Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Rhetor und Sophist von Leontinoi in Sizilien † um 396 v. Chr.
Band VII,2 (1912) S. 15981604
Gorgias von Leontinoi in der Wikipedia
GND: 118696521
Gorgias in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register VII,2 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|VII,2|1598|1604|Gorgias 8|[[REAutor]]|RE:Gorgias 8}}        

8) Gorgias aus Leontinoi auf Sizilien, Sohn des Charmantidas (so richtig bei Suidas und in der Inschrift auf dem 1876 in Olympia gefundenen Sockel seiner Bildsäule, vgl. Fraenkel Archäol. Ztg. XXXV 1877, 43; bei Pausanias VI 17 Karmantidas), Bruder des Arztes Herodikos (Plat. Gorg. 448 b. 456 b), bekannter Rhetor und Sophist.

1. Leben.

Von den verschiedenen Angaben der Alten über die Lebensverhältnisse des G. steht nur die eine unbedingt fest, daß er unter dem Archontat des Eukles Ol. 88, 2 (im Sommer des J. 427 v. Chr.) als Führer einer Gesandtschaft in Athen erschien, um für seine Vaterstadt Hilfe gegen Syrakus zu erbitten, und sie erlangte (Diod. XII 53. Thucyd. III 86). Übereinstimmend wird ebenso berichtet, daß er in voller Gesundheit ein sehr hohes Alter erreichte (Plat. Phaedr. 261 c. Isocr. π. ἀντιδ. 155). Die am meisten verbreitete Überlieferung gibt ihm 109 Lebensjahre. So Apollod. bei Diog. Laert. VIII 58. Quintil. III 1, 9. Olympiod. in Plat. Gorg. p. 7. Suid. s. Γοργίας, auch Paus. VI 17, 9, wenn man mit Wilamowitz bei ihm einen Schreibfehler annimmt und die überlieferte Zahl ρε durch ρθ ersetzt. Auf denselben Ansatz führt Jacoby (Apollodors Chronik 261) die Angaben bei Plin. n. h. VII 156. Philostr. vit. soph. I 9. [‌Lucian.] macrob. 23. Censorin. de die nat. 15, 3. Schol. in Plat. Phaedr. 261 c (108 Jahre) zurück und vermutet, die 107 Jahre bei Cic. Cat. mai. 13 (vgl. Valer. Max. VIII 13 ext. 2) haben ursprünglich den Zeitpunkt des erzählten Vorgangs, nicht den Eintritt des Todes bezeichnen sollen. In der Erwähnung der gleichen Anekdote durch den Peripatetiker Klearch bei Athen. XII 548 d empfiehlt es sich, die ganz vereinzelt stehende Angabe, daß G. fast 80 Jahre alt geworden sei, mit Diels Vorsokr. nr. 76 A 11 in ,fast 110 Jahre’ (ρι statt π) zu ändern.

In welche Jahre das Leben des G. fällt, läßt sich aus den vorliegenden Nachrichten nur annähernd feststellen. Nach Olympiodor a. a. O. soll er seine Schrift über die Natur Ol. 84 (444–440 v. Chr.) verfaßt haben, aber welchen Glauben verdient ein Scholiast, der hieraus folgert, Sokrates (um 469 geboren) müsse mindestens 28 Jahre älter gewesen sein als G.? Porphyrios setzte ihn in die 80. Olympiade (460–456 v. Chr.), wie Suidas a. a. O. berichtet, der jedoch gleich beifügt, man müsse ihn doch wohl für älter halten. [‌Plutarch.] vit. X orat. I 1, 9. 832 f verlegt seine Geburt in die Zeit der Perserkriege (er hat dabei wohl den von 480 im Sinn) und nennt ihn einen jüngeren Zeitgenossen des Antiphon. Wie Xenophon anab. II 6, 16 erwähnt, war Proxenos, ehe er an dem Feldzug des jüngeren Kyros teilnahm, also vor 401, Schüler des G. gewesen. Daß dieser die Hinrichtung des Sokrates (399) überlebt habe, sagt Quintilian III 1, 9 (vgl. Plat. apol. 19 e). Durch Pausanias VI 17, 9 erfahren wir von der besonderen Hochschätzung, die Iason, der Tyrann von Pherai (um 380–370), ihm gewidmet haben soll. [1599]

Aus allen diesen einzelnen Daten zieht Frei Rh. Mus. VII 527ff. das Ergebnis, G. werde etwa um Ol. 74, 2 (483 v. Chr.) geboren und um Ol. 101, 2 (376 v. Chr.) gestorben sein, und alle Neueren stimmen ihm darin bei.

Die Überlieferung bringt G. als Schüler in persönlichen Verkehr mit seinem Landsmann Empedokles (Satyros bei Diog. Laert. VIII 59. Suid. Quintilian. III 1, 9. Schol. in Plat. Gorg. 465 d). Daran ist soviel jedenfalls richtig, daß sich, sowohl in seiner Rhetorik wie in seinen physikalischen Anschauungen die Einwirkung des agrigentinischen Philosophen deutlich nachweisen läßt. Vgl. darüber besonders Diels Gorgias und Empedokles, S.-Ber. Akad. Berl. 1891, 344. Nicht minder stark hat er den Einfluß des Eleaten Zenon in seiner Dialektik erfahren (s. Diels a. O. 359). Und wenn er im J. 427 ἤδη γηράσκων (wie Philostrat. v. soph. I 9, 2 sagt) als Führer der Gesandtschaft nach Athen geschickt wurde und hier durch seine Rednerkunst ein unerhörtes Aufsehen hervorrief, so wird er schon in seiner Heimat eine angesehene Stellung eingenommen und sich Jahre lang in rhetorischen Künsten geübt haben. In Athen muß er sich später mindestens noch einmal wieder aufgehalten haben (Plat. Gorg. 449 b; Menon 71 c). An den verschiedensten Orten Griechenlands, z. B. in Delphi und Olympia, trat er als Festredner auf und unterrichtete, als sophistischer Wanderlehrer umherreisend, zahlreiche Schüler, von denen er das hohe Honorar von 100 Minen gefordert haben soll (Diod. XII 53, 2). Zuletzt finden wir ihn in dem thessalischen Larissa (Plat. Menon 70 b), wo er auch gestorben zu sein scheint. Überall trat er mit großem Prunk auf (Aelian. var. hist. XII 32). Welche Reichtümer ihm seine Lehrtätigkeit einbrachte, läßt sich daraus entnehmen, daß er sich in Delphi selbst eine kostbare Bildsäule setzen lassen konnte, mag sie nun (wie Cic. de or. III 129. Plin. n. h. XXXIII 83 berichtet) massiv oder nur übergoldet (Paus. X 18, 7) gewesen sein. Eine zweite Bildsäule, von deren Inschrift bereits oben die Rede war, hat ihm sein Großneffe Eumolpos in Olympia errichtet. Trotz seiner glänzenden Einnahmen hinterließ er angeblich (Diodor. XII 53) nur 200 Minen. G. blieb unvermählt (Isokr. XV 156) und dank seiner mäßigen Lebensweise erhielt er sich bis in das höchste Lebensalter frisch und gesund an Leib und Seele (Klearch bei Athen. XII 548 c). Noch im Augenblick des Todes scheint ihn sein schlagfertiger Witz nicht verlassen zu haben (Aelian. var. hist. II 35).

2. Schriften.

Während Suidas von den vielen Schriften, die G. verfaßt haben soll (συνεγράψατο πολλά), keine namhaft macht, erwähnt Philostratos v. soph. I 9, 4f. drei Reden von ihm, nämlich zwei Festreden (eine pythische, eine olympische) und eine Grabrede, Aristoteles rhet. IV 14. 1416 a 1 ein Lob der Eleer, das ohne jede Einleitung mit den Worten Ἦλις πόλις εὐδαίμων begann. Den Πυθικὸς λόγος soll er nach Philostr. a. a. O. in Delphi von derselben Erhöhung herab gesprochen haben, auf der später seine Bildsäule stand. Im Ὀλυμπικὸς λόγος, auf den einigemale verwiesen wird (Arist. rhet. III 14. 1414 b 29. Clem. Alex. strom. I 51. Plut. coni. praec. 43 p. 144 b c), ermahnte er die Griechen – nach v. Wilamowitz Aristoteles u. Athen I 172 [1600] im J. 408 –, sich insgesamt zu einem Kriege gegen Persien zu vereinigen. Von dem in Athen gehaltenen Ἐπιτάφιος (Philostrat. v. soph. I 9, 5), der bei demselben Gedanken verweilt haben soll, ist der Schluß bei Planudes ad Hermog. V 548 Walz (frg. 6 Diels) erhalten, sonst wenig bekannt (vgl. frg. 5 a Diels).

Nach Satyros bei Diog. Laert. VIII 58 vgl. Diodor. XII 53, 2 hinterließ G. eine Τέχνη. Unter dieser werden wir uns aber schwerlich ein theoretisches Werk vorzustellen haben, sondern eher eine Zusammenstellung von praktischen Winken, denen Musterstücke zum Auswendiglernen für Anfänger in der Beredsamkeit beigefügt waren (Aristot. soph. el. 34. 183 b 36). Zwei solcher Musterstücke liegen vermutlich vor in dem Lob der Helena und der Verteidigung des Palamedes, die unter G.s Namen erhalten sind, während die alten Zeugen sie niemals erwähnen (abgedruckt in Antiphontis orat. ed. Blass, Leipzig 1881, S. 150–174).

Das Ἑλένης ἐγκώμιον, von dem Verfasser selbst am Schluß als ein παίγνιον bezeichnet, hat augenscheinlich Isokrates in seiner Helena berücksichtigt, freilich ohne an einer Stelle, wo er auf die Skepsis des G. zu reden kommt, auch nur mit einem Wort anzudeuten, daß gerade dieser der von ihm eben jetzt bekämpfte rhetorische Gegner sei. Blass (Att. Beredsamk. I2 75) findet in diesem Umstand keinen ausreichenden Grund, die Echtheit der Schrift anzuzweifeln, und setzt sie wie die Helena des Isokrates in das J. 393. Dagegen hielt schon Foss (De Gorgia Leontino, Halle 1828) jene für untergeschoben.

Die Verteidigung des Palamedes für unecht zu halten, liegen keine durchschlagenden Gründe vor. Nach Form und Inhalt macht sie gegenüber der Helena den Eindruck des reiferen Werkes (Blass a. a. O. 75).

Die einzige philosophische Schrift des G., von der wir wissen, die den auffälligen Titel περὶ τοῦ μὴ ὄντος ἢ περὶ φύσεως führte, ist auszugsweise in doppelter Form überliefert, einmal bei Sextus adv. math. VII 65ff. und sodann im dritten Abschnitt des fälschlich Aristoteles zugeschriebenen Büchleins über Melissos, Xenophanes und G. p. 979 a 11–980 b 21 (neu herausg. v. Diels Abh. Akad. Berl. 1900, 4°). Über das Verhältnis der beiden Fassungen zueinander vgl. Apelt Rh. Mus. XLIII 203–219. Ps.-Aristot. ist, obgleich er sich mehr an den Wortlaut des Originals zu halten scheint, wegen der schlechten Überlieferung des Textes doch weniger brauchbar als die freier berichtende, aber gut erhaltene Darstellung des Sextus.

3. Persönlichkeit.

G. ist der glänzendste Vertreter jener nach Aristoteles’ Zeugnis (bei Cic. Brut. 46) zuerst in Sizilien ausgebildeten und geübten Beredsamkeit, die mit bewußter Kunst nach festen Regeln gelehrt wurde. Als die ersten Lehrer dieser Art werden Korax und Teisias erwähnt. Daß G. des letzteren Schüler gewesen sei, ist eine unerweisliche Behauptung späterer Rhetoren. Den ersten großen Erfolg erntete G. im J. 427 in Athen, wo seine geistreiche, schlagfertige Rede besonders durch die hier noch ganz unbekannte Form der Gedankeneinkleidung mit dem vollen Zauber der Neuheit wirkte und alle Zuhörer zu [1601] staunender Bewunderung fortriß. Dann durchzog er in prunkvoller Kleidung ganz Griechenland als Wanderlehrer der Beredsamkeit und Vorkämpfer der damals überall gärenden neuen ,sophistischen‘ Ideen. Er gewann auf diesen Reisen zahlreiche Schüler und ein Ansehen als Redner unter seinen Zeitgenossen wie kaum ein anderer. Noch viel bedeutsamer ist seine Einwirkung auf die Nachwelt geworden. G. hat die Ausbildung der griechischen Prosa so nachhaltig mitbestimmt, daß die Spuren davon noch Jahrhunderte hindurch sich verfolgen lassen (vgl. Norden D. antike Kunstprosa Lpzg. 1898 an vielen Stellen).

Die Art, wie Platon von ihm spricht, verbürgt allein schon seine Bedeutung, beweist aber auch in Übereinstimmung mit dem, was wir sonst über ihn wissen, wie viel höher er die Form seiner Rede und ihre augenblickliche Wirkung auf die Zuhörer schätzte als den Inhalt und die Haltbarkeit seiner Aufstellungen. Er war ein glänzender Redner, aber ein oberflächlicher Denker.

In seiner Weltanschauung haben Empedokles und der Eleat Zenon ihn, wie es scheint, am meisten bestimmt. Wie sehr G. auf dem Gebiet der Physik in seinen Ansichten von Empedokles abhängt, hat Diels S.-Ber. Akad. Berl. 1884, 343–368 aus der Übereinstimmung beider in der Optik schlagend erwiesen. Wie nämlich Empedokles jede sinnliche Wahrnehmung auf Ausflüsse zurückführt, die von den Gegenständen in das Sinnesorgan durch zu diesem passende Poren eindringen (Theophrast. de sensu 7), so erklärt G. (Plat. Men. 76 d) die Farbe für eine ἀπορροὴ σωμάτων ὄψει σύμμετρος καὶ αἰσθητός, und beide stellen sich die Wirkung der Brennspiegel in gleicher Weise vor (Aetius IV 14, 1. Theophr. de igne 73 p. 20. 23 Gercke).

Ganz in den Spuren des Eleaten Zenon sehen wir G. wandeln in seiner Schrift über die Natur oder das Nichtseiende. Hier stellt er folgende drei skeptischen Behauptungen auf:

1. es gebe nichts;
2. wenn es etwas gäbe, so könne man es doch nicht erkennen, und
3. wenn man es erkennen könnte, so würde es sich anderen nicht mitteilen lassen.

Den ersten Satz sucht G. folgendermaßen zu beweisen. Wenn es etwas gäbe, so müßte dies entweder ein Seiendes oder ein Nichtseiendes oder ein zugleich Seiendes und Nichtseiendes sein. Allein alle drei Fälle sind unmöglich. Ein Nichtseiendes kann es erstlich deshalb nicht geben, weil es dem Seienden entgegengesetzt ist und mithin, wenn das Seiende als solches notwendig ist, sein Gegenteil, das Nichtseiende, ebenso notwendig nicht ist; sodann kann es deshalb kein Nichtseiendes geben, weil, wenn es wäre, es zugleich seiend und nichtseiend sein müßte. Ein Seiendes kann es nicht geben, weil dieses, mag man es sich als geworden oder als ungeworden, als eines oder als vieles vorstellen, jedenfalls unmöglich ist. Soll es ungeworden sein, so ist es anfangslos und unendlich (nach Melissos), und als Unendliches kann es weder von einem anderen noch von sich selbst umfaßt werden, also nirgends sein, d. h. es kann überhaupt nicht sein. Soll es geworden sein, so müßte es entweder aus einem Seienden entstanden sein oder aus einem Nichtseienden. Allein aus einem Seienden kann nichts werden, denn dann wäre dieses Gewordene ja nicht mehr [1602] ein Seiendes; ebensowenig aber aus einem Nichtseienden, denn aus nichts wird nichts. Soll das Seiende eines sein, so ist es notwendig unkörperlich und hat keine Größe, was aber keine Größe hat, das ist nicht (nach Zenon). Soll das Seiende im Gegenteil vieles sein, so muß es aus Einheiten bestehen, und da es diese, wie eben bewiesen ist, nicht geben kann, so gibt es ebensowenig das aus ihnen zusammengesetzte Viele. Wie es nun aus den entwickelten Gründen so wenig ein Seiendes wie ein Nichtseiendes geben kann, so ergibt sich daraus endlich auch die Unmöglichkeit eines zugleich Seienden und Nichtseienden. Denn angenommen, es gebe ein solches, so verhielten sich Seiendes und Nichtseiendes hinsichtlich des Seins gleich, d. h. das Seiende würde ebensowenig sein wie das Nichtseiende. Auch wären dann beide dasselbe, was nicht angeht.

Den zweiten Satz: wenn es etwas gäbe, so könne es doch nicht erkannt werden, beweist G. in folgender Art. Wenn das Seiende gedacht werden soll, so muß das Gedachte dem Sein gleich oder mit ihm dasselbe sein, sonst wäre es ja das, was gedacht wird, nicht das Seiende. Ist aber das Gedachte das Seiende, so folgt, daß jeder Gedanke wahr sein und es überhaupt unmöglich sein muß, das Nichtseiende zu denken. Allein es gibt tatsächlich falsche Vorstellungen, z. B. die eines fliegenden Menschen oder eines auf dem Meere fahrenden Wagens, somit ist das Gedachte nicht immer das Seiende. Selbst wenn eine sinnliche Wahrnehmung das Gedachte bestätigt, ist es deswegen noch nicht notwendig ein Seiendes, vielmehr bleibt seine wahre Beschaffenheit stets ungewiß.

Für den dritten Satz, daß, selbst wenn es etwas gäbe und dies uns erkennbar wäre, man es doch anderen nicht mitteilen könne, führt G. folgende Gründe ins Feld. Worte, sagt er, sind keine Sinneswahrnehmungen, sondern nur Zeichen für diese und von ihnen verschieden, wie ja auch Hören und Sehen unter sich verschieden sind. Außerdem kann der Hörende bei den Worten eines Sprechenden nicht dasselbe denken wie dieser, denn dann wäre ja in Verschiedenen gleichzeitig eins und dasselbe auf gleiche Weise, während doch in Wirklichkeit derselbe Mensch zu gleicher Zeit anderes durch das Gesicht als durch das Gehör empfindet und zu verschiedenen Zeiten von den gleichen Dingen verschiedene Eindrücke hat. Wegen dieser zwischen den Dingen und den sie bezeichnenden Worten bestehenden Verschiedenheiten ist es unmöglich, das wahre Wesen der Dinge einem andern durch Worte zu übermitteln.

So nahe es liegt, zu vermuten. G. habe mit der Aufstellung dieser Sätze und der von logischen Erschleichungen strotzenden Beweisführung nur die Dialektik Zenons durch Übertrumpfung lächerlich machen und die Leser seiner Schrift hinters Licht führen wollen, so spricht doch gegen diese Vermutung der Umstand, daß nicht bloß spätere Schriftsteller seine Ausführungen ernst genommen haben, sondern schon G.s eigener Schüler Isokrates (or. X 3. XV 268; frg. 1 Diels). Daß auf dem Grabmal des Isokrates neben anderen seiner Lehrer auch G. dargestellt war als in die Betrachtung eines Himmelsglobus versunken ([Plut.] vit. X orat 838 d), fällt für die Beurteilung der wissenschaftlichen Richtung des G. wenig ins [1603] Gewicht, weil wir weder wissen, was dem Künstler über diese bekannt war, noch wie weit technische Rücksichten seine Darstellung bestimmt haben mögen.

Mag nun G. mit der Erforschung und Betrachtung der Natur sich dauernd ernstlich beschäftigt haben und die skeptische Ansicht bei ihm nur eine vorübergehende Phase seines Denkens gewesen sein, oder mag man sie als dessen Endergebnis anzusehen haben: jedenfalls spielt die wissenschaftliche, philosophische Tätigkeit eine unbedeutende Rolle im Vergleich zu seiner Wirksamkeit und Bedeutung als Redekünstler. Während ihm augenscheinlich der Inhalt der Rede Nebensache war, legte er alles Gewicht auf ihre Form (die λέξις). Maßgebend war für ihn nur die augenblickliche Überredung seiner Zuhörer, nicht die Richtigkeit dessen, was er ihnen vortrug. Zur Erreichung dieses Zweckes bediente er sich mit bewußter Absicht bestimmter Kunstmittel, unter denen Timaios bei Diod. XII 53 die Redefiguren des Gegensatzes (ἀντίθετα) Gliedergleichheit (ἰσόκωλα), Anklänge (πάρισα) und Endreime (ὁμοιοτέλευτα) besonders namhaft macht. Weil G. zuerst diese alle nebeneinander verwandt und gleichsam in die weite Welt hinausgebracht hat, gilt er seit Aristoteles geradezu als ihr Erfinder, jedoch nur mit halbem Rechte, denn einzeln waren solche Künsteleien lange vor G. geübt worden.

Wenn Diels in der oben erwähnten Abhandlung darauf hingewiesen hatte, daß Empedokles in seiner Ausdrucksweise auffällig an G. erinnert und deshalb diesen wie in seinen physikalischen Anschauungen so auch stilistisch beeinflußt haben müsse, so erklärt Norden a. a. O. noch weiter zurückgreifend Heraklit für das von Empedokles und G. und von vielen anderen Schriftstellern neben und nach diesen (z. B. dem Eleaten Zenon und Demokrit) nachgeahmte Vorbild. Was nun zunächst die häufige Verwendung der Antithesen betrifft, so ergab sich diese (wie Norden 18f. betont) bei Heraklit wie von selbst als natürliche Form für seine in schärfsten Gegensätzen lebende und webende Weltanschauung und später aus ähnlichen Gründen bei Empedokles: G. benutzt Gedanken und Form des ephesinischen Denkers mit ihnen spielend (vgl. den Schluß des Epitaphios [frg. 6 Diels]). Die von G. besonders reichlich geübten Wortspiele (ἴσα, πάρισα, παρονομασίαι) finden sich gleichfalls bereits bei Heraklit (vgl. Vorsokr. 12 B frg. 48. 25. Norden 24f.); G. bildet sie sogar bis zum völligen Gleichklang mehrerer Silben am Wortende (ὁμοιοτέλευτα) aus.

Neben diesen Figuren bediente sich G., um seine Prosa noch kunstvoller zu gestalten, gern poetischer Ausdrücke. Damit kehrte er zu einer Redeform zurück, die in alten Zeiten, wo sich Prosa und Poesie noch nicht streng geschieden hatten, überall volkstümlich gewesen war, später dagegen als ungehörige Vermischung die feiner Empfindenden unangenehm berührte. Auch hier erinnert man sich sofort an Heraklits bilderreiche Sprache.

Dem Gebiete der Dichtung entlehnte G. endlich noch den rhythmischen Bau seiner Perioden, deren einzelne Teile er sich bemühte symmetrisch [1604] und gleichlang zu formen; er liebte die ἰσόκωλα. Hierin war ihm Thrasymachos vorausgegangen, ebenso Sophron (vgl. Norden 43). Das Streben nach Isokolie nötigte G., seine Sätze in kleine Stücke zu zerreißen und in der Wortfolge oft stark von der natürlichen Ordnung abzuweichen, und sein Bemühen, großartig und erhaben zu sprechen, verleitet ihn zum Schwulst.

Obgleich man nun alle erwähnten Kunstmittel der Rede einzeln genommen längst zur Anwendung gebracht hatte, so ist es doch begreiflich, daß ein Mann, dem die Gabe, aus dem Stegreif geistreich und witzig zu sprechen, in ungewöhnlichem Maße zu Gebote stand, durch ihre vereinigte Kraft auf seine Zuhörer einen unerhörten Eindruck machte, und einen Augenblickserfolg erzielte, der freilich gegenüber ruhiger Überlegung auf die Dauer nicht standhalten konnte.

Die bei Isokrates, dem Schüler des G., so sorgfältig beobachtete Vermeidung des Hiatus hat G. selbst, wie es scheint, erst allmählich schätzen gelernt, denn in seiner Helena finden sich mehr Hiate als im Palamedes, den Blass deshalb auch für das spätere Werk hält.

Wie die Rhetorik des erst von seinen Zeitgenossen so bewunderten und nachgeahmten, später von der Nachwelt ebenso verachteten und geschmähten G. bis in die Zeiten des sinkenden Altertums und noch weiterhin ihren Einfluß behauptet, hat Norden in seinem mehrfach erwähnten Buche überzeugend nachgewiesen.

Literatur: H. E. Foss De Gorgia Leontino, Halle 1828. L. Spengel Συναγωγὴ τεχνῶν, Stuttgart 1828. Frei Rhein. Mus. VII 527. VIII 268. H. Diels G. u. Empedokles, S.-Ber. Akad. Berl. 1884, 343ff. E. Norden D. antike Kunstprosa Leipz. 1898 (2. Abdruck 1909). O. Apelt G. b. Ps.-Aristoteles u. b. Sextus Empiricus, Rh. Mus. XLIΙI 203–219. F. Blass D. att. Beredsamk. I2, Leipz. 1887, 47–91. E. Zeller Phil. d. Gr. I5 1056ff. Th. Gomperz Griech. Denker I Kap. 7. Diels Fragm. d. Vorsokratiker Kap. 76. Antiphontis orat. ed. F. Blass, Leipz. 1881, 150ff. Drerup Jahrb. f. Philol. Suppl. Bd. XXVII 219ff. Maass Hermes XXII 565ff. Thiele Hermes XXXVI 218ff. Jacoby Apollodors Chronik 264f. Susemihl Jahrb. f. Philol. 1877, 793ff. Aristot. de Melisso usw. ed. Diels Abh. Akad. Berl. 1900.