Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Schreibgerät, um Ritzungen auszuführen
Band VII,2 (1912) S. 18731876
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Griffel. Sobald ein Volk gelernt hat, zum Schmuck oder als Verständigungsmittel Bilder oder Zeichen zu ritzen, erfindet es auch bald ein besonderes Werkzeug, um die Ritzungen auszuführen. Bereits die Bilderschrift auf den Tontafeln von Kreta setzt ein derartiges Instrument voraus (Maraghiannis Antiquités Crétoises I Taf. XXIII). Ob die Griechen dies Werkzeug aus dem Orient (Riehm-Bäthgen Handwörterbuch des bibl. Altert. II 1435) übernommen oder es selbst erfunden haben, ist nicht zu entscheiden. Für den Import spricht die Herkunft der nahe verwandten Schreibfeder aus der Fremde (s. Bd. VI S. 2098), für Bodenständigkeit die echt griechischen Benennungen. Diese fehlen noch in den ältesten Stellen, die eine Benützung des G.s voraussetzen: Il. VI 169 γράψας ἐν πίνακι πτυκτῷ, Herodot z. B. VII 239 ἐν τῷ ξύλῳ τοῦ δελτίου ἔγραψε, beide Male bereits von der üblichen Art des Ritzens auf der Schreibtafel, dem wachsüberzogenen Diptychon, s. Bd. V S. 1163. Doch steht hier schon das Zeitwort γράφειν ,ritzen‘, von dem die Bezeichnungen für das Instrument abgeleitet sind. Wie zu γλύφω ,schnitzen‘ das Werkzeug γλυφίς und γλυφεῖον heißt, stellen sich γραφίς und γραφεῖον zu γράφω. S. Plat. Protag. 326 C: οἱ γραμματισταὶ τοῖς μήπω δεινοῖς γράφειν τῶν παίδων ὑπογράψαντες γραμμὰς τῇ γραφίδι οὕτω τὸ γραμματεῖον διδόασι καὶ ἀναγκάζουσι γράφειν κατὰ τὴν ὑφήγησιν τῶν γραμμῶν. Das gebräuchlichere Wort ist γραφεῖον, Machon schildert den Dichter Euripides πινακίδα καὶ γραφεῖον ἐξηρτημένον ἔχοντα (Athen. XIII 582 c); auf dem Stein von Andros rühmt sich Isis, die Erfinderin der γραφεῖα zu sein (Kaibel Epigr. gr. 1028, 10f.). Das Deminutivum dazu ist γραφείδιον, z. B. Etym. M. 240, 16 ἀπὸ τοῦ γράφω γραφεῖον καὶ γραφείδιον. Später können γραφίς und γραφεῖον auch Schreibfeder (s. Bd. VI S. 2099) oder Malpinsel (Poll. VII 128) bedeuten; die Übertragung vom geritzten auf das gemalte Zeichen ist leicht verständlich. Wahrscheinlich haben auch die Maler gelegentlich ihre Skizzen mit dem Griffel auf Wachstafeln entworfen. Blümner Terminologie und Technologie IV 425.

Die Frage, ob der G. einheimisch oder zugewandert ist, bleibt auch für die Römer unentschieden; sie besitzen zwar ein eigenes Wort, haben aber auch γραφίς und γραφεῖον aus dem Griechischen übernommen. Von diesen kommt graphis [1874] seltener vor und bedeutet meist den Pinsel (Plin. n. h. XXXV 68. Vitruv I 1, 3), dagegen erscheint graphium für G. seit der Augusteischen Zeit häufig, und zwar mit der in Lehnwörtern öfter zu beobachtenden Kürzung der Länge im Hiat (Lindsay-Nohl Die lat. Sprache 49), s. Ovid am. I 11, 23 quid digitos opus est graphio lassare tenendo. Ob diese Kürzung auch im Griechischen vorhanden war, ist nicht sicher zu sagen; die häufige Schreibung γραφιον (so Pap. Lond. CXXI 399. 425, Denkschr. Wien. Akad. philos.-hist. Kl. XLII) kann lediglich Itazismus sein; es braucht nicht, wie man angenommen hat, eine besondere Form γραφίον gegeben zu haben.

Lat. graphium (mit der seltenen Nebenform graphius, Anthol. lat. I 1 S. 223) hat sich bis in das Mittelalter gehalten (Du Cange Gloss. med. et inf. lat. s. v.) und gilt als Stammwort von prov. grafis, afr. grafe, neufr. greffe (Körting Lat. rom. Wörterbuch); auch unser deutsches ,Griffel‘ soll davon abgeleitet sein (F. Kluge Etym. Wörterbuch).

Dagegen ist lat. stilus kein Lehnwort; gegen die früher beliebte Zusammenstellung mit griech. στῦλος spricht der Vokal der ersten Silbe. Es gehört zur Wurzel stig, die in instigare instinguere stimulus vorliegt (so Walde Lat. etym. Wörterbuch 595) und mit dem Begriff des Spitzigen, Eindringenden verbunden ist. So heißt stilus sonst im Kriegswesen und im Landbau ein spitzer Pfahl (Bell. Afr. 31, 7. Pallad. IV 9 p. 109 Gessner), daher kann das Wort auch vom Schreibwerkzeug gebraucht werden, das einem kleinen Pfahl mit scharfer Spitze gleicht. So kennt stilus bereits Plautus (z. B. Bacch. 715 in der Schilderung des Schreibgeräts stilum ceram et tabellas linum); schon bei Terenz hat es die bekannte Richtung auf die Bedeutung ,Schreibweise‘ genommen (prol. Andr. 12), ein Beweis doch wohl für seine häufige Verwendung. Auch stilus hat durch das Mittelalter hindurch seinen Weg in die modernen Sprachen gefunden, teils in eigentlicher, teils in übertragener Bedeutung. Sonst findet sich als lateinisches Wort für G. noch scriptorium (Isid. orig. VI 9, 1 und Corp. gloss. lat. VI 500), die farblose Übersetzung eines Puristen für γραφεῖον.

Für die Gestalt der G. haben wir zunächst zahlreiche antike Abbildungen: für Griechenland z. B. die Durisschale mit der Schulszene, auf der ein Jüngling ein Triptychon und ein γραφεῖον in den Händen hält (A. Furtwängler Beschr. der Vasensammlung zu Berlin 2285), und das hübsche Vasenbild der schreibenden Athene (Élite céramographique I 77); für Italien nenne ich die campanischen Wandbilder, die Schreibgeräte darstellen (W. Helbig Wandgemälde der vom Vesuv verschütteten Städte Kampaniens nr. 1721. 1722. 1726), ferner die Darstellungen schreibender Göttinhen (C. Cichorius Die Reliefs der Trajanssäule Taf. 57 nr. 205. E. Petersen Marcussäule Taf. 64). Aber mehr als diese Bilder lehren uns die wiederaufgefundenen antiken stili, deren fast jedes Museum einige besitzt; Wattenbach (Das Schriftwesen im Mittelalter2 182) zählt allein im Musée de Cluny ein Dutzend. Mannigfache Formen finden sich, von der einfachen Nadel bis zum künstlerisch ausgestatteten, dreiteiligen stilus (ältere Abbildungen zitiert bei Marquardt-Mau [1875] Das Privatleben der Börner 801; neuere Abbildungen bei Baumeister Denkmäler des klassischen Altertums III 1585. W. Schubart Das Buch bei den Griechen und Römern 21). Von den drei Teilen ist der mittlere selten selbständig ausgebildet; wo er erscheint, ist er walzenförmig und soll der bequemen Handhabung dienen. Immer vorhanden ist am unteren Ende die Spitze; war sie vom vielen Gebrauch abgestumpft, so wurde sie vom Schreiber selbst nachgeschärft (Mart. Cap. I 65 von den Parzen als Stenographen bei der Sitzung im Olymp stilos acuunt cerasque componunt). Das obere Ende zeigt häufig eine Verbreiterung, meist in der Form eines flachen Spatens (so schon auf der Durisschale): das dient dazu, das Wachs des Diptychons, in das die Buchstaben eingeritzt sind, wieder glatt zu streichen und so Raum für neue Aufzeichnungen zu schaffen. Den G. umdrehen bedeutet daher tilgen (Hor. sat. I 10, 72 saepe stilum vertas).

Die Größe der G. ist verschieden, doch setzt die Handlichkeit wie bei unseren Bleistiften eine obere und eine untere Grenze. Als Stoffe, aus denen man die G. bereitete, bezeugen uns Schriftsteller und Funde hauptsächlich Bronze, Eisen, Knochen und Elfenbein. Eiserne G. werden es fast immer gewesen sein, mit denen man Bild und Schrift in das weniger nachgiebige Blei der defixiones (s. Bd. IV S. 2376) und in den Stuck der Wände einritzte (s. die Graffiti des CIL IV). Mit bronzenen γραφεῖα müssen die Zaubertexte geschrieben sein (Wessely Denkschr. der Wien. Akad. phil. hist. Kl. XXXVI 164. XLII 82 unter γραφειω); hier wirkt die Zauberkraft der Bronze mit (s. Bd. I S. 51); auf ähnliche abergläubische Vorstellungen geht es zurück, wenn einmal befohlen wird, zu schreiben κυπρίῳ γραφείῳ ψυχρηλάτῳ (ebd. XXXVI, Pap. Par. 1847). Eine Kuriosität sind silberne G. (Wattenbach a. a. O. 184). Die gewöhnlichen Stoffe zählt Isidorus auf, orig. VI 9, 1: Graeci enim et Tusci primum ferro in ceris scripserunt. postea Romani iusserunt ne graphium ferreum quis haberet ... postea institutum est, ut in cera ossibus scriberent, sicut indicat Atta in Satira dicens (Ribbeck CRF3 191): Vertamus vomerem In cera mucrone aeque aremus osseo. Dies Wissen geht, wie das erlesene Zitat beweist, auf einen Autor der alten Zeit zurück, im letzten Grund wohl auf Varro (s. GL I 55, 4 und 138, 21: Varro dicit ,osse scribebant‘). Das hier erwähnte Verbot kennt Plinius n. h. XXXIV 139 aus den vetustissimi auctores, wohl auch durch Varros Vermittelung (F. Münzer Beiträge zur Quellenkritik der Naturgesch. des Plin. 231f.), und setzt es in die Zeit des Porsenna. Grund zu diesem Verbot war der Umstand, daß die eisernen G. häufig, wo der Dolch fehlte, zur Waffe wurden (Plut. Mor. 968 E). So halfen sie Caesar ermorden (Suet. Caes. 82; s. auch Suet. Cal. 28 graphisque confossum): der stilo wurde zum stiletto. Deshalb ließ Claudius jedem, dem er Zutritt gewährte, vorher die calamariae aut graphiariae thecae abnehmen (Suet. Claud. 35). Hieraus sehen wir, wer viel zu schreiben hatte, trug mehrere G. in einer Griffelbüchse bei sich; γραφιοθήκη graphiarium nennen sie die Glossen (Corp. gloss. lat. VI 500).

Im Mittelalter wurde, wie bereits die Wortgeschichte [1876] zeigte, der G. lange benützt und zwar so lange, als man sich der Wachstafeln zum Aufzeichnen von Notizen bediente, s. Wattenbach a. a. O. 67f. 183f.; anderes über spätlateinische Wachstafeln, die Anwendung der G. voraussetzen, bei L. Traube Vorlesungen und Abhandlungen I 91. Auch zum Linieren der Pergamentcodices gebrauchte man ein griffelartiges Instrument, Gardthausen Griech. Palaeogr. 68. Erst spät wird Diptychon und Grapheion abgelöst durch Notizbuch und Bleistift, oder auch durch Schiefertafel und -Griffel.

Literatur außer den Stellen bei Baumeister (Blümner), Marquardt-Μau, Wattenbach: Becker-Göll Gallus II 457. Blümner Terminol. u. Technol. I 326.