Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Im Mündungsgebiet d. Euphrat u. Tigris ansässiges Volk
Band III,2 (1899) S. 20452061
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Chaldaioi. 1) Chaldaioi (*Kasdu, hebraeisch K(h)asdîm, kassitisch [? vgl. Artikel Chaldaia] Kardu, assyrisch-babylonisch vermöge eines dem Babylonischen eigentümlichen Lautüberganges von s vor Dentalen in l Kaldu und entsprechend griechisch Χαλδαῖοι, lateinisch Chaldaei, nach einem auf die mosaïsche Völkertafel, Genes. 10, 24, gegründeten Autoschediasma des Joseph. ant. Iud. I 144 ursprünglich Ἀρφαξαδαῖοι genannt), ein in historischer Zeit im Mündungsgebiete des Euphrat und Tigris und an der Nordwestküste des persischen Meerbusens heimisches, aber in einer ständigen gewaltsamen Vorwärtsbewegung gegen Norden begriffenes Volk, das nach Jahrhunderte dauernden Kämpfen mit Assyrien vorübergehend die Vorherrschaft in Vorderasien besass.

I. Ethnographischer Charakter, Urheimat, Wanderung. Dass die Ch. der semitischen Völkerfamilie angehörten, hat als ausgemacht zu gelten. Wenn Genesis 22, 20ff., an [2046] einer Stelle, welche dem sog. jahvistischen Geschichtswerke – näher wahrscheinlich der jüngeren Bearbeitung desselben (J₂; vgl. Artikel Babylon Bd. II S. 2668) – angehört, der chaldaeische Eponymos K(h)esed(h) als Sohn Nachors und Neffe Abrahams erscheint, so beweist dies, dass die Israeliten in den mit Macht vordringenden Nomadenstämmen Südbabyloniens ihre Sprach- und Stammesverwandten erkennen mussten. Auch die chaldaeischen Eigennamen erweisen sich durchweg als gut semitisch, wobei allerdings die vielfach vollständige Übereinstimmung der Namensbildung mit der assyrisch-babylonischen wenigstens zum Teile auf assyrisch-babylonischer Beeinflussung beruhen wird. Folge dieser Beeinflussung wird es ferner sein, wenn wir vom 8. bis 6. Jhdt. Ch. und Altbabylonier durchaus die gleiche Sprache reden, durchaus die gleichen Götter verehren sehen. Aber die Thatsache einer so weit gehenden Beeinflussung selbst wäre undenkbar, hätten die siegreichen Wüstensöhne des Südens einer ganz anderen Rasse angehört als die von ihnen überwundene semitische Bevölkerung des Kulturlandes im Norden. Eine Durchsetzung der Ch. mit unsemitischen (kassitischen? s. II und Winckler Geschichte Babyloniens und Assyriens [Leipzig 1892] 112) Bevölkerungselementen Südbabyloniens wird zwar immerhin mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden dürfen, kann aber nicht von wesentlicher Bedeutung gewesen sein. Völlig bei Seite zu lassen sind dagegen wie die antiken Erklärungen des Namens Ch. (z. B. bei Phil. quis rer. div. her. 20. Eustath. ad Dionys. perieg. 767) die von den Alten beliebten falschen Identifikationen der babylonischen mit den pontisch-armenischen Ch. (s. Nr. 2) und dieser mit den persischen Κηφῆνες (vgl. Eustath. a. a. O.), beziehungsweise die wahrscheinlich auf Hellanikos (vgl. Steph. Byz. s. Χαλδαῖοι) zurückgehenden Fabeleien von einer Verbindung des Kepheus mit den Ch. und mit Babylon.

Schwieriger als die Frage nach ihrem ethnographischen Charakter ist diejenige nach Zeit und Richtung der Einwanderung der Ch. in diejenigen Landstriche, welche in der Zeit ihrer Kämpfe mit Assyrien als der Mittelpunkt ihrer Macht erscheinen. Dürfte es als erwiesen betrachtet werden, dass die Semiten von Nordosten her nach Vorderasien eingedrungen seien (s. hierüber Artikel Babylonia III), so könnte man sich versucht fühlen, in den Ch. die erste, in den Akkadiern Babyloniens und den Assyrern erst die zweite, bezw. dritte Etappe dieser Einwanderung, soweit sie das Stromgebiet des Euphrat und Tigris betrifft, zu sehen. Die Ch. müssten alsdann bereits im 5. Jahrtausend v. Chr., wo nicht noch früher, die Küstengegenden am persischen Meerbusen erreicht haben, und ihr Vordringen nach Norden in historischer Zeit würde einem nach einer langen Epoche stabiler Ruhe eintretenden Rückschlage gegen die ursprüngliche Richtung ihrer Wanderung gleich kommen. Weit näher liegt es aber doch wohl, räumlich wie zeitlich das Eindringen der Ch. in das südliche und das bald nach der Mitte des 2. Jahrtausends für Assyrien bedenklich werdende Vordringen aramaeischer Stämme (keilinschriftl. Aramu, Arumu, [2047] griech. Ἀραμαῖοι Strab. I 42. XIII 627. XVI 784f. Joseph. ant. Iud. I 144, Ἄριμοι Strab. XVI 750. 784f. nach Poseidonios, Ἀριμαῖοι Strab. XVI 785, Ἀρμένιοι Strab. I 42; vgl. Artikel Aramaioi), der Vorfahren der späteren Syrer, gegen das mittlere und nördliche Mesopotamien als Parallelerscheinungen zu betrachten. Dabei kann noch dahingestellt bleiben, ob etwa bei einem Einbruch der Semiten von Norden her die späteren aramaeischen und chaldaeischen Stämme zusammen mit den arabischen südwestlich in die arabische Wüste gedrängt wurden und nunmehr wieder nach den fruchtbaren Gefilden des Nordostens zu streben begannen, oder ob doch vielmehr die gemeinsame Urheimat der Semiten im Süden zu suchen und in der aramaeisch-chaldaeischen Invasion nur die Wiederholung derselben südnördlichen Völkerwanderung zu sehen ist, welche schon die Vorfahren der Assyrier und der semitischen Babylonier nach ihren Wohnsitzen im Zweistromlande geführt hätte. Im einen wie im anderen Falle wären die Ch. ursprünglich ein Nomadenvolk der arabischen Halbinsel, das, durch eine unbekannte Völkerbewegung im Inneren derselben gemeinsam mit den Aramaeern aus seinen bisherigen Sitzen herausgeworfen und langsam nach Norden geschoben, dem Westrande des persischen Meerbusens entlang gegen das mesopotamische Tiefland vordringt, während seine aramaeischen Brüderstämme, weiter westlich durch die syrische Wüste wandernd, sich dem Saume desselben mehr im Norden nähern. Sehr wohl stimmt zu einer solchen Auffassung, dass an der angezogenen Genesisstelle die Ch. als nächste Verwandte der Ausiten im Hauran (ʿûṣ. Αὐσῖται LXX; vgl. Αὐσῖτισ LXX. Hiob. 1, 1 und Wetzstein bei Delitzsch Das Buch Job² [Leipzig 1864] 576ff. Hitzig Das Buch Hiob übersetzt und ausgelegt [Leipzig und Heidelberg 1874] XVI f.) und anderer halb arabischer, halb aramaeischer Stämme der syrischen Wüste und des rechten Euphratufers (Chazô, keilinschriftl. Ḫazû, und Bûz, keilinschriftl. Bâzû; vgl. Fr. Delitzsch Wo lag das Paradies? Leipzig 1881, 307. Zeitschr. f. Keilschriftforschung II 93ff.) erscheinen.

II. Altbabylonische Zeit. Der erste ,König des Chaldaeerlandes‘ findet sich bereits in dem uralten, wenn auch vielleicht nicht mit Recht auf die Bibliothek Sargons I. von Aganê (s. Artikel Babylonia III) zurückgeführten astrologischen Werke (s. Artikel Astrologie Bd. II S. 1806). Möglicherweise stehen wir in dieser Erwähnung der letzten, halbverschollenen Spur eines Versuches gegenüber, den die Ch. mehrere Jahrhunderte vor ihrer dauernden Ansiedlung in Südbabylonien machten, hier festen Fuss zu fassen. Eine wirklich bedeutsame Stellung haben sie aber, wie es scheint, für Babylonien erst in der Zeit gewonnen, in welcher das Land unter der Fremdherrschaft der Kassiten (Kaschschu der Inschriften, Κίσσιοι der Griechen, s. die Artikel Babylonia III und Kissioi) stand. Allerdings muss in dieser Zeit ihre Bedeutung auch bald eine kaum zu überschätzende geworden sein, wenn wirklich das seit derselben in den Inschriften der assyrischen Könige als Gesamtname für Babylonien üblich gebliebene Kardunjasch – das sich, wenn gleich hier wahrscheinlich nur als Name einer [2048] einzelnen Landschaft, auch in den Titeln kassitischer Beherrscher Babylons selbst findet – ein Aequivalent für assyrisches mât kaldi ist, Babylonien also schon um die Mitte des 2. Jahrtausends geradezu als ein ,Land der Ch.‘ bezeichnet werden konnte (s. hierüber die Artikel Babylonia II und Chaldaia und vgl. die Inschrift des kassitischen Königs Karaindasch K. B. III 1, 152f.). Als dann die Herrschaft der Kassiten über Babylon zusammenbrach, scheint ein Teil derselben bei den Ch. in dem von nun ab immer wieder als das eigentliche Stammland der letzteren erscheinenden ,Seelande‘ (mât tamdi) Aufnahme gefunden, sich mit ihnen verschmolzen und den Anstoss zur Gründung eines vom babylonischen Norden unabhängigen eigentlichen Reiches gegeben zu haben. Drei ,Könige‘ dieses Reiches bestiegen sogar kurz vor dem Ende des 2. Jahrtausends auch den altehrwürdigen Thron Babylons (Babylon. Chronik 1 A V 1–10. Babylon. Königsliste A III = K. B. II 282ff. 287). Doch scheinen diese, ihren Namen nach zu schliessen, noch eher kassitischer als chaldaeischer Abstammung gewesen zu sein. Vermutlich wenig später – genau vermögen wir den Zeitpunkt nicht anzugeben – gab aber dasselbe Reich des Seelandes Babylon auch schon seinen ersten zweifellos chaldaeischen Beherrscher in Irba-Marduk, dem Ahnen des grossen Merodach-Baladan (Inschrift des letzteren II 43f. = K. B. III 1, 186f.). In den zwei nächsten Jahrhunderten müssen immer neue Horden von Ch. unaufhaltsam von Süden her vorgedrungen sein. Bald zelteten Ch. sogar nördlich über Babylon hinaus bis an die assyrische Grenze. Als nomadisierende Hirten oder Ackerbauer occupierten die unruhigen Eindringlinge die Weideplätze und Kornfelder des flachen Landes und drängten zunächst die altbabylonische Bevölkerung in die grossen, noch aus sumerischer Zeit stammenden Städte zurück. Auch das Bild auf ihren Beutezügen bis nach dem Hauran hinüber streifender räuberischer Ch., obwohl es uns erst weit später im biblischen Buche Hiob 1, 17 entgegentritt, mag immerhin bereits für diese Zeit zutreffen. Indessen begannen aber auch einzelne Stämme der Ch. zu festerer Sesshaftigkeit überzugehen. Zwischen den alten babylonischen Reichsstädten bildeten sich, in der Folgezeit wenigstens teilweise wohl mit dem Namen ihrer Gründer bezeichnete, chaldaeische Fürstentümer (bîtâti, wörtlich ,Häuser‘) mit neuen befestigten Hauptorten. So wurden etwa in den ersten Jahrzehnten des 9. Jhdts. Bît-Dakuri im Norden und Bît-Amukkâni im Süden von Babylon gegründet. Nicht viel später erstarkte durch eine ähnliche Staatenbildung, Bît-Jakin im Seelande, auch dieser alte Herd chaldaeischer Bewegung neuerdings. Anlässlich seines 879 errungenen Sieges über die verbündeten Babylonier und Chattu (Chittiter) erkennt dann selbst der assyrische König Aschschurnasirpal, indem er kardunjasch und (mât) kaldu als Synonyma nebeneinander stellt, das alte babylonische und das neue chaldaeische Bevölkerungselement seines südlichen Nachbarlandes als gleichbedeutende Factoren an (Annaleninschrift III 23f. = K. B. I 98f.). Sein Nachfolger Salmanassar II. hatte bei seinem Eingreifen in babylonische Thronstreitigkeiten [2049] 851/50 erstmals Veranlassung, mit den Ch. ernsthaft abzurechnen. Adinu, der Fürst von Bît-Dakuri, wurde mit der Waffe in der Hand zur Zahlung von Tribut gezwungen. Muschallim-Marduk von Bît-Amukkâni und Jakin, der Restaurator des Seelandes, hielten es für geraten, freiwillig Geschenke zu bringen (Annaleninschr. 83f. Inschr. von Balawat VI 4–8. Synchron. Gesch. IV 11f. = K. B. I 138f. 136ff. Anmk. 202f.). Salmanassars Sohn Schamschi-Rammân III. begegnete den Ch. zum erstenmale als Bundesgenossen des babylonischen Königs Marduk-balaṭsu-ikbi während eines gegen diesen geführten Krieges (Steleninschr. IV 37ff. = K. B. I 186f.) und scheint schon am Ende dieses nicht zunächst gegen sie unternommenen Feldzuges von ihren Fürsten Tribut empfangen zu haben (Synchron. Gesch. IV 11f. = K. B. I 202f.). Gleichwohl musste er noch 813, ein Jahr vor seinem Tode, aufs neue gegen sie zu Felde ziehen (Verwaltungsliste I = K. B. I 208f.). Erneuerte Unruhen in Babylonien, gewiss wesentlich ein Werk der Ch., begleiteten im folgenden Jahre den Thronwechsel in Assyrien und machten ein sofortiges Einschreiten seitens des Nordreiches notwendig (Verwaltungsinschrift a. a. O.). Auch im weiteren Verlaufe seiner Regierung musste der neue assyrische König Rammân-nirâri noch mehrfach mit den Ch. kämpfen, so 803 im Seelande, 796 und 785 weiter nördlich in Babylonien (Verwaltungsinschrift a. a. O.). Doch müssen seine schliesslichen Erfolge bedeutend gewesen sein. Sämtliche Fürsten der Ch. verpflichteten sich für alle Zukunft zu Tributzahlung an Assyrien (Steinplatteninschr. I Rawl. 35 nr. 1. 22ff. = K. B. I 192f.). Officiell galt eine neue Aera friedlichen Nebeneinanderlebens des chaldaeisch-babylonischen Südens und des assyrischen Nordens als angebrochen (Synchron. Gesch. IV 20f. = K. B. I 202f.). Die alternde babylonische Monarchie war zu schwach gewesen, das Eindringen der Ch. zu verhindern. Die jüngere assyrische Grossmacht hatte wenigstens weiterer Begehrlichkeit derselben vorläufig einen Riegel vorgeschoben.

III. Assyrische Zeit. Ein weiteres Erstarken der chaldaeischen Macht ging natürlich mit dem zeitweiligen Verfalle der assyrischen unter den Nachfolgern Rammân-nirâris III. Hand in Hand. Bisher noch nomadisierende Stämme scheinen zur Sesshaftigkeit übergegangen zu sein. Neben die alten Bîtâti traten nicht wenig neue, so Bît-Adini, Bît-Schiláni, Bît-Schaʾalli, Bît-Sâla. Sogar in die noch den Altbabyloniern gebliebenen grossen Reichsstädte drangen jetzt die Ch. ein. Am Ende des 8. Jhdts. fanden sich chaldaeische Bevölkerungen in Uruk, Nippur, Kisch, Kutha und Sippar (Prismainschrift Sanheribs I 37f. = K. B. II 84f.). Die Stärkung ihrer Macht und Bedeutung im allgemeinen hatte bald auch das Erwachen centralistischer oder doch föderalistischer Bestrebungen unter den Ch. zur Folge. So heisst nun wohl der Beherrscher von Bît-Jakin geradezu ,König der Ch.‘ (z. B. Cylinderinschr. Sargons 18. Grosse Prunkinschr. Sargons 122 = K. B. II 42f. 68f.), oder die übrigen Staaten mit Ausschluss von Bît-Jakin erscheinen als ,Land der Ch.‘ zu einer höheren Einheit zusammengefasst (z. B. grosse Prunkinschr. Sargons 21f. = K. B. II 54f.). [2050] Die gewaltigste Gärung kam aber endlich unter die Massen der Ch. dadurch, dass 732 das machtlose altbabylonische Scheinkönigtum endgültig erlosch. Die Schaffung eines neuen babylonischen Reiches unter einer chaldaeischen Dynastie, das die Erbschaft des zu Grabe gegangenen alten antreten sollte, blieb seitdem das Ziel, das alle Fürsten und Stämme der Ch. unverrückt im Auge behielten. Die Könige von Elam, die arabischen Beduinenstämme der westlichen Nachbarschaft, die Aramaeer Mittel- und Nordmesopotamiens und die vermutlich ihnen stammverwandten Sûtu-Nomaden waren ihre ständigen Bundesgenossen bei dem unermüdlichen Ringen um die Verwirklichung dieses Zieles. Selbst umfassendere vorderasiatische Coalitionen gegen Assyrien suchten rührige Chaldaeerfürsten zu stande zu bringen. So wurde nach dem Zeugnis des erzählenden Nachtrages zum Propheten Jesaja 39, 1 und nach Alexandros Polyhistor bei Joseph. ant. Iud. einmal der Versuch gemacht, sogar das ferne Königreich Juda für eine solche zu gewinnen, und bei einer anderen Gelegenheit sehen wir die Ch. ausser mit dem König von Elam mit Ançan, Persien und anderen Ländern Irans im Bunde (Prismainschr. Sanheribs V 31ff. = K. B. II 106ff.).

Assyrien seinerseits verfolgte, nachdem es unter (Phul-) Tiglathpilesar III. (Πῶρος) neu erstarkt war, die frühere, auf möglichste Demütigung der Ch. gerichtete Politik mit noch grösserer Schärfe. Das seit alters best bewährte Mittel assyrischer Eroberungspolitik wurde jetzt gegen die ruhelosen Friedensstörer in Anwendung gebracht, die Deportation. Ganze Stämme wurden weggeführt, nach Assyrien oder fast noch häufiger nach den nördlichsten Provinzen, besonders dem Lande Kummuch (Κομμαγήνη), dessen selbst vielfach rebellische Bevölkerung dann teilweise im Süden zwischen Babyloniern und übrig gelassenen Ch. angesiedelt wurde.

Ob Tiglathpilesar III. bereits, als er 745 unmittelbar nach seinem Regierungsantritt die aramaeischen Stämme zwischen Euphrat und Tigris der babylonischen Nordgrenze entlang züchtigte, mit den Ch. in feindliche Berührung trat, bleibt fraglich. Ein grosser Chaldaeerkrieg entbrannte dagegen 731–728 sofort nach dem Ende des letzten altbabylonischen Königs. Mit mächtiger Faust vereitelte Tiglathpilesar den ersten Versuch einer chaldaeischen Reichsgründung. Ein rascher Siegeszug führte ihn durch die Grossstädte Babyloniens (Thontafelinschr. A 11ff. = K. B. II 13f.). Dann wurde Nabû-uschabschi, Fürst von Bît-Schilâni niedergeworfen und nach Eroberung seiner Hauptstadt Sarrabânu vor den Thoren derselben grausam hingerichtet (Platteninschr. 8ff. Thontafelinschr. A 15–19 = K. B. II 4f. 12f.), Zaqiru von Bît-Schaʾalli, der ein früher mit Assyrien getroffenes Abkommen gebrochen hatte, geschlagen und samt einem grossen Teile seiner Unterthanen deportiert (Thontafelinschr. A 19–23 = K. B. II 14f.). Die beiden rasch eroberten Länder wurden assyrische Provinzen (ebd. 23 = K. B. II 14f.). Längeren Widerstand leistete Ukînzêr (Χίνζηρος) von Bît-Amukkâni, der sich zum König von Babylon aufgeworfen hatte und nun seine feste Stadt Sapêa gegen die belagernden Assyrer erfolgreich verteidigte [2051] (Näheres s. unter Chinzeros). Als aber endlich auch seine Feste fiel, hielten es selbst die hartnäckigsten chaldaeischen Widersacher Assyriens wie Balasu von Bît-Dakuri und Merodach-Baladan von Bît-Iakin für das klügste, sich zu unterwerfen und dem Sieger Tribut zu entrichten (Thontafelinschr. A 3, 26ff. = K. B. II 11f. 14f.). Tiglathpilesar setzte sich die altehrwürdige Krone von Babylon aufs Haupt und hat als Träger derselben, wie nach seinem bald erfolgenden Tode sein Nachfolger (Ululai-) Salmanassar IV. (Ἰλουλαῖος) – es scheint, ohne erheblichen Schwierigkeiten zu begegnen – auch über die Ch. die Oberherrschaft ausgeübt.

Erst im J. 721 gab der Tod Salmanassars das Signal zu einer mächtigen chaldaeischen Reaction. Während in Assyrien Sargon den Thron bestieg, bemächtigte sich, den Versuch Ukînzêrs wieder aufnehmend, Merodach-Baladan von Bît-Iakin der Herrschaft über Babylon. Glücklicher als sein Vorgänger, vermochte er sie volle zwölf Jahre zu behaupten, und als 710 Sargon es endlich unternahm, das Reich Tiglathpilesars III. in seiner vollen Ausdehnung nach Süden wiederherzustellen, entzündete er einen an Dauer und Erbitterung alle früheren weit überragenden chaldaeisch-assyrischen Krieg. Scheinbar unterbrochen durch wenige Jahre völliger Unterwerfung der Ch. (grosse Prunkinschr. Sargons 21f. = K. B. II 54f.), denen noch einmal eine kurze Herrschaft Merodach-Baladans in Babylon folgte, wurde dieser erst 694 durch den nächsten assyrischen Herrscher Sanherib zu Ende geführt (Näheres s. unter Merodach-Baladan). Merodach-Baladan hatte bereits vor der letzten Entscheidung sein Stammland aufgegeben und jenseits des persischen Meerbusens unter elamitischem Schutze eine neue Heimat gesucht. Seine Getreuesten hatten ihn begleitet. Nunmehr versuchte auch die übrige Bevölkerung von Bît-Iakin seinem Beispiele zu folgen. Aber Sanherib führte sie mit Gewalt aus ihrer Zufluchtsstätte auf elamitischem Gebiete zurück und liess sie nach dem Norden deportieren.

Die Macht des ,Seelandes‘ war so gebrochen, nicht diejenige der Ch. überhaupt. Ihr Führer wurde jetzt ein Mann nichtfürstlicher Abstammung aus dem bisher wenig hervorgetretenen Sumpfgebiete am rechten Ufer des Euphrat, Schuzub, wie ihn die assyrischen, oder Muschezib-Marduk, wie ihn die babylonischen Inschriften nennen (Μεσησιμόρδακος). Nachdem zwei Scheinkönige unter assyrischer und einer unter elamitischer Oberhoheit kurze Zeit denselben eingenommen hatten, gelang es ihm 692, sich des babylonischen Thrones zu bemächtigen (Näheres s. unter Belibos, Nerigebalos, Mesesimordakos). Aber schon nach zwei oder drei Jahren erfolgte sein Sturz, der die völlige Zerstörung Babylons durch Sanherib nach sich zog (s. Artikel Babylon Bd. II S. 2673). Aber selbst die unerhörte Massregel der Vertilgung des für ganz Mesopotamien heiligen Babylon vom Erdboden war nicht von dauernder Wirkung auf die Ch. Als 681 Sanherib durch Mörderhand fiel, erhoben sie sich sogleich wieder. Über drei Jahrzehnte hindurch hatten der neue assyrische König Aschschurhaddon und sein Sohn Aschschurbanipal nun wieder bei den verschiedensten Anlässen mit ihnen zu thun. Schon [2052] kurz nach seiner Thronbesteigung musste der erstere den Sohn Merodach-Baladans Nabû-zîru-kînisch-lîschir zurückschlagen, der den assyrischen Statthalter in Ur bedrängte (Prismainschr. B II 1–26 = K. B. II 142f.). Er wurde auf elamitisches Gebiet gedrängt, wo er den Tod fand (Babylon. Chronik B III 39ff. = K. B. II 282f.). Sein Bruder Naʾid-Marduk unterwarf sich freiwillig und wurde als tributpflichtiger Vasall Assyriens der Nachfolger des Toten in der Herrschaft über Bît-Iakin (Inschr. d. Prismen A und G II 32–41 = K. B. II 128f.). Aber als Aschschurhaddon 678 oder 677 mit dem Wiederaufbau von Babylon begann, musste sofort die Neugründung auch wieder gegen die Ch. verteidigt werden. Diesmal ging die Unruhe von Bît-Dakuri aus, dessen Fürst Schamasch-ibni geschlagen, gefangen genommen und durch den zuverlässigeren Nabû-sallim ersetzt wurde (Inschr. der Prismen A und G II 42–54, des Prismas B III 19–27 = K. B. II 128ff. 146f.). Vollständige Ruhe trat gleichwohl nicht ein. Namentlich gab in der Folgezeit der Bruderkrieg zwischen Aschschurbanipal von Assyrien und Schamaschschumukîn von Babylon (cr. 652–648, s. Artikel Babylon Bd. II S. 2674 und Sammuges) den Ch. erwünschte Gelegenheit, als Bundesgenossen des Letzteren gegen die assyrischen Erbfeinde zu kämpfen (Annaleninschr. Aschschurbanipals III 97f. = K. B. II 184f.). Sie setzten ihren Widerstand auch noch nach dem Untergange Schamaschschumukîns fort, müssen aber jetzt noch einmal gründlich geschlagen worden sein (ebd. IV 97–103 = K. B. II 194f.). Ihr Hauptführer in dieser Zeit, Nabû-bêlschumê, der Enkel Merodach-Baladans, rettete sich nach Elam, gab sich aber dort, als Assyrien nach einem siegreichen Kriege gegen die Elamiter seine Auslieferung verlangte, selbst den Tod (ebd. VII 16–49 = K. B. II 210ff.). Aschschurbanipal herrschte nun 22 Jahre unter dem Namen Kandalanu (Κινηλάδανος, vgl. Schrader Kineladan und Asurbanipal, Ztschr. f. Keilschriftforsch. II 222ff.) unbestritten über das wieder in Personalunion mit Assyrien vereinigte Babylonien (s. Artikel Kineladanos). Seine Statthalter geboten auch über die Ch. (Annaleninschr. IV 104 = K. B. III 194ff.). Aber es war das letztemal, dass diese von Assyrien bezwungen schienen.

IV. Neubabylonische Zeit. Im J. 625 hat die assyrische Herrschaft über die südliche Hälfte der Tiefebene des Euphrat und Tigris für immer ihr Ende erreicht. Das war nicht so sehr das Werk der Ch., als dasjenige des medischen Ansturmes, der dem chaldaeisch-babylonischen Süden Luft schaffte, indem er die assyrische Macht im Nordosten beschäftigte, bald in ihren Grundfesten erschütterte und endlich stürzte. Dass hierbei von vornherein ein Einverständnis zwischen den Ch. und Medien oder gar ein eigentliches Bündnis bestand, ist mindestens bis jetzt noch nicht erwiesen. Zwar die gesamte jüngere griechische Historiographie behauptete es. So lassen die Berichte des Agatharchides bei Diod. II 24–28, Bion und Alexandros Polyhistor bei Agath. II 25, Nikolaos von Damaskos frg. 9 (bei Müller aus den Exc. de insid.) und Abydenos bei Euseb. chron. I 37 ed. Schoene bezw. Sync. bei allen Variationen des Einzelnen im wesentlichen übereinstimmend [2053] den Fall Assyriens durch eine Coalition der Ch. und der Meder herbeigeführt werden, bei der im Grunde die letzteren das Werkzeug chaldaeischer Schlauheit gewesen wären. Aber das alles fusst auf der durchaus unzuverlässigen Darstellung des Ktesias oder der aus dieser zurechtgemodelten des Duris oder auf beiden (vgl. Athen. 528 e–529 d. Marquardt Die Assyriaka des Ktesias, Philol. Supplbd. VI 550ff.). Der glaubwürdigere Herodotos deutet I 107 mit den Worten (Μῆδοι) τοὺς Ἀσσυρίους ὑποχείρους ἐποιήσαντο πλὴν τῆς Βαβυλωνίης μοίρης eher darauf hin, dass die Meder, weit entfernt mit den Ch. verbündet zu sein, an ihnen eine Schranke ihrer von Hause aus auf Unterwerfung des gesamten assyrischen Reichsgebietes gerichteten Eroberungspolitik fanden. Das weitaus Natürlichste ist es in der That, dass der chaldaeische Stammesfürst Nabopalassar, die assyrisch-medischen Wirren des Nordens klug benützend, ohne nennenswerten Kampf mit Assyrien wieder einmal eine chaldaeische Herrschaft in Babylon etablierte und Medien, unmittelbar nach dem assyrischen Kriege doch selbst erschöpft, die neue Reichsgründung, die sehr wenig seinen Plänen entsprechen mochte, eben als fertige Thatsache bis auf weiteres hinnehmen musste. Der Zug des Kyros gegen Babylon erscheint dann nur als die consequente Durchführung des von Medien mit dem siegreichen Kampfe gegen Assyrien begonnenen, aber nicht zu Ende geführten Werkes der Ersetzung der semitischen Vorherrschaft in Vorderasien durch eine iranische, das sog. neubabylonische Reich als eine vorübergehende und verhältnismässig wirkungslose Episode, wesentlich nicht verschieden von den frühern vorübergehenden Chaldaerherrschaften in Babylon, wie diese als ein blosser Versuch die chaldaeischen Ansprüche auf das Erbe des altbabylonischen Reiches zur Geltung zu bringen, jetzt gegenüber iranischen wie früher gegenüber assyrischen Concurrenzansprüchen.

Wann und auf welche Weise Nabopalassar den Handstreich unternahm, der diesen immerhin für rund acht Jahrzehnte in gewissen Grenzen von Erfolg begleiteten Versuch eröffnete, bleibt im Dunkel. Der sog. ptolemaeische Kanon bei Sync. rechnet seine Regierung in Babylon vom J. 625 an. Damit kann es seine Richtigkeit haben. Ebensowohl kann aber auch eine erst etwas später erfolgte Thronbesteigung in legitimistischer Tendenz auf dieses Jahr zurückdatiert worden sein, um das babylonische Königtum Nabopalassars unmittelbar an dasjenige Kandalanus (Aschschurbanipal) anzuknüpfen. Nicht einmal, aus welchem der alten chaldaeischen bîtâti die mit Nabopalassar auf den babylonischen Thron kommende Familie stammte, vermögen wir anzugeben, ebensowenig, ob griechische Sagen einen Kern historischer Wahrheit enthalten, die Nabopalassar ursprünglich als Feldherrn in assyrischen Diensten stehen lassen.

Wie über die Anfänge, sind wir auch über die weitere Geschichte des neubabylonischen Reiches noch dürftig unterrichtet. Die bisher zu Tage getretenen Inschriften seiner Herrscher berichten so gut als ausschliesslich nur von der grossartigen Bauthätigkeit, die sie in den durch die Wirren der vorhergehenden Jahrhunderte ruinierten alten [2054] Reichsstädten Babyloniens entwickelten. Als immerhin schätzenswerter Ersatz für weitere einheimische Monumentalquellen müssen hebraeische Literaturdenkmäler, II Kö. 23. 24. II Chron. 22, die historischen Nachträge des Jeremiasbuches 37–43. 50 und die zeitgenössischen Propheten Habaquq, Jeremia, Ezechiel, Ps.-Jesaja und einige Anonymi im ersten Teile des Jesajabuches, ferner eine ägyptische Inschriftstele (s. Wiedemann Ztschr. f. ägypt. Sprache u. Altertumskunde XVII 2ff. Schrader ebd. XVIII 45ff.), die Bruchstücke des Berosos bei Joseph. ant. Iud. und c. Apion. bezw. mittelbar bei Euseb. chron. I 43–53 und Sync. sowie des Abydenos bei Euseb. chron. I 37–43; pr. ev. IX 41, endlich der erwähnte ptolemaeische Kanon eintreten. Die höchste Vorsicht ist dagegen den Nachrichten des Herodotos über Nitokris und Labynetos (s. d.) und den hebraeischen, beziehungsweise aramaeischen Flugschriften des biblischen Danielbuches gegenüber erforderlich.

In ihrer äusseren wie in ihrer inneren Politik traten die chaldaeischen Herrscher mit unverkennbarer Absichtlichkeit als die Nachfolger der grossen Fürsten des fernsten babylonischen Altertums auf. Nach aussen war es vor allem Nabopalassars Sohn Nebukadnezar II., der bereits zu Lebzeiten seines Vaters und noch weit mehr als König 604–562 durch glückliche Feldzüge, deren einer ihn bis in das Innere Ägyptens führte, den chaldaeischen Namen gefürchtet machte. Nach Norden und Osten war allerdings angesichts der medischen Grossmacht nichts zu erreichen. Um so schwerer hatte der Westen unter den chaldaeischen Eroberungszügen zu leiden, um so schwerer auch deshalb, weil hier die Ch. mit unerbittlicher Strenge auch das einst von Assyrien ihnen gegenüber versuchte Mittel der Deportation ganzer Bevölkerungen in Anwendung brachten. Jedermann kennt das Beispiel Judas. In der That gelang es Nebukadnezar II. durch die Eroberung Syriens noch einmal – zum letztenmal bis auf die Zeit des Islam – einen grossen Teil Vorderasiens unter einheitlicher semitischer Herrschaft zu vereinigen und, wenn wir nur von dem Namen Labynetos absehen, ist es keineswegs unwahrscheinlich, was Herodot. I 74 berichtet, dass die Ch. jetzt mit Kilikien im Bunde (vgl. hiezu den von Jensen angetretenen Beweis kilikischen Ursprunges der sog. chititischen Inschriften ZDMG XLVIII 235–352. 429–485) als Schiedsrichter sogar zwischen Medien und Lydien auftraten. Im Inneren wurde gleichzeitig eifrigst an der Verschönerung der Städte, ihrer Befestigung gegen feindliche Einfälle, dem Schmuck alter Heiligtümer und der Restauration des babylonischen Canalnetzes gearbeitet, traditionellen Aufgaben aller machtvollen Beherrscher Babyloniens. Insbesondere scheint die umfassendste Fürsorge für alle geheiligten Kultstätten der Vorzeit das Ziel verfolgt zu haben, einen möglichsten Ausgleich des nationalen Gegensatzes zwischen Altbabyloniern und Ch. anzubahnen.

Aber eben dieses Ziel scheint nicht erreicht worden zu sein. Noch in den auf die vorsintflutliche Zeit bezüglichen Resten der Χαλδαϊκά des Berosos spiegelt sich das Rivalisieren beider Elemente und die nachdrückliche Bezeichnung Nebukadnezars II. als Χαλδαίων καὶ Βαβυλῶνος [2055] βασιλεύς weist deutlich darauf hin, dass die Vereinigung des chaldaeischen Heerkönigtums mit dem alten Königtum ,von Sumer und der Akkadier‘ wesentlich als eine äusserliche und zufällige betrachtet wurde (Beros. bei Jos. c. Apion. I 19. Euseb. chron. I 44). Unaufhaltsam ging denn auch sofort nach dem Tode Nebukadnezars II. das Reich der Ch. seinem Untergange entgegen. Verwandtenmorde und Palastrevolutionen räumten mit der herrschenden Familie auf. Der letzte König Nabonid (Ναβόννιδος) stammte bereits nicht mehr aus dem Geschlechte Nabopalassars, ja, da er von Berosos bei Euseb. chron. I 49; pr. ev. IX 40, 6 einfach als τὶς ἐκ Βαβυλῶνος bezeichnet wird, könnte es zweifelhaft scheinen, ob er überhaupt chaldaeischer Abkunft war. Als 538 die Perser, das Eroberungswerk der Meder vollendend, gegen Babylon heranrückten, stiessen sie auf ein bereits innerlich morsches Gebäude, das ihrem Anprall auch nicht eine kurze Weile mehr Widerstand zu leisten vermochte. Näheres s. unter Nabopalasaros, Nabukodrosoros, Euilmarduchos, Neriglisaros, Labassomardochos, Nabonidos.

V. Persische und hellenistische Zeit. Der Augenblick, in dem Kyros sich des babylonischen Thrones bemächtigte, hat den jahrhundertalten Ambitionen der Ch. auf denselben für immer ein Ende gemacht. Aber das chaldaeische Volkstum hat gewiss diese Ambitionen noch geraume Zeit überdauert. Allerdings musste die Verschmelzung von Babyloniern und Ch. unter der gleichmässig für beide Teile sorgenden, gelegentlich auch gleichmässig auf beiden Teilen lastenden Perserherrschaft die entschiedensten Fortschritte machen. Besonders, nachdem seit Dareios I. das nationalpersische Element überall beherrschend hervortrat und Babylon selbst mehr und mehr an Bedeutung verlor, wurde die alte Stammeseifersucht so gut als gegenstandslos. Gleichwohl dauerte der Name der Ch. fort. Als durch Alexandros d. Gr. das Land am Euphrat und Tigris griechischer Kenntnis erschlossen wurde, bezeichnete er irgend etwas wie eine geschlossene Priesterkaste. Das ist zwar merkwürdig, da theosophische Gelehrsamkeit und priesterliche Würde wenig genug zu dem Bilde der kriegerischen Nomaden von ehedem passen will. Aber zu bestreiten wird es nicht sein angesichts des übereinstimmenden Zeugnisses so verschiedenartiger Geschichtschreiber wie Aristobulos oder Ptolemaios Lagu bei Arrian. anab. III 16, 5. VII 16, 5. 17, 1. 22, 1, Kleitarchos bei Diod. XVIII 112, Agatharchides bei Diod. II 31, Hieronymos von Kardia bezw. Duris bei Diod. XIX 5 und der Unbekannten bei Plut. Alex. 73. App. bell. civ. II 153. Paus. I 16, 3, die alle diese Priesterkaste kennen und ihren Orakelsprüchen eine Bedeutung in der Lebensgeschichte eines Alexandros d. Gr., Antigonos und Seleukos geben. Nach Diod. II 31 scheint es, als habe der Name diese Bedeutung bereits in der Zeit des Dareios I. gehabt und jedenfalls hat bereits Herodot. I 181–183 in sehr nüchterner und von aller Phantasterei der Späteren freier Weise über Ch. genannte Priester des babylonischen Bêl-Marduk Bericht erstattet. Möglich, dass der Name zunächst von Babyloniern und Ch. gebraucht wurde und dann nach und nach speciell die Priester [2056] als die eigentlichen Träger der alten babylonischen, jetzt chaldaeisch genannten Kultur zu bezeichnen begann.

Aber auch völlig oder doch wesentlich unvermischt mit dem altbabylonischen Bevölkerungselement erhielten sich Ch. die ganze Zeit der persischen Herrschaft hindurch und bis tief in die hellenistische Zeit hinein. Die Bewohner der blühenden Handelsstadt Gerrha bewahrten nach Strab. XVI 766 noch lange die Erinnerung an ihre Abstammung von Χαλδαῖοι φυγάδες ἐκ Βαβυλῶνος, und gleichzeitig wurden auch im eigentlichen Babylonien Βαβυλώνιοι καὶ τὸ τῶν Χαλδαίων ἔθνος (Strab. XVI 765) sowie eine vorzugsweise von Ch. bewohnte Landschaft unterschieden (Strab. XVI 739), die in den Sumpfgebieten gegen die arabische Wüste hin zu suchen ist (vgl. Strab. XVI 767 und die chaldaici lacus bei Plin. n. h. VI 130. 134). In Babylon selbst fühlten sich Männer wie Berosos offenbar auch ethnisch mit Stolz als Ch. Cicero (de divin. I 2) scheint etwas von einer zur natio Assyriorum gehörigen gens Chaldaeorum zu wissen, die den priesterlichen Ch. den Namen gegeben hätte. Wenn endlich – allerdings unter dem Banne irriger griechischer Vorstellungen – Plin. n. h. VI 123 Babylon, Sippar und Uruk, Strab. XVI 739 Uruk und das auch bei Steph. Byz. s. v. eine πόλις Χαλδαίων genannte Borsippa, als Hauptsitze chaldaeischer Wissenschaft bezeichnen, so deutet vielleicht auch dies auf eine dunkle Kunde von längerem Fortbestehen eines selbständigen chaldaeischen Bevölkerungselementes an diesen Orten hin.

Im grossen und ganzen fehlte der hellenistischen Litteratur allerdings die richtige ethnische Vorstellung von einem Volke der Ch., da das Werk des Berosos, aus dem sie leicht zu gewinnen gewesen wäre, vorläufig nur in den Kreisen des hellenistischen Judentums zahlreiche Leser gefunden zu haben scheint. Ob Aristoteles sie besass, lässt sich aus den Worten des Arabers al-Masʿūdīū, Kitâb al-tanbīh wal-ischrâf (Bibl. Geogr. Arab. ed. de Goeje VII) 78 (vgl. Baumstark Philologisch-historische Beiträge, Wachsmuth überreicht, Leipzig 1897, 145f.) über die Erwähnung der Ch. in den πολιτεῖαι nicht mit Sicherheit entnehmen. Die Masse wusste jedenfalls nur von den priesterlichen Ch. Echt griechische ,Lust zu fabulieren‘ schmückte das Bild derselben rasch auf das phantastischste aus, und die den Griechen überall, wo es sich um Geschichte der ,Barbaren‘ handelt, eigene naive Anistoresie übertrug dieses Bild, das zum grossen Teile die eigene Phantasie eben erst geschaffen hatte, mit beinahe kindischer Leichtfertigkeit in die fernsten Perioden altorientalischer Geschichte. In die Zeit des neubabylonischen Reiches (so in der Belesysgeschichte bei Diod. II 24–28 und Nikol. v. Dam. frg. 9 und unter hellenistischem Einfluss sowohl im hebraeisch-aramaeischen Danielbuche als – hier allerdings ohne Nennung des Namens – in der griechischen Apokryphe von Bel und dem Drachen, Daniel [LXX] 14), der assyrischen Herrschaft (so Ps.-Aristoteles ἐν τῷ μαγικῷ [frg. 30] und Sotion ἐν κγ τῆς διαδοχῆς bei Diog. Laert. prooem. 6. Strab. XVI 762), ja in die sagenhafte Urzeit Mesopotamiens (so in der Gilgamosgeschichte bei Ael. de nat. an. [2057] XII 21) wurde es dieser Art rückprojiciert. Mit den üppigsten Lügen ging natürlich Ktesias bereits allen späteren voran. Aus seinen Nachrichten über die Ch. ist einiges bei Diod. I 28. 81 durch Vermittlung des Hekataios von Abdera, anderes zusammen mit kleitarcheïschen Notizen bei Diod. II 29–31 durch Vermittlung des Agatharchides erhalten. Mit Belos sollten die Ch. aus Ägypten nach Mesopotamien ausgewandert sein; von ihm nach dem Muster der ägyptischen Priesterschaft als ἱερεῖς ἀτελεῖς καὶ πάσης λειτουργιάς ἀπολελυμένοι bestallt, sollen sie, priesterliche Philosophen aller göttlichen und menschlichen Wissenschaft kundig, ihre Würde und ihre Gelehrsamkeit durch Jahrhunderte vom Vater auf den Sohn vererben. Wie unglücklicherweise auf so vielen Gebieten der altorientalischen Geschichte, ist auch hier die ktesianische Darstellung massgebend geworden und geblieben. Die Ch. standen ein für allemal mit Magiern, Brahmanen, Druiden in derselben Reihe, als ein sich märchenhafter Allerweltsweisheit erfreuendes Geschlecht priesterlicher Philosophen und Zauberer (γένος μάγων πάντα γιγνωσκόντων Hesych.).

Die abergläubische Hochachtung der Griechen für chaldaeische Weisheit wussten dann bald genug orientalische Speculanten gewinnbringend zu missbrauchen. Auf griechische Leichtgläubigkeit rechnend, tauchten aller Orten wirklich Ch. auf, wie sie die Litteratur seit Ktesias vorstellte. Schon Eudoxos von Knidos hatte vor chaldaeischer Horoskoptechnik zu warnen (Luc. de divin. II 87) und Theopompos oder Philochoros konnte gar auf den Gedanken kommen, Ch. in Athen bereits dem Vater des Euripides die Dichterlorbeeren seines Neugeborenen vorhersagen zu lassen (Gell. XV 20, 2). Neanthes von Kyzikos kannte Ch. in Tyros, wo Pythagoras ihr Schüler gewesen sein sollte (Porphyr. v. Pythag. 1). Andere liessen den Demokritos in Persien die Weisheit der Ch. hören (Diog. Laert. IX 7, 2). Man sieht, Leute, die sich Ch. nannten oder chaldaeischer Geheimlehre rühmten, fanden sich schon in aller Herren Ländern.

VI. Parthische und nachparthische Zeit. Die Zeit der parthischen Herrschaft sah jedenfalls auch die letzten Nachkommen der Ch., die noch ein eigentümliches Volkstum bewahrt hatten, sich mit den Nachkommen der Altbabylonier zu einer unlöslichen ethnischen Einheit verbinden. Neue Mischungselemente kamen hinzu, Iranier, Syrer, auch Araber, die schon lange vor der mohammedanischen Bewegung wie einst die Ch. und die Aramaeer zunächst als Nomaden von Süden und Südwesten her in das Land an Euphrat und Tigris einzudringen begannen. Auch die Reste altmesopotamischer Kultur wurden immer mehr entstellt oder mit griechischen und iranischen Gedanken und Vorstellungen durchsetzt. Der gemeinsame Planetenkult war das einigende religiöse Band. Theurgische und astrologische Wissenschaft und Praxis standen mit ihm in engster Verbindung. Daneben entwickelte sich ein vorzüglicher Nährboden für gnostische Systeme, wie andererseits auch wieder jüdisches, christliches, manichaeisches Wesen auf dasjenige der neuen mesopotamischen Mischbevölkerung zurückwirkte. Nach wie vor scheint diese den Namen der Ch. auf sich angewendet zu haben oder [2058] doch von Anderen mit ihm bezeichnet worden zu sein, wie denn auch dunkle Erinnerungen an die einstige Grösse assyrischer und babylonischer Vorzeit noch lange rege geblieben und mit einem gewissen stolzen Hochgefühl heilig gehalten worden sein mögen.

Diese Verhältnisse überdauerten noch die Zeit des Sassanidenreiches. Ja noch unter dem abbasidischen Chalifat konnten die mohammedanischen Araber mit neugierigem Interesse auf die angeblich uralte Kultur dieser Ps.-Ch. blicken. Auch ihr superstitiöses Staunen, wie einst das der Griechen, reizte findige Köpfe zu leichtem Betruge. Dieser nahm jetzt vorzüglich die Form litterarischer Fälschung an. Zahlreiche angebliche Übersetzungen uralter babylonischer Schriftwerke und Berichte über chaldaeische Religion und Wissenschaft in arabischer Sprache wurden auf den Markt gebracht. Namentlich war es ein gewisser Ibn Wahschija, angeblicher Nachkomme Sanheribs, der diese literarische Fabrication in grossem Stile betrieb (vgl. Ibn al-Nadîm, Kitâb al-fihrist ed. Flügel I 311f. 245. 353. 358). Wirkliche Überlieferung und frecher Schwindel mögen sich in dieser Litteratur seltsam gemischt haben, von der wir noch etliche Proben (z. B. das Buch über die ,nabataeische‘ Landwirtschaft) besitzen. Ehe die altbabylonischen Monumente redeten, wohl gelegentlich überschätzt, ist sie noch heute nicht in abschliessender Weise erforscht. Übrigens war es nicht so sehr die Heimat der alten Ch., als vielmehr der aramaeische Nordwesten Mesopotamiens, wo das pseudo-chaldaeische Wesen sich am zähesten erhielt. Hier hielten die von den Arabern häufig ausdrücklich als Ch. bezeichneten Ṣâbier von Ḥarân (dem Κάρραι der Griechen), über die uns neben zahlreichen anderen arabischen Schriftstellern namentlich Ibn al-Nadîm a. a. O. 318–327 und al-Schahrastânî (Religionsparteien und Philosophenschulen II 4–77) leidlich gut unterrichten, dem Islâm gegenüber an Glaube und Brauch der Väter fest. Ihre Gelehrten (voran Thâbit ibn Qurra 826–901) gewannen, neben den bedenklichen ,chaldaeischen‘ Künsten auch griechischer – namentlich mathematischer – Litteratur und Wissenschaft kundig, als Vermittler der letzteren an die mohammedanische Welt an der Seite christlicher Syrer und Perser eine gewisse Bedeutung. Dagegen scheinen die Mandaeer – trotz ihres Beeinflusstseins von altbabylonischen, d. h. im Jargon dieser Spätzeit chaldaeischen Religionselementen – und die Ieziden niemals Ch. genannt worden zu sein.

Je weniger der Name der Ch. im parthischen Osten schliesslich bedeutete, um so häufiger und mit um so superstitiöserer Verehrung wurde er in der griechisch-römischen Welt genannt. Die durch Ktesias und die hellenistische Litteratur geschaffenen Vorstellungen wurden eifrig weitergegeben und fortgebildet, wobei gelegentliche Kunde von der pseudo-chaldaeischen Sternverehrung und Zauberweisheit Mesopotamiens nicht ohne Einfluss gewesen sein wird. Die Ch. galten als die ἐπιχώριοι φιλόσοφοι Babyloniens (Strab. XVI 739; vgl. Ammian. Marc. XXIII 6) und als Schüler (Diog. Laert. proem. 6), auch wohl als Lehrer der Ägypter (Zonar. I p. 34 ed. Bonn.), oder endlich wie die Ägypter als Schüler indischer [2059] Weisheit (Philostr. v. sophist. I 1). Sie sollten ein Alter von mehr als 100 Jahren erreichen und durch Genuss von Gerstenbrot sich ungewöhnliche Schärfe der Augen und der übrigen Sinne erwerben (Ps.-Luc. macrob. 5; vgl. die Chaldaei senes bei Claudian. VIII 147). Neben den Brahmanen wären sie die ersten gewesen, die die Unsterblichkeit der Seele lehrten (Paus. IV 32, 4). Vorzüglich aber schrieb man ihnen Pflege der mathematischen (Porphyr. v. Pythag. 6) und Naturwissenschaften (ebd. 11. 12) zu. Pythagoras (Anton. Diog. ἐν τοῖς ὑπὲρ Θούλν bei Porphyr. v. Pythag. 11. Iambl. v. Pythag. 28 und οἱ πλείους ebd. 6. Suid. s. Πυθαγόρας) und Demokritos (Ael. v. h. IV 20; vgl. Diog. Laert. VIII 3. Suid. s. Δημόκριτος) sollten in diesen ihre Schüler gewesen sein. Man sprach von geschlossenen Schulen und Orden, in denen sie ihre Weisheit tradierten (Strab. XVI 739. Plin. n. h. VI 123). Auch den priesterlichen Charakter, von dem die ganze Sagenbildung ausgegangen war, bewahrten diese märchenhaften Ch. So sollten sie als Lehrer mystischer Theosophie (Iulian. or. V 172 d. Iambl. de myster. III 31), Meister der Kathartik (Anton. Diog. bei Porphyr. v. Pythag. 121) und Propheten (Diog. Laert. prooem. 6) im Sinne griechischer Begeisterungsmantik und Mysterienweisheit wirken. Andererseits knüpfte man sogar den Parsismus an sie an, indem man Zoroastros ihren Schüler gewesen sein liess (Ammian. Marc. XXIII 6). Vor allem wirkten aber Nachrichten über die Blüte der Astrologie und Astronomie unter der sich chaldaeisch nennenden Bevölkerung Mesopotamiens auf die Phantasie der Griechen und Römer ein. Mit gutem Recht galt ihnen ja Babylonien als das klassische Land, ja als die Urheimat der Sternkunde (vgl. z. B. Varro rer. human. lib. bei Gell. III 2, 5. Macrob. sat. I 3 und Strab. XVI 739. Plin. n. h. VII 193. Ps.-Luc. de astrolog. 9. Alex. Aphr. in Metaph. ed. Hayduck 833). Dementsprechend sind nun auch ihre halbmythischen Ch. in aller erster Linie Beobachter des gestirnten Himmels, die ausgezeichnetsten Astrologen und Astronomen der Welt (vgl. z. B. Cic. de fato 15ff. Strab. XVI 739. Diod. II 29. 31. Phil. de migr. Abrah. 15. Senec. quaest. nat. II 32, 6. VII 3, 2f. Colum. XI 2. Ael. de nat. anim. I 22. Alex. Aphr. in Metaph. 832f. Favorin. bei Gell. XIV 1, 8–11. Diog. Laert. prooem. 6. Porphyr, v. Pythag. 6. Clem. Strom. I 74. Iulian. or. IV 156 b. Anthol. V 165. Schol. Il. I 591. Suid. s. Χαλδαῖοι und Ἀδάμ). Man berichtete von bestimmten einzelnen Anschauungen ihrer diesbezüglichen Doctrin (z. B. Plut. de Is. et Os. 48; de anim. procr. in Tim. 31. Macrob. in somn. Scip. I 19) und ihren über Jahrtausende sich erstreckenden Aufzeichnungen astronomischer Beobachtungen (z. B. Diod. II 31. Plut. de nobil. 3. Iambl. de myster. 9, 5).

Der Unfug sich chaldaeisch nennender Wanderpropheten schoss daneben immer üppiger in die Halme. Schon der alte Cato musste auch in Rom vor demselben warnen (de agric. 5). Bereits 139 v. Chr. musste der Senat erstmals das Gelichter solcher Ch. aus der Stadt verweisen (Valer. Max. I 3, 3). Gleichwohl fand man wenig später sogar bei der Leiche eines römischen Consuls ein Χαλδαϊκὸν διάγραμμα (Plut. Mar. 42). Sulla trug kein Bedenken, sich öffentlich zum Glauben an [2060] die Kunst der Ch. zu bekennen (Plut. Sulla 73). Caesar, Pompeius, Crassus erhielten schwindelhafte Weissagungen von ihnen (Cic. de divin. II 99). Im hellsten Lichte hellenistisch-römischer Kultur bildeten sich occultistische Hochschulen von Ch. Bereits Epigenes und Apollonios von Myndos sollten solche besucht haben (Senec. quaest. nat. VII 3, 2f.) und, während Tiberius sich auf Rhodos aufhielt, eignete er sich hier bei einem Thrasyllos die scientia Chaldaeorum artis an (Tac. ann. VI 20). Ch. wurde Synonym von mathematici (Suet. Vitell. 14. Gell. I 9, 6. Sext. Emp. adv. mathem. V p. 728 B.), genethliaci (Gell XIV 1,1), astrologi (Iuv. sat. VI 553f. Sext. Emp. a. a. O.), μάντεις, μαντικοί und χρησμολόγοι (Luc. Hermotim. 6), haruspices, augures, harioli (Cat. de agric. 5) und magi (Tac. ann. XII 22 Claudian. XXI 61. Cod. Theod. IX 6, 4). Vergeblich war alles Schelten der Vernünftigeren wie des Favorinus in seinem von Gell. XIV 1 in Auszuge mitgeteilten Erguss adversus eos, qui Chaldaei appellantur, oder des Sext. Emp. adv mathem. V. Tausende unverschämter Gaukler machten in den ersten Jahrhunderten n. Chr. als Wahrsager (Senec. quaest. nat. VII 28, 2. Tac ann. II 27. XII 52. 68. XIV 9. Iuv. sat. VI 553. Luc. dial. mort. 11, 1; Hermot. 6. Marc. Anton. III 3. Gell. III 10, 9), Kurpfuscher (Luc. Philops. 11f.), Wetterpropheten (Colum. XI 1) und gefällige Ratgeber jedes superstitiösen Gemütes (Apul. met. II 12ff.) unter dem Namen Ch. ihre guten Geschäfte, so dass der Name der einstigen Eroberer Vorderasiens einer billigen Verachtung anheimfiel (Iuv. sat. X 94f. Luc. Hermot. 6). In höchster Blüte stand solch wüstes Treiben ständig am Kaiserhofe und in den Kreisen der römischen Aristokratie (z. B. Tac. III 22. VI 20. XII 22. 52. 68. XIV 9. XVI 14. Plut. Galba 23). In den Provinzen wurde es zur eigentlichen Landplage nach grossen öffentlichen Calamitäten, wenn umherziehende Ch. gewerbsmässig den Aberglauben der erschreckten Bevölkerung ausbeuteten (Philostr. v. Apollon. II 41).

Trotz alledem ging die ethnische Vorstellung in den klassischen Litteraturen nicht völlig unter. Vorzüglich war es die christliche Chronographie, die an der Hand des Alten Testaments und der Berososauszüge des Alexandros Polyhistor wieder einen richtigeren Begriff von dem geschichtlichen Wesen der Ch. gewann. Aber auch, wo von den Ch. als den Erfindern der Astronomie erzählt wird, wie in der εὐρήματα-Litteratur (vgl. Kremmer De catalogis heurematum. Diss. Lips. 1890; zu dem dort verarbeiteten Material nun noch ein syrischer Catalog in cod. Berol. Orient. Petermann 9), bei Porphyr. v. Pythag. 6. Iambl. de v. Pythag. 29 und in den προλεγόμενα τῆς φιλοσοφίας der Schule des Ammonios (vgl. Cramer Anecd. Paris. IV 389–483. Wellmann Galeni, qui fertur, de partibus philosophiae libellus. Progr. Berlin 1882 [nach Olympiodoros] und Severus bar Schakkû bei Ruska Das Quadrivium aus S.s Buch der Dialoge, Diss. 1896, 13f. 44ff. samt einem Anonymus in cod. Vat. syr. 158 [nach Philoponos]) in dem über die Erfindung der vier mathematischen Disciplinen handelnden Abschnitte scheinen die Ch. als Volk, nicht als Priesterkaste gedacht zu sein. Denn einmal stehen neben ihnen die [2061] Ägypter, Thraker und Phoinikier. Zweitens erscheinen in diesem Zusammenhange statt ihrer Babylonier und Assyrer (z. B. Aristot. Metaph. A I 11 p. 981; de cael. β XII p. 292. Cic. de divin. I 2. 93. und in den syrischen Memorialversen bei Payne-Smith Thesaur. lingu. Syr. 382, bezw. Ruska a. a. O. 44). Unverstanden blieb nur die ethnische Verschiedenheit der Ch. von den älteren Babyloniern. Die Ch. sind diesen jüngsten Schichten griechischer Litteratur schlechthin die alten Bewohner des südlichen Mesopotamiens. Von hier ging diese Anschauung zu den auf den griechischen beruhenden syrischen Chronisten über, und die Chaldaeer- d. h. Babyloniergeschichte dieser wurde weiterhin für die arabische Historiographie massgebend, die dann allerdings wieder neue Irrtümer beging, indem sie die Ch. mit Assyriern, Syrern und Nabataeern identifizierte. Vgl. beispielsweise Ibn Chaldûn ed. Bulaq II 68ff. al-Masʿûdî, Kitâb al-tanbîh wal-ischrâf 78f. 94. 184. Hadji Chalifa ed. Bulaq I 23 (nach dem Qâdi Ṣâʿid). Seit dem 16. Jhdt. nennen sich Ch. die mit dem römischen Stuhl in Verbindung getretenen Nestorianer Mesopotamiens, deren Patriarch in Mosul residiert.

VII. Litteratur. Vgl. die Litteraturangaben am Fusse der Artikel Assyria und Babylonia. Ausser dem dort Verzeichneten sind zu nennen Delattre Les Chaldéens jusqu’ à la fondation de l’empire de Nabuchodonosor, Louvain 1889 (ursprünglich ein Aufsatz der Revue des questions scientifiques 1877) und Winckler Die Stellung der Chaldaeer in der Geschichte in Untersuchungen zur altorientalischen Geschichte, Leipzig 1889, 47–64. Noch einiges über die Chaldaeer in Ztschr. f. Assyriologie IV 345–360, bezüglich der ps.-chaldaeischen Litteratur Gutschmids Aufsätze Die nabataeische Landwirtschaft und ihre Geschwister (ZDMG 1860) und War Ibn Wahshijjah ein nabataeischer Herodot? (Berichte d. kgl. sächs. Ges. d. Wissensch. 1867), jetzt in seinen kleinen Schriften III 568–753, bezüglich der Ḥarrânier Chwolsohn Die Ssabier und der Ssabismus. 2 Bde. Petersburg 1856. Die mannigfachen Ch.-Hypothesen früherer Darstellungen der alten Geschichte sind durch die Ergebnisse der assyriologischen Forschung endgültig abgethan.