Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Formen des Bannzaubers
Band IV,2 (1901) S. 23732377
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Defixio. Die eigentliche Bedeutung von defigere ist hineinstechen; für eine bestimmte Art des Zaubers ist das Wort zum Terminus technicus [2374] geworden. Es liegt dabei die Vorstellung zu Grunde, dass die Wirkung des Zaubers einem durchbohrenden Stich gleicht; wie ein solcher den Menschen lähmt, ihn des freien Gebrauchs seiner Kräfte beraubt, so wirkt auch der Zauber auf ihn; der Besprochene ist dem Tode verfallen oder wird so lange von Schmerz und Siechtum gequält, bis er sich durch Erfüllung einer bestimmten Bedingung von der Wirkung der unheilvollen Zauberwaffe zu befreien vermag.

Diese Vorstellung ist eine sehr alte; ihrem Kreis gehört auch der Nagel als Attribut der Atropos an (auf dem etruskischen Spiegel bei Müller-Wieseler D. A. K. I Taf. 61, 307). Der Nagel, den die Schicksalsgöttin einschlägt, kann nur symbolisch andeuten sollen, dass durch ihn der mit dieser Handlung in Beziehung stehende Mensch durchbohrt, getötet wird; auf dem Spiegel wird in dieser Weise der Tod des Meleager und Adonis bezeichnet. Diese Symbolik war nicht nur etruskisch; zu Horazens Zeit war die dira Necessitas (die als Ἀνάγκη in den griechischen Zauberpapyri eine grosse Rolle spielt, vgl. Denkschr. Akad. Wien. 1888, 81, 1456. 96, 2062. 102, 2311) mit ihrem clavus trabalis in Rom ganz populär (carm. I 35, 17. III 24, 5); und wenn mit dem Einschlagen eines Nagels in der Cella Iovis mehrfach das Aufhören einer Pestilenz in Verbindung gebracht wird (Preller-Jordan Röm. Myth. I 260), so ist die einzig mögliche Erklärung dieses sacralen Actes die, dass die Seuche damit gleichsam angenagelt, d. h. ihr Einfluss gebrochen werden sollte (vgl. das in einem Arzneibuch des vorigen Jahrhunderts überlieferte Zaubermittel Weinhold Germanist. Abhandl. XII 114). Wir haben hier einen althergebrachten, später nicht mehr verstandenen Gebrauch zu erkennen, der derselben Vorstellung entsprungen ist wie das im Volksglauben aufbewahrte Recept zur Heilung eines Epileptischen: darum ferreum defigere in quo loco primum caput fixerit corruens morbo comitiali absolutorium eius mali dicitur (Plin. n. h. XXVIII 63). In die vom Haupt des Epileptikers berührte Erdstelle ist etwas von der Krankheit übergegangen; der in diese Stelle hineingetriebene Nagel vernichtet sie. Ich erinnere nur an die bekannte Parallele im deutschen Aberglauben, dass das Durchstechen der Fussspur eines Menschen mit einem Nagel den Menschen selbst tötet (Wuttke Deutscher Volksabergl.² 250. 389 u. S. 127).

Auch in Griechenland war diese Vorstellung verbreitet; schon Jahn hat die in grossgriechischen Gräbern häufig sich findenden Nägel als Amulette gedeutet (Ber. sächs. Gesellsch. 1855, 107, vgl. Friederichs Berlins ant. Bildw. II 291f. Buecheler Rh. Mus. XXXIII 4, 1. Marquardt Staats-Verw. III² 106. 9); die Nägel auf den spätgriechischen Amuletten, die das böse Auge stechen (Revue des études gr. V 74ff. l, haben eine ganz verständliche symbolische Bedeutung: der geglühte Nagel, der in die Wurzel eines Baumes getrieben diesen verdorren lässt (Geop. X 67, 2), gehört ebenfalls hierher, und die zum Teil sehr alte Überlieferungen enthaltenden Zauberpapyri bieten viele Beispiele für diesen Aberglauben.

Man will also durch die Zauberhandlung der D., wie der Name besagt, eine Wirkung auf [2375] jemand hervorbringen, die der eines Stiches gleicht. Gleichwie bei dem Bannen, Binden, Brennen liegt hier eine ganz handgreifliche Vorstellung zu Grunde, einen physischen und psychischen Schmerz, eine körperliche und seelische Verwundung will man dem Menschen auf übernatürlichem Wege beibringen und ihn so gefügig machen oder zu Grunde richten. Der antike (wie der moderne) Beschwörer verfährt in diesem Falle so, dass er einem Gegenstand die Behandlung angedeihen lässt, die dem zu Bannenden gilt; vielfach wird ein Bild des zu Zwingenden hergestellt, oder es werden Gegenstände genommen, die ihm angehören oder in irgend einer Beziehung zu ihm stehen, wie Haare, Kleidungsstücke, seine Fussspur (Luc. dial. meretr. IV 4. Theocr. II 53. Verg. Ecl. VIII 91); endlich kann auch ein beliebiger Gegenstand dazu verwandt werden, es wird nur der Parallelismus dabei betont und das bereits als genügend betrachtet, vgl. Rh. Mus. XLIX 40. Ovid. gedenkt zweimal dieses D.-Zaubers, Amor. III 7, 29 (vgl. 79) und Heroid. VI 91; eine Nadel wird in das Herz eines Wachsbildes gestossen, Namen, auf punisches Wachs geschrieben, werden von der Hexe durchstochen.

Eine ganz ausführliche Vorschrift für einen Liebeszauber dieser Art ist uns in dem φιλτροκατάδεσμος des grossen Pariser Zauberpapyrus erhalten, Rh. Mus. XLIX 45ff. Zwei Figuren werden aus Thon angefertigt; der Totendaemon, der die Geliebte herbeizwingen soll, stösst, gewappnet wie Ares, mit seinem Schwert in die Schulter einer knieenden weiblichen Gestalt, deren Hände auf dem Rücken zusammengebunden sind. Schon durch dies Durchstossen ist dieser Zauber als zum Kreis der D. gehörig gekennzeichnet; aber nicht nur der Daemon, auch der Bannende selbst muss sich darin noch genug thun; dreizehn eherne Nadeln soll er nehmen und eine davon ins Gehirn der Puppe stechen, λέγων· περονῶ σου τὸν ἐγκέφαλον, zwei in die Ohren, zwei in die Augen u. s. w. und jedesmal dabei sagen: ich durchbohre dies und dies Glied der zu Bannenden, ὅπως μηδενὸς μνησθῇ πλὴν ἐμοῦ μόνου τοῦ δεῖνα. Gehirn, Augen, Ohren, Herz, Hände und Füsse, alles wird durchstochen, jedes Gefühl soll ausgelöscht werden bis auf das eine für den Liebenden; so denkt sich und so wünscht der Beschwörende die Wirkungen der D.

Ebenfalls hierher gehört eine ἀγωγὴ ἀγρυπνητική in demselben Papyrus (Denkschr. Akad. Wien 1888. 119, 2943ff.). Man bildet aus Talg oder Wachs ein Hündchen, setzt ihm die Augen einer Fledermaus ein und durchbohrt sie mit einer Nadel (über die οὐσία dabei vgl. Rh. Mus. XLIX 47. 6); das Bild wird dann, fest in einen neuen Krug verschlossen, an einem Dreiweg vergraben. Der inschriftlich mitgegebene Wunsch wendet sich an Hekate, ἵνα ἀποβάληται τὸ πύρινον ἡ δεῖνα ἐν τῷ ὀφθαλμῷ [ἢ] καὶ ἀγρυπνῇ κατὰ νοῦν μηδένα ἔχουσα εἰ μὴ ἐμὲ μόνον. Also der Stich durch die Augen des Tieres soll die Augen der zu Bannenden glanzlos machen, sie soll wachen und nicht eher zur Ruhe kommen, als bis sie dem Beschwörenden zu Willen geworden ist.

Nach diesen Beispielen werden wir nicht mehr im Zweifel sein über die Bedeutung einer eigentümlichen bei Ovid. fast. II 575 beschriebenen [2376] Ceremonie an den Feralia, dem letzten Tag der Totenfeier. Der Dea Muta, einer sonst verschollenen nur im Volksglauben noch gelegentlich auftauchenden Gottheit, wurde an diesem Tage ein Opfer gebracht. Ovid schildert näher, wie eine alte Frau (ganz ähnlich der Hexe bei Luc. dial. meretr. IV 4) es vollzieht; unter anderem nimmt sie den mit Pech bestrichenen Kopf einer maena (vgl. Mercklin Jahrb. f. Philol. LXXXI 282), durchstösst ihn mit eherner Nadel, näht ihn zu und dörrt ihn an einem Feuer. Sie endet ihre Handlung mit den Worten: Hostiles linguas inimicaque vinximus ora— Worten, die offenbar kurz den Inhalt der dabei gesprochenen Beschwörung angeben. Hier ist prophylaktisch eine D. gegen alle böse Nachrede ausgeübt; ausgeführt würde der Zauberspruch lauten: wie dieses Tieres Zunge durchstochen, sein Maul zugenäht, sein Kopf gedörrt wird, so soll die Zunge des Böses wider mich Sagenden durchstochen, sein Mund verschlossen, sein Leib vom Feuer verzehrt werden.

Beiläufig erwähne ich hier auch die späten Amulette mit Darstellungen Salomos zu Pferde (oder eines Engels), der eine am Boden liegende oder hockende weibliche Gestalt mit einem Speer durchsticht (Revue des études gr. IV 287ff. V 74ff.) und der Inschrift (φεῦγε, μεμισημένη, Σολομῶν (oder Ἀφλάφ) σε διώκει. Ohne Zweifel haben wir ein Amulet gegen eine Krankheit vor uns, wie wir ein ganz ähnliches mit der Inschrift φύγε ποδάγρα Περσεύς σε διώκει (Revue archéol. IIIe Sér. t. XIX 55f.) besitzen; die bildliche Vernichtung der Krankheit durch einen Speerstich steht auf gleicher Stufe wie das Einschlagen des Nagels zur Bannung der Pest im capitolinischen Tempel.

Wir haben in dieser Art des Zaubers einen ganz altertümlichen Gebrauch vor uns, der noch heute genau so in Übung ist wie vor Jahrtausenden. Und zwar gehört er zum Gemeingut der Menschheit, nicht etwa nur einer Rasse; im australischen Continent, in Japan u. s. w. (vgl. Bartels Medicin der Naturvölker 1893, 31. 97. 100. R. Andree Ethnogr. Parallelen, N. F. 1889, 8ff.) ist er heute noch ebensogut in Anwendung, wie bei den europäischen Culturvölkern; viele Beispiele aus Deutschland bei Wuttke² 250. 266. 389. 414. 417. 420 u. sonst.

Es ist möglich, dass diese mit einer symbolischen Handlung verbundene Art des Zaubers die ursprünglichste ist; auch sie freilich kommt nicht aus ohne das gesprochene Wort, das im Zauber überhaupt und überall die allergrösste Bedeutung hat; von den späteren uns allein bekannten Überlieferungen kann man wenigstens aussagen, dass der Bannspruch die Hauptsache bildet, er giebt an, was und wie es geschehen soll, die symbolische Handlung ist mehr begleitender Natur, sie soll durch augenfällige Manipulationen nur Eindruck und Wirkung des Wortes verschärfen. Zwei alte Zauberinschriften auf Bleitafeln, wahrscheinlich im Piraeus gefunden Ἐφ. ἀρχ. 1869, 333 nr. 406. 334 nr. 407 = Tabellae defix. Att. ed. Wünsch 96. 97) enthalten nur Fluchformeln; der Bannende hat zwei Personen, Mikon und Aristo, gebunden an Händen und Füssen, Leib und Seele, und wünscht, wenn sie etwas Böses gegen Philon (wohl ihn selbst) aussagen [2377] würden, möge ihre Zunge Blei werden, καὶ κέντησον αὐτοῦ (αὐτῆς) τὴν γλώσσαν. Eustratiades denkt sich diese Worte an Hekate, Wünsch an Hermes gerichtet; es kann natürlich aber auch eine andere Gottheit oder ein Totendaemon gemeint und der Name nur deshalb nicht angegeben sein, weil die Täfelchen in dem heiligen Bezirk (wie zu Knidos im Demetertempel) vergraben oder ins Grab des Toten gelegt waren. Hier findet sich allein die Bitte an die Gottheit, die D. auszuüben; ausgeschlossen an sich ist es freilich nicht, dass auch symbolische Handlungen dabei vorgenommen sind, doch ist auf den Tafeln mit keinem Wort darauf hingewiesen und die Annahme ganz unnötig. Die daemonische Gewalt des Wortes beim Zauber hebt namentlich Verg. Ecl. VIΙΙ 69ff. hervor; indirect ist sie auch in der Aufhebung der Zauberkraft des ducite carmina (einen Wunsch, den man sich nach alten Zauberrecepten nicht energisch genug vorstellen kann, vgl. ἕλκε τῶν τριχῶν, τῶνσπλάγχνων, τῆς ψυχῆς, Rh. Mus. XLIX 51, Z. 6 u.) durch parcite carmina 109 ausgedrückt. Daher Verbindungen wie diris precationibus, dira imprecatione defigere (Plin. n. h. XXVIII 19. Sen. de ben. VI 35), animum votis defigere (Ciris 377), carminibus defixa iacuit (CIL VIII 2756). Sie bestätigen, dass von der Zauberformel allein, auch ohne begleitende symbolische Handlungen ein Erfolg erwartet wurde. Der Römer scheint speciell den Modus der D. für den Zauber bevorzugt zu haben, wie man daraus schliessen kann, dass gerade dies Wort schliesslich zum Terminus technicus für jede Art des Zaubers überhaupt geworden ist; in den Glossen des Philoxenos liest man: defixiones: κατάδεσμοι, νεκυομαντίαι. Der Grieche kannte die D., wie wir gesehen haben, ebenfalls, aber eine feststehende Bezeichnung dafür geht ihm ab, er braucht in den Formeln bald κεντεῖν, bald περονᾶν (auch βαλλεῖν, πατάσσειν ῥίγει καὶ πυρετῷ Rh. Mus. XLIX 38 gehört hierher, insofern man die Wirkungen des Fiebers denen eines Geschosses gleich erachtete). Er entnahm seinen Terminus technicus dem Binden und Bannen: καταδεῖν und κατέχειν sind bei ihm die herrschenden Bezeichnungen.

Die einzelnen Methoden der D., die wir kennen gelernt haben, sind nicht ihr eigentümlich, sondern bei anderen Arten des Zauberns, beim Bannen, Binden, Brennen die gleichen. Wir fassen noch einmal zusammen: Schon das richtige Hersagen einer Zauberformel ist von magischer Wirkung; als Verstärkung der Zaubermacht wird es gegolten haben, wenn die Verwünschung auf eine Bleitafel geschrieben im Temenos eines Gottes oder im Grab eines Toten niedergelegt wurde; die kraftvollste Wirkung wurde dem Zauber in Verbindung mit einer symbolischen Handlung, speciell dem Bildzauber zugeschrieben, wie sich denn die Beschwörung im grossen Pariser Papyrus als φιλτροκατάδεσμος θαυμαστός bezeichnet.