdrücklich in die poetische Laufbahn einzutreten. Im Februar 1845 führte ihn ein befreundeter junger Musiker ins Haus eines gesellschaftlich hochangesehenen Leipziger Finanzmanns ein, dessen 23jährige Tochter Ini, schön, geist-, temperament- und charaktervoll, rasch mit D. eine verhängnißschwere Neigung austauschte. Im Mai suchte D. in ihrem westfälischen Verstecke die Tochter Bertha des am 24. December 1844 wegen Attentats auf Friedrich Wilhelm IV. von Preußen enthaupteten Bürgermeisters H. L. Tschech von Storkow auf, um diesen zum Helden eines revolutionären Dramas zu machen. In Leipzigs Vorort Lindenau hielt er sich danach bei dem ihm nahestehenden, damals atheistisch anrüchigen engern Landsmanne Wilhelm Jordan auf, wohl weil Ini’s Eltern dort ein Landhaus besaßen. Von letzterer bewohnerleerer Villa machte D. im September und October Gebrauch, als ihn infolge der Grabrede, die er mit Robert Blum und Jordan als Erwählte der Studenten den beim antiklerikalen Leipziger Putsch vom 12. August 1845 Gefallenen hielt, die sächsische Regierung auswies. Ende October bis ins Frühjahr schlich sich der verstellungshalber Kurzgeschorene vom nahen Neuschönefeld von Früh- bis Abenddämmerung ins Erdmann’sche Laboratorium. Ende April 1846 wurde er bei der Ankunft in Halle, wo er promoviren wollte, auf Grund ältern Haftbefehls wegen jener Tschech-Fahrt, in Untersuchung gezogen, aber – alle seine Papiere brachte Ini sofort in Sicherheit – nach vier Wochen unverrichteter Sache entlassen. Bis in den Juli wieder in Neuschönefeld, brachte D. die Freundin zu seiner Braut Hannchen, die schon mit einander warm correspondirten, nach Bad Kranz bei Königsberg und kehrte im September mit dem Breslauer Doctordiplom heim. Die Zweifel über das äußere Herzensschicksal der drei endigte am 26. October Dulk’s Hochzeit mit der Base, die ausdrücklich Ini’s – diese flocht ihr den Myrthenkranz – vorläufiges Verbleiben beim jungen Paare ausbedang. Im Winter 1846/47 scheiterten, trotz des Vaters und des ganzen Senats energischer Fürsprache, Dulk’s Versuche, sich in Königsberg als Privatdocent zu habilitiren, an des Ministers Eichhorn Verlangen, D. müsse zuvor „überzeugende Beweise von Gesinnungsänderung“ ablegen. In seinem Dichterheim am Friedländer Thor, wo Dulk’s Drama „Lea“ damals entstand, gaben sich Dienstag Abends J. Jacoby, Rud. Gottschall, L. Walesrode, August Wolf, der Philosoph. Otto Seemann u. a. für Pflege der Poesie und Musik ein anregendes Stelldichein. Im April 1847 verließ Ini, blutenden Herzens entsagend, das treue Freundespaar, meldete aus Leipzig die Annahme einer Erzieherinstelle in Oesterreich, hielt jedoch das bedeutsame Verhältniß zu Hannchen, welche sie darauf besuchte, und zu D. außerhalb der Oeffentlichkeit aufrecht: bis 1876 begleitet ihre interessante Figur das Leben des geliebten Mannes.

Aber wie eine Ablösung trat sofort in Dulk’s Sphäre eine andere weibliche Erscheinung, die fester in sein Dasein eingreifen, ja, auf dieses bis an sein Lebensende mitbestimmenden Einfluß aussüben sollte. Während der Abwesenheit von Dulk’s Gattin bei der Leipziger Busenfreundin, entzündete sich in ihm und einer Blondine, Else Bußler, Tochter eines höheren Berliner Hofbeamten, die zu Besuch bei ihrer Schwester Frau Kleist auf Kalthof bei Königsberg weilte, eine vollbewußte tiefe Leidenschaft mit geniezeitlichen Allüren, unauslöschlich und ungezügelt. Gerade in Königsberg hatte sich, theilweise unter Dulk’s Augen ein schamlos ausgeartetes Treiben abgespielt, das im [151] Anschlusse an die theosophische Lehre Joh. Hnr. Schönherr’s (1771–1826) seit etwa 1823 den Geschlechtstrieb mystisch-schwärmerisch in gottesdienstliche Verwendung zog und 1839 in staubaufwirbelndem Criminalverfahren zur Amtsentsetzung der beiden betheiligten Geistlichen Ebel und Diestel führte. Unabhängig von solch unreiner Pseudo-Sectiererei bekämpften in den Vierzigern in derselben „Stadt der reinen Vernunft“ J. Jacoby, K. Rosenkranz, Walesrode, Fanny Lewald, mit verschiedenen Gesichts- und Angriffspunkten die geltende gesellschaftliche Moral, und D. wurzelte somit leicht in vorgepflügtem Boden ein, als ihn der Drang des Bluts und seltsame Gelegenheit nach dem halbromantischen Doppel-Liebesbund der Jahre 1845–47 veranlaßten, die sogen. „freie Liebe“ in die Praxis umzusetzen. Es ist nöthig, seine eigene, keineswegs principiell zuchtlose bezügliche Anschauung klar formulirt anzuführen wie in einem Briefe des Jahres 1848: „Mir ist die Erschöpfung der Liebe, leibliche wie geistige, heilig – heilig die Befriedigung aller Kräfte und Fähigkeiten im Innern, alles Genusses, sobald er nicht flüchtiger, leichtsinniger Reiz ist. Wenn aber die eine Beziehung unter der andern leidet (die geistige unter der sinnlichen oder umgekehrt), schreibe ich es nicht innerlichen Conflicten zu, sondern nur der äußeren, so unvollkommenen Einrichtung der Gesellschaft und sehe darin eine würdige Aufgabe, neue Formen zu finden, die der idealistischen Berechtigung besser entsprechen als die jetzige faule Moral und Sitte … Unter dem Eindrucke einer großen, heiligen Ueberzeugung, werde ich mir hierzu (zu einer Abweichung von der bestehenden Regel) immer das Recht einräumen.“ Diese Darlegung kann als Motto für Dulk’s ganzes Verfahren gelten, wie er künftig sein Leben geführt hat, und zwar nicht etwa nur im Gebiete seiner Herzensbeziehungen. Die genannte Else verharrte nach Hannchen’s Heimkehr, November 1847, in ihrem Verhältnisse zu D. ungestört, nahm am lebhaften Verkehr in dessen Kreise theil und blieb bis Januar 1852 im Hause ihrer Schwester. Vorläufig aber fuhr die Revolution zwischen Dulk’s Privatangelegenheiten. Am 23. Februar 1848 wurde Dulk’s 1846/47 entstandenes Drama „Lea“ auf dem Königsberger Stadttheater zuerst aufgeführt, und der Verfasser rief als Antwort auf den brausenden Beifall am Schlusse statt eines Danks die eben eingetroffene Kunde der vortägigen Vorgänge an der Seine von der Rampe hinunter: „Die Sturmglocken der Freiheit läuten! In Paris ist die Revolution ausgebrochen; wir stehen vor einem welterschütternden Ereigniß.“ Am 6. März verursachte ein Antrag Dulk’s eine Commission, die eine reformfordernde Adresse an den König aufsetzte, am 13. zündete seine Ansprache unter den Straßenreden am stärksten, und er ward Corporal der neuen Bürgerwehr. Die Erfolge der militärischen Reaction des Jahres 48 in Preußen ließen D. versuchen, diesen durch eine Arbeiter-Association, eine Sonntagsschule, an der er selbst unterrichtete, und ein socialistisch angehauchtes Sonntagsblatt „Der Handwerker“ (nur 5 Nummern), entgegenzuwirken. Resignirt schrieb er am 12. December: „Ich … möchte vor den verwünschten, ewig neuen Erbärmlichkeiten Reißaus nehmen, wenigstens in einen anderen Welttheil hinein. Auch habe ich so vieles angefaßt und nichts vollendet … Ich habe den Ehrgeiz der Unsterblichkeit und gehe in Kleinigkeiten unter … Ich frage den Weltgeist: ‚wozu, warum das alles?‘ Um mich, wie bisher noch immer im Leben, zu überzeugen, daß alle begonnenen Bahnen mich nicht zum Rechten führen.“ Der Angriff seiner satirischen Komödie „Die Wände“ auf die „Preußenvereine“ 1848 und der entscheidende, dazumal auffällige Austritt aus der evangelischen Landeskirche, Anfang 1849, ließen es ihm vollends gerathen erscheinen, vor dem Hasse der scharf einsetzenden Reaction zu entweichen und in unbehelligter Ferne von den ihn beengenden Zuständen über die Zweifel [152] und Räthsel ins Klare zu kommen. Im Juni 1849 nahm D. von Hannchen und Else bewegten Abschied; er reiste nach Wien, von da über den Semmering, die Alpen u. s. w. meist zu Fuß bis nach Neapel, nach 5 Tagen stürmischer See traf er in Alexandrien den geist- und witzreichen Bogumil Goltz. Unter den niedrigsten Volksschichten lernte er Arabisch, legte die Landestracht an und fuhr Ende December von Kairo auf einer gemietheten primitiven Barke wie die Fellah bis zur Insel Philä und den ersten Katarakten Assuans nilaufwärts, sein eigener Koch, mit dem Bootsmann und einer Herde Ratten allein. Aus Geldmangel nach Kairo zurückschiffend, fand er dort Ende März 1850 Mittel vom generösen Vater vor, besuchte die Herrschergräber und durchreiste danach mit drei, für 400 Piaster erkauften Kameelen und dem Beduinen Imbarok die Grenzwüsten Aegytens und Arabiens, worauf er ein Vierteljahr in einer Granithöhle nahe dem Sinai, der „Schlangengrotte“, völlig weltverloren dem Naturzauber, seinen Träumereien und Grübeleien nachhing. Die ersehnte Erkenntniß, der Entschluß zu thätigem, vorbildlichen Prophetenthum, Idee und Einzelheiten zu dem großzügigen Poem „Jesus der Christ“ reiften ihm dort in der gewollten Einsamkeit. Nur der Ausbruch der Pest in Arabien und die durch das Liegenbleiben häuslicher Briefe in Kairo erzeugte Ungewißheit über Daheim vermochten ihn, Ende Juli über Smyrna nach Europa zurückzukehren.

In Königsberg faßte er gar nicht wieder Boden, sondern ließ sich noch 1850 mit seinem Hannchen auf dem Cubly, 1000 Fuß über dem Nordufer des Genfersees, oberhalb Clarens und Montreux, 1½ Stunden von Vevey in einem einsamen Holzhäuschen der Gemeinde Chaulin nieder, das er kaufte, ausbaute und roth anstrich – noch heute heißt die Dulkhütte in der Gegend maison rouge. Mit dem Tode des ausgezeichneten Vaters, an dessen Sterbebett er im nächsten Jahre eilte, verlor D. seinen allbereiten Rathgeber, Helfer, seine stete pecuniäre Stütze und eigentlich das Letzte, was ihn mit Königsberg verband. Else, wegen ihres ununterbrochenen Verhältnisses zu den Dulks mit den Ihrigen zerfallen, ging 1852 nach Paris, dann längere Zeit nach Berlin, zwischendurch mehrmals bei Dulks weilend, bis sie im Juni 1857 für immer in deren Hauswesen eintrat, und zwar nicht etwa als Gast oder einfache Hausgenossin, sondern als wirkliche Ehegefährtin des seit über 10 Jahren vermählten Paares – ein Factum, das D. sofort unter Zustimmung Frau Hannchens durch einen, seiner Gewohnheit gemäß, feierlich gleichsam priesterlichen Act und eine, wie er es liebte, überanstrengende Höhenwanderung durch die Schweiz besiegelte. Trotz innigster Familiengemeinschaft hat er sich in jener Weltabgeschiedenheit – Januar 1852 besuchte er mit der Gattin Rom – 8 Jahre lang ernsten und eindringlichen philosophischen, historischen, religionsgeschichtlichen Studien gewidmet, dabei mancherlei Dichterisches, vor allem das Jahre lang ausgetragene Werk „Jesus der Christ“, fertiggestellt. Wenn er auch die innerhalb der europäischen und christlichen Gesellschaftsordnung mehr als merkwürdige Bigamie – diesen Charakter seines weiteren Ehelebens hat er keinen Augenblick abgeleugnet – mit vollster Verantwortlichkeit als Consequenz eines theoretischen Ueberzeugungsfanatismus durch ethische Gründe als berechtigt hinzustellen bemüht war, so drängte doch gewiß eben diese ungewöhnliche Situation, wohl auch Else persönlich, zur Wahl eines Wohnsitzes, der äußeren Wiederanschluß an Cultur und Oeffentlichkeit ermöglichte. Im Herbst 1858 übersiedelte D. mit den Seinen nach Stuttgart, wo er, insbesondere durch die Künstler- und Poetengesellschaft „Bergwerk“, mit den hervorragendsten Litteraten und anderen ästhetisch strebsamen Geistern der journalistisch betriebsamen schwäbischen Hauptstadt in anregendste Verbindung [153] kam: Fr. Vischer, Moritz Hartmann, L. Pfau, J. G. Fischer, W. Raabe; Hackländer, F. Wehl, Walesrode, später Freiligrath u. A. Jedoch auch sein eigenes Heim, das durch Dulk’s persönlich hochachtbares, gleichsam patriarchalisches Verhalten gegenüber aller amtlichen und privaten Controlle die Doppelehe siegreich vertheidigte, ward wieder eine Stätte der Gastfreundschaft, ungezwungenen Bildungsaustausches, stets bereiter praktischer Humanität. Wie früher seine Schaffensstunden am freudigsten in der Einsamkeit der Natur erledigend, hielt er sich im Sommer am liebsten in einer Blockhütte zwischen Rohracker und Untertürkheim auf, und sogar als er seit Ende 1871 von der sich immer großstädtischer herauswachsenden Residenz in die dörfliche Ungeschorenheit des nahen Untertürkheim am Neckar hinauszog, griff er zu der Einsiedelei zu, die ihm Graf Reischach in einer geräumigen Holzhütte des Leonberger Waldes zur Verfügung stellte, nach deren Abbruch 1878 er sich ein neues Asyl seines Sommerfleißes in einem verlassenen Waldhüterhäuschen des Eßlinger Bergwaldes ermiethete. Vor diesem hat die württembergische Arbeiterschaft im September 1885 eine eherne Büste Dulk’s von der Meisterhand Donndorf’s enthüllt.

Albert D. war nämlich im Verfolge seiner radicalen Ideenentfaltung allmählich durch seine Negation der landläufigen Religionsformen und seine Construction einer rein intuitiven Ethik auch in staatlichen Dingen immer weiter nach links abgerückt und hatte, nachdem er, 1865 ostentativ aus dem preußischen in den württembergischen Staatsverband übergetreten, noch 1866 und 1868, publicistisch im Stuttgarter „Beobachter“ bis 1870, den Standpunkt der großdeutschen süddeutschen Volkspartei kräftig verfochten, infolge der Geschehnisse von 1870/71 seine Opposition wider den neuen Gang der deutschen Dinge arg verschärft; die nach dem Kriege erschienene Schrift „Patriotismus und Frömmigkeit“ bezeichnet Dulk’s Umkehr von der reformbegeisterten Ideologie zum antireactionären Kampfe des Tages, zugleich von philosophisch-religiöser Speculation zum Atheismus der Praxis und der Emancipation des Proletariats nach wirthschaftlichen Factoren. Wie 1849 machte er vor der Entscheidung noch gleichsam eine Läuterungsfahrt, diesmal nach dem hohen Norden: mit dem Heidelberger Naturhistoriker George Hartung, seinem Vetter, theilweise auch mit Else, unternahm er in der schönen Jahreszeit 1872 eine größere Reise, die er 1874 überaus farbig beschrieb in dem Aufsatze „Spaziergänge in Lappland“ in Westermann’s „Illustrirt. Dtsch. Monatsheften“, als Buch die Eindrücke wiederspiegelnd als „Fahrten durch Norwegen und die Lappmarken von George Hartung und Albert Dulk“ 1877. Anfang 1873 erklärte er den officiellen Anschluß an die Socialdemokratie, innerhalb deren er dann das Jahrzehnt seiner rastlosen Wirksamkeit eine selbständige, vielfach angefeindete Stellung einnahm, indem er, sehr gegen den Willen der eigentlichen Parteihäupter die angestrebte ethisch-religiöse Erneuerung nicht nur nicht in den Hintergrund schob, sondern mit der Gesammtheit der vorschwebenden Reformen innigst verschmolz. So hat denn D. zwar wiederholt als socialdemokratischer Bewerber für Stuttgart candidirt, für den Reichstag 1878 und 1881 mit jedesmal über 4000 Stimmen, zum Landtage 1876 mit 2958, in der Stichwahl mit 4716 Stimmen, und 1882 unter dem Socialistengesetze mit 2631 Stimmen, stets unterliegend und 1878, wegen Preßvergehens durch ein Flugblatt, ein Jahr in Heilbronn im Gefängnisse gebüßt. Aber viel näher ging ihm doch der Meinungsstreit, der ihn sofort danach wegen Gotteslästerung für zwei Monate, bis Weihnachten 1879, hinter Schloß und Riegel führte, und seine politischen Fest- und Totenreden von 1875 an, sowie die Zeitungs-Aufsätze „Die Gewaltmenschen“ („Demokratische Zeitung“), „Die reactionäre [154] Masse“ („Neuer Socialdemokrat“), „Die Strömung der Gesellschaft wider den Socialismus“ und „Die Omnipotenz des Staats“ (beide in „Neue Gesellschaft“), haben im Gesammtauftreten Dulk’s längst nicht das Gewicht wie sein damaliges Wirken auf der Rednertribüne – besonders durch die Serie der im großen Festsaale der Stuttgarter Liederhalle gehaltenen Vorträge, die er nach scharfer Polemik von positiver Seite in der Schrift „Was ist von der christlichen Kirche zu halten?“ zusammenfaßte – und die Hand in Hand damit gehende Arbeit des Schreibtisches im Dienste der ihn nothwendig dünkenden Aufklärung der Massen über die höchsten Probleme und Ziele. Da er hierbei nicht nur niederriß wie seine älteren Anreger vom Schlage Bruno Bauer’s und die meisten Gesinnungsgenossen des reifen Mannes D., sondern auch Greifbares, die Ergebnisse langjährigen Forschens und Prüfens, als neuen Glauben, als vernunft- und zeitgemäßere Moral dafür einsetzen wollte an Stelle des ihm überlebt erscheinenden Dogmas und Kirchenthums, so war es folgerichtig, als er 1881 mit dem berühmten Verfasser des „Kraft und Stoff“-Buchs, Ludwig Büchner in Darmstadt, und anderen Vertretern des Freigeisterthums einen „Allgemeinen Deutschen Freidenkerbund“ begründete und im April 1882 in Stuttgart die erste deutsche „Freireligiöse Gemeinde“ begründete. Er bekleidete in dieser das maßgebliche Amt des Sprechers, wie er andererseits in der rasch wachsenden Gemeinde das Organ erblickte, seine Anschauungen zu erproben und zu verbreiten. Nach einer überaus stark besuchten Versammlung des Frauenvereins der Stuttgarter Freidenkergemeinde wurde D. am Abend des 29. (30?) October 1884 auf dem Perron des Stuttgarter Hauptbahnhofs vom Herzschlage getroffen. Am Sonntag den 2. November gaben an 10000 Männer aus ganz Südwestdeutschland der Leiche, die zur Verbrennung nach Gotha überführt wurde, das Geleit zum Bahnhofe, wofür Polizei und Militär in außerordentlichem Aufgebot bereit standen. In Gotha ziert sein sinniger Spruch auf die Liebe in der verzehrenden Flamme die Aschenurne; das Brustbild in Metall (Nachbildung 1898 vor „Dramen“ I.) verewigt am Waldessaum oberhalb Eßlingens vor der letzten hölzernen Sommerresidenz den unermüdlichen Denker.

Als ein solcher, ein Heger rastlosen Denkens und Spintisirens eigenen Antriebs, erscheint Albert D., wenn man sein merkwürdiges äußeres Dasein mit seiner geistigen Entwicklung auf eine Linie bringt. Er war in Anschauungs- und Handlungsweise „ein genialer Kraftmensch, der sich in herausfordernder Opposition gegen das Landesübliche behagte“ (so R. Gottschall, der ihm in der Blüthe seiner Jahre und entscheidenden Entschlüssen nahestand), und so nehmen sein scharfer Protest gegen den deutsch-französischen Krieg, sein gewaltsamer Zusammenstoß mit dem Stuttgarter evangelischen Clerus, sein, des Hyperidealisten Landen bei der materialistisch durchsetzten Richtung der Socialdemokratie kaum wunder bei einem Manne, der im Sommer 1841 von Breslau nach Königsberg 70 Meilen in 7 Tagen zu Fuß durchwanderte, um seine Braut wiederzusehen, und, ein zweiter Lord Byron, im Sommer 1865 in 6½ Stunden den Bodensee von Romanshorn nach Friedrichrichshafen durchschwamm, ohne das begleitende Boot nur einmal zu benutzen. Die ungemeine Rüstigkeit des allseitig abgehärteten Mannes, der noch in seinen letzten Jahren in Eislöchern des Neckars badete, brachen die Aufregungen der Agitation und das unabgesetzte geistige Schaffen von Jahrzehnten. Im übrigen hat er es ja insofern gut gehabt, daß ihn materielle Sorge infolge günstiger Situation vom hülfsbereiten Vater her nie geplagt und auch trotz aller Auflehnung wider Staats- und Gesellschaftsordnung nirgends die Disciplinargewalt ernstlich angepackt hat. Es ist ein mehrfach nachgesprochener Irrthum – den ganz neuerdings namentlich Bartels drastisch ausprägt – als sei er der Orient-Eremit und Sennhütten-Bewohner [155] infolge politischer Verfolgung geworden. Im Gegentheil: keinem der „Genies“ oder Revolutionäre der Dreißiger und Vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts ward so sanft mitgespielt für ihre unleugbaren Ausschreitungen, man darf fast sagen Anrempelungen der gesetzlich verbrieften Normen des politischen, kirchlichen, gesellschaftlichen Lebens. Vielleicht haben ihn die Behörden und leitenden Factoren für ungefährlich angesehen, weil er zuerst recht ideologisch dahertritt, während er doch zwar ein Idealist ist, es aber blutig ernst meint. Denn wie sein Lebensgang, so verrathen seine Schriften, den dichterischen gleich die abhandelnden, eine eingeborne Wucht, Energie und mächtige Selbstständigkeit. In ihnen spiegelt sich die Excentricität seines Wesens von Anbeginn, vorzüglich den Dramen.

Schon das erste davon, „Orla. Dramatische Dichtung“ (1844), überstürzt die dem jugendlichen Verfasser gegenwärtigen Gestalten und Situationen, ohne erstere scharf zu zeichnen, letztere aus oft überladenem Pathos in schönem, klarem Zusammenhange zu entfalten. Trotzdem durchglüht echtes poetisches Feuer diesen Ausbruch eines reflectirenden deutschgefühlten Don Juan, den der genußgierige und dabei sentimentale Held abgibt; etwas gewaltsam in die allerneueste Zeit gepreßt, entbehrt der Stoff in der posthum gedruckten Umarbeitung doch des wenig passenden Ausklangs der Originalfassung, der Theilnahme des Titelhelden am verunglückten Frankfurter Attentat vom 3. April 1833. Das Drama „Lea“, kurz vor dem „tollen Jahr“ als theilweise wörtliche Reproduction der bekannten historischen Novelle Wilh. Hauff’s „Jud Süß“ abgefaßt, 1848 und 1874 gedruckt, verdient mehr Beachtung, weil es der antibureaukratischen Recht-Begeisterung Dulk’s, auch seiner demokratischen und antichristlichen Ueberzeugung ein Gefäß ward, denn als poetische, psychologisch und social – wozu sein Zuschnitt der bekannten württembergischen Staatsaction von Anno 1737 Ansätze bot – wenig tiefer als der Erzähler greifende Leistung. Kurios, daß gerade dies unselbständigste und poetisch rückständigste Drama allein von allen Dulk’s auf die Bühne gelangte: außer in Königsberg bei den 1848er Fanfaren, 1870 in Mannheim, 1874 in Ulm und mehrfach auf deutschen Bühnen der Vereinigten Staaten Nordamerikas; so trug es zur Verbreitung des Inhalts der ihm Quelle gewesenen nicht recht dichterisch herausgearbeiteten Historiette Hauff’s mehr bei als diese selbst, was Herausgebern und Monographen des schwäbischen Dichterjünglings – Schwab, Klaiber, Ad. Stern, Flaischlen, Mendheim, Hans Hofmann (1902) – völlig entging. Eine dramatische Merkwürdigkeit ist, mit seinem Freunde, dem Philosophen und Dramatiker („Der letzte König. Politisches Drama“, 1842; s. H. Kurz, G. d. d. L. IV, 420a) Otto Seemann aus Hamburg, dem Vater des grotesken Plans, geschaffen, „Die Wände. Eine politische Komödie in 1 Akt“ (1848): eine in Platen’s Art unternommene aristophanische Persiflage des deutschen Michels („Hans Volk“), mehr herb und geistvoll als wirklich witzig, wobei die Wände den Chor bilden. Aber ein Decennium später erschien, mit eine Frucht seines Grübelns in morgenländischer Wüste, „Simson. Ein Bühnenstück in 5 Handlungen“ (1859 gedruckt, doch 1857 abgeschlossen), weit dramatischer durchgeführt als der Erstling, wenn auch für theatralischen Eindruck noch zu breit. Inhalt und Charakteristik knüpft D. an die geringen Unterlagen an, die das Alte Testament, Buch der Richter, Cap. 13–17, für den Gegensatz zwischen Simson und Delila, ihm die Verkörperer von Juden- bezw. Heidenthum, gewährt. Die Seelenkämpfe des Weibes im Dilemma zwischen dem ihr allmählich imponirenden Simson und ihrem, sie dann täuschenden Volke vertieft der Dichter mit psychologischer Wahrheit; durch die feine Symbolik schimmern seine eigenen Herzenswirren durch. Ein Abhub langen, sorgsamen Suchens und Gestaltens [156] ist Dulk’s dichterisches Hauptwerk „Jesus der Christ“, von ihm als ein Stück für die Volksbühne gedacht und bezeichnet, also im Stile der sog. Passionsspiele, von deren Manier es freilich die umfängliche scenische Ausstattung fernhält. Es erwuchs aus Dulk’s Ideengängen, als er sich in die Verlassenheit der Sinai-Landschaft vergrub, und fand im Alpenheime Ostern 1855 die Vollendung. Darauf recitirte er es 1855–64 wiederholt in Zürich, Heidelberg, Stuttgart, Frankfurt, Mannheim u. ö. unter großem Beifalle öffentlich, um wenigstens auf diesem Wege das Kind seiner deutelnden Renovation des grandiosen biblischen Legendendramas vor dem Schicksale rein litterarischer Zukunft und damit der Ungelesenheit zu retten. Im Jahre 1865 mit einem „Vorwort“, das sich über den künstlerischen Zweck und die dabei verwirklichte Auffassung des aus seiner Zeit, seinem Culturgrade hervorsteigenden „Menschensohnes“ verbreitete, durch den Druck dem allgemeinen Urtheil zugänglich gemacht, fand das großzügige, tiefdurchdachte „dramatische Lebensbild“ nie eine einigermaßen geziemende Aufmerksamkeit oder gar Würdigung. Und doch verlangt eine solche, wie Dulk’s bewundernder Biograph und Herausgeber E. Ziel ausruft: „dieses unvergleichliche Drama mit seinen fragmentarisch skizzirten Situationen und gigantisch wuchernden Bildern, mit seinen grell kolorirten Charakteren als Trägerin einer chaotisch gährenden Ideenwelt – ohne Frage ist es eine der gedankenvollsten Schöpfungen unserer gesammten Litteratur, und fast könnte man es eine metaphysische Tragödie nennen“, wie es auch mit Recht von Ad. Stern als „charakteristische Probe der veränderten Auffassung“ hingestellt wird, welche die neuern Dramatisirungen des Jesus-Themas gegenüber den religiös gestimmten Epen und den ältern naiv-gläubigen Dramen erfüllt. Drei interessante Besonderheiten sind noch hervorzuheben: der Widerstreit der theologisch umstürzlerischen Behandlung des Stoffs im Sinne der negirenden Kritik des Neuen Testaments eines D. F. Strauß und Br. Bauer mit der ästhetisch-reactionären Form nach Art der D. vorschwebenden mittelalterlichen Mysterienbühne; der Gegensatz in der ganz rationalistischen Erklärung der Wunder in Jesu Erdenwallen zum psychologischen Eindringen in die Vorgänge seines Innern; die Herausarbeitung des dämonisch feurigen Judas, zu dem als seine Geliebte die bestrickende Maria Magdalena reizvoll contrastirt, als patriotischer, wagemuthiger Widerpart des weichen Nazareners, der Mann der öffentlichen That neben dem Heros der Idee – beides wie in Paul Heyse’s 1903 vielumstrittener „Maria von Magdala“ (1899)! Die einzelnen Gemälde, aus denen sich die vielfach melodramatische oder beschreibende Darstellung zusammensetzt, schließt die Himmelfahrt, eine durch Wolken und Sonnenstrahlung gleich den andern Wundergeschichten auf natürliche Weise erläuterte Erscheinung; doch folgt äußerlich, im Stile der alten Epiloge, ein tragisch leidenschaftliches „Nachspiel“, wo grausiger Gegensatz zwischen Jüngern und Juden einer-, diesen und den Heiden andererseits auf die Spitze gelangt.

Daß ein Dramatiker von solcher Kühnheit der Erfindung, so grandioser Wucht der Gestaltung, es unternahm, kraftgeniale Werke Heinr. v. Kleist’s („Die Familie Schroffenstein“; in Stuttgart so aufgeführt) und Chr. D. Grabbe’s („Herzog Theodor von Gothland“ 1855), an den er in der Rhetorik, sowohl Gedanke als Ausdruck häufig anklingt, der Bühne durch Eingriffe zu erobern, was übrigens mißlang, leuchtet ein. Er hat auch 1861 in F. Wehl’s Zeitschrift „Deutsche Schaubühne“ eine dramaturgische Studie über Kleist’s „Prinz Friedrich von Homburg“ und im „Morgenblatt“ einen Aufsatz „Der ethische Gehalt des Dramas ,P. F. v. H.‘“ veröffentlicht. Jedoch verschmähte es D. auch nicht, sich an leichteren dramatischen Anlässen zu bethätigen. 1861 lieferte er auf Anregung des genannten Künstlercirkels „Bergwerk“ unter dem Pseudonym Rübezahl ein kurzes, stimmungsvolles, aber wenig eigenartiges Festspiel [157] zur Einweihung des Stuttgarter „Königsbaus“, „Das Bergwerk im Königsbau“, 1862 das Libretto „Enzio von Hohenstaufen, große Oper in vier Acten“, dessen schwunghafte Lyrik der bekanntes Stuttgarter Hofcapellmeister J. J. Abert schön vertonte. 1865 wagte er sich mit dem Conversations- und Intrigenlustspiel kleineren Stils „Das Mädchenkleeblatt“ auf ein ihm wenig zusagendes Feld, wobei er in Handlung und Dialog eine geschicktere Hand offenbarte als bei den unglaubhaften Motiven und der Aeußerlichkeit der Charaktere und mitunter stark possenmäßigen Vorgänge. Dieselben Mängel besitzt die gleichfalls die Posse streifende jüngere dramatische Kleinigkeit „Die Gemsjagd“, die, nach einer Novelle aus einer der Serien gelungener schweizerischer Dorfidyllen seines Freundes und engsten Landsmanns Robert Schweichel, ein warmes, humorvolles Genrebild aus den Hochalpen gibt. Die lyrisch-dramatische Scenenfolge „König Helge“ (1875) greift mit Schwung der Phantasie und Sprache in das romantische nordische Revier, dessen Landschaft der Dichter kurz zuvor durchstreift und dann congenial geschildert hatte. Mit zwei ferneren Dramen hat D., dem Zuge der Zeit entsprechend, in die ältere deutsche Geschichte zurückgegriffen. Einmal in dem zweitheiligen historischen Doppelschauspiel von zweimal „Drei Handlungen“, „Konrad der Zweite“ (1867): I. König Konrad II., II. Kaiser Konrad II.; der deutsch-patriotisch durchgeführte Inhalt, dessen erste Hälfte, auch was das Ueberragende des Helden anbelangt, eine Glorificirung echter Freundestreue, sich mit dem der „Herzog Ernst“-Dramen Uhland’s, P. Heyse u. A. deckt, leidet an erdrückender Breite der geschichtlichen Einzelheiten, der Episoden, die dem Fortschritte des Leitmotivs – das ist Konrad’s II. Aufstieg zum bedeutendsten Ausdehner der Reichsgrenzen – hemmend in die Quere kommen, und der, wie in „Jesus der Christ“ prächtigen Naturschilderungen. Zweitens „Willa. Schauspiel in drei Handlungen“ (1875), „864 unter Ludwig dem Deutschen“ spielend, geschrieben zum Unterschiede von den früheren in iambische Fünffüßler gegossenen Dramen in frischer, markiger Prosa, mit scharf umrissenen Personen, rankt sich idyllisch und doch packend dramatisch, ja spannend durch die einfache, versöhnliche Wendung um den Grundgedanken: wahre Liebe triumphirt ausgleichend über Klassenabstand und Kastengeist. Der neue Abdruck in der posthumen Dramen-Ausgabe zeigt eine völlige Umschmelzung.

Angesichts der schier unerschöpflichen Ideenfülle, der glänzenden Darstellung und der wahrhaft poetischen Kraft, die sich ebenfalls in dem Bändchen „Gedichte. Ausgewählt aus seinem Nachlaß“ (1892; 2 Auflagen) aussprechen, worin neben heiß empfundenen Liedern und leidenschaftlichen Ergüssen der Liebes- und Seelenkämpfe, viele, bis dahin zerstreut oder gar nicht gedruckt, politischen oder sonstwie polemischen Schlags sind, bedauert man, daß D. die letzten neun Jahre seines Lebens sich auch litterarisch gänzlich auf Politik und praktische Philosophie in der oben gelegentlich seiner Lebensbeschreibung skizzirten Richtung warf. Sein Prosadebüt war 1863 die Schrift „Der Tod des Bewußtseins“ gewesen, die naturwissenschaftlich und speculativ im Leben der Menschheit die einzige Unsterblichkeit erwies. In „Thier oder Mensch?“ (1872) exemplificirte er aus dieser Parallele auf die Bestimmung des zweiten. Das Gespräch „Nieder mit den Atheisten!“ (1876) versuchte eine gemeinverständliche Apologie der religiösen Freigeisterei gegenüber dem Dogmatismus; das knappe Compendium „Was ist von der christlichen Kirche zu halten? Eine gedrängte Darstellung der Quellen und der Geschichte des Christenthums“ (1877) legt auf geschichtsphilosophischem Wege die Identität des Christenthums und des Menschenthums dar, setzt aber hinzu, daß das letztere in der fixirten und forterbenden Form des Christenthums verdeckt werde – man fühlt sich daran bei den Auslassungen des Elias gegenüber seinem Pfarrer-Vater im 1. Acte von B. Björnson’s [158] vielerörtertem Drama „Ueber unsere Kraft“ I. (1883) erinnert. Während ihn diese Schriften hauptsächlich nur als entschiedenen und unversöhnlichen Angreifer der christlichen Religionssatzungen und der daraus entspringenden Gott- und Weltlehre bekunden, entpuppt er sich allmählich als neu aufbauender Bekenner und Vorfechter einer nothwendig erachteten „neuen Religion“ in den größeren religions-philosophischen Büchern. An deren Spitze steht „Stimme der Menschheit“, wovon der erste Theil, 1878 erschienen, eine „Kritische Glaubenslehre, ein Lehrbuch für kirchenfreien Religionsunterricht“ enthielt, der zweite, 1880, eine „Positive Glaubenslehre der ideellen Religion“. Aus den legendären, historischen und dogmatischen Elementen errichtet D. da eine Vernunftreligion, die man als einen pantheistisch angehauchten ethischen Atheismus bezeichnen möchte. So findet auch Gottschall sehr fein in Dulk’s Analyse der Katechismus-Hauptstücke und anschließender Kritik gleichsam die Ethik zur Metaphysik Feuerbach’s, einestheils die Auflösung der Dogmen in Sätze von philosophischer und menschheitlicher Wahrheit wie bei D. F. Strauß und L. Feuerbach, anderntheils Anklänge an die pantheistisch-poetische Einkleidung in L. Schefer’s „Laienbrevier“ und Sallet’s „Laienevangelium“. D. erstrebt „eine Religion ohne Gottperson und ohne Cultus, nicht mehr der Anbetung, sondern der Erkenntniß – die Religion der bewußten Einfügung des Menschlichen in das Göttliche“ und zielt damit auf eine Religion der Liebe, eine Humanitätsreligion; er nimmt etwa die Mitte ein zwischen dem Büchner’schen Radicalismus der rein naturwissenschaftlich-empirischen Negirer und den Tendenzen der heutigen „Gesellschaft für ethische Cultur“. Das zweite Hauptwerk Dulk’s als Religionsphilosophen ward das Strauß’, Bauer’s, E. Renan’s Arbeit unabhängig aufnehmende „Der Irrgang des Lebens Jesu“; der erste Band dieses seines Lebensfacits erschien unmittelbar vor dem plötzlichen Tode des 65jährigen, der zweite trat danach hervor, von Dulk’s Else als geistiger Testamentsvollstreckerin mühe- und hingebungsvoll aus den Papieren zusammengestellt und von seinem Jugendgenossen Rob. Schweichel verständnißvoll bevorwortet. Dies Handbuch will die angewandte und begründende Erläuterung der „Stimme der Menschheit“ sein. Farbig zeichnet D. den geschichtlichen und culturellen Hintergrund der christlichen Religionsgründung, die nebst dem Auftreten ihres Messias-Stifters ihm als logische Nothwendigkeit der damaligen Zustände erscheinen. Die Individualität des Gottessohns entwickelt er als menschliche Riesennatur, die sich durch den Widerstand, auf den sie stieß, verrannt und nur ein modificirtes Heidenthum mit „Menschenanbetung“ hinterlassen habe. Man findet hier vielfach die Gedankenfäden aus „Jesus, der Christ“ weitergesponnen. Aus Dulk’s Nachlasse tauchte ferner „Der Entwurf einer Gesellschaftslehre“ auf, nach seiner Angabe in der Vorrede zu „Stimme der Menschheit“ II. (dort heißt er „Ethik der Gesellschaft“) als deren Theil III gemeint. Das gedrängte Heft, das aus seinen Papieren hervorkam, ist nur ein Grundriß, unabgeschlossen und darum ungleichmäßig, der geplanten Morallehre einer nicht-transscendenten Humanität. Völlig vollendet dagegen gaben die Tagebuchaufzeichnungen, von Else ausgezogen, „Reiseerinnerungen aus Aegypten und Arabia Peträa“ her, directe schriftliche Ausbeute des exotischen Ausflugs von 1849/50. Farbig und anmuthig spiegelt der gewandte Stil dieses einwurfslosesten aller litterarischen Erzeugnisse Dulk’s seine Eindrücke und Gedanken von Land und Leuten wieder und seine Plastik wird dem betroffenen, geheimnißvollen Schöpfungsbezirk gerecht.

Dulk’s litterarische Wirksamkeit hängt aufs engste mit seiner geistigen Eigenthümlichkeit, mit seinen philosophischen, religiösen und verwandten Seltsamkeiten zusammen; schrieb er doch kaum je eine Zeile, in die nicht sein [159] Herzblut floß, und er dachte von seiner geistigen wie litterarischen Mission ungemein hoch, ohne Arroganz und irgendwelchen Dünkel. Auch durch seine Irrthümer und Widersprüche, seine socialen und schriftstellerischen Ausschreitungen schimmert eine wuchtige Ueberzeugungsstärke, auf angeborener Ehrlichkeit fußend. Als eine der wunderlichsten und auffälligsten Gestalten der neuern deutschen Geistes- und Litteraturgeschichte nach Gebühr registrirt zu werden, haben ihm wohl die Extravaganzen seines äußern Daseins verscherzt. Jedoch scheint sein Leben nur in eine Anzahl Episoden und Wechselfälle auseinanderzufallen; bei näherem Zusehen knüpft sich jede neue Scenerie seines Wirkungskreises mit ihren veränderten Bedingungen an die vorige wie ein weiterer Aufzug eines Theaterstücks, der einen fremden Schauplatz aufweist. Sein origineller Antheil an den religions-philosophischen Auseinandersetzungen ist gemach in den Hintergrund getreten; die Litterarhistoriker des 19. Jahrhunderts und die Geschichtsschreiber des deutschen Dramas gehen mit Ausnahme Heinr. Kurz’ und Rud. v. Gottschall’s nicht oder nicht näher auf diesen urwüchsigen und doch durchweg idealistischen Epigonen des Sturms und Drangs ein, wie auch die sog. jüngstdeutschen Heißsporne in ihm wohl aus Unkenntniß nicht den Bahnbrecher der er mit Wort und rücksichtsloser That gefeiert haben. In einer freilich gegen den größern Genius ungerechten Parallele zwischen Fr. Hebbel und D. bei Eugen Reichel, „Die Ostpreußen in der deutschen Litteratur“ (1892), erscheint der Landsmann des heimathbegeisterten Verfassers, immer Benno Dulk genannt, als der, der „den weitumspannenden Geist, das glutvolle Herz und die harmonischer geordnete Persönlichkeit voraus hat“, Hebbel nur als der vielseitigere Poet und größere dramatische Künstler; in solche Uebertreibung ist Eugen Zabel als Kritiker und selbständiger Ergänzer R.’s in seiner Studie gleichen Titels, „National-Zeitung“ 1892 (Nr. 311, 313, 318, 345) nicht verfallen. Vor der Vergessenheit ist D. der Dramatiker auf die Dauer bewahrt durch die drei Bände „Albert Dulk’s Sämmtliche Dramen. Erste Gesammt-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Ziel“ (Stuttgart 1893/94) mit wichtigem Vorwort und einem gründlichen warmherzig für den Toten entflammten Essay „A. D. Sein Leben und seine Werke“ (I S. 1–76), der, wiederholt in „Litterarische Reliefs. Dichterporträts von E. Ziel. Vierte Reihe“ (1895), S. 1–144, aus dem Vollen aller gedruckten und lebenden Quellen, sowie Aufzeichnungen, besonders Tagebuchblättern Dulk’s und Briefen von wie an D. schöpft; unser Lebens- und Charakterbild entlehnt da, wo Ziel einzige Basis ist oder den prägnantesten Ausdruck hinsetzt, öfters den Wortlaut. Einem tiefer grabenden Biographen schiebt Ziel die Ausführung dessen, was er „skizzirt“, zu, theilte mir aber im December 1902 auf Anfrage mit, daß außer den ihm zu Gebote gestandenen und dabei ausgenutzten Materialien nichts weiter verfügbar sei; denn wann und wem werden „die zu erwartenden Memoiren Elsens einmal, wenn auch erst in einer nicht abzusehenden Zeit Aufschluß geben“ (I 23 bezw. „Reliefs“ S. 34)? Außerdem beschäftigten sich ausführlich und liebevoll mit D. nur noch Heinr. Kurz, Gesch. d. dtsch. Litt. IV 570 ff. u. R. v. Gottschall, D. dtsch. Nationallitt. d. 19. Jhrhs.6 III 543–47, II 399, I 565 f.). Lebensabrisse bei Brümmer, Lex. d. dtsch. Dicht. u. Pros. d. 19. Jhrhs.5 I 285/7 u. J. N. Weisfert, Biograph.-litt. Lexikon f. Königsberg u. Ostpreußen 1 u. 2 S. 51 f. Einige gute Notizen bei Ad. Stern, Lex. d. dtsch. Nationallitt. S. 78 u. 189 („Jes. Chr.“), Bornmüller, Schriftstellerlexikon S. 197, Meyer’s Conversationslex.5 V 264; R. Prölß, Gesch. d. mod. Dramas III 2, 336 f.; Bartels, G. d. d. L. II 398.

Nicht unerwähnt bleibe, daß des Unterzeichneten mühsam und fast ohne Erreichbarkeit authentischer Daten geschriebener Artikel über D. für die [160] 14. Auflage von Brockhaus’ Convers.-Lex., den die Redaction beim Abdruck und in der „Jubiläums-Ausg.“ verkürzte, vor dem Erscheinen der Ziel’schen Gesammtausgabe der Dramen und des Ziel’schen Lebens- und Charakterbildes abgefaßt wurde; sein Schlußsatz lautete: „D. besaß trotz seiner theilweise ultraradikalen Anschauungen empfänglichen Sinn für alle geistigen und socialen Bestrebungen“.