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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[529]

No. 33.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Ueber Klippen.

Erzählung von Friedrich Friedrich.
(Fortsetzung.)


Auf dem Wege zur Kirche schritt der Oberburgsteiner mit einem älteren Bauer vor Hansel her. Sie gingen langsam, und auch er mäßigte seine Schritte, um an dem Manne, der ihn kaum eines Grußes gewürdigt hatte, nicht vorüber zu gehen.

„Wo ist Deine Moidl?“ fragte der Bauer seinen Begleiter. „Sie ist doch nicht krank?“

„Krank ist sie nicht,“ gab der Oberburgsteiner zur Antwort, und er schien absichtlich laut zu sprechen, damit Hansel die Worte vernehme. „Sie verrichte ihre Andacht oben in der Capelle, denn sie hat viel zu schaffen, um die Aussteuer einzurichten.“

„Ist sie versprochen?“ fragte der Bauer erstaunt.

„Freilich. David hat um sie angehalten, und ich hab’ ihm gesagt, daß es mir recht ist, wenn die Moidl Bäuerin auf dem Unterburgstein wird. Die Sach’ ist abgemacht.“

Das Blut war aus Hansel’s Wangen gewichen, die Kniee schienen ihm den Dienst zu versagen, aber er hielt sich gewaltsam aufrecht.

„Hat die Verschreibung schon stattgefunden?“ forschte der Bauer weiter.

„Wozu braucht’s der Verschreibung, da wir einig sind,“ gab der Oberburgsteiner zur Antwort. „David ist sein eigener Herr, Geschwister hat er nicht abzufinden, und wenn ich sterb’, hab’ ich keine andere Erbin als die Moidl. Es wird eine mächtige Besitzung, wenn die beiden Gehöft in eine Hand kommen.“

„Wann ist Hochzeit?“

„Noch ist der Tag nicht festgesetzt, aber ich denk’ bald, denn der David braucht eine Frau, und die Moidl schafft fleißig an ihrer Einrichtung.“

Hansel wollte vorstürzen und dem Oberburgsteiner in’s Gesicht rufen, er lüge, denn die Moidl könne nimmermehr das Weib David’s werden. Er beherrschte sich indessen. Seine Brust rang nach Athem. Er trat auf einen Weg, der seitwärts auf’s Feld führte. Hastig eilte er weiter, nur um Niemand zu begegnen, der ihm hätte entgegenrufen können: „Weißt Du schon, daß die Moidl des David’s Weib wird?“

Er langte am Flusse an, der sich im Thale hinzog, er hörte das Rauschen des Wehres, und es klang ihm, als ob Welle der Welle zurief: „sie wird des Unterburgsteiner’s Weib!“

Hätte er nur einmal laut aufschreien können vor Schmerz und Weh! Aber die Kehle war ihm zugeschnürt, und es war ihm, als ob er ersticken müßte.

Er ließ sich auf einen Stein nieder und blickte starr vor sich hin.

„Weshalb hat sie Dir das angethan?“ rief es in ihm. Sein Leben würde er hingegeben haben für sie, um sie zu erringen, würde er gearbeitet haben, so lange er den Arm rühren konnte – jetzt war all seine Hoffnung dahin.

Tolle Gedanken fuhren ihm durch den Kopf hin. Noch an diesem Tage wollte er das Thal für immer verlassen, denn als des Unterburgsteiner’s Weib konnte er sie nimmer sehen. Er dachte nicht daran, was aus ihm wurde – es war ihm gleichgültig. Er brauchte ja nur wieder unter die Soldaten zu gehen, der Oberst, dem er das Leben gerettet, nahm ihn sicherlich gern wieder auf.

Dieser Entschluß reifte mehr und mehr in ihm, selbst der Gedanke an seine Eltern brachte denselben nicht zum Wanken.

Er erhob sich langsam, um ihn zur Ausführung zu bringen; Lebewohl brauchte er Niemand zu sagen, denn er wollte nie zurückkehren.

Unwillkürlich erhob er den Blick. Hoch oben am Berge lag der Oberburgstein so frei und keck. Die Sonne beleuchtete ihn hell, als ab sie ihm denselben noch einmal in vollem Glanze zeigen wolle.

Er zuckte zusammen – ein Gedanke schoß in ihm auf. Wußte er denn, ob der Oberburgsteiner die Wahrheit gesagt hatte? Mochte David bei ihm um die Hand seiner Tochter geworben, mochte er ihm dieselbe zugesichert haben, das Alles kümmerte ihn nicht, wenn die Moidl nicht eingewilligt hatte, und daß sie dies nicht gethan habe, glaubte er fest.

Er hätte sich vor die Stirn schlagen mögen, weil er an ihr verzweifelt! Sie konnte ihn nicht aufgeben, wie er sie nicht aufgab. Tief athmete seine Brust auf, was sie zusammen gepreßt, war mit einem Male zersprungen. Ein lauter Juchzer entrang sich seiner Brust, er glaubte zu fühlen, wie neue Kraft seine Muskeln schwellte, und sie wollte er einsetzen, seine Geliebte zu erringen.

Sein Auge blickte sich suchend um. Wenn jetzt der Unterburgsteiner ihm entgegen getreten wäre, um mit ihm zu raufen! Zehnmal würde er die große Gestalt geworfen haben.

Mit Blindheit war er geschlagen gewesen. Fast jeden Abend bis spät in die Nacht hinein hatte er auf dem Oberburgstein ein schwaches Licht schimmern sehen. Daß es nicht aus der Stube des Bauers drang, wußte er, denn der legte sich zeitig zur Ruhe. Er hatte befürchtet, daß die Moidl krank sei, aber sie war gesund, und jetzt mit einem Male wußte er, was das Licht bedeutete.

[530] Aus ihrer Kummer drang dasselbe, weil sie nicht schlafen konnte, sie hatte vielleicht einen schweren Kampf mit dem harten Kopfe ihres Vaters zu bestehen.

Neuer Muth erfüllte ihn. Er riß den Hut vom Kopfe und schwenkte ihn grüßend zu dem Oberburgstein hinauf. Dann schritt er auf demselben Wege zurück. Aus der Kirche tönte der Klang der Orgel zu ihm, aber er war zu erregt, um in die Messe zu gehen, er konnte jetzt nicht unter die Menschen treten. Wäre die Kirche leer gewesen, dann würde er hinein gegangen sein und ein „Vaterunser“ gebetet haben.

Er ging in’s Wirthshaus. Hastig trank er von dem gebrachten Weine, er wollte den Muth, der seine Brust erfüllte, festhalten.

Nach kurzer Zeit kamen seine Freunde aus der Messe und erstaunt fragten sie ihn, weshalb er derselben nicht auch beigewohnt habe.

„Ich hab’ mich verspätet – das mach’ ich mit meinem eigenen Gewissen aus!“ rief er lachend.

„Hansel, weißt Du, daß der David um die Moidl angehalten hat?“ sprach Franz Steger zu ihm.

„Ich weiß es,“ entgegnete Hansel. „Der Oberburgsteiner hat es auf dem Kirchwege laut erzählt.“

„Und das läßt Dich so ruhig?“

„Kann ich es hindern?“

„Ich glaubte, Du hättest die Moidl gern gehabt. Für den David ist sie zu gut.“

Das Blut schoß in die Wangen des jungen Burschen, und er mußte alle Kraft zusammenraffen, um sein Herz nicht zu verrathen.

„Für mich liegt der Oberburgstein viel zu hoch,“ entgegnete Hansel mit leichtem Achselzucken. „Ich hab’ den Weg gescheut, weil ich weiß, daß ich dem Bauer doch zu gering bin. Der David ist reich.“

„Ich gönne ihm das Mädchen nicht,“ fuhr der Steger fort. „Wird auch das Gehöft dort oben sein Eigenthum, dann kennt er sich noch weniger in seinem Stolze aus. Er glaubt schon jetzt, Alle beherrschen zu können.“

Hansel lachte.

„Wenn die Moidl damit einverstanden ist, dann hat Niemand ein Recht, etwas zu sagen,“ rief er. „Nun setz’ Dich und trink! Haha! Wenn der Unterburgsteiner sich die Hochzeitsjoppe nur nicht zu früh machen läßt!“

Bis zum Nachmittage blieb Hansel mit seinen Freunden zusammen. Sie hatten ihn noch nicht so lustig gesehen. Dann stieg er zu dem Gehöft seines Vaters hinauf.

Der Abend brach herein. Seine Eltern begaben sich zeitig zur Ruhe, und auch er ging auf seine Kammer. An dem Fenster saß er und blickte hinüber zum Oberburgstein. Das Licht, welches er dort schon manchen Abend bemerkt hatte, schimmerte auch jetzt durch das Dunkel der Nacht. Vorsichtig, leise verließ er seine Kammer und das Haus. Der Himmel war klar, und der Schnee erhellte ihm den Weg. In hastigen Sprüngen eilte er thalabwärts und auf wenig betretenem Pfade stieg er zum Oberburgstein empor. Es war ein weiter, beschwerlicher und zur Nachtzeit gefährlicher Weg, in zwei Stunden konnte ein geübter Steiger ihn nicht zurücklegen, er dachte indessen nicht an die Zeit und noch weniger an die Gefahr.

Wohl rang bei dem schnellen Aufstiege seine Brust nach Athem, seine Muskeln zitterten vor Anstrengung, und der Schweiß rann ihm von der Stirn, aber es war nicht die Anstrengung allein, sondern die freudige Erregung, welche sein Blut so schnell durch die Adern trieb.

Er langte auf dem Oberburgstein an. Es war still dort oben. Nur mit leisem Rauschen zog der Wind durch die Kiefern hin. Vorsichtig näherte er sich dem Hause, und es jauchzte in ihm auf, als er den Lichtschimmer in Moidl’s Kammer noch bemerkte. Ob sie noch wachte? Er trat näher. Seine Hand griff in den Schnee und ballte ihn zusammen, vorsichtig warf er ihn an das Fenster. Eine Gestalt tauchte hinter demselben auf – es war Moidl. Leise öffnete sie das Fenster.

„Hansel, bist Du es?“ rief sie leise herab.

„Ja, Moidl,“ entgegnete der Glückliche.

„Warte, ich komme – bleib’ dort stehen, daß mein Vater Dich nicht hört.“

Wenige Minuten später trat das Mädchen aus dem Hause.

„Ich wußte, daß Du kommen müssest,“ sprach sie, als Hansel ihr entgegen eilte und sie in seine Arme schloß.

Sie entzog sich ihm nicht, sie ließ es geschehen, daß er sie küßte. Daß sie einander liebten, wußten sie seit Jahren, ohne daß sie es sich gestanden hatten.

„Du bist erhitzt,“ sprach Moidl, „in das Haus darf ich Dich nicht führen, komm zu der Capelle, dort sind wir gegen den Wind geschützt.“

Hansel fühlte es gar nicht, daß er warm geworden war. Sein Herz schlug so frendig und schnell. Auf’s Neue preßte er das Mädchen an sich.

„Nun fürcht’ ich nichts mehr!“ rief er, während sie zu der Capelle schritten.

„Was hast Du befürchtet?“ fragte Moidl.

„Daß Du das Weib des Unterburgsteiners werden könntest. Ich hörte, wie Dein Vater heute auf dem Kirchgange erzählte, daß Du mit ihm versprochen seiest und an Deiner Aussteuer schaffest. Es hat mir eine böse – böse Stunde bereitet.“

Sie waren an der Capelle angelangt und ließen sich auf der Steinstufe nieder, wo sie gegen den Luftzug geschützt waren.

„Und das hast Du geglaubt? So wenig hast auf mich vertraut?“ warf das Mädchen ein und aus ihrer Stimme klang es wie ein leiser Vorwurf.

„Moidl, es ist nicht wahr?“ rief Hansel. „David hat nicht um Deine Hand angehalten?“

„Er hat es gethan, mein Vater hat ihm auch sein Wort gegeben, aber hier vor dem Gottesbild hab’ ich geschworen, daß ich nie die Seinige werde, und ich hab’ ihm dies gesagt.“

„Moidl – Moidl,“ unterbrach sie Hansel, indem er sie mit beiden Armen umschloß. „Mein sollst Du werden! Ich bin arm, aber ich will arbeiten Tag und Nacht, um mich empor zu bringen, und ich weiß, daß es mir gelingen wird! Nun ich weiß, daß Dein Herz mir gehört, fürcht’ ich nichts mehr, harre nur aus.“

„Ich harre aus,“ versicherte das Mädchen; „ich hätt’ es ja gethan, auch wenn Du nicht gekommen wärst. Ich hab’ schwere Tage durchlebt und Schweres steht mir noch bevor,“ fuhr sie fort, indem sie den Kopf weinend an seiner Brust barg. „Mein Vater hat einen festen und herben Sinn, der giebt nicht nach. Er hat mir gesagt, wenn ich je wieder in das Thal steigen woll’, so führe mein Weg nur über den Unterburgstein, aber den Weg schlag’ ich nimmer ein, lieber stürz’ ich mich vom Felsen hinab.“

„Moidl, sprich nicht so!“ fiel Hansel ein. „Wenn Du nicht in’s Thal kommen sollst, dann komm ich zu Dir – jeden Abend. Harre nur aus.“

„Der Weg ist zu weit und zu beschwerlich,“ warf das Mädchen ein.

„Und wenn er zehnmal so weit wär’, ich käm’ doch!“ fuhr Hansel fort. „Sieh, wenn Dein Vater gewahr wird, daß sein harter Sinn nichts ausrichtet, dann wird er ihn doch ändern.“

„Er ändert ihn nicht.“

„Nun, die Erd’ ist groß, und ich weiß, daß wir auch anderwärts durchkommen.“

„David kommt fast jeden Tag und beräth mit meinem Vater, ich weich’ ihm aus,“ sprach das Mädchen. „Er haßt Dich und hat einen gewaltthätigen Sinn; wenn er gewahr wird, daß Du zu mir kommst, so leb’ ich um Dich in Angst.“

„Ich fürchte ihn nicht,“ gab Hansel heiter zur Antwort. „Er weicht mir aus, seitdem ich ihn beim Raufen geworfen hab’, denn er weiß, daß ich ihm gewachsen bin.“

„Er hat einen tückischen Sinn.“

„Hab’ keine Sorge,“ suchte Hansel die Geliebte zu beruhigen. „Ich kenn hier jeden Stein und Felsen, und mein Auge sieht auch zur Nachtzeit scharf. Morgen komm’ ich wieder um dieselbe Zeit, dann schläft Dein Vater wie der David. Das Licht aus Deiner Kammer soll mir das Zeichen sein, daß es hier oben gut steht und Du mich erwartest, und es kann uns nicht verrathen, denn der Unterburgsteiner vermag es nicht zu sehen. Nun harre aus und nimm den harten Sinn Deines Vaters Dir nicht zu sehr zu Herzen, zwingen kann er Dich nicht, und ich geb’ Dich nicht auf, und wenn mir das ganze Thal als Eigenthum verheißen würde.“

Die beiden Liebenden trennten sich, und glücklich kehrte Hansel heim.




[531] Die beiden glücklichen jungen Menschen trafen sich manche Nacht unter einem überhängenden Felsen in der Nähe des Oberburgsteins. Dort waren sie gegen Wind und Wetter geschützt und goldene Pläne der Zukunft bauten sie dort auf.

Die Moidl trat jetzt der Härte ihres Vaters mit größerer Ruhe entgegen. Sie ertrug es, daß er kein freundliches Wort mit ihr redete; es war ihr sogar lieb, daß er ihr untersagte, Sonntags in’s Thal zur Messe zu gehen. Ihre Wangen, welche blaß geworden waren, färbten sich sogar wieder.

Der Bauer täuschte sich über ihre Ruhe.

„Ihr Kopf wird endlich zur Vernunft kommen,“ sprach er zu David, der fast jeden Tag zu ihm kam. „Der Eine braucht längere Zeit als der Andere, um zu erkennen, was zu seinem Glücke ist; man muß Jedem seine Zeit gönnen.“

„Es ärgert mich, wenn die Bauern mich fragen, wann meine Hochzeit sei, und ich’s nicht sagen kann,“ warf David ein.

„Bist doch früher nie um eine Antwort verlegen gewesen! Sag’ ihnen, genau an dem Tage, an welchem Du die Moidl als Bäuerin auf dem Unterburgstein einführest, dann mögen sie es ausrechnen! Den Kopf darfst Du freilich nicht hängen lassen, das bringt die Leute auf falsche Gedanken. Du hast mein Wort, das laß Dir genügen.“

Und David beruhigte sich, so schwer es ihm auch wurde, seine Wünsche hinauszuschieben.

Eines Tages saß die Moidl allein im Zimmer. David war nicht gekommen und ihr Vater war in den Wald gegangen, um nach den Holzknechten zu sehen. Sie dachte an den Hansel, und seit langer Zeit sang sie zum ersten Male wieder ein Lied. Da wurde die Thür geöffnet und die große Gestalt des Unterburgsteiners trat ein.

Des Mädchens Mund verstummte sofort, das Blut wich aus ihren Wangen.

„Weshalb singst nicht weiter?“ fragte David näher tretend.

„Ich sing’ nur für mich und nicht für Andere,“ entgegnete Moidl, ohne aufzublicken.

Die große Gestalt schwieg einen Augenblick und schien nach einem andren Anknüpfungspunkte zu suchen.

„Moidl, ich hab’ in meinem Hause Vieles neu herrichten lassen, willst Dir’s nicht einmal anschauen?“ fuhr er dann fort.

„Wozu? Ich bin nicht so neugierig.“

„Ich meine, es könnt’ Dir nicht ganz gleichgültig sein.“

„Doch, es ist mir gleichgültig. Du kannst in Deinem Hause vornehmen, was Du willst.“

„Da Du doch auch darin wohnen wirst, wär’s mir lieb, wenn ich Deinen Geschmack getroffen hätt’,“ sprach David.

„Ich darin wohnen?“ wiederholte die Moidl, indem sie langsam aufblickte. „Dein Gedächtniß scheint kurz zu sein, sonst würdest Du nicht vergessen haben, was ich Dir gesagt.“

„Es konnte Dein Ernst nicht sein.“

„Es ist mein Ernst; mit Dir habe ich nie gespaßt.“

Der Unterburgsteiner trat näher.

„Ich mein’ es so gut mit Dir,“ sprach er und erfaßte des Mädchens Hand.

Hastig entzog Moidl ihm dieselbe und sprang auf.

„Rühr’ mich nicht an!“ rief sie hastig, drohend.

„Und wenn ich’s dennoch thät?“ entgegnete David lachend und streckte den Arm nach ihr aus, als ob er sie umfangen wolle.

Das Mädchen sprang zurück und erfaßte ein auf dem Tische liegendes Messer.

„Versuch es!“ rief sie und blickte ihn unerschrocken an.

David preßte erbittert die Lippen auf einander. Das Messer würde er nicht gefürchtet haben, der Widerstand des Mädchens erzürnte ihn, denn derselbe zeigte ihm deutlich genug, wie wenig Hoffnung er habe.

„Du mußt Dich dennoch fügen!“ rief er und verließ das Haus.

Das Mädchen antwortete nicht, regungslos blieb sie stehen, das Auge starr auf die Thür geheftet, als befürchte sie, daß der Verhaßte wieder eintreten könne. Dann entfiel das Messer ihrer Hand und sie sank auf einen Stuhl.

Langsam, finster vor sich hinstarrend stieg der Unterburgsteiner zu seinem Gehöft hinab. Vor wenigen Tagen hatte er gehört, wie lustig Hansel bei der Arbeit sang, er wußte, wie ausgelassen er seit einiger Zeit war, wenn er mit seinen Freunden zusammentraf.

Sollten die Beiden so lustig sein, wenn sie nicht mit sich einig waren und sich öfter trafen? Je mehr er darüber nachsann, um so mehr gestaltete sich diese Vermuthung bei ihm zur Gewißheit. Und nur dort oben konnten sie sich treffen; denn der Bauer gestattete nicht, daß das Mädchen den Oberburgstein verließ.

Drohend streckte er die Hand zu dem Gehöft des Haidacher hinüber, fest entschlossen, sich volle Gewißheit darüber zu verschaffen. –

Hansel war so lustig, als er nur sein konnte. Moidl’s Herz gehörte ihm, die Arbeit machte ihm Freude, zumal da er sah, wie sie mit jedem Tage weiter rückte. Und in das Hauswesen seines Vaters war durch ihn auch eine strengere Ordnung gekommen. Für das Geld, welches er mit aus Wien gebracht, hatte er Korn und Futter für die Kühe gekauft, da brauchte er für den Lebensunterhalt nicht mehr besorgt zu sein.

War sein Geld für den Wein knapp geworden, dann wandte er einen Tag daran, um auf die Gemsjagd zu gehen, und auch da war ihm das Glück günstig. Er kannte die Berge und nahen Alpenkämme von Jugend auf, sein Auge war schwindelfrei und seine Sehnen waren gestählt.

Monatelang hatte er die Geliebte jede Woche mehrere Male besucht, ohne daß ihm der geringste Unfall auf den beschwerlichen Wegen begegnet war. Der Schneefall war freilich nur ein geringer gewesen.

Wieder stieg er eines Abends spät zu dem Oberburgstein empor. Mehr als die Hälfte des Weges hatte er bereits zurückgelegt. Als er durch den Wald hinschritt, löste sich plötzlich oberhalb des Wegs ein Stein und gerieth in’s Rollen. Schnell sprang er hinter einen Baum.

Sein scharfes, an die Nacht gewöhntes Auge nahm in einer Entfernung von zwanzig bis dreißig Schritten eine Gestalt wahr, welche hastig davon eilte. Es war eine große Gestalt, ihr Tritt war ein schwerer.

Nicht einen Augenblick lang war er in Zweifel – der Davoneilende war David. Besorgt schritt er weiter. Er fürchtete sich nicht, ihn peinigte nur der Gedanke, daß der Unterburgsteiner sein Zusammentreffen mit Moidl und seinen Weg entdeckt hatte. Es mußte ihm verrathen sein. Wäre derselbe vom Oberburgstein gekommen, so würde er nicht geflohen sein, er hatte ihn beobachtet, das unterlag keinem Zweifel.

Er verrieth der Geliebten von der Begegnung nichts, um sie nicht zu ängstigen. Aber er kehrte auf einem anderen Wege zurück, denn er traute der Tücke seines Gegners das Schlimmste zu. –

Hansel hatte sich nicht getäuscht, es war David gewesen, der ihn belauscht.

Wüthend kehrte der Unterburgsteiner zu seinem Gehöft zurück; seine Vermuthung war zur Gewißheit geworden, der Welsche traf sich mit Moidl während der Nachtzeit. Unsagbare Erbitterung erfüllte ihn. Das Mädchen zog den Welschen ihm, dem reichsten Bauer, vor.

Ohne Ruhe wälzte er sich auf seinem Lager. Es lag in seiner Hand, die Zusammenkünfte für lange Zeit zu stören, er brauchte nur den Oberburgsteiner davon in Kenntniß zu setzen. Das genügte seinem Hasse nicht. Konnte der Welsche nicht neue Wege ersinnen, um mit dem Mädchen zusammenzutreffen? Und selbst wenn ihm dies nicht gelang, hörte die Moidl darum auf, ihn zu lieben?

Es gab nur ein Mittel, den Verhaßten aus dem Herzen des Mädchens zu verdrängen – den Tod! Wenn ihr keine Hoffnung mehr blieb, dann wurde ihr Herz vielleicht gefügiger.

An diesem Gedanken hielt er fest, und immer tiefere Wurzeln schlug derselbe in ihm. All sein Sinnen war während der Nacht und am folgenden Tage darauf gerichtet, wie er den Verhaßten aus dem Wege schaffen könne. Zwanzig Möglichkeiten stiegen in ihm auf, aber keine genügte ihm.

Er würde kein Geld gescheut haben, um eine fremde Hand zu dem Verbrechen zu dingen, aber konnte diese Hand nicht einst als Zeuge gegen ihn auftreten? Er konnte abwarten, bis der Verhaßte wieder auf die Gemsjagd ging, konnte ihm folgen und ihm oben auf einsamem Felskamm eine Kugel in’s Herz senden. [532] Aber konnte nicht doch der Zufall einen Zeugen herbeiführen? Konnte er ungesehen in die Berge steigen und ungesehen zurückkehren?

Seine That paßte nicht für das Tageslicht. Nur in dem Dunkel der Nacht konnte sie ausgeführt werden, da hatte er keine Zeugen zu befürchten, denn die Felsen und die Bäume konnten nicht reden.

Mit einer dämonischen Macht hatte dieser Gedanke ihn erfaßt und ließ ihn nicht wieder los. Der Haß machte ihn blind. Er glaubte Alles so klug zu beginnen, daß ihn nicht einmal ein Verdacht treffen könne. Und wenn dies wirklich der Fall war – wer konnte gegen ihn auftreten? Die Nacht war seine Beschützerin.

Nach wie vor stieg er jeden Tag zum Oberburgstein empor und zwang sich, möglichst unbefangen und heiter zu erscheinen. Wenn aber des Abends seine Knechte und Mägde schliefen, verließ er heimlich mit der Büchse sein Gehöft und legte sich im Walde hinter einem Felsen auf die Lauer.

Manche Stunde und manche Nacht lag er dort, er wechselte den Ort, ohne daß er den Verhaßten ein einziges Mal traf. Es unterlag für ihn keinem Zweifel, daß derselbe einen andern Weg einschlug, um mit der Moidl zusammen zu treffen.

David’s großer Körper war trotz all seiner Stärke solchen Aufregungen und Beschwerden nicht gewachsen. Sein ganzes bisheriges Leben hatte sich in engen Grenzen bewegt. Er war abgespannt, und je mehr diese Abspannung wuchs, um so fester hielt er den einmal gefaßten Gedanken. Daß er nur durch den Tod des Welschen in den Besitz des Mädchens gelangen könne, war bei ihm zur fixen Idee geworden.

Wo sollte er Hansel’s Spur suchen, da durch die Holzknechte und Waldarbeiter viele Wege getreten waren?

Ein frischer Schneefall kam ihm zu Hülfe. Es schneite zwei Tage lang und eine dichte, weiße Hülle lag auf den Bergen ringsum. Er kannte Hansel zu gut, um sich nicht zu sagen, daß sich derselbe dadurch nicht werde zurückschrecken lassen, aber in dem Schnee mußte er die Spur seiner Füße zurücklassen, und er wandte einen Tag daran, diese Spur aufzusuchen. Wohl lief er selbst Gefahr dabei, aber es gelang ihm, das Gesuchte zu finden, und mit Bestimmtheit glaubte er die Tritte des Welschen zu erkennen. Er verfolgte sie. Auf weitem Umwege umgingen sie seine Besitzung und führten zum Oberburgstein. Unter einem überhängenden Felsen verloren sie sich. Er forschte weiter und entdeckte an der anderen Seite die Spuren kleinerer Füße – sie rührten von Moidl her.

In wilder Freude hätte er aufjauchzen mögen. Hier trafen sie sich also! Auf dem Steine vor ihm saßen sie und hielten sich umschlungen. Erbittert und zitternd vor Wuth lachte er auf. Wie oft sie sich hier wohl noch treffen würden?

Auf demselben Wege kehrte er zurück, um seine eigenen Fußspuren zu vernichten. –

(Fortsetzung folgt.)




Einweihung der neuen Tells-Capelle.

Die Ueberzeugung des Schweizervolkes, mit Ausnahme der Historiker und einer Anzahl sonst wissenschaftlich Gebildeter, von der stricten Wahrheit der Erzählungen von Tell und dem Rütlibund ist sicher nicht minder fest, wie es die der alten Griechen von der Existenz ihres Herakles und Theseus und der Römer von Romulus und Remus nur immer sein konnte. Dies hat denn auch das soeben gefeierte Fest der Einweihung unserer neuen Tells-Capelle bewiesen, welche an der Stelle ihrer baufälligen Vorgängerin errichtet und während der letzten Jahre mit hervorragenden Kunstwerken geschmückt worden ist.

Aus dem bunten und bewegten Leben und Treiben auf dem Platze der schweizerischen Landesausstellung in Zürich, wo die Maschinen mit ihren Rädern und Hämmern schwirren und sausen, rissen wir uns am 24. Juni los, einem herrlichen Sommertage, der für lange anhaltendes Regenwetter in wohlthuender Weise entschädigte und die erschlafften Lebensgeister von Neuem zum Schaffen und Wirken aufweckte.

Lustig brauste der Zug der zukunftsreichen Gotthardbahn zwischen die herrlich grünenden Vorberge und smaragdgrünen Seen der unvergleichlichen Urschweiz hinein und brachte uns über das bald hundertjährige von Trümmern riesiger Felsen bedeckte Grab des Bergsturzes von Goldau in das unmittelbare Angesicht der majestätischen Eisfirnen des Uri-Rothstocks. Es war eine zugleich heitere und feierliche Stimmung, die wir auf dem prächtigen Quai vor dem imposanten „Waldstätterhof“ in Brunnen trafen. Eine ungewöhnliche Anzahl meist festlich schwarzgekleideter Herren, mit weiß und rother Rosette auf der Brust, spazierten unter den schattigen Bäumen herum oder saßen bei einer Erfrischung zusammen und erneuerten alte oder machten neue Bekanntschaften. Es blieb uns aber nur wenig Zeit übrig, diesem Treiben zuzuschauen, denn bald schnaubte der kolossale Salondampfer „Germania“ heran, reich bekränzt und mit den Flaggen der Schweiz und aller ihrer Cantone geschmückt. Die Festgesellschaft bestieg ihn, voran die Abgeordneten der Bundesbehörden und mehrerer Cantone, dann die Mitglieder des Kunstvereins und die Vertreter der Presse. Es war eine wundervolle Fahrt auf dem spiegelklaren See zwischen den steilen, waldigen Anhöhen des Axensteins links und des Seelisbergs rechts; man war so recht im Mittelpunkte des classischen Bodens der Schweiz, und selbst dem Kritiker mußte das Herz sich erheben bei dem Gedanken, daß von diesen Stätten aus die Freiheit des Vaterlandes ihren Anfang genommen hat, mögen auch die Veranlassungen dazu welche nur immer gewesen sein. Die Fahrt war viel zu kurz, um die sich auf ihr darbietenden Wunder der Natur in vollen Zügen zu genießen, und schon nach einer halben Stunde legte der Dampfer an der classischen, wenn auch nur eine Tradition verherrlichenden Tell-Platte an.

Nach der augenscheinlich alterthümlichsten, wenn auch nicht zuerst erschienenen Form der Ueberlieferung, derjenigen des Luzerner Geschichtsschreibers Melchior Ruß, die freilich erst fast zweihundert Jahre nach der Zeit, in welche die Tell-Sage meist verlegt wird, zu Tage trat, wäre die Tellenplatte (deren Name in der ältesten Fassung als eine Orts-, nicht eine Personenbezeichnung erscheint) weit bedeutender als nach der spätern und für die Gläubigen noch jetzt herrschenden Ueberlieferung; denn nach derselben erschoß Tell den Landvogt unmittelbar nach seinem Sprung aus dem Schiffe, von der Platte aus, welche That auch überdies männlicher und würdiger dastände, als die in der „hohlen Gasse“’ bei Küßnacht, einem Orte, an welchem niemals ein „Geßler“ etwas zu thun haben konnte und welcher damals urkundlich erwiesene andere Herren hatte, die niemals Landvögte waren.[1]

Doch was fruchtet all dies? Aegidius Tschudi, Johannes von Müller und der unsterbliche Schiller haben die Sage fixirt, wie sie nun geglaubt wird, und so auch hat sie der wackere Maler Stückelberg aus Basel (vergl. das Portrait auf unserer Illustration) in seinen Fresken mit kräftigen Strichen und patriotisch durchhauchten Farben verewigt.

Die neue Tell-Capelle, fast genau auf der Stelle der alten, ist, wie sich bei ihrer Bestimmung geziemt, einfach und schlicht, aber gefällig und geschmackvoll gebaut. Drei Mauern, gekrönt von einem Ziegeldache und einem schlanken Thürmchen, umschließen sie; die vordere Seite besteht oben aus alterthümlichen sechseckigen Glasscheiben und unten aus einem eisernen Gitter mit zwei Thüren. Zwei diesen entsprechende Rundbogen bestimmen die Eintheilung des Raumes, indem die Hinterwand, auf beiden Seiten des die Mitte einnehmenden Altars, zwei Frescobilder und jede der beiden Seitenwände je ein solches aufnimmt. An der Wand links vom Eingange beschäftigt die überaus reichhaltige Scene nach dem Apfelschuß lange das Auge des Beschauers. Tell steht in stolzer und trotziger Haltung, den „zweiten Pfeil“ drohend in der Hand, vor dem in nachlässig-hochmüthiger Weise zu Pferde sitzenden Geßler, bei ihm mit leuchtenden Blicken der Knabe, dessen gerettetes Leben und zugleich das gefährdete des Gatten die neben ihm knieende Mutter zwischen Freude und Angst schweben macht. Zur Seite setzt ein Scherge bereits die Bande, Tell zu fesseln, in Bereitschaft.

Ferner findet rechts vom Eingange der Rütlischwur seine

[533]

Die neue Tells-Capelle und die Feier auf dem Rütli.
Originalzeichnung von W. Vigier.

[534] Darstellung in äußerst lebenswahren Figuren. Links an der Rückwand sehen wir den Sprung Tell’s auf die Platte, wie er gerade mit bloßem Fuße das Schiff des Landvogts hinausstößt und dieser ebenso umsonst die Faust gegen den Geretteten ballt, wie sein großer Hund ihm nachkläfft. Blitz und Wogenbrandung machen aber jede Annäherung unmöglich. Rechts vom Altar endlich ist der Tod Geßler’s dargestellt, der nach empfangenem Pfeile in die Arme seines Begleiters sinkt, während ein Mönch herbeieilt, den Sterbenden zu trösten, hinten aber Tell mit der Armbrust in kühner Stellung sich zeigt, und vor dem Pferde des Landvogts Schiller’s Armgard aus der dumpfen Verzweiflung der Flehenden in die triumphirende Genugthuung übergeht.

Als der Dampfer an der Platte unter den Klängen der mitfahrenden Musik, dem traulichen Geläute des Glöckleins der Capelle und den nervenerschütternden Mörserschüssen anlegte, begaben sich die leitenden Mitglieder des Kunstvereins nebst den Abgeordneten des Cantons Uri an das Land. Der letztere, dem der Platz der Tellenplatte gehört, hatte den Bau der Capelle, der Kunstverein aber ihre Ausschmückung mit den erwähnten Fresken übernommen, und es handelte sich nun darum, nach Vollendung derselben das fertige Kunstwerk dem Eigenthümer des Platzes zu übergeben.

Dies geschah durch treffliche, vaterländische und tief gefühlte Reden des Architekten Jung aus Winterthur im Namen des Kunstvereins, und des Landammanns Müller im Namen von Uri. Ersterer hob die Idee des so schön vollendeten Werkes hervor, dem Schweizervolke eine Mahnung an seine Treue und Liebe für das Vaterland zu sein und das Andenken an seine tapferen Vorfahren wach zu erhalten, und ließ durch ein weißgekleidetes Mädchen dem in der Mitte zwischen beiden Rednern stehenden sichtlich tief ergriffenen Meister Stückelberg einen prachtvollen Lorbeerkranz mit weiß-rother Schleife überreichen. Landammann Müller dankte darauf mit bewegten Worten dem Kunstverein für seine herrliche Leistung und nahm die Capelle im Namen des Urner Volkes in Empfang.

Es war ein schöner Moment und ein lebensvolles Bild, Die Sprechenden am Ufer, umgeben von zahlreichem Volk aus der Umgegend, Männer, Frauen und Kinder, vor ihnen im See der Dampfer mit den Festgästen, vorne in einer Reihe die „Waibel“ der Behörden in ihren Dreispitzen und den bunten Mänteln mit den Cantonsfarben (vergl. die Figur unten rechts auf unserer Abbildung). Unter dem Gesange eines Männerchores, der sich am Ufer aufgestellt hatte, begaben sich nun alle Festtheilnehmer an dasselbe und füllten die festlich bekränzte Capelle in staunender Bewunderung der vier prächtigen Gemälde, unter deren Figuren keine ist, zu der sich der verdienstvolle Künstler nicht sein Modell aus dem kernigen Volke der Urschweiz gewählt hätte.

Auf der Anhöhe oberhalb der Capelle war eine Festhütte errichtet, mit Guirlanden, Fahnen, Wappen und Inschriften geschmückt. In diese nun begaben sich die Festtheilnehmer zu einem Gabelfrühstück, bei dem Mädchen in alten Schweizertrachten aufwarteten und, nachdem der erste Appetit gestillt war, nach Schweizerart bald der Redestrom sich Bahn brach.

Wenn auch dabei die Vertreter von Uri und Genf es nicht an verhüllten clericalen und radikalen Andeutungen fehlen ließen, so herrschte doch durchweg das Gefühl der Versöhnung streitender Parteigegensätze im Angesichte eines patriotischen Festes vor, und wer schlecht wegkam, das waren nur wir Historiker, obschon man uns unsere kritischen Ketzereien, die man in Toasten eifrig bekämpfte, im persönlichen Verkehr während des Festes keineswegs fühlen ließ, und das aus guten Gründen – konnten ja für die Wahrheit der bezüglichen Ueberlieferungen keine Thatsachen, sondern blos Gefühle geltend gemacht werden! Vielleicht wäre es noch klüger gewesen, den Gegensatz zwischen Tradition und Kritik ganz bei Seite zu lassen, das Fest lediglich als ein patriotisches aufzufassen und die gefeierten Stätten als solche zu betrachten, in denen sich die Idee der Freiheit gewissermaßen localisirt habe! – Daß die Schweizerfreiheit in den Urcantonen ihren Anfang genommen, unterliegt ja keinem Zweifel.

Die Sonne neigte sich dem Westen zu, als der Dampfer unter Musik und Mörserknallen von der Tells-Capelle wieder abfuhr und dem gegenüberliegenden Ufer des Urner See-Arms zusteuerte, das bereits im Schatten seiner hohen Berge ruhte. Hier liegt das Rütli, unterhalb der schwindelnden Felswand von Seelisberg, ein lieblich grüner Wald- und Wiesenabhang, mit einfachen freundlichen Anlagen um ein schlichtes, solides Gasthaus von alter Schweizerart. Hier stieg man aus, den zweiten Act des Festes zu feiern, und er wurde, was die gesprochenen Worte und die allgemeine Stimmung betrifft, zu einem wirklich weihevollen, zum Glanzpunkte des Tages. Auf einem von Bäumen und Gebüsch verborgenen geräumigen Platze stellten sich die Festheilnehmer auf, und die Musik intonirte das jeden Schweizer elektrisch durchzuckende Rütlilied. Hier blieben die antikritischen „Rettungsversuche“ weg, und man fühlte sich nur von patriotischen Gefühlen getragen.

Es war ein schöner Augenblick, als der Vertreter des eifrigst katholischen Urcantons demjenigen des liberalen Bundesraths, dem ehemaligen protestantischen Pfarrer Schenk, herzlich die Hand drückte. Die erhebende Stunde beschloß der radical-demokratische Nationalrath Curti aus Zürich mit einem poetisch durchwehten Gruß an das Volk der Urcantone. Feierlich gestimmt löste sich der Kreis auf, und man erging sich auf, wenngleich nicht urkundlich, doch conventionell classischem Boden, bis die Scheidestunde nahte und in stiller Dämmerungsstunde unter dem Abendgeläute der Glocken des See-Ufers die Rückfahrt nach Brunnen erfolgte, wo im „Waldstätterhof“ das Festmahl und ein lebendes Bild, den Schwur in Rütli darstellend, der Feier einen erhebenden Abschluß verleihen sollte. Langsam verschwand, von den letzten Strahlen der sinkenden Sonne angeglüht, das freundliche rothe Dach der Tells-Capelle hinter den Felsen; auch die Umrisse des Rütli wurden düsterer, und der vom Abendwinde sanft bewegte See zerschlug die Spiegelbilder der hochragenden Berge in phantastische Figuren.

O. Henne am Rhyn.




Die Cholera in Aegypten.

Von Adolf Ebeling.

Schwerer und mitleidswerther ist wohl selten ein Land heimgesucht worden, als in jüngster Zeit Aegypten, das „gesegnete Nilland“, das Alles daran zu setzen scheint, um diesen schönen Titel nicht mehr zu verdienen.

Man vergegenwärtige sich nur kurz die „ägyptischen Plagen“ der letzten Jahre: Ungenügende Nilüberschwemmung und in Folge derselben mangelhaft oder gar nicht bestellte Felder und deshalb geringe Ernten; dazu Pferde- und Rinderseuchen, alsdann Unruhen im Lande, die später zur förmlichen Revolution wurden und die jede Gewerbthätigkeit und alle Handelsverbindungen schädigten, wo nicht ganz hemmten; darauf Krieg und, mit der Beschießung Alexandriens, die Gräuel des massenhaften Raubmordes und der Brandstiftung, alsdann zu den alten noch neue unerschwingliche Steuern an Contributionen und Naturallieferungen aller Art und schließlich, was schwer in die moralische Wage fällt, die bittere Verletzung des Nationalbewußtseins durch die englische Occupation – und jetzt, wo endlich nach so harten Prüfungen bessere Tage anzubrechen schienen, weil man anfing, sich in die Nothwendigkeit zu fügen, und wo Handel und Wandel, einigermaßen wenigstens, wieder aufzublühen begannen, weil mit dem Gefühl der gesicherten Zustände auch das Vertrauen nach und nach zurückkehrte … jetzt ist die schrecklichste aller Geißeln, mit denen der Herr in seinem Zorn die Völker schlägt, über das unglückliche Land hereingebrochen: die Cholera, die furchtbare Schwester der Pest und fast gleich unerbittlich und verheerend wie diese.

Der düstere Todesengel schreitet durch Aegyptenland und schlägt nicht nur, wie einst zu Mosis Zeit, die Erstgeburt, sondern alle ohne Unterschied des Geschlechts, des Alters und des Standes, obwohl in letzter Beziehung, wie stets, so auch hier, die unteren Volksclassen die meisten Opfer liefern. Und diese Opfer zählen bereits jetzt, nach kaum zweimonatlichem Erscheinen der Epidemie, nach Tausenden, und noch immer wird eine erschreckende Zunahme gemeldet.

Dies alles ist übrigens unseren Lesern längst bekannt, denn „Die Cholera in Aegypten“ nimmt ja schon seit vielen Wochen eine stehende Rubrik in den Zeitungen ein, und man erfährt [535] durch tägliche Telegramme alles Nähere über ihre Zu- und Abnahme in den einzelnen Städten und Ortschaften. Ebenso fehlt es nicht an Schilderungen, die im Allgemeinen und so weit dies überhaupt durch kurze Zeitungsberichte möglich ist, ein ganz getreues Bild der augenblicklich dort herrschenden Zustände geben, leider ein Bild heilloser Verwirrung und Verkommenheit, physisch sowohl wie moralisch – in dieser Beziehung könnten wir also höchstens nur weiter ausmalen und zu dem bereits bekannten Tableau noch einige andere, ähnliche hinzufügen.

Wir bezwecken aber mit unserem heutigen Artikel etwas Anderes. Wir wollen nämlich einen Blick auf die Epidemie selbst werfen, und zwar mit directem Hinweis auf Sitten und Gebräuche, auf Lebens- und Anschauungsweise, kurz auf den ganzen Culturzustand der ägyptischen Bevölkerung, wie wir dieselbe während eines mehrjährigen Aufenthaltes im Pharaonenlande aus eigener Anschauung kennen gelernt und vielfach eingehend studirt haben. Vielleicht würde dies zu einer noch besseren und richtigeren Beurtheilung der Sachlage Einiges beitragen.

Wie im ganzen Orient, so ist auch streng genommen die Cholera in Aegypten endemisch. das heißt einheimisch, also eine Landeskrankheit; sie tritt auch in jedem Jahre während der heißen Monate vereinzelt auf, wird im Volke die „leichte Cholera“ genannt, als Cholerine und Dysenterie behandelt und erregt auch kein weiteres Aufsehen, obwohl die schwachen davon ergriffenen Constitutionen und namentlich die Kinder, vielfach daran sterben. Bei den alljährlichen Pilgerkarawanen, die durch die arabische Wüste oder auch über Suez nach Mekka ziehen, kommen schon ernstere und weit häufigere Fälle von wirklicher asiatischer Cholera vor, weshalb die nach Aegypten zurückkehrenden Pilger schon seit Jahren einer längeren oder kürzeren Quarantaine in Tor auf der Sinai-Halbinsel unterworfen werden. Auch ist den Pilgern längst nicht mehr gestattet, in einem großen, nach vielen Tausenden zählenden allgemeinen Zuge, wie dies früher stets der Fall war, in Kairo feierlich einzuziehen, sondern sie müssen sich jetzt immer einige Meilen ober- und unterhalb der Hauptstadt auflösen und vertheilen, sodaß nur die in Kairo Ansässigen dahin zurückkehren. Die sehr verständige Maßregel, die auch von den Behörden im Ganzen recht gut durchgeführt wird, hat stets die besten Folgen gehabt.

In Syrien und Mesopotamien dagegen, und speciell in den beiden Hauptstädten Damaskus und Bagdad ist die Cholera vollends einheimisch, und weit mehr noch als in Aegypten; ganz wie in anderen Ländern das gelbe Fieber, die Malaria, die Blattern und ähnliche endemische Krankheiten, und zwar mit meist tödtlichem Ausgang.

Epidemisch, das heißt sich weiter verbreitend und ganze Länderstrecken durchwandernd und schrecklich heimsuchend, tritt sie von den eben genannten Ausgangspunkten gottlob weit seltener auf; nach den neuesten Beobachtungen etwa alle zehn bis fünfzehn Jahre, obwohl auch dafür kein fester Anhalt gegeben ist.

Aehnlich war es in früheren Jahrhunderten und noch zu Anfang des jetzigen mit der Pest, die auch immer nur in gewissen Zeiträumen erschien und furchtbar verheerend durch die Länder zog. Das letzte große Pestjahr, das namentlich Aegypten heimsuchte, welches von jeher, wenn auch nicht erwiesen, als der eigentliche Herd der Pest angesehen wurde, ist das Jahr 1835, und wir haben von dem bekannten Afrikareisenden Baron Wrede, der sich zu jener Zeit in Kairo aufhielt, eine ergreifende Schilderung jener furchtbaren Krankheit.

„Erschütternd und Entsetzen erregend,“ so berichtet er, „ist der Anblick der von dieser schrecklichsten aller Epidemien heimgesuchten Stadt. Die Kaufläden sind sämmtlich geschlossen, die Bazare verödet, einzelne Straßen wie ausgestorben. Lange Reihen von Särgen mit den Leichen der Wohlhabenderen und nicht minder lange Züge von Kameelen, die mit den nackten Leichnamen der Armen beladen sind, ersetzen das Gewühl, welches in gesunden Tagen die Straßen belebt, und die eintönigen Weisen der Klagesänger und das Wehgeheul der Klageweiber und weiblichen Verwandten der Gestorbenen bilden dazu einen Herz und Ohr zerreißenden Chorus. Furchtbar durch die Unerbittlichkeit, mit der die Pest ihre Opfer ergreift, wird sie noch um so schrecklicher durch ihren detmoralisirenden Einfluß, den sie auf die heimgesuchte Bevölkerung ausübt: das Entsetzen und die stete Todesangst ersticken alle sanfteren Regungen des Herzens, Eltern verlassen ihre Kinder, Brüder ihre Schwestern, die Gattin überläßt den Gatten seinem Schicksale, und kein Freund schließt dem anderen das brechende Auge zu.“

Das war die letzte sogenannte „Große Pest“ in Aegypten[2] und überhaupt im Orient, und es scheint, als ob die tausendjährige Völkergeisel (denn man kannte sie bereits im Alterthum und auch im Alten Testament ist von ihr die Rede) jedenfalls in ihrer länderverheerenden Ausdehnung so gut wie gelähmt und vernichtet ist.

Wenn wir aber soeben über die Pest in Aegypten das Citat eines Augenzeugen brachten, so geschah es zumeist deswegen, weil dasselbe zugleich ein getreues Bild von den Zuständen in Kairo liefert, wenn dort, anstatt der Pest, die Cholera eingezogen ist und ihre fürchterliche Ernte hält. Sie erschien in Aegypten zuletzt im Jahre 1865, und noch heute denken alle Diejenigen, die jene Schreckenszeit erlebt haben, mit Angst und Grausen daran zurück.

Der jüngst abgesetzte Khedive Ismail hatte erst kurz vorher die Regierung angetreten, und von allen Reformen, die er so überlaut verheißen, standen die meisten noch auf dem Papier. Viele von ihnen (nebenbei bemerkt) haben überhaupt kein anderes Schicksal gehabt, aber um die bessere Organisation der Gesundheitspolizei in den größeren Städten hat er sich unbestreitbare Verdienste erworben.

Dies gilt vorzugsweise von Kairo, das in zwölf „Districte“ eingetheilt wurde, deren jeder einen amtlich angestellten und gut besoldeten europäischen Arzt erhielt, der verpflichtet war, Gratis-Consultationen zu geben und die ärmeren Kranken in ihren Wohnungen zu besuchen. Mehrere von diesen Doctoren, unter denen sich auch einige Deutsche befanden, bekamen bald eine einträgliche Privatpraxis und haben eine gute Carrière gemacht. Leider war dies Institut in dem eben erwähnten Cholerajahre 1865 noch nicht ins Leben getreten, es hätte sich sonst vielleicht sehr nützlich in der Bekämpfung der Epidemie erweisen können – vielleicht aber auch nicht, denn der Widerwille der arabischen Bevölkerung und überhaupt der Mohammedaner gegen christliche Aerzte ist sehr groß und schwer auszurotten.

Dies bringt uns auf einen Hauptpunkt unseres heutigen Artikels, nämlich auf die arabische Gesundheitspflege und Medicin an sich und auf ihre Stellung zur europäischen. Schroffer kann sich wohl kaum etwas in der Welt gegenüberstehen, als der arabische oder, was so ziemlich dasselbe bedeutet, der mohammedanische Arzt – der Hakihm – einem christlichen Doctor der Medicin.

Der Islam selbst steht mit seinen Grundlehren in keinem größeren Gegensatze zum Christenthum, als auf jenem Gebiete diese beiden „Gelehrten“, denn der Hakihm macht ganz ernsthaft Anspruch auf diesen Titel, wenn auch sein Wissen und Können bei Lichte besehen nach unseren Begriffen von Heilkunde und überhaupt von medizinischen Wissenschaften fast auf Null herabsinkt. „Ein deutscher Barbiergehülfe,“ hört man oft in Kairo sagen, „versteht mehr von der Heilkunde, als der renommirteste arabische Hakihm.“ Diese Aeußerung, so charakteristisch sie auch in mancher Beziehung sein mag, ist doch nicht zutreffend, denn die Verhältnisse liegen eben im Orient ganz anders. Der Koran ist bekanntlich für die Mohammedaner das Universalbuch aller Gelehrsamkeit und aller Wissenschaft. Wie die gesammte Gesetzgebung und Rechtspflege darauf fußen, so bildet er auch die Norm für jedes andere Gebiet des menschlichen Wissens, das stets direct oder indirect mit den eigentlichen Glaubenslehren zusammenhängt.

Das Wenige, was der Koran an ärztlichen oder darauf hinweisenden Vorschriften enthält, bezieht sich auf die allgemeine Gesundheitspflege; sie sind zumeist klimatischer, mithin rein örtlicher Natur, ähnlich wie im Alten Testament die Vorschriften der Körperwaschungen, der Reinhaltung verschiedener Gefäße, das Verbot gewisser Speisen und Sonstiges von ganz allgemeiner und untergeordneter Bedeutung.

In der el Azhar-Moschee zu Kairo, der ersten „Universität“ der mohammedanischen Welt, wird Krankenheilkunde, wenigstens nach unseren Begriffen, nicht gelehrt; wohl aber giebt es dort [536] einzelne Schechs, die nach selbstgeschriebenen und aus allerlei anderen Korancommentaren zusammengetragenen Compendien private medizinische Vorlesungen halten. Solche Compendien sind oft sehr drolliger Art und behandeln fast immer nur die Körperpflege in ihren primitivsten Anfängen. Das Schneiden der Nägel, das Rasiren des Kopfhaares, das Gelb- und Rothfärben der Nägel an Händen und Füßen und der inneren Handflächen mit Henneh, für Frauen außerdem noch das Schwarzfärben der Augenbrauen und Lider mit Khol (Antimon), das Blaupunktiren der Arme, der Handgelenke und Fußknöchel, alsdann der Einfluß der Sonne und vorzüglich des Mondes auf die Anwendung kleiner Hausmittel – solche Recepte und viele ähnliche Bagatellen spielen darin eine große Rolle. Man würde aber sehr irren, wenn man diese Art von „Wissenschaft“ mit der eigentlichen arabischen Heilkunde in Verbindung bringen wollte. Jene Dinge gehören auch dort in die Barbierstuben, und insofern ist das obige Citat ganz am Platze. Der wirkliche Hakihm ist ein völlig anderer Mann und bedient sich fast nur sympathetischer Mittel. Der Schwerpunkt seines Wissens, das A und O seiner Diagnose ist das „Kismet“, das unabänderliche Fatum, denn er ist, wie jeder gute Mohammedaner, ein Fatalist.

Nach dem Islam sind nämlich alle Ereignisse, die den einzelnen Menschen von seiner Geburt an bis zu seinem Tode treffen, ja sein gesantmtes Denken, Wollen und Empfinden von Allah nicht allein vorher gewußt, sondern auch vorher bestimmt; das Leben des Menschen ist mithin dieser Vorherbestimmung unterworfen und, er mag wollen oder nicht, er kann sich derselben nicht entziehen. Das ist der Fatalismus. Und darin (um dies gleich hier zu bemerken) liegt auch , und wohl mehr als in manchen anderen Punkten, der scharfe Unterschied zwischen der mohammedanischen und christlichen Religion, denn diese läßt dem Menschen völlig und ganz den freien Willen zu eigener Selbstbestimmung, wenn auch Gott die Willensrichtung und überhaupt die Zukunft des Menschen, kraft seiner Allwissenheit, vorher weiß.

Mit dem Fatalismus hängt nun logisch die stille und resignirte Ergebung in das unvermeidliche Schicksal, das „Kismet“, zusammen. Trifft den Mohammedaner ein Unglück, so ist dies nicht allein der Wille Allah’s, sondern der Getroffene kann nichts thun, als es ruhig über sich ergehen lassen. „Insch Allah“, wie Gott will, ist der allgemeine Ausruf eines jeden Mohammedaners, mit welchem er sich dem Kismet unterwirft. Das schöne christliche Wort: „hilf dir selbst, so wird dir Gott helfen“, kennt er nicht und hat dafür kein Verständniß.

Am deutlichsten, aber auch zugleich am betrübendsten, zeigt sich dies bei Krankheiten und vollends bei Epidemien, die der Bekenner des Islam nach einer, man möchte geradezu sagen, albernen Auslegung des Korans für eine directe Strafe und Züchtigung Allah’s ansieht. Und leider theilen auch die höheren, „gebildeten“ Classen diesen Wahn und handeln darnach, das heißt sie handeln so gut wie gar nicht. Daher die für uns Europäer unbegreifliche Lässigkeit, Gleichgültigkeit und Unthätigkeit in allen Schichten der Bevölkerung und die in den untern Classen an Stumpfsinn grenzende Ergebung in das Unvermeidliche bei irgend einem individuellen Unglück oder bei einer allgemeinen Calamität. „Steht im Himmelsbuche mein Tod geschrieben, so muß ich sterben, ich mag dagegen thun was ich will; wenn nicht, so wird mir auch ohne mein Zuthun geholfen. Was kann der Mensch gegen das Kismet?“

Wie oft haben wir selbst diese Worte gehört, sowohl bei einzelnen Unglücksfällen, als auch bei grassirenden Krankheiten, z. B. im Jahre 1875, wo die Blattern unter den Kindern in Kairo große Verwüstungen anrichteten.

„Was hat mir Dein deutscher Hakihm genützt,“ sagte mir mein Nachbar, ein bemittelter arabischer Kaufmann, der zwei kleine Töchter an einem Tage verlor und dem ich einen befreundeten deutschen Arzt gewissermaßen aufgenöthigt hatte, „meine Kinder mußten ja doch sterben, das wollte das Kismet; hätte ich nur den Mahmud-Abdallah gerufen, den großen Hakhihm der Achmedmoschee, der hätte vielleicht die Dschinnen noch zeitig beschworen.“

Diesen Mahmud–Abdallah sollte ich bald persönlich kennen lernen; zuvor nur noch eine Bemerkung, die das Obige näher erklärt. Man ist nämlich versucht, sich zu verwundern, daß der Mohammedaner, trotz seines Fatalismus, überhaupt noch einen Arzt zu Rathe zieht, „wenn es eben doch nichts hilft“; aber einestheils wird der Hakihm fast immer nur von den Angehörigen und selten von dem Kranken selbst verlangt, und anderntheils ist der Selbsterhaltungstrieb, auch bei dem strengsten Fatalisten, doch nicht so ganz zu unterdrücken, daß er nicht in den Stunden heftiger körperlicher Schmerzen und sonstiger großer Noth nach Linderung und Beistand rufen sollte. Der Glaube an die Dschinnen, die bösen Geister, kommt hinzu, die sich des Kranken bemächtigen wollen; sie sitzen gewöhnlich auf dem platten Dache des betreffenden Hauses, oder, wenn sie sehr böse sind, vor der Schwelle, und mancher gelehrte Schech oder Heilige und mancher große Hakihm hat sie mit eigenen Augen gesehen. Sie sind zu bannen und unschädlich zu machen, man muß es nur verstehen, was freilich nur Wenige können, und wenn es trotzdem nicht glückt, so hat der Beschwörer es eben nicht verstanden, oder mit anderen Worten: er war nicht „heilig“ genug. Der oben erwähnte Hakihm Mahmud-Abdallah hatte damals in Kairo einen großen Ruf als Banner und Beschwörer, und wir selbst, durch Oertlichkeit und sonstige Zufälligkeiten begünstigt, haben ihn einst operiren sehen. Im Nachbarhause war ein arabischer Beamter schwer an der Ruhr erkrankt, und die gewöhnlichen Mittel: Amulette, Besprechungen und Gebete waren erfolglos geblieben. Die Frauen schickten also zu Mahmud-Abdallah. Vorher hatte man den Hausflur möglichst gesäubert und mit Rosenwasser besprengt.

Der Hakihm ritt auf einem schönen syrischen Esel, den ein kleiner Neger am Zügel führte. Es war ein stattlicher, weißbärtiger, mithin schon bejahrter Mann in seinem türkischem Costüm, und der grüne Turban mit dem Goldstreifen bezeichnete einen Nachkommen des Propheten. Er wurde von dem Bruder des Kranken empfangen, den er sofort lebhaft anredete, indem er mit der Hand auf den Rundbogen des Eingangsthores wies. Dort hingen allerdings nach der Landessitte einige kleine Oellampen, die auch wegen des wichtigen Besuches angezündet waren, aber die Aloepflanze in der Mitte fehlte, die Beschützerin vor Krankheit und vor dem „bösen Blick“, und das war es, wie wir nachher erfuhren, was der Hakihm so mißfällig bemerkt hatte. Kein Wunder, wenn in ein so schlecht behütetes Haus Krankheit und Unglück eingezogen waren.

An das Bett des Kranken geführt, zog der Hakihm zuerst aus einer Ledertasche eine Handvoll Salz, das er rings umherstreute, um die Dschinnen zu bannen, dann nahm er ein Klümpchen Mekka-Erde und legte es auf die Brust des Kranken und ein anderes kleines Paket unter das Kopfkissen. Dies Paket enthielt verschiedene auf Pergamentstreifen geschriebene Citate aus dem Koran und, was die Hauptsache ausmachte, es war von einem rothen Seidenstoff umwickelt, das der Hakihm selbst von der Decke, welche die Kaaba in Mekka verhüllt, mitgebracht hatte.[3] Dann zog er eine flache silberne Schale aus dem Kaftan und ein Fläschchen mit sympathetischer Tinte, in welche er eine Rohrfeder eintauchte und nun die innere Fläche der Schale mit allerlei Figuren und Zeichen bemalte. Aus einem anderen Fläschchen, das mit Semsemwasser, dem heiligen Brunnen von Mekka, gefüllt war, goß er dann einen guten Löffel voll in die Schale, schwenke sie hin und her, um die Tinte aufzulösen, und hielt sie vor den Mund des Kranken, der das Wasser begierig ausschlürfte. Das war augenscheinlich der wichtigste Theil dieser, gelinde gesagt, eigenthümlichen ärztlichen Behandlung; das Weitere beschränke sich auf das Hersagen mehrerer Koranstellen und auf die Empfehlung an die männlichen Familienmitglieder (die weiblichen waren gar nicht zugegen), den arabischen Rosenkranz zu beten.[4]

(Schluß folgt.)



[537]

Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Nr. 5. Ischia.

Die große Landschaftskünstlerin Natur hat in dem Golf von Neapel ein Meisterwerk von entzückender Schönheit geschaffen, zu dem seit Jahrtausenden die Menschen staunend hinströmen und welches die Sage und die Geschichte mit den kostbarsten Perlen menschlicher Erinnerungen schmücken. Aber auch dieses lachende Paradies der Erde hat seine tiefen Schattenseiten. Möge sich der ewig blaue Himmel Italiens noch so friedlich und verführerisch über den Oliven- und Myrtenhainen ausbreiten, der rauchende Gipfel des Vesuv ragt hier als Zeuge feindlicher Gewalten empor, welche über diese Gegend im Laufe der Zeiten tausendfaches Unheil heraufbeschworen.

Noch hat die menschliche Hand nicht vermocht, ganz das Leichentuch zu lüften, welches einst der Gott der Unterwelt über Pompeji ausgebreitet, und schon verschlang er ein zweites Opfer - aus dem Städtekranz des Golfs von Neapel ist wiederum über Nacht eine Perle verschwunden. Der Untergang jener römischen Stadt war wohl mit furchtbarem Schrecken verbunden, und doch trat damals das Geschick nicht so unerbittlich vor die Thore Pompejis, damals blieb Vielen die Möglichkeit, wenigstens das nackte Leben zu retten, aber bei der letzten Katastrophe (28. Juli) sank Casamicciola in wenigen Secunden, in einem Augenblicke möchte man sagen, in Schutt und Staub, und Tausende begruben die Trümmer.

Werfen wir nur einen Blick auf die Landkarte! Sofort erkennen wir, daß Ischia jener vulcanischen Zone angehört, als deren Hauptrepräsentanten der Aetna und der Vesuv gelten. Besuchen wir aber die Insel selbst, so finden wir, daß sie ein Werk unterirdischer Kräfte ist und eigentlich nur einen erloschenen Vulcan darstellt und in der That erzählt noch die Geschichte von jener Zeit, da der Gipfel der Berginsel, der Epomeo, in Rauchwolken sich verhüllte und, in düsterer Gluth erstrahlend, vernichtende Lavaströme gegen das Meer hinabsandte. Zum letzten Male geschah dieses Ereigniß im Jahre 1301, wo der Berg, nachdem er siebenzehn Jahrhunderte geruht, plötzlich seine Flanken öffnete und einen gewaltigen Lavastrom ergoß, der viele blühende Gärten und Niederlassungen verzehrte, bevor er in’s Meer stürzte. Wiewohl seit jenen Tagen wiederum mehr als fünf Jahrhunderte verflossen sind, hat die Vegetation die erstarrten Massen noch nicht zu überwuchern vermocht, und noch heute ist jener Lavastrom sichtbar – wie eine riesige dunkle Schlange zieht er sich quer durch die Insel hin. Diese vulcanischen Kräfte haben jedoch dazu beigetragen, Ischia und vor Allem Casamicciola berühmt und zu einem Anziehungspunkt für Fremde zu machen, denn ihnen verdanken die heißen Quellen ihren Ursprung, welche hier an vielen Orten aus den Spalten der Felsen hervorsprudeln. Und wie groß ist ihre Zahl! Nennen wir nur den „Gurgitello“ (Strudel), der bei 52° bis 59° Wärme nicht nur gegen Rtheumatismus und Gicht, sondern auch gegen „nervöse Verstimmung der Frauen“ helfen soll, die Quelle „del Cappone“ (des Capaunen), deren Wasser auch bei Tisch getrunken wird, die Quelle „Spenna polastro“, in welcher Vielgeplagte ihre Hühneraugen abbrühen, die „Cociva“ (Kochquelle), die dank ihrer hohen, 72° betragenden Temperatur vielfach als Kochwasser benutzt wird, die Acqua d’oro und d’argento, von denen schon der römische Geograph Strabo erzählte, daß sie Gold und Silber führen, und endlich die Tambourroquelle, welche dem durch die entweichende Kohlensäure erzeugten trommelnden Geräusch ihren Namen verdankt. Ja, in der Nähe des Fleckens Lacco ist der Reichthum an warmen Quellen so hervorragend, daß von Ihnen selbst das Meer und das Land erwärmt wird und die Einwohner am Strande trockene Sandbäder und warme Fußbäder nehmen können, während die heißen Dämpfe der Quellen von S. Montano zu Schwitzbädern benutzt werden.

Castell von Ischia.

Und über dieses mit Thermen aller Art so reich gesegnete Eiland lacht ein azurner Himmel, den Monate lang keine Wolke trübt, und streichen frische Seewinde, welche die italienische Hitze von ihm fern halten. Rechnen wir noch dazu die landschaftlichen Reize der Insel, die prachtvolle Aussicht, welche von ihren Höhen und ihrem Strande auf den Golf von Neapel, auf die Stätten der Odyssee und Aeneis sich unserm Auge darbietet, so werden wir leicht begreifen, warum Ischia zu einer der beliebtesten Sommerfrischen der Neapolitaner wurde und das vor stürmischen Winden geschützte Casamicciola den stolzen Namen „la regina dei bagni“ (Königin der Bäder) erhielt.

Bot nun dieser Ort, dank dem lustigen Treiben der Badegäste, das Bild des modernen Lebens, so birgt die an der Ostküste gelegene Hauptstadt Borgo d’Ischia die spärlichen geschichtlichen Denkmäler. Hier erhebt sich auf einem 180 Meter hohen Trachytkegel, welcher nur durch einen schmalen Damm mit der Insel verbunden ist, das Castell, zum Schutz gegen die türkischen Seeräuber erbaut. In seiner Mitte liegen die Kerker mit der bezeichnenden Ueberschrift „Fructus criminis“ („Früchte des Verbrechens“). Es gab auch eine Zeit, da die Liebe zur Freiheit für ein Verbrechen galt, das mit der Einsperrung in den tiefen Felsenclassen dieses Castells bestraft wurde. Als die Bourbons in Neapel thronten, ließen sie die unruhigen Republikaner hier in Ketten werfen. Aber auch hellere Züge sind in der Vergangenheit dieses Bischofssitzes zu finden. Von hier ertönten die klangvollen Lieder der Vittoria Colonna, jener berühmtesten Dichterin unter Italiens Frauen.

Auf dieser reizenden, etwa 21/4 Quadratmeilen umfassenden Insel wohnt ein Menschenschlag, der sich scharf von den Neapotitanern unterscheidet, dessen Züge anders geformt sind, dessen Farbe durch ihre besondere Dunkelheit auffällt und dessen Sprache selbst einen eigenthümlichen Dialekt bildet. Die Ischianer sind fast eine besondere Rasse, denn hier mischte sich das hellenische Blut der Ureinwohner mit dem latinischen und saracenischen. Und da die Weinrebe auf den Hängen der Insel gar üppig gedeiht, so blühte hier einst der Cultus des Weingottes, und bis auf unsere Tage hat sich die ausgelassene Lust der Bacchanalien im Volke erhalten. Sind doch die schwarzäugigen, in bunte Tracht gekleideten Frauen Ischias weit und breit berühmt als die geschicktesten Tarantellatänzerinnen.

Jahrhunderte lang hat diese Hand voll Menschen mit seltenem Fleiße gearbeitet und über drei Viertel des Felsenbodens in blühende Gärten verwandelt. Nun ist die Bevölkerung furchtbar decimirt, der Wohlstand auf lange Zeit vernichtet. Wann werden diese Wunden geheilt werden, wann wird Vertrauen wieder in die Herzen der Menschen einziehen und Ischia wieder leuchten als ein friedliches Paradies unter den Inseln und Buchten des herrlichen Golfes? Ueber kurz oder lang wird es wohl geschehen, denn es liegt in der Natur des Menschen, daß er selbst auf dem Vulcan sorglos dahin lebt und sich der Früchte seiner Arbeit freut, und es giebt ein großes Heilmittel der Natur, welches alle Wunden vernarbt – die Vergessenheit.

[538]

Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“?

Von Dr. L. Fürst.
(Fortsetzung.)
Die ersten Anfänge der Skoliose vor der Schulzeit. – Angeborene Anlagen und frühzeitige Einwirkungen. – Einseitiges Tragen und Führen. – Des Kindes Selbstunterricht im Gehen. – Mißverhältniß im Kinderwachsthum und in Kindermöbels. – Wie soll man Rückenkrümmung und schlechte Haltung beim Arbeiten verhüten? – Ueber „Geradehalter“.

Neben der Kurzsichtigkeit nimmt die „Schiefheit der Schultern“ und die „Krümmung der Wirbelsäule“ einen bedeutenden Rang unter den sogenannten „Schulkrankeiten“ ein. „Seit mein Kind in die Schule geht, hat es eine schlechte Haltung,“ hört man die Mütter so häufig klagen, daß man ohne Weiteres die Schule auch für die Erkrankungen des Knochenbaues zur Verantwortung ziehen möchte.

Auch hier liegt es dem Verfasser fern, die Schule von allem Antheil an derartigen Mißgestaltungen frei zu sprechen. Allein nicht jeder Mensch ist von Haus aus „schlank wie eine Tanne“ und von jener gesunden Beschaffenheit seiner Knochen, daß er in normaler Schönheit und Regelmäßigkeit emporwächst. Besonders die Mädchen stellen schon frühzeitig ein größeres Contingent zu der Zahl von Fällen regelwidriger Haltung, die man als Arzt zu beobachten Gelegenheit hat. So viel auch schon über die als „Skoliose“ bekannte Seitwärtskrümmung und Achsendrehung der Wirbelsäule geschrieben und für deren orthopädische Behandlung angegeben worden ist, so wenig wird man im Stande sein, dieselbe durch Schulreformen aus der Welt zu schaffen. Es ist ja gar nicht zu leugnen, daß das anhaltende Sitzen in der Classe eine krankhafte Neigung des Skelets nicht verbessern kann, daß Abweichungen leichter Natur, die dem Auge der Eltern bis dahin entgingen, im Schulalter eine immer zunehmende Verstärkung erfahren. Die besorgten Eltern, welche ihren Liebling alsdann erst, wenn auch ein Blinder das Uebel erkennen könnte, dem Arzte mit Vorwürfen gegen die Schule zuführen, ahnen in vielen Fällen nicht, wie ungerecht sie sind. Wie bei vielen chronischen Leiden des Kindesalters tönt ihnen auch hier das verhängnißvolle „Zu spät!“ entgegen. Was vermögen Klagen über die Machtlosigkeit des Arztes gegenüber schon ausgebildeten Deformitäten!

Schlummerten doch die Keime oft schon in dem Kinde, ehe es das Licht der Welt erblickte! Kaum ein anderer als der Familienarzt, der nicht selten mehrere Generationen in allen Phasen ihrer Körperentwickelung und Krankheitsanlage verfolgen kann, ist im Stande, die Wahrheit des biblischen Wortes zu verstehen, welches die Vererbung der Sünden der Väter von Geschlecht zu Geschlecht mit ernster Mahnung predigt. Möge die Tilgung der „Sünden“ in sittlicher Beziehung mehr Aufgabe des Theologen sein: der Arzt denkt hierbei vor Allem an die Sünden im hygienischen Sinne. Ihm wird der Zusammenhang klar zwischen chronischen Ernährungsstörungen der Großeltern, Eltern und Kinder; er sieht die verderblichen Folgen der Ehen scrophulöser, rachitischer, blutarmer oder zu Tuberkulose geneigter Individuen vor sich. Die Entartung mancher Familien vollzieht sich unter seinen Augen, und in dem schlaffen, schlecht genährten, blassen und knochenschwachen Nachwuchs erblickt er nur das verstärkte Abbild ungesunder Ahnen.

Angeborene oder sehr frühzeitig erworbene Knochenschwäche und Rachitis sind, zum Theil in Folge fortgesetzter unvernünftiger Aufziehung und Ernährung der Kinder, selbst in besser situirten Familien verbreitete Leiden und scrophulöse Knochenleiden ebenfalls keine Seltenheiten. Kein Wunder, wenn bei so vielen Kindern eine Neigung zu Verbiegungen und Verkrümmungen des noch widerstandslosen, nachgiebigen Skelets sich zeigt, sobald das Sitzen, Stehen und Gehen beginnt.

Wenn dann solche mit krankhafter Anlage zu Skoliose oder leichtesten Graden derselben bereits behaftete Kinder die Schule besuchen und nunmehr durch das anhaltendere Sitzen die Rumpflast und der Muskelzug solche Mißgestaltungen verstärken, ist die Schule gewiß nicht allein schuld. Man sehe doch einmal, wie durch einseitiges Tragen auf ein und derselben Arme sich selbst bei einem anfangs gesunden Kinde die Wirbelsäule seitwärts biegt (vergl. Fig. 1), bis sie durch den einseitigen Druck es verlernt, sich wieder völlig gerade zu strecken.

Fig. 1.

Man sehe, wie durch stetes Führen an einer und derselben Hand eine Schulter und die betreffende Partie der Wirbelsäule in die Höhe gezogen wird und sich schließlich als bleibende „hohe Schulter“ darstellt. Um wie vieles mehr müssen solche andauernd falsche Haltungen nachtheilig wirken, wenn dem Knochen die gehörige Festigkeit fehlt, wenn er in krankhafter Weise knorpelig, biegsam bleibt und der sich jahrelang wiederholenden Wirkung von Schwere, Druck und Zug folgt, um endlich in abnormer Stellung zu erhärten. Auch die Art, wie die Kinder gehen lernen, legt nicht selten den Grund zu Mißgestalt der Wirbelsäule, des Beckens und der Beine, zumal die Unsitte, die Kinder zum Stehen und Gehen anzuhalten, noch ehe die Knochen der Beine die nöthige Festigkeit besitzen, um die Körperlast zu tragen.

Im Gegensatz zu den völlig verwerflichen Laufstühlen und Laufkörben ist ein recht zweckmäßiger Apparat, um den Kindern das Stehen- und Gehenlernen völlig und mit Ruhe selbst zu überlassen, die sogenannte Gehbarrière[5]. Dieselbe besteht aus vier leicht zusammenzufügenden, innen gepolsterten Schranken, innerhalb deren das Kind, auf einer ausgebreiteten Decke sitzend, spielt.

Es mag umfallen, sich wieder erheben, nach und nach an einer innen verlaufenden, dicken Wollenschnur sich anhalten und nach Maßgabe seiner eigenen Kräfte aufrichten, schließlich fortbewegen – Alles dies geschieht naturgemäß nach und nach und stets im Einklange mit der Körperentwickelung.

Von einem Drucke gegen die Brust, von einem Hängen des Körpers in den Achseln ist hier keine Rede. Beruhigt kann die Mutter das Zimmer verlassen; das Kind vermag weder Möbels, welche leicht umfallen oder fortgleiten, noch den Ofen, noch etwas Zerbrechliches zu erreichen und wird im Gerade-Stehen, in Aneignung richtiger Körperhaltung sein eigener Lehrmeister.

Es wird behauptet, die Skoliose entstehe erst im sechsten bis achten Jahre, und zwar in Folge der weniger widerstandsfähigen Wirbel und der schwächlicheren Muskulatur in acht Zehntel bis neun Zehntel aller Fälle bei Mädchen. Aber sehr viele Specialisten, von Malgaigne bis Hueter, haben dennoch mit Recht auf die unumstößliche Thatsache hingewiesen, daß schon in der ungleichmäßigen Entwickelung des Knochenbaues, der Wirbelsäule, der Rippen die Ursache gegeben ist.

Jeder Kinderarzt kann es bestätigen, daß neben den angeborenen und sehr frühzeitig erworbenen Anlagen zu Skoliose, die mit der Schule absolut noch nichts zu thun hat, auch die während der Schulzeit sich ausbildende Skoliose auf mechanische Ursachen, nämlich auf falsche Haltung und vorwiegende Beschäftigung mit dem rechten Arme zurückzuführen ist, Ursachen, die gewiß zum großen Theil im Hause sich geltend machen. Wenn man die Kinder bei ihren häuslichen schriftlichen Arbeiten oder beim Lesen beobachtet, ihr Sitzen an hohen Tischen mit horizontaler Platte, ja selbst an Kommoden oder Fensterbrettern, ihre nachlässige, schiefe Haltung mit schräg gelegtem Hefte, auf Stühlen, die dem ermüdenden Rücken nicht die geringste Stütze gewähren, dann ist es wohl kaum zu verwundern, wenn die weitverbreitete rechtsseitige Skoliose sich ausbildet. Es wird in dieser Hinsicht das „Herauswachsen“ der Kinder aus ihren Möbels vollständig unterschätzt.

Ein Stuhl, eine Schulbank, die für das Kind nicht mehr paßt, ist nicht nur unnütz, sondern, da sie das Kind zu einer [539] gekrümmten, unnatürlichen Körperhaltung zwingt, geradezu schädlich. Mit Recht muß es deshalb als eine glückliche Neuerung angesehen werden, daß ein hervorragender Industrieller, E. A. Raether in Zeitz, verstellbare Kindermöbels construirt hat, welche mit Leichtigkeit der Körpergröße von sechs bis vierzehn Jahren angepaßt werden können.

Ein Kinderstuhl (Fig. 2 und 3), der dem Wachsthum des Kindes gewissermaßen Schritt für Schritt folgt und seinem Oberkörper, jeder Beinlänge durch fast mühelose Einstellung immer wieder angepaßt werden kann, ein Schulschreibtisch, der für die ganze Schulzeit paßt, das sind hygienisch und finanziell für jeden Familienvater, der nicht in der Lage ist, immer neue Einrichtungsgegenstände anzuschaffen, durchaus praktische Geräte, die jede Körpergröße sich ungehindert entwickeln lassen.

Fig. 2. Gestellt für 6 Jahre. Fig. 3. Gestellt für 14 Jahre.

Ist doch eine rationelle Hausschulbank noch lange nicht genug in Familienkreisen eingebürgert, und selten nur ist bei Eltern die Energie vorhanden, eine nachlässige, zusammengebaute, schiefe Haltung, wie sie übrigens auch die Mädchen bei Handarbeiten, gleichzeitig mit einseitigem Heben und Senken der Schultern, oftmals zeigen, zu verbessern.

„Es wäre eine große Verkehrtheit“ - sagt Uffelmann mit vollem Rechte - „wenn man die Entstehung der Skoliose allein der Schule schuld geben wollte. Ein sehr großer Theil der letzteren fällt zweifellos auf das Haus.“

Nicht selten wird auch der sogenannte „krumme Rücken“ als „Schulkrankheit“ bezeichnet, und man hat von ärztlicher und hygienisch-technischer Seite sich schon lange bemüht, dem für die Athmungs- und Unterleibsorgane verhängnißvollen Krummsitzen zu steuern. Hueter, Lorinser und Andere haben auf die Bedeutung hingewiesen, welche Rolle eine solche anhaltende Krümmung der Wirbelsäule, durch ungleichmäßige Compression der Wirbelknochen, spielt, indem sie den allmählichen Uebergang zu einer wirklichen Knickung der Wirbelsäule, dem leider unheilbaren „Buckel“ bildet. Orthopäden wie Schreber und Schildbach haben dieser Entstehungsursache des krummen Rückens ihre besondere Aufmerksamkeit zugewendet, und der Letztere schreibt über die „hockige“ Haltung: „Dieser Formfehler zeigt sich hauptsächlich in den ersten Schuljahren. Wenn er nicht rechtzeitig beseitigt wird, so entsteht aus ihm eine dauernde Mißform, welche nicht nur die Wohlgestalt des Körpers, sondern auch die Leistungsfähigkeit der Lungen, besonders ihrer Spitzen beeinträchtigt und dadurch zu ernsten Lungenleiden geneigt machen kann.“

Es ist in der That bedauernswerth und jammervoll, wenn man derartige schmale, schlanke, blasse Schulmädchen, die zu untersuchen man veranlaßt wird, mit einem flachen, ja in den oberen Partien selbst eingesunkenen Brustkasten ausgestattet findet, deren kaum noch Respirations-Hebung und -Senkung zeigende Schlüsselbeingegenden für eine bedenkliche Erkrankung der Lungenspitzen über kurz oder lang den günstigen Boden abgeben müssen.

Bloße „Ermahnungen“ zum „Geradesitzen“ genügen nun, wie schon Schreber, dieser verdienstvolle „Erzieher zur schönen Körperform“, anerkannte, nicht, weder in noch außerhalb der Schule. Um das Schulkind bei seinen häuslichen Arbeiten am Vorwärtsbeugen zu hindern, construirte er einen „Geradehalter“, welcher auf dem Principe beruhte, eine Schranke vor dem schreibenden Kinde zu bilden und diesem dadurch eine schädliche Annäherung der Brust und des Gesichts an die Tischplatte unmöglich zu machen. Der „Schreber’sche Geradehalter“, welcher hier (Fig. 8 und 9) treu nach den Originalabbildungen dargestellt ist,[6] bildet, wie man sieht, eine sehr einfache, leicht verständliche Vorrichtung.

Ein eiserner Doppelwinkel wird an der Kante der „horizontalen Tischplatte“ von unten festgeschraubt, da, wo das Kind arbeiten soll. Das Kind setzt sich nun auf einen gewöhnlichen Stuhl an den Tisch, und die in dem Eisen auf- und abspielende T-förmige Eisenstange wird nunmehr in der für den betreffenden Schüler passenden Höhe derartig durch eine Schraube festgestellt, daß der Querstab etwas unter der Schlüsselbeingegend anliegt. Sobald das schreibende Kind die jetzt herbeigeführte aufrechte Haltung verlassen und sich nach vorn beugen will, drückt der Querstab gegen die oberen Partien der Brust und verhindert das Vorbeugen des Oberkörpers direct, oder durch das unangenehme Gefühl, das der Druck veranlaßt, indirect.

Der Apparat war s. Z., als erste Verwirklichung einer an sich richtigen Idee, unstreitig eine zweckmäßige Neuerung, und da er gleichzeitig sehr solid und fast unzerstörbär war, so fand er eine ziemlich starke Verbreitung und ist noch jetzt in vielen Kreisen beliebt.

Fig. 4. Der Geiger’sche Geradehalter.

Als Abart desselben ist der neuerdings aufgetauchte Theodor Geiger’sche Geradehalter (Fig. 4) zu betrachten. Diese von dem Stuttgarter Mechaniker angegebene Vorrichtung besteht aus zwei verbundenen, mittelst Schraube und Klammer festzuklammernden, nach Tisch- und Kindesgröße verstellbaren Drähten, deren umgebogene Enden zwei gegen die Achseln drückende Ballen aus Eisen besitzen.

Obgleich hier der Druck gegen den Brustkorb nicht in dem Grade, wie bei dem Schreber’schen Geradehalter, stattfindet, so ist hier doch immer das Princip „Druck gegen die vordere Körperfläche“ verwirklicht. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Princip, auf dem beide Geradehalter beruhen, nach den heutigen Anschauungen nicht mehr ohne ernste Bedenken festgehalten werden kann. Der Druck auf die oberen Partien des Brustkorbes oder die Schlüsselbeingruben, der das Kind abhalten soll, sich beim Schreiben zu weit vorzubücken, ist offenbar nicht nur unvortheilhaft, sondern geradezu bedenklich. Die Gegend der Schlüsselbeine und der obersten Rippen vor Druck zu schützen, gerade diesem Theil des Brustkorbes und den Lungenspitzen eine freie, unbehinderte Ausdehnung zu ermöglichen, oder solche ergiebige Vorwölbung dieser Partie möglichst zu befördern, ist gegenwärtig eine wohl ausnahmslos anerkannte Nothwendigkeit.

Dies kann und soll der Schreber’sche oder der Geiger’sche Geradehalter ganz offenbar nicht erzielen. Im Gegentheil wirkt er in den meisten Fällen unmittelbar als Druck gegen diese für die Athmungsorgane so allgemein wichtige Körperregion, und es wird nur von der Aufmerksamkeit, der Augenbeschaffenheit, der Körperkraft des Kindes abhängen, ob dieser Druck nur momentan oder dauernd wirkt. Daß aber der Apparat eine Krümmung der Wirbelsäule nicht verhindern kann, liegt auf der Hand; im Gegentheil, wenn Jemand sich unwillkürlich über eine Barrière hinwegzubiegen strebt, muß die Krümmung der Wirbelsäule geradezu sich steigern.

Zwanzig Jahre waren seit der Angabe dieser Geradehalter vorübergegangen, als Soenneken, dem wir die Einbürgerung der Rundschrift, rationelle Reform der Kalligraphie und treffliche Neuerungen auf dem Gebiete der Herstellung und Auswahl des Schreibmaterials verdanken, seine Vielseitigkeit noch in der Angabe eines neuen Geradehalters bekundete.

Die leicht transportable, billige und darum weiterer Verbreitung fähige Vorrichtung (Fig. 5 und 11) besteht in einem federnden [540] Metallbügel, der sich an der Tischplatte festklammern läßt und von dem ein Metallstäbchen nach aufwärts geht.

Dies Stäbchen, das man je nach der Größe des Schülers verlängern oder verkürzen kann, trägt oben eine näpfchenartig vertiefte Holzplatte, in welche der Schreibende seilt Kinn zu legen hat. Indem das Auflegen und Niederbücken zum Schreibhefte durch Anstemmen des Kinnes an die „Schreibstütze“ verhütet wird, strebt Soenneken zugleich eine Verbesserung der Körperhaltung an.

Auch dieser keine Apparat vermag, abgesehen davon, daß er wohl allzu sehr auf den guten Willen des Schülers rechnet, der nur ungern in dieser gezwungenen und absonderlichen Kinnhaltung verharren wird, den anatomisch-physiologischen Anforderungen nicht völlig zu entsprechen.

Fig. 5.
Der Soenneken’sche Geradehalter.

Insbesondere ist von Augenärzten dagegen geltend gemacht worden, daß die Haltung des Kopfes gegenüber der Schriftfläche eine ungünstige wird, indem die Augenachse mit der Tischebene nicht einen rechten, sondern einen stumpfen Winkel bildet. Auch fehlt hei dieser „Schreibstütze“ jeder Einfluß auf eine zweckmäßige natürliche Haltung der Schultern sowie der Wirbelsäule. Es ist entschieden anfechtbar, wenn behauptet wird, die Schreibstütze zwinge zum selbstständigen Geradesitzen und „erziehe mit der Zeit zu einer guten Haltung“.

Die Haltung ist ebenso „unselbstständig“ wie bei jedem Geradehalter; jeder Geradehalter übt einen „Zwang“ aus und es kommt nur darauf an, welcher Zwang für Auge, Brust und Wirbelsäule der rationellste, vortheilhafteste ist. Mit der Zeit „erziehen“ kann ein Geradehalter nur bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung des Kindes und genügender Kraft desselben. Ob das Anstemmen des Kinnes oder Brustkastens vortheilhafter ist, als das Zurückziehen der Schultern, darüber kann selbst der Laie kaum im Zweifel sein.

Fig. 6. Verstellbarer Schulschreibtisch.   Fig. 7. Der Fürst’sche Geradehalter.   Fig. 8. Der Schreber’sche Geradehalter.

Diese Thatsache, daß die sämmtlichen bisher existirenden Vorrichtungen nur auf einem Druck der Brust oder des Kinnes gegen eine Widerstand bietende Querstange, gegen Pelotten, oder gegen eine runde, ausgehöhlte Holzplatte, also auf einem Anstemmen der Vorderfläche des Körpers beruhten, veranlaßte den Verfasser zu der Verwirklichung einer schon seit längerer Zeit von ihm in den Grundzügen festgestellten Idee eines jeden Druck vermeidenden „Geradehalters“.

Das leitende Princip mußte unstreitig ein Zug der Schultern nach hinten sein, der dem Brustkasten eine völlig ungehinderte Vorwölbung, Ausdehnung und Athembewegung ermöglicht, ja, eine solche womöglich begünstigt. Das Ergebniß dieser Versuche, die „krumme Rückenhaltung“ mancher Schüler und Schülerinnen auf rationelle Weise zu beseitigen, führte den Verfasser zur Angabe des folgenden Geradehalters[7] (vergl. Fig. 7 und 10).

Ein Eisenstab a ist in senkrechter Richtung an der hinteren Seite der Lehne L einer mit schräger, verschiebbarer Tischfläche versehenen Hausschulbank (zur Noth auch an der Lehne eines gewöhnlichen Stuhles) mit zwei Schrauben XX befestigt. In der Mitte dieses Stabes befindet sich ein Schlitz, in welchem ein vorn mit flachem Knopf versehener eiserner Querstab b hinten durch eine Schraube S in jeder beliebigen Höhe, wie sie den Schultern des Kindes entspricht, fest eingestellt werden kann. Letzteres geschieht bei Kindern mit normaler Haltung horizontal, bei Kindern, die eine einseitige schiefe Haltung oder bereits eine hohe Schulter haben, kann man diesen Querstab derartig schräg stellen, daß man die Seite, welche der zu hohen Schulter entspricht, tiefer stellt, wodurch man zugleich die Ausgleichung einer solcher Mißform begünstigt. Nahe den Enden des Querstabes befinden sich auf dessen hinterer Fläche zwei Knöpfe cc'[WS 1] zum Befestigen der Achselriemen RR', und ganz an den Enden zwei spiral nach aufwärts gedrehte Haken dd', in welche die an den Riemenenden befindlichen Ringe sehr leicht eingehakt werden können, ohne wieder herauszugleiten. Diese Riemen werden, der Größe jedes Kindes angemessen, ein- für allemal so eingeknöpft, daß, wenn die Riemen unter den Achseln nach vorn geführt und dann die Ringe oben eingehakt sind, das Kind in ganz ungezwungener, aufrechter Stellung dasitzt, ohne sich vorbiegen zu können.

  Fig. 9.   Fig. 10.   Fig. 11.

Mit nicht größerem Zwang, als bei dem gewohnten Schultornister, werden die Schultern zurückgezogen, die Wirbelsäule streckt sich ein wenig, der Brustkorb tritt dem entsprechend vor und doch bleibt für alle nöthigen Bewegungen genügend freier Spielraum. Das Kind kann während der Arbeit seine Haltung nicht vernachlässigen. Es schlüpft selbst leicht in die Riemen und fühlt kaum den Zwang, da es durch den Schutornister gerade an diesen Riemenzwang gewöhnt ist.

Wenn man zur Aufnahme des Tintenfasses beim Schreiben in bequemer Entfernung an der rechten Seite der Schultischplatte einen eisernen oder hölzernen Ring anbringt, aus welchem, nach

[541]

Auch eine Heldenthat. Nach dem Oelgemälde von Ernst Meißner.

[542] Arbeiten, das Tintenfaß wieder herausgenommen werden kann, um an seinen gehörigen Platz gebracht zu werden, so erleichtert dies den Gebrauch dieses Geradehalters noch besonders.

Hier ist also derselbe Effect erreicht, daß das Kind sich bei seinen häuslichen Schularbeiten – und hierfür ist die Vorrichtung zunächst bestimmt – nicht zu nahe vorbiegen kann, aber zugleich ist jeder Druck auf den Brustkasten, jede Behinderung der Lungen vollständig ausgeschlossen. Die oberen Lungengebiete, die sonst bei der bockigen Haltung keine Hebung der obersten Rippen, keine Vorwölbung ausführen können und bekanntlich am frühesten der Sitz unheilbarer Erkrankung werden, behalten hier eine freie Function, ja diese wird befördert. Diejenigen Augen- und Lungenleiden, die ihren Grund nur in vernachlässigter gebückter Haltung haben, werden, soweit dies überhaupt durch einen solchen Apparat zu verhüten ist, von Anfang an rationell bekämpft. Der Hauptzweck aber, die zwanglose Streckung der Wirbelsäule, die natürliche, freie, nicht tief herabgebückte Haltung des Kopfes, die ganz naturgemäß bleibende Blutcirculation, und die für jedes Kind leichte Anwendung mit gewohnten Handgriffen – alles dies dürfte wohl die Einführung einer sehr einfachen Vorrichtung in geeigneten Fällen als berechtigt erscheinen lassen. Dieselbe würde gewiß dazu beitragen, einer der häufigsten sogenannten „Schulkrankheiten“ mit mehr Erfolg. als bisher, vorzubeugen.

Und das Verhüten von Krankheiten ist ja beim Kinde von ungleich höherer Bedeutung, es ist besonders bei Verkrümmungen und Verbiegungen des noch nicht völlig verknöcherten Skelets dankbarer und erfolgreicher, als die orthopädische Verbesserung ausgebildeter, gewissermaßen erstarrter Mißgestaltungen, daß man stets hier an das Beachten und Bekämpfen der unscheinbarsten Anfänge denken sollte.

Natürlich schließe ich mich vollkommen der Ansicht an, daß ein Geradehalter niemals nützen, ja eher schaden kann, wenn die Muskulatur und der Knochenbau des Kindes für ein längeres freiwilliges Geradehalten noch zu schwach sind. Kräftigung des Körpers muß hier unzweifelhaft vorangehen.

(Schluß folgt.)

Die Schuhmacherbörse in Berlin.

Noch vor dreizehn Jahren hatte die Börse für den Nichtkaufmann nur ästhetischen Werth. War man in einer mit einer Börse beglückten Stadt zu Besuch, so wurde man darauf aufmerksam gemacht, daß von der Gallerie aus das Durcheinandersprechen der Stimmen dem Brausen des Meeres gliche. Man stieg zu diesem Zweck in Frankfurt oder in Hamburg auf einige Stunden aus, wie man in Haarlem oder Freiburg aussteigt, um die berühmten Orgeln zu hören. Das Rauschen des Börsenmeeres aber erfüllte den musikalisch und poetisch beanlagten Laien mit dem Gefühle des Erhabenen. Er glaubte die gewaltige Majestät des wirthschaftlichen Verkehrs gesehen und gehört zu haben. Und wie war man im Innersten geruhrt und erfreut, wenn man diese unendlich großen Männer, welche das Rad der Zeit ein wenig in den Händen hatten, an der Fruchtbörse mit Erbsen- und Bohnenproben nach einem einsamen Hute auf der Gallerie werfen sah, oder wenn man, durch einen guten Freund auf den Schauplatz der Begebenheiten geführt, bemerkte, daß die ernsten Helden des Courszettels und des Ultimo auch für die minder ernsten Angelegenheiten des irdischen Lebens Interesse hatten, wie sich Meyer und Mayer z. B., angenehm auf eine Causeuse hingegossen, ungezwungen über die Prima Ballerina und die neue Luftvoltigeuse unterhielten. Ach, die Zeiten sind längst dahin! Man befand sich damals noch in dem wirthschaftlichen Unschuldszustande. Wenn man jetzt von der Börse spricht, so denk man an Giftbäume, unsinnige Speculationen, ungeheure Gewinnste, vernichtenden Verlust, Thränen von Wittwen und Waisen und einiges Andere.

Daran aber sollte man bei der Berliner Schuhmacherbörse nicht denken. Sie ist, was die Börse sein will und soll, eine Vereinigung von Kaufleuten, in diesem Falle also von Handwerkern, zur Abschließung von Geschäften und zum Zwecke eines rascheren Ueberblickes über den Markt. Man gab durch dieselbe dem Handwerke eine kaufmännische Organisation, um es gegen die kaufmännische Conncurrenz zu schützen. Diese Concurrenz müssen wir uns vor Allem vergegenwärtigen, wenn wir die Bedeutung der genannten Börse begreifen wollen.

Ein Jeder von uns kennt die großstädtischen Kleider- und Schuhmagazine, welche gewöhnlich von einem Kaufmanne gehalten werden. Derselbe kauft die Rohmaterialien im Großen, also billiger ein, als der Handwerksmeister, welcher nur über geringes Geldcapital verfügt, läßt eine Reihe von Handwerkern für sich arbeiten und beschäftigt sie auch für geringen Lohn, wenn sonst Geschäftsstille herrscht. Je mehr die Löhne gedrückt werden, um so höher hebt sich natürlich der Gewinn des Unternehmers und um so billiger kann er verkaufen. Aus diesem Grunde sind die Löhne der für ein Magazin arbeitenden Handwerker natürlich außerordentlich gering.

Noch trauriger gestalten sich die Verhältnisse, wenn eine Mittelsperson, gewöhnlich ein Handwerker, zwischen dem Unternehmer und den Handwerkern steht, welcher die gesammten Aufträge des Magazininhabers übernimmt, sie dann an die einzelnen Handwerker überträgt und die fertigen Waaren wieder an denselben gegen baare Zahlung abliefert. Dieser zweite Unternehmer will auch einen guten Verdienst haben. Der Unternehmer ist nicht geneigt, ihm denselben aus seiner Tasche zukommen zu lassen; also muß er die Arbeitslöhne, welche er den einzelnen Handwerkern auszahlt, verkürzen. Ein solcher Handwerker in einer großen Stadt Europas theilte mir mit, daß er wöchentlich zweihundert Mark verdiene. Der Arbeiter muß, um leben zu können, seine Arbeit rasch und oberflächlich anfertigen, das höchste Dachzimmerchen beziehen, die elendeste und kärglichste Nahrung zu sich nehmen.

Die großen Magazine sind deshalb sowohl dem auf Bestellung arbeitenden, sonst wohlsituirten Handwerksmeister, als dem kleinen Arbeiter ein Dorn im Auge. Da sie billiger verkaufen, als er verkaufen kann, nehmen sie dem Ersteren all die Kunden weg, welche für gute Arbeit und genaues Sitzen keine hohen Auslagen bezahlen können und die wahrscheinlich höheren Rohstoffpreise des Handwerksmeisters nicht bezahlen wollen. Der arme Arbeiter aber sieht sich und seine Familie in seiner Existenz bedroht; auch der Ausweg, mehr und schlechtere Arbeit in derselben Zeit zu machen, rettet ihn nicht immer und jedenfalls nicht auf lange Zeit. Der Arbeitgeber weist minderwertige Arbeit zurück, lohnt sie im Einzelnen schlechter, oder setzt allmählich den Stücklohn herunter.

Handwerksmeister und selbständiger Arbeiter haben darum Beide das Interesse daran, die Concurrenz der Kaufleute auf dem Gebiete des Handwerks unschädlich oder unmöglich zu machen. Die Gesetzgebung wird sich schwerlich dazu verstehen, dieselbe zu unterdrücken. Der Handwerksmeister muß deshalb entweder selbst Kaufmann werden, selbst ein Magazin halten, oder eine Production genossenschaftlich mit Anderen eingehen. Im ersteren Falle wird er sich mit Anderen zum gemeinschaftlichen und billigen Ankaufe von Rohstoffen in großen Quantitäten verbinden. Aber der großen Masse der Arbeiter ist damit nicht geholfen. Man muß sie in eine solche Lage versetzen, daß sie ihre Arbeit verkaufen können, ohne daß sie auf Bestellung eines Unternehmers arbeiten und ohne daß aus ihrem Arbeitsverdienste der Gewinn des Mittelsmannes und des Arbeitgebers bestritten zu werden braucht.

Das hat man für das Schuhmacherhandwerk mit der Berliner Schuhlmacherbörse erreicht. Jeder selbstständige Handwerker kann auf seinen Gewerbeschein hin und gegen die geringe Gebühr von fünfundzwanzig Pfennig einmal in der Woche, und zwar Montags von zehn bis ein Uhr, seine fertige Waare in dem großen Saale des Handwerkervereins ausstellen und sie dort verkaufen. Hierdurch erhält er zunächst in kleinen Zwischenräumen den Lohn für seine Arbeit. Indem er ferner die Waaren seiner Concurrenten sieht und die Verläufe beobachtet, gewinnt er den besten Ueberblick über die Art und Qualität der verlangten Waare. Ein weiterer Vortheil ist der, daß die Schuhmacherbörse die Arbeitsleistung befördert, weil Jeder eine größere Sicherheit hat, daß die Arbeit, zu der ihn Befähigung, Gewohnheit und andere Umstände bestimmen, auch wirklich gekauft wird.

Ebenso hoch muß man es anschlagen, daß jeder Handwerker [543] dort die Waaren, welche er selbst nicht bestellt, aber braucht, billig kaufen kann. Auf diese Weise wird es dem Handwerker mit geringem Capitale möglich, einen kleinen Laden zu halten und größere Bestellungen mit geringem Arbeitspersonal auszuführen. Vor Allem aber fällt die größere Freiheit und Selbstständigkeit in’s Auge, welche die Börse dem kleinen Handwerksmanne gewährt.

Auch den Verfertigern von Handwerkszeug, den Posamentieren und Gerbern ist es erlaubt, ihre Waaren auszustellen. Dagegen hält man mit größter Strenge jede Art von Kaufleuten, selbst Lederhändler von dieser Börse fern. Sie soll nur den Interessen der producirenden Stände dienen.

Ob die Berliner Börse alle die Wirkungen, welche hervorzubringen sie die Tendenz hat, auch im vollsten Maße gebracht hat, weiß ich nicht. Zwei Wirkungen aber treten deutlich hervor. Erstens hat sie das kaufmännische Element im Schuhmacherhandwerke zurückgedrängt. Dafür existiren große Läden und Magazine, welche von Handwerksmeistern gehalten werden. Ob die Lage der für diese Magazine arbeitenden kleinen Handwerker eine bedeutend bessere ist, als diejenige der für kaufmännische Unternehmer wirkenden Genossen, weiß ich nicht. Zweitens wird die Börse nicht blos von den hauptstädtischen Schuhmachern, sondern auch von vielen Handwerksgenossen aus der Provinz, ja sogar aus größerer Entfernung, z. B. von Stettin und Hamburg besucht. Dieser Umstand ist jedenfalls ein deutlicher Beweis, daß sie die wirthschaftliche Lage eines großen Bruchtheiles von Schuhmachern zu heben im Stande ist.

Es herrscht darum auch am Montagmorgen ein lebendiges Treiben in der Sophienstraße, wenn die Thüren noch nicht geöffnet sind und sich draußen die Besucher der Börse, theilweise mit ihren Waaren beladen, an einander vorüberdrängen und immer neue Concurrenten in der stillen Gasse erscheinen. Endlich thut sich die Thür auf, und nun geht es an dem Börsenvorstande vorbei, der in der Halle an einem langen Tische die Eintrittsgebühr erhebt, durch das große Restaurationslocal in den breiten, etwas dunklen Saal. Hier werden auf langen, parallel mit einander laufenden Tischen, sodaß nur schmale Gänge übrig bleiben, die Waaren ausgebreitet. Aber es haben sich so viele Börsenbesucher eingefunden, daß man auch die beiden Gallerien noch zur Ausstellung der Waaren hat benutzen müssen. Kein Plätzchen ist unbenutzt geblieben.

Das Goethe’sche Wort von der „quetschenden Enge“ charakterisirt die Berliner Schuhmacherbörse am besten, wo in schmalen Gängen die Käufer an einander vorüberdrängen und die Verkäufer uns zum Ankauf ermuntern. Es ist in der That ein Jahrmarkt unter Dach und Fach. Hier stehen saubere Leisten, funkelnde Ahlen, vorzügliches Pech, dort in langer Reihe die zierlichsten Kleinkinderschuhe, daneben plebejische, ungewichste, plumpe Schaftstiefel, von denen uns ein Dutzend zu einem unglaublich geringen Preise angeboten wird. Nun kommen wir an einer Stelle vorüber, die kein Vater mit seinem achtjährigen Söhnchen ungestraft betreten würde: denn vor uns erhebt sich, gerade ausgerichtet in Reihe und Glied, ein Regiment nagelneuer, verlockend aussehender Husarenstiefel. Zur Abwechselung eine Ausstellung von Posamentierwaaren, lange Schnüre, elegante Knöpfe und Bänder von eigenthümlicher Farbenzusammenstellung. An einer Stelle verweilen wir etwas länger, denn hier präsentiren sich verführerisch die schmucksten, kleinsten Damenstiefel. An einer anderen eilen wir um so rascher vorüber – denn dort riecht es sehr stark nach Leder.

Wir begeben uns in das Restaurationslocal und suchen im Genusse der tiefen Befriedigung, mit der uns die Wanderung durch die Schuhmacherbörse erfüllt hat, das Phänomen volkswirthschaftlich zu bestimmen. Es ist ein ganz auf der Grundlage der heutigen Erwerbsordnung beruhender eigenthümlicher Versuch, die Lage der Handwerker zu heben. Eine gewisse Aehnlichkeit zeigt eine Veranstaltung der Weberzünfte in den Niederlanden, nämlich die in einigen Städten Flanderns noch heute sichtbaren Tuchhallen, wo die Waaren sämmtlicher Meister ausgestellt und verkauft werden. Kurz, die Berliner Schuhmacherbörse ist die Uebertragung eines kaufmännischen Gedankens auf das moderne Handwerk.

Wir können nur Jedem, der an den mannigfachen Bestrebungen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen Antheil nimmt, empfehlen, die Schuhmacherbörse zu besuchen, und wir legen es den wohlhabenden Freunden der arbeitenden Classen, welchen ihre Wohlhabenheit das Köstlichste, die Freiheit, über ihre Zeit zu verfügen, gewährt, an’s Herz, für die Verbreitung dieser Institution mit Rath und That zu sorgen. Eines scheidet England und Deutschland tief: das ist die hülfsbereite werkthätige Gesinnung, der großartige Gemeingeist der wohlhabenden Classen jenseits des Canals. Wir haben eigentlich nur ein großes Beispiel solch hoher Gesinnung aufzuweisen: Schulze-Delitzsch. Hoffentlich werden bald andere Männer den Spuren des großen Todten folgen.

Wenn heutigen Tages der ökonomische Liberalismus immer mehr Anhänger verliert, dann liegt das zweifellos daran, daß in Deutschland die positive Ergänzung zur Niederreißung überlebter Schranken fehlt, welche in dem heilsamen volkswirthschaftlichen Wirken der oberen Classen für die unteren besteht, nicht in einem Wirken mit Reden und Resolutionen, sondern mit ernster, stiller, andauernder Arbeit. Wo ein solches Vorkämpferthum nicht besteht, da schreit das Volk natürlich nach Reaction und Staatshülfe, wie auch in einem Staate, wo es an dem guten Willen und dem Material für die Durchführung der Selbstverwaltung fehlt, schließlich doch wieder die Bureaukratie trotz aller Anfänge und Declamationen das Heft in die Hände bekommt.

Wilhelm Hasbach.




„Mein Bub’.“

Ich soll „Mein Bub’!“ nicht zu dir sagen,
Weil du schon über zwanzig zählst,
Weil du des Königs Rock getragen
Und nächstens gar zum Reichstag wählst?

5
Du meinst es nicht so! – Ich vergebe!

Ich weiß, du bist nicht so gesinnt;
Doch wenn ich hundert Jahre lebe,
Bleibst du mein Bub’, bleibst du mein Kind!

Wohl bist du groß, und doch! – ich sehe

10
Dich heute noch wie dazumal,

Als dich nach langem, bitt’rem Wehe
Beschien der erste Sonnenstrahl.
Dein Vater stand von Glanz umflossen,
Als er dich in die Höhe hob,

15
Als er dich froh an’s Herz geschlossen

Und selig rief: „Ein Bub’! Gott Lob!“

Und unsre Anverwandten kamen,
Um dich zu sehn, der Reihe nach.
Ich weiß noch all’ die zarten Namen,

20
Die Jedes schmeichelnd zu dir sprach,

Und deine lieben Aeuglein schauten
Verwundert in die Welt hinein.
Und rings erklang’s in Himmelslauten:
„Der liebste, schönste Bub’ ist dein!“

25
Sieh her! Kennst du die blonden Haare?

Du warst ein Kind noch, winzig klein:
Da lag auf schwarzbehängter Bahre
Dein holdes, ältstes Schwesterlein.
Entsetzlich war des Vaters Jammer,

30
Als man das schöne Kind begrub;

Doch ich schlich still in meine Kammer –
Und weinte leis’ bei meinem Bub’.

Und zwanzig lange Jahre flogen
Vorbei seit jener schlimmen Nacht.

35
Ich hab’ gelehrt dich und erzogen,

Hab’ dich zum braven Mann gemacht. –
Stets warst du gut; doch auch nicht selten
Bei einem wilden Bubenstreich –
Ach, deines Vaters Zornesschelten

40
Riß in das Herz mir dornengleich.


Und wenn man bös und schlecht dich nannte,
Dann sah ich schmerzlich himmelwärts.
Ich war die Einz’ge, die dich kannte:
„Mein Bub’ hat doch ein gutes Herz!“ –

45
An eins nur will ich dich noch mahnen,

An eine kaum vergang’ne Zeit;
Da zog mit seines Königs Fahnen
Mein lieber Bub’ zum blut’gen Streit.

Dann war’s in einer Mittagsstunde;

50
Ein Brief kam an von Freundeshand:

Es lag mit schwerer Todeswunde
Mein lieber Bub’ im fernen Land. –
Ich fand ihn in dem Lazarethe,
Mit Wunden seine Brust bedeckt,

55
Bleich lag er da, auf hartem Bette,

Starr, wie ein Todter hingestreckt.

Ich kann es keinem Menschen sagen,
Was ich gelitten und durchlebt,
Als er die Augen aufgeschlagen,

60
Da rief ich wild: „Mein Bube lebt!“

Dann stürzt ich hin und weinte leise
Und wachte, weinte nächtelang,
Bis mich nach altgewohnter Weise
Ein lieber, theurer Arm umschlang.

65
Ich riß mich los aus diesem Arme,

Ich schrie hinaus in Nacht und Wind:
„Barmherz’ger, guter Gott, erbarme
Dich meiner, lasse nur mein Kind!“
Du bist gerettet durch ein Wunder,

70
Nun danke Gott, du stolzer Mann,

Daß dich ein Mund noch, ein gesunder:
„Mein Kind, mein Bube“ nennen kann!
 Ludwig Lantz.

[544]

Blätter und Blüthen.

Erbarmt Euch der Waisen!

Eine Bitte für ein deutsches Forstwaisenhaus. Schutz dem Wilde – Schutz dem Walde nicht allein gegen unbefugte Frevler, sondern auch gegen die eigene Mordlust, gegett die eigene Habgier, das ist ein Ruf, der jetzt durch ganz Deutschland geht und Widerhall findet in allen treuen deutschen Jägerherzen, ein Ruf, der die Devise geworden ist für viele Tausende von Männern aus allen deutschen Gauen, die ein warmes Herz haben für das edle Waidwerk und für den schönen Wald und die sich vereinigt haben zur Bildung eines allgemeinen deutschen Jagdschutzvereins. Viel Segensreiches ist bereits von dieser nationalen Vereinigung geschaffen, ein neues Denkmal treuer Liebe und deutscher Einigkeit soll dem hinzugefügt werden.

In der Nähe des märkischeu Waldidylles Hubertusstock in der Schorfhaide, des alten Jagdschlosses der Hohenzollern, liegt der Ort Groß-Schönebeck. Waldesruhe rings umher, nur der Schrei des Hirsches unterbricht die einförmige Stille. Hier soll ein Asyl geschaffen werden für die Waisenknaben deutscher Forstbeamten, staatlicher, communaler und privater; hier sollen die Kinder, die im grünen Walde aufgewachsen sind, einen Ersatz für ihr so früh verlorenes Elternhaus finden und vorbereitet werden zum Beruf ihres Vaters oder auch zu einer anderen Lebensstellung.

Der Ort ist gefunden, in ihm aber auch der Mann, welcher befähigt ist eine derartige Anstalt zu leiten, und dessen warmes Herz die Bürgschaft giebt, daß die Waisenknaben bei ihm in guter Hand sind. Es ist dies der Lehrer Kortenbeitel, der Begründer der ersten preußischen Försterschule, von dem auch zuerst die Idee zur Errichtung einer Anstalt für Waisenknaben deutscher Forstbeamten ausging. Der preußische Minister für Land- und Forstwirthschaft, Dr. Lucius, sowie der Oberlandforstmeister Ulrici traten warm für die Sache ein, der deutsche Jagdschutzverein erklärte, das Waisenhaus in jeder Weise unterstützen zu wollen, und der Kronprinz des deutschen Reiches übernahm das Protectorat der zum Andenken an seine silberne Hochzeit errichteten Stiftung.

Bereits sind 18,600 Mark zum Bau der projectirten Anstalt gesammelt und dem preußischen Ministerium für Land- und Forstwirthschaft, welches dereinst die Aussicht über die Anstalt übernehmen wird, zugestellt worden, aber eine große Summe wird noch erforderlich sein, bevor mit dem Bau des Waisenhauses begonnen werden kann. Auch diese wird beschafft werden. Man rühmt die edle deutsche Jägerei. Nun, da müssen auch viele edle Herzen unter den deutschen Jägern schlagen, die gern geben für ein gutes Beginnen, für die armen Kinder, die ihren treusorgenden Vater, oft in gewissenhafter Ausübung seines Berufes, in hartem Kampfe mit Wild- und Waldfrevlern, verloren haben.

Herbei, Ihr deutschen Jäger, die Ihr Wild und Wald liebt, sorgt für die besonderen Schützer derselben, sorgt, daß der treue Beamte wenigstens den Trost und die Gewißheit hat, daß seine Knaben ein Obdach und Asyl finden werden, wenn Ehre und Pflicht ihn in den Kampf treiben und er in diesem unterliegt. Sammelt auf den Jagden und auf Festen der verschiedensten Art, setzt Strafen für Fehlschüsse und für waidmännische Verstöße auf den Jagden aus und sucht auch in Freundeskreisen für Groß-Schönebeck zu interessiren. Der Dank der Forstbeamten wird Euch nicht fehlen.

Wer aber auch kein Jäger und kein Waldbesitzer ist, jedoch die grüne Farbe und den grünen Wald liebt und wer sich freut, daß wieder einmal ein Monument deutscher Ewigkeit erstehen soll, auch dem sei die Sache an’s Herz gelegt; sein Scherflein wird in deutschen Jägerkreisen doppelt freudig begrüßt werden.

Die „Gartenlaube“ ist gern bereit jede Gabe anzunehmen, und mit der ersten Quittung, welcher viele andere recht bald folgen mögen, schließt sie diesen Aufruf, der sicherlich nicht ungehört verhallen wird.


Für das deutsche Forstwaisenhaus sind eingegangen:
v. B. 100 M.; W. B. 5 M.; Ein frühzeitig Verwaister 3 M.; Verlagshandlung der „Gartenlaube“ 100 M.; R. G. 4 M.

Weitere Beiträge sind zu adressiren: „An die Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig“.


Kleiner Briefkasten.

Herrm. Sch. A. Die „Gartenlaube“ veröffentlichte bis jetzt folgende Romane von E. Marlitt: „Die zwölf Apostel“ (1865), „Goldelse“ (1866), „Blaubart“ (1866), „Das Geheimniß der alten Mamsell“ (1867), „Reichsgräfin Gisela“ (1869), „Das Haideprinzeßchen“ (1871), „Die zweite Frau“ (1874), „Im Hause des Commerzienrathes“ (1876), „Im Schillingshof“ (1879) und „Amtmanns Magd“ (1881).

A. R. in Petersburg. Um des Zwecks willen würden wir beiden G. den Raum gönnen, wenn sie so, wie sie sind, abgedruckt werden könnten.

O. M. in W. Inhalt gut, aber die Form verdirbt ihn. Wer kann so zerhackte Verse lesen, wie:

„Schneidend pfeift der Nordwind, beiden
Würdiger Geselle. – Tiefe
Stille. Friede wohnt hier unter
Allen Dächern. Glücklich in der
Hütte etc.“

M. F. in B. Danke für die freundliche Sendung – aber Uebersetzungen werden grundsätzlich in der „Gartenlaube“ nicht abgedruckt, wenn nicht ein zeitgeschichtlicher Inhalt eine Ausnahme gestattet.

C. H. in D. Ihre Anfrage nach dem Verfasser eines Gedichts: „Die letzte Nacht der Girondisten“ kommt vielleicht durch diese Veröffentlichung derselben am raschesten zu einer Beantwortung.[WS 2]



Für die Nothleidenden in der Eifel

gingen ferner ein: Ungenannt in Buckau 3 M.; G. M.ck in Berlin 20 M; C. Guth in Magdeburg 5 M.; Frau Stohp in Altona 6 M.; B. T. in Berlin 1,50 M.; B. in Bojanowo 3 M.; Erna Hirschbrunn in Mannheim 15 M.; Franz Göllrich in Berlin 5 M.; Ungenannt in Crimmitschau 10 M.; H. R. in Dessau 3,05 M.; Ungenannt in Steglitz 3,05 M.; A. Wilkening in Stadthagen 6 M.; W. John in Ojas 6 M.; W. H. in Hersbruck 10 M.; Frau Superintendent Pfaff in Altenbruch 6 M.; S. Müller in Schlawin 3 M.; A. v. M. in Coburg 3 M.; O. Wilhelmi in Wiesbaden 20 M.; Ungenannt in Ebersbach 2,50 M.; Renneberg in Wasserleben 50 M.; R. Dietz in Stettin 10 M.; A. Schwachheim in Mannheim 10 M.; Gutsbesitzer Julius Fritsche in Zschernitzsch 3 M.; Rentier H. Engelhardt in Berlin 25 M.; P. P. in Hamburg 10 M.; vom Solotisch in Beckedorf 12 M.; O. O. in Cottbus 10,05 M.; F. G. D. in Lausigk 3,05 M.; Militärverein in Seifhennersdorf 10 M.; Albert Meyer in Mainz 5 M.; V. in Dortmund 6 M.; G. M. Römer in Judenburg 5,13 M.; Club Pizzicato in Buxtehude 4 M.; G. Löwensohn in Fürth 6 M.; Ungenannt in Malta 10 M.; W. F. in Dresden 5,05 M.; E. G. in Markneukirchen 6 M.; P. Sch., M. Sch. und H. Sch. in Gr. 6 M.; Fr. St. in Themar 3 M.; A. Müller in Küstrin 5 M.; Rittergutsbesitzer Scheurich in Jauchendorf 10 M.; K. Wetz in Kaiserslautern 3 M.; A. Bernhard in Dessau 5 M.; F. Zander in Rohrsheim 10 M.; C. W. in Warmsdorf 20 M.; „Nächstenliebe“ in Gassen 3 M.; A. Walther in Künzelsau 5 M.; C. A. Matthaei in Bellville, Austin County, Texas, 20 M.; Fräulein W. Düßler in Rostock 10 M.; F. W. N. in Spandau 3 M.; E. v. H. in Oppeln 5 M.; O. D. in Magdeburg 10 M.; L. S. in Deutz 10 M.; Emilie Weiß in München 4 M.; C. S. in Carlshafen 3 M.; Frau O. in Dresden 4 M.; Frau B. J. in Hanau 50 M.; Odd-Fellow-Loge, Becker-Loge Nr. 6, v. S. in Chemnitz 50 M.; H. Knüttel in Stuttgart 20 M.; C. W. F. in Lauenstein 5 M.; H. Zwarg in Berlin 3,05 M.; Hans und Elsa in Gambrinus bei Halberstadt 2,05 M.; N. N. in Steinigt-Wolmsdorf 3,05 M.; Bruno Knopfe in Eisenberg 2,50 M.; C. H. in Sterkrade 6 M.; Expedition der Göttinger Zeitung in Göttingen 80 M.; L. B. in Berlin 6 M.; R. Laetsch in Erfurt 10 M.; F. u. F. Schwager in Bamberg 5 M.; Baurath Graeve in Czarnikau 5 M.; Dr. Lehfeldt in Lehfelde 30 M.; M. B. in Nordhausen 5 M.; J. und M. in Magedeburg 12 M.; Frau Natalie Kühn in Berlin 10 M. und ein Packet Kleidungsstücke; Ungenannt in Berlin eine Kiste Kleidungsstücke; E. Jessen in Lübeck ein Korb Kleidungsstücke; Ungenannt 2 Dollar; J. H. in Richmond, Mo., 2 Dollar; Oscar Lenzner sen. in Caß City, Mich., 5 Dollar; R. D. in F. 2 Rubel; Familie Hönicke in Lodz 3 Rubel; „Wenig, aber von Herzen“ aus Mailand 10 Lire; drei Deutsche Rußlands 30 M.; E. Woelcke in London 20,45 M.; S. in München 5 M.; T. A. in Elbing 3 M.; Marie Schwarz 5 M.; einige jugendliche Arbeiter in Gruna bei Dresden 1,20 M.; J. F. 5 M.; A. J. 3 M.; von fünf Deutschen in Nordfrankreich 15 M.; Poststempel Gotha 5 M.; A. Eg. in Leipzig 5 M.; ein „Pulverkopp“ 0,50 M.; am 16. Juni ein Spiel gewonnen 5 M.; von einem Eifler Kind 150 M.; Poststempel Neidenburg „Spät, aber herzlich gern“ 1 M.; Th. Jul. Sch. in Forst eine Sendung Kleidungsstücke; A. H. in Roßlau 1 M.; Ungenannt in Wolmirstedt 1,50 M.; Ungenannt in Hannover 1 M.; Abonnent in Basel 5 M.; Julius Wilde in Leipzig 51,25 M.; Balbina Springer in Wekelsdorf 2 Gulden ö. W.; Ungenannt in Hannovsch-Münden 10 M.; „O lieb, so lang Du lieben kannst“ in Dresden 1,50 M.; Ungenannt in Riga 5 Rubel; Knibbe in San Franscisco 5 Dollar; ein früherer Reisender 10 M.; Frau C. S. 3 M.; C. S. in W. (Böhmerwald) 5 Gulden ö. W.; August Tathe in Hainrode 5 M.; Ungenannt in Cap Haïti 20 Dollar; K. K. 3 M.; im Spiel gewonnen von F. M. in Frankfurt am Main 1 M.; Ungenannt 3 M.; Abonnent in Kattowitz 20 M.; Clara und Karl 3 M.; „Wenig aber herzlich“ in Langwedel 5 M.; Eva H. 10 M.; Ungenannt in Rostock ein Paket Kleidungsstücke und 35,50 M. (Erlös für eine goldene Taschenuhr, einen defecten goldenen Ring und eine Halskette); B. E. in Bremen 6 M.; eine Eiflerin im Ungarland 8,54 M.; N. W. 100 M.; Ungenannt in Rußland 10 Rubel; A. K. in E. 10 M.; Emeline 6 M. (Erlös für eine vergoldete Nadelbüchse); Quatre têtes carrées à Courtrai 15 M.; C. K. in L. 13,50 Gulden ö. W.

(Summa 1334 Mark 47 Pfennig, 10 Lire, 20 Gulden 50 Kreuzer ö. W., 20 Rubel, 34 Dollar, 5 Sendungen Kleidungsstücke.)




Inhalt: Ueber Klippen. Von Friedrich Friedrich (Fortsetzung), S. 529. – Einweihung der neuen Tells-Capelle. Von O. Henne am Rhyn, S. 532. Mit Abbildungen von W. Vigier, S. 533. – Die Cholera in Aegypten. Von Adolf Ebeling, S. 534. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Nr. 5. Ischia, S. 537. Mit Abbildung S. 537. – Wie und wo entstehen die Schulkrankheiten? Von Dr. L. Fürst (Fortsetzung), S. 538. Mit Abbildungen S. 538, 539, 540. – Auch eine Heldenthat. Illustration von Ernst Meißner, S. 541. – Die Schuhmacherbörse in Berlin. Von Wilhelm Hasbach, S. 542. – „Mein Bub’.“ Gedicht von Ludwig Lautz, S. 543. – Blätter und Blüthen: Erbarmt Euch der Waisen! Eine Bitte für ein deutsches Forstwaisenhaus. – Kleiner Briefkasten. – Für die Nothleidenden in der Eifel, S. 544.




Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressieren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig“.



Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Siehe das Weitere in dem Artikel „Tell und der Rütlibund“, „Gartenlaube“ 1872, Nr. 49.
  2. Sie trat freilich im Jahre 1841 noch einmal, aber weit schwächer auf und ist seitdem, wenigstens als Epidemie, in Aegypten ausgetrieben. Vor zwei Jahren zeigte sie sich in Damaskus, und man erinnert sich wohl noch der damaligen vorbeugenden Maßregeln, welche die ost- und mitteleuropäischen Regierungen ergriffen. Glücklicher Weise waren die Befürchtungen übertrieben, und selbst in Syrien, einzelne noch dazu zweifelhafte Fälle in Beyrut abgerechnet, kam die Epidemie nicht über den anfänglichen Herd hinaus.
  3. Diese Decke, von schwerem goldgesticktem Brokat und in der Regel ein Geschenk des Vicekönigs von Aegypten, wird alljährlich erneuert und die alte wird dann in große und kleine Stucke zerschnitten und an die vornehmsten Pilger vertheilt. Man schreibt ihr sehr heilkräftige und auch sonst viel wunderthätige Eigenschaften zu.
  4. Ein solcher Rosenkranz besteht aus einer Schnur von 99 Kugeln, welche die 99 Eigenschaften Allahs, Andere behaupten des Propheten, bedeuten und die, natürlich nur von Männern, die im Kreise mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzen, in singendem Tone und unter stetem Hin. und Herschwanken des Oberkörpers abgebetet werden. Es giebt auch kleinere Rosenkränze von 33 und sogar solche von nur 11 Kugeln, wo dann jede Kugel 3 oder 9 Eigenschaften bedeutet. Ein frommer Muslim, gleichviel welchem Stande er angehört, hat stets, wenn er öffentlich erscheint, einen solchen Rosenkranz in der Hand.
  5. Käuflich bei Bandagist Joh. Reichel, Leipzig.
  6. Käuflich bei Joh. Reichel in Leipzig,
  7. Käuflich bei Alex. Schädel in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: CC'
  2. Moriz Carriere: Die lezte Nacht der Girondisten. Giessen 1849.