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Autor: Eugenie John Marlitt
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Titel: Das Haideprinzeßchen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 31–52
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[513]

Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.


1.

Er ist ein einsamer Wanderbursch, der kleine Fluß, er läuft durch die stille Haide. Seine schwachklingenden Wellchen kennen nicht das tolle Jauchzen thaleinwärts stürzender Wasser; sie trollen sich gemächlich über widerstandslose, flachgewaschene Kiesel, zwischen seichten, mit Weiden und Erlen bestandenen Borden. Das Gebüsch aber verschränkt seine Zweige so undurchdringlich, als dürfe nicht einmal der Himmel droben wissen, daß die kleine Ader voll rieselnden Lebens in der verrufenen Haide klopfe. Und das ist so recht im Sinn vieler böser Zungen, die draußen in der Welt diese weiten Flächen germanischen Tieflandes verlästern.

Lieber, sieh dir einmal das vielgeschmähte Proletarierweib, die Haide, im Hochsommer an. Freilich, sie hebt die Stirn nicht bis über die Wolken, das Diadem des Alpenglühens oder einen Kranz von Rhododendron suchst du vergebens; – sie trägt nicht einmal die Steinkrone des Niedergebirges; auch schmiegt sich nicht der breite funkelnde Stahlgürtel eines gewaltigen Wasserstromes unter ihren Busen; aber die Erica blüht; ihre lila- und rothgemischten Glockenkelche werfen über die sanften Biegungen des Riesenleibes einen farbenprächtigen, mit Myriaden gelbbestäubter Bienen durchstickten Königsmantel – und der hat einen köstlichen Saum.

Weit drüben schwillt die humusarme, sandige Fläche, die allerdings nur für das genügsame Haidekraut einen Nahrungsquell hat, zur mäßigen Anhöhe empor; in dem Boden steckt Kraft und Mark; der lange dunkle Streifen, mit welchem er die rothflimmernde Ebene plötzlich abschneidet, ist Wald, tiefer, majestätischer Laubwald, wie er seines Gleichen sucht. Stundenlang schreitest du durch die dämmernden Säulenreihen, die der verachtete Haideboden gen Himmel treibt. In dem Geäst, hoch über deinem Haupte, nisten Finken und Drosseln, und aus dem Dickicht äugt das fliehende Wild scheu nach dir herüber. Und wenn endlich der Hochwald in niedriges Kiefergestrüpp ausläuft und dein Fuß zögert, auf die Waldbeeren zu treten, die hier, wie vom Himmel niedergeschüttet, in Scharlach und bläulicher Schwärze den Abhang färben, während von der Bodensenkung draußen liebliches Wiesengrün und das blasse Gold reifender Getreidefelder heraufschimmern – wenn aus dem mitten d’rin liegenden Dorf, das seine urgemüthlichen Wohnhäuser um den ziegelgedeckten Kirchthurm schaart, menschliches Leben und Treiben und das Gebrüll stattlichen Hornviehs herüberschallt, dann denkst du wohl lächelnd der trostlosen, gottverlassenen Sandwüste, wie sie „in den Büchern steht“.

Das Flüßchen freilich, mit welchem diese Niederschrift beginnt, durchmißt eine der dürftigsten, menschenleersten Strecken. Es läuft lange parallel mit der Waldlinie am Horizonte, und erst nach reiflichem Ueberlegen macht es eine selbstständige Schwenkung nach ihr hinüber. Bei aller Sanftmuth nagt und wühlt es doch am weichen Uferboden, und einmal sogar gelingt es ihm, ein Miniaturbecken zu bilden, in welchem die langsam rinnenden Wasser scheinbar rasten. Hier weiß man nicht, wo die Luft aufhört und das Wasser beginnt, so klar abgezeichnet liegen die weißen Kiesel drunten, und so wenig bewegt schwimmt das Nixenhaar darüber hin. Das kleine Rund treibt die Erlenbüsche auseinander; eine lichtbedürftige Birke hat sich um einen Schritt hinausgeflüchtet und steht da wie ein holdes Sagenkind, dem die Sommerlüfte unaufhörlich blinkende Silberstücke aus den Locken schütteln.

Es war in den letzten Tagen des Juni.

In dem kühlen Wasser des kleinen Beckens standen ein Paar brauner Mädchenfüße. Zwei ebenso sonnverbrannte Hände zogen das schwarze, grobwollene Röckchen fest und vorsichtig um die Kniee, während sich der Oberkörper neugierig vornüber bog. Schmale, mit weißen Linnen bedeckte Schultern und ein junges, braun angehauchtes Gesicht – in der That, es war wenig und winzig genug, was der Fluß zurückwarf; immerhin – den zwei Augen im Wasser war sehr gleichgültig, ob das Gesicht, in welchem sie saßen, griechische Regelmäßigkeit oder den Hunnentypus zeigte. Hier auf dem einsamsten Fleck der Haide gab es keinen Maßstab für weibliche Schönheit, keine Anregung zum Vergleich; nur, daß Alles, was im unverfälschten Tageslicht „natürlich“ und altgewohnt erschien, aus dem Wasserspiegel so fremd heraufsah, das machte ihn verlockend.

Draußen im Sonnenschein, im sausenden Haidewind flatterte das ziemlich kurz verschnittene Lockenhaar lustig um Stirn und Nacken – hier unten wurde es zu schwer niederhängenden Rabenflügeln, unter denen hervor die kleinen rothen Glasperlen der Halskette wie dunkelglühendes Blut tropften, und das grobe derbe Leinenhemd gar leuchtete geschmeidig und seidenweich, als schwimme eine einzige große, schneeweiße Glockenblume drunten im Wasser – es verwandelte sich eben Alles wie in der allerschönsten, alten Zaubergeschichte.

Meist füllte ein Stück dunkler Himmelsbläue die Bresche der Büsche; das gab der Wasserfläche eine harte Stahlfarbe und dem Mädchenbild einen eintönigen Hintergrund. In diesem Augenblick [514] jedoch liefen plötzlich glühende Dunstgebilde über den Spiegel – es war unglaublich, aber trotz alledem quollen sie unmittelbar aus den Haarspitzen des Lockenkopfes. Das kämpfte durcheinander und glühte immer höher auf, als solle allmählich die ganze Welt von Purpur triefen. Nur das heimliche Düster um die Wurzeln des Buschwerks vertiefte sich zur finsteren Höhle, aus der einzelne Zwerge wie schwarze Stalaktitenzacken in das schwimmende Feuer hereinragten – eine neue, blitzschnelle Wendung der alten Zaubergeschichte. Aber sie erzeugte einen heillosen Schrecken. Nahm doch selbst der Schatten, den das vorgeneigte Mädchen warf, Brunnentiefe an, aus der herauf zwei übergroße, entsetzte Augen glitzerten.

Die braunen Füße gehörten zu keiner Heldenseele: mit einem wilden Satze sprangen sie an das Ufer – welch eine lächerliche Flucht! Draußen über der Haide entzündete sich der Abendhimmel in rothen Flammen; eine feurige, sanft zerfließende Wolke zog über die Bresche hin, das war der gespenstige Nimbus – und die Augen? Hatte wohl je die Welt solch einen Hasenfuß wie mich gesehen? Solch ein kindisches Ding, das vor seinen eigenen Augen davonlief?

Zunächst schämte ich mich vor mir selber und dann vor meinen zwei besten Freunden, die Zeugen gewesen waren.

Meine gute Mieke zwar hatte sich weiter nicht stören lassen – sie war der weniger intelligente Theil. Die schönste schwarzbunte Kuh, die je über die Haideflächen gelaufen, stand sie breitspurig unter der Birke und riß und zupfte schwelgend an dem Grase, das der feuchte Uferboden in einem dünnen Streifen emportrieb. Sie hob den langen, schmalen Kopf, kaute mit unverkennbarem Appetit weiter an den fetten Halmen, die ihr zu beiden Seiten des Maules niederhingen, und sah nur einen Moment dummverwundert nach mir hin.

Spitz dagegen, der sich faul und schläfrig unter das kühle Gebüsch geduckt hatte, nahm die Sache tragischer. Er fuhr wie besessen in die Höhe und bellte in das zurückklatschende Wasser hinein, als sei mir der böse Feind auf den Fersen.

Er war nicht zu beschwichtigen; die Stimme sprang ihm über vor Alteration und Kampfeswuth – und das war urkomisch. Lachend sprang ich in das Wasser zurück und secundirte ihm, indem ich mit beiden Füßen den lügnerischen Spiegel in hochaufspritzende Atome zerstampfte.

Es war aber auch noch ein dritter Zeuge hinzugetreten, den weder ich, noch Spitz bemerkt hatten.

„Nu, was macht denn mein Prinzeßchen da?“ fragte er in jenen knurrenden, halbzerrissenen Tönen, wie sie aus einem Munde kommen, dem die unzertrennliche Tabakspfeife wie festgemauert zwischen den Zähnen sitzt.

„Ach, Du bist’s, Heinz?“ – Vor dem schämte ich mich nicht; er lief selber wie ein Hase vor Allem, was nicht ganz geheuer. Freilich, das glaubte Keiner, der dies alte, gewaltige Menschenkind sah.

Da stand er, Heinz, der Imker[1] auf Sohlen, so massiv und wuchtig, daß sie den Erdboden schüttern machten. Sein Scheitel rührte an Aeste, die für mich himmelhoch hingen, und der breite Rücken verschloß den Ausblick nach der Haide so vollkommen, als habe sich plötzlich eine Granitwand zwischen die Außenwelt und meine kleine Person geschoben.

Dieser Riese gab Fersengeld vor dem ersten besten weißen Laken im dämmernden Zwielicht – und das machte mir Vergnügen. Ich erzählte ihm so lange haarsträubende Sagen und Spukgeschichten, bis mich selber eine Gänsehaut überlief, und ich allen Muth verlor, auch nur in den nächsten dunklen Winkel zu sehen – – wir fürchteten uns prächtig um die Wette.

„Ich zertrete ein Paar Augen, Heinz,“ sagte ich und stampfte noch einmal fest auf, so daß die sprühenden Wassertropfen an seinem mißfarbenen Drellrock hängen blieben. „Du, da d’rin ist’s nicht richtig –“

„Ei beileibe – am hellen Tage?“

„Ach, was fragt denn die Wasserfrau nach dem hellen Tage, wenn sie böse ist!“ – Mit einer wahren Wonne sah ich, wie er halb ungläubig, halb mißtrauisch nach dem rothgefärbten Wasser schielte – „Wie, Du glaubst es nicht, Heinz? … Ei, da wollt’ ich doch, sie hätte Dich so angesehen, so schlimm –“

Jetzt war er überwunden. Er zog die Tabakspfeife aus dem Munde, spuckte heftig aus und richtete in einem lächerlichen Gemisch von Triumph und Besorgniß die zerkaute Pfeifenspitze gegen mich.

„Was hab’ ich immer gesagt, he?“ rief er. „Ich thu’s aber auch nicht wieder – nein, ich thu’ es ganz gewiß nicht wieder! … Meinetwegen können die Dinger haufenweise da d’rin liegen, ich rühre sie nicht wieder an – beileibe nicht!“ –

Da hatte ich ja etwas Schönes angerichtet mit meiner Neckerei.

Der kleine Fluß, der Wanderbursch, der so einsam durch die Haide lief, war reicher, als so mancher stolze Strom, der an Palästen und Menschengewühl vorüberrauschte – er hatte Perlen in der Tasche, allerdings in nur geringer Anzahl und bei weitem nicht brillant genug, um ein Königsdiadem, oder auch nur einen eleganten Ring zu schmücken. Aber was verstand ich davon! Ich liebte die kleinen mattglänzenden Dinger, die so rund und beweglich über meine Handfläche liefen. Stundenlang watete ich durch das Wasser und suchte nach Muscheln; ich brachte sie Heinz, der sich auf das Oeffnen der Schalen verstand – wie er das machte, war sein Geheimniß. Nun aber kündigte er mir kurz und bündig den Dienst, weil er sich steif und fest einbildete, die Wasserfrau werde uns als Spitzbuben den Proceß machen.

„Geh’, Heinz, es war ja nur ein dummer Spaß!“ sagte ich kleinlaut. „Lasse Dir doch nichts weis machen!“ – Ich bog mich über das Wasser, das bereits anfing, sich wieder zu glätten. „Da sieh selber – was guckt da herauf? … Nichts, weiter gar nichts, als meine zwei eigenen schauderhaften Augen. … Warum sie nur so unmenschlich weit offen sind, Heinz! Bei Fräulein Streit war es nicht so schlimm und bei Ilse auch nicht.“

„Nein, bei Ilse auch nicht,“ gab Heinz zu. „Aber Ilse hat scharfe Augen, Prinzeßchen, scharfe.“

Er hatte mir anfänglich mit seiner furchtbaren Faust gedroht, allerdings unter einem gutmüthigen Schmunzeln – Heinz konnte nicht böse werden – bei seiner letzten unleugbar weisen und schlagenden Bemerkung aber kniff er wichtig die Lippen zusammen, zog die borstigen Augenbrauen bis unter den Hut und fuhr sich in die Haarbüschel, die strohgelb und dürr von den Schläfen starrten – sie knisterten förmlich in der heißen Abendsonne.

Darauf blies er eine mächtige Rauchwolke vor sich hin, zum Entsetzen der spielenden Mückenschwärme, die sich eiligst aus dem Staube machten; auch daheim die Ilse „mit den scharfen Augen“ behauptete stets empört, das sei ein Kraut zum Umbringen – nur ich hielt Stand, und wenn ich hundert Jahre erreichen sollte, der übelberufene Duft wird mich zu allen Zeiten sofort in die warme dunkle Ofenecke versetzen, mit dem ganzen Wonnegefühl des heimischen Geborgenseins neben Heinz auf der Holzbank kauernd, während draußen der heulende Schneesturm über die weite Haidefläche braust, und ganze Batterien Eissplitter gegen die Fensterscheiben tosen.

Ich sprang zu ihm an das Ufer, und da kam auch gerade Mieke heran und rupfte zutraulich an einigen Quecken, die halbzertreten unter Heinzens Schuhen hervorguckten.

„Je – wie sieht denn die aus?“ lachte er auf.

„O, ich bitte mir’s aus, da wird nicht gelacht!“ schalt ich.

Mieke hatte sich prächtig herausstaffirt. Zwischen den weitabstehenden Hörnern hing ihr eine Guirlande von strahlendgelben Ringelrosen und Birkenlaub – ich fand, sie trüge diesen Schmuck so majestätisch und ungezwungen, als sei er mit ihr auf die Welt gekommen – eine Kette aus den dicken Stengelröhren der Hundeblume umschloß ihren Hals, und selbst an der Schwanzspitze baumelte ein Haidesträußchen; es kollerte lustig über den tonnenförmigen Leib herab, sobald Mieke den Wedel hob und nach den Stechmücken auf ihrem Rücken schlug.

„Sie sieht sehr feierlich aus – aber das verstehst Du nicht,“ sagte ich. „Nun paß auf und rathe, Heinz: Mieke hat sich geputzt, und auf dem Dierkhofe ist heute Kuchen gebacken worden – also, was ist los?“

Aber da hatte ich an seine allerschwächste Seite appellirt; rathen war nicht Freund Heinzens Sache. In solchen Momenten stand er stets hülfsbedürftig und bänglich vor mir, wie ein zweijähriges Kind – auch in diese Situation brachte ich ihn um Alles gern.

„Schlaukopf, Du willst mir nur nicht gratuliren!“ lachte ich. „Aber das wird Dir nicht geschenkt! … Lieber, allerbester Heinz, heute ist mein Geburtstag!“

[515] Da flog es wie Freude und Rührung über das gute, dicke Gesicht; er hielt mir die ungeschlachte Hand hin, in die ich herzlich einschlug.

„Und wie alt ist denn meine Prinzessin geworden?“ fragte er mit consequenter Umgehung jedweder Glückwunschrede.

Ich lachte ihn aus. „Weißt Du das wieder nicht? … Merk’ auf: Was folgt, auf sechszehn?“

„Siebzehn – was? Siebzehn Jahre? … Ist nicht wahr – solch ein kleines Kind! – Ist ja nicht wahr!“ – Er hob protestirend beide Hände.

Dieser tiefe Unglaube empörte mich. Allein mein alter Freund, der es sich bis zu seinem zwanzigsten Jahre hatte angelegen sein lassen, mit der himmelstürmenden Tanne um die Wette zu wachsen, er war nicht so ganz im Unrecht. … Seit bereits drei Jahren reichte mein Ohr genau so hoch, daß es Heinzens starkes Herz pulsiren hören konnte – nicht um eine Linie höher war es in dieser langen Zeit gerückt. Ich war und blieb ein kleines Wesen, das sich gezwungen sah, auf Kinderfüßen durch das Leben zu huschen; und das nahm mir, nach Heinzens Begriffen von einem normalen Menschenkind, offenbar auch die Berechtigung, mit jedem Jahre älter zu werden.

Trotz alledem zankte ich ihn tüchtig aus; aber diesmal half er sich als Politikus – er wechselte das Thema. Statt aller Antwort zeigte er mit dem Daumen über die Schulter zurück und sagte schmunzelnd: „Da drüben giebt’s einen extra Geburtstagsspaß, Prinzeßchen – sie graben den alten König aus!“

Mit einem Sprunge stand ich außerhalb des Gebüsches.

Ich mußte beide Hände schützend über die Augen halten, so überwältigend flimmerten und brannten die rothen Abendgluthen. Drüben hinter der fernen Waldlinie schossen sie spießartig durch dünne Dunst- und Wolkenschichten – dort umritten die alten Recken der Vorzeit die weite Haide und rührten mit den funkelnden Speeren an den Himmel.

Noch blühte die Erica nicht – glatt, wie über einen Tisch, breitete sich die grünlichbraune Pflanzendecke hin; nur fünfmal hob und wölbte sie sich in jäher Anschwellung über fünf Hünenbetten, über ein großes und vier kleinere. Sie deckten Riesenleiber, wie der Volksmund sagte, ein verschollenes Geschlecht, unter dessen Schritt einst die Erde seufzte, und das mit mächtiger Faust Felsblöcke wie Kiesel umherwarf. Auf dem Rücken des großen Hügels hatte sich Wachholdergebüsch eingenistet, und an den Flanken herab stand gelbblühender Ginster. Ob ein Vogel das Samenkorn hierhergetragen, oder ob Menschenhand die einsame alte Föhre gepflanzt hatte, genug, sie stand da, seitwärts auf dem Grat des Hügels, dünn benadelt und windzerzaust, und im Wachsthum unterdrückt durch die Schneelasten des Winters; aber doch stolz als einziger, unbeschützter Baum inmitten der weiten Ebene, der mit jedem Sturm um sein Leben ringen mußte.

„Da liegt der alte König begraben; denn der Baum steht da, und es blühen gelbe Blumen – das haben die anderen nicht,“ sagte ich als Kind zu Heinz, wenn wir auf dem Hügel saßen. Und ich wußte, da, wo der Baum stand, lag das gewaltige Königshaupt mit dem Goldreifen über der Stirn, und der lange, lange Weißbart fiel auf die Purpurdecke, die sie über seine Glieder gebreitet hatten. Die tiefste Einsamkeit webte um das schlafende Geheimniß; aber die Vögel, die vom Walde herüberkamen und auf dem Wipfel der Föhre rasteten, die um Ginster und Haide taumelnden, blauglänzenden Schmetterlinge und die summenden Bienen, sie alle waren meine Mitwisser. Und still athmend, die Hände unter dem Kopf verschränkt, lag ich im Gebüsch und sah die Ameisen in die Erdlöcher schlüpfen und wieder hervorkommen – sie wußten noch mehr als wir Anderen, sie hatten Alles drin gesehen und waren wohl gar über die Purpurdecke gelaufen. Ich beneidete sie und fühlte heftige Sehnsucht nach den verborgenen Wundern.

Bis zu dieser Stunde war der große Hügel mein Garten, mein Wald, mein unbestrittenes Eigenthum gewesen. Der Dierkhof, meine Heimath, lag mutterseelenallein in der Haide; ein selten betretener Weg, der sie mit der Außenwelt verband, lief vom Walde her und ließ die Hünengräber weit abseits liegen – nie, so lange ich denken konnte, war ein fremder Menschenfuß in ihr Bereich getreten. … Nun stand auf einmal dort ein Trupp unbekannter Leute; sie rissen große Erdbrocken aus dem Leib des Hügels. Ich sah die hochgeschwungene Hacke – wie ein feiner, schwarzer Strich hob sie sich vom flammenden Himmel ab, und so oft sie niedersank, war es mir, als schneide sie in das lebendige Fleisch eines geliebten Körpers.

Ohne Besinnen lief ich querfeldein, erfüllt von unsäglichem Mitleiden, aber auch getrieben von dem brennenden Verlangen, zu sehen, was dort an das Tageslicht treten würde. Spitz lief kläffend neben mir her, und als ich athemlos an Ort und Stelle Halt machte, da trabte auch Heinz in seinem Siebenmeilenschritt heran.

Jetzt erst überkam mich das Gefühl der Scheu, jener kindische Schrecken, den mir ein fremdes Gesicht stets einflößte. Ich wich zurück und griff beklommen nach Heinzens Rockzipfel – das gab mir wenigstens einigermaßen das Bewußtsein von Halt und Schutz.




2.

Am Hügel standen drei Herren in schweigender Erwartung, während mehrere Arbeiter gruben und schaufelten. Auf den gräulichen Lärm hin, den Spitz machte, wandten sich die Fremden einen Augenblick nach uns um, und Einer, anscheinend der Jüngste, unter ihnen, hob den Stock gegen das Thier, als es Miene machte, ihm näher zu kommen. Dann ließ er seine Augen kalt musternd über Heinz und mich hingleiten und kehrte uns wieder den Rücken.

Es war unter der Föhre eingeschlagen worden. Das herausgerissene Ginstergebüsch lag weithin zerstreut; da, wo es gestanden, klaffte eine weite Oeffnung, und oben aus dem Bruch, aus dem elenden Gemisch von Lehm und gelblichem Sande, hingen dicke Wurzeln, Ausläufer der Föhre, herab – sie zeigten das weiße Fleisch, die Hacke hatte sie unbarmherzig zerschnitten.

„Da wären wir auf dem Stein,“ sagte einer der Herren, als die Werkzeuge klirrend aufschlugen.

Man räumte die letzten Erdschollen hinweg, und es wurde ein mächtiger, roher Felsblock sichtbar.

Die Herren traten seitwärts, indeß die Arbeiter sich anschickten, den Stein wegzuwälzen. Heinz aber rückte gespannt näher; die Männer machten ihm die Sache offenbar nicht praktisch und handlich genug. Das rechte Bein weit vorgestreckt, hob und senkte er in stillschweigender Mitwirkung die geballten Fäuste; und die Tabakspfeife feierte mittlerweile auch nicht – ich sah plötzlich die Köpfe der Fremden nur noch durch einen bläulichen Nebel. Das aber machte einen Effect, einen Effect, den Ilse hätte sehen müssen.

Der junge Herr, hinter welchem mein guter Freund stand, fuhr herum, als habe er unversehens einen Schlag erhalten. Er maß den unglücklichen Raucher mit einem langen, vernichtenden Blicke und fuhr voll Abscheu mit seinem seidenen Taschentuch durch die Luft, um die Rauchwolken zu zerstreuen.

Heinz nahm wortlos das Corpus delicti aus dem Munde und ließ es schlaff an der Seite niedersinken – er war über die Maßen verblüfft. Einen solchen Eindruck hatte sein Tabak doch noch nicht gemacht. Mich aber hatte das Benehmen des Fremden tief erschreckt und eingeschüchtert; ich schämte mich und hob eben den Fuß, um das Weite zu suchen, als der Stein aus dem Gefüge wich und unter dumpfem Gepolter einige Schritte vorwärts gerollt wurde.

Das fesselte mich sofort wieder an den Boden.

Im ersten Augenblick konnte ich nichts sehen; denn die Herren umdrängten die Oeffnung; aber ich wollte auch plötzlich gar nicht mehr. Das Blut stieg mir beängstigend nach den Schläfen, und unwillkürlich wandte ich die Augen weg, denn ich meinte, jetzt müsse etwas Ueberwältigendes kommen.

„Potztausend – das wär’s?“ rief Heinz mit dem Ausdruck überwältigender Ueberraschung.

Ich sah hinüber – und da war es mir für einen Moment, als seien alle Farben und Lichter der Haide erloschen, als falteten alle die blauglänzenden Schmetterlinge die Flügel und sänken zusammen und die funkelnden Speere am Horizont, wo waren sie hin? Dort ging nur noch die Sonne unter. … Im Hügel lag nicht der greise König mit dem lang herabfließenden Silberbart, die Riesenglieder unter die Purpurdecke gebettet – eine dunkle, leere Höhle gähnte mich an.

Die Fremden schienen dies Ergebniß ganz in der Ordnung zu finden. Einer, der eine Brille trug und auf dem Rücken eine lange Blechbüchse hängen hatte, kroch in die Oeffnung, und der [516] junge Herr folgte ihm, während der Dritte, ein großer, schlanker Mann, die innere Fläche des fortgewälzten Granitblockes untersuchte. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, er wandte mir den Rücken; aber ich hielt ihn für alt; denn er hatte langsame Bewegungen, und der schmale Streifen kurz verschnittenen Haares, der unter dem braunen Hut hervorsah, war entschieden grau.

„Der Stein ist bearbeitet,“ sagte er, indem seine Hand leicht über die Fläche glitt.

„Die anderen Träger auch!“ rief eine Stimme aus dem Hügel. „Und welch einen riesigen Deckstein haben wir über uns! Ein wahres Prachtstück von einem erratischen Block!“

Der junge Herr erschien wieder in der Oeffnung. Er mußte sich tief bücken, und dabei entfiel ihm der Hut. Bis dahin hatte ich wenige Männer gesehen – außer Heinz, dem alten Pfarrer des nächsten, ziemlich zwei Stunden entfernten Dorfes und einigen dort ansässigen grobknochigen und wortkargen Hofbesitzern war mir nur hier und da ein schmutziger Besenbinderjunge über den Weg gelaufen. Ich hatte mithin keine Gelegenheit gehabt, mich mit dem Begriff von Männerschönheit zu beschäftigen. Aber auf dem Dierkhofe hing ein Bild Karl’s des Großen; an das mußte ich denken, als die unbedeckte Stirn dort aus der schwarzen Höhle auftauchte; wie ein breiter, weißer, fleckenloser Schild glänzte sie unter den aufbäumenden kastanienfarbenen Haarmassen, die mit einem energischen Zurückwerfen des Kopfes zurückgeschüttelt wurden.

Der junge Mann hielt ein großes Thongefäß von gelblich-grauer Farbe in den Händen.

„Vorsicht, Herr Claudius!“ mahnte der Herr mit der Brille, der ihm folgte und selbst verschiedene fremdartige Geräthschaften in der Linken trug. „Im ersten Augenblick sind diese Urnen sehr zerbrechlich; sie erhärten aber schnell an der Luft –“

Dazu kam es nicht. In demselben Moment, wo die Urne auf den Granitblock gestellt wurde, zerbarst sie; eine Wolke von Asche stiebte auf, und halb verkohlte menschliche Gebeine flogen und rollten nach allen Seiten hin.

Der Brillenträger stieß einen Laut des Bedauerns aus. Er ergriff mit der zart zugespitzten Rechten behutsam eine der Scherben, schob die Brille auf die Stirn und besah die Thonmasse an dem frischen Bruch.

„Ah bah, der Schaden ist nicht groß, Herr Professor!“ sagte der junge Mann. „Da drin stehen noch mindestens sechs Stück, und die Dinger gleichen sich wie ein Ei dem andern.“

Der Herr Professor verzog das Gesicht, als habe er Essig geschluckt.

„Ei, ei, das klingt ja recht – laienhaft!“ meinte er scharf.

Der Andere lachte auf, und das war ein wunderschönes Lachen. Es klang hell und übermüthig, und doch so wohlthuend beherrscht. Er schien es übrigens sofort zu bereuen, sein Gesicht wurde sehr ernst.

„Ich bin ja auch nur ein Laie, wenn auch ein passionirter,“ entschuldigte er sich. „Deshalb müssen Sie schon Gnade für Recht ergehen lassen, wenn der Neuling hier und da die strengen Zügel der Wissenschaft verliert und ein wenig querfeldein galoppirt. … Mir lag hauptsächlich daran, mich über den innern Bau dieser Grabdenkmäler zu informiren, und – ah, wie prächtig!“ unterbrach er sich und nahm eines der seltsamen Geräthe, die der Professor mittlerweile auf dem Steine ausgebreitet hatte.

Der gelehrte Herr hörte augenscheinlich die Entschuldigung des jungen Mannes gar nicht. In tiefes, man hätte sagen können peinliches Nachdenken versunken, hielt er einen kleinen Gegenstand prüfend bald gegen das Licht, bald dicht unter die Augen.

„Hm, hm, eine Art Filigranarbeit von Silber! Hm, hm!“ murmelte er vor sich hin.

„Silber in einem vorgeschichtlich germanischen Grabhügel, Herr Professor?“ fragte der junge Mann nicht ohne spöttische Betonung. „Sehen Sie hier dies köstliche Bronzestück!“ Es war ein Dolch oder Messer, was er ergriffen hatte. Er hob und senkte wie zum raschen Stoß die Waffe, dann wog er sie lächelnd auf den Fingerspitzen. „Einer Germanenfaust hätte dies zierliche Ding da sicher nicht genügt – sie hätte es im ersten Augenblick zerdrückt,“ sagte er. „Und ebensowenig hat sie den zarten Silberschmuck geschaffen, den Sie da in der Hand halten, Herr Professor. … Schließlich behält Doctor von Sassen doch Recht, wenn er diese sogenannten Hünengräber als Begräbnißstätten phönicischer Anführer bezeichnet.“

Doctor von Sassen! Wie mich’s durchfuhr bei diesem Namen! Hatte der Sprecher dort nicht mit dem Finger auf mich gezeigt? Und richteten sich nicht sofort Aller Augen auf meine arme, kleine erschrockene Person? … Alle diese Augen! Ich hätte mich in die Erde verkriechen mögen! … Ach, welcher Kindskopf war und blieb ich doch! Man kümmerte sich so wenig um mich, wie vorher auch – ich wollte aufathmen; aber o weh, an ihn hatte ich nicht gedacht! Dort stand er, Monsieur Heinz, der Pfifficus, nickte mir mit überaus schlauer Miene zu und schrie hinter der hohlen Hand: „He, Prinzeßchen, die Leute sprechen von –“

„Still, Heinz!“ fuhr ich ihn an – zum ersten Mal in meinem Leben, und zum ersten Mal auch trat ich heftig mit dem Fuße auf.

Er sah mich einen Moment wie versteinert an, dann wandte er scheu die Augen nach der andern Seite. Die Arbeiter aber waren aufmerksam geworden; sie schienen jetzt erst zu finden, daß der Gegenstand da hinter ihnen nicht ein Dornbusch oder dergleichen, sondern ein kleines furchtsames Mädchen war. Sie starrten mich mit einer Art von lächelnder Neugier unverwandt an; ich wäre am liebsten auf und davon gelaufen; allein es hielt mich Etwas unwiderstehlich fest, und ich war damals der unumstößlichen Ueberzeugung, es sei einzig und allein der Wunsch, noch Etwas über den Träger jenes Namens zu hören.

Zudem beruhigte es mich, daß die fremden Herren Heinzens Bemerkung nicht gehört hatten. Mit den „phönicischen Anführern“ waren zwei zündende Funken in die Seele des Professors gefallen. Offenbar ein Gegner dieser Hypothese, verfocht er seinen Standpunkt in leidenschaftlich heftiger Rede, welcher der junge Mann mit pflichtschuldiger Aufmerksamkeit folgte.

Der Herr im braunen Hut dagegen betheiligte sich weniger an den gelehrten Auseinandersetzungen. Ruhigen Schrittes wandelte er auf und ab. Er sah lange in das aufgebrochene Hünengrab; später bestieg er den Hügel und übersah die weite Ebene.

Inzwischen war die lodernde Abendröthe erblaßt und sank am Horizont in tiefvioletten Tinten zusammen; nur an dem langen dünnen Wolkenstreifen, der sich wie ein dräuender Arm über die entweihte Todtenstätte reckte, lief noch ein röthlicher Hauch hin. Der falsche Flitter eines vergänglichen Schauspiels verflog, und droben breitete sich wieder der ernste Himmel in verdunkeltem Blau. Nun trat auch die bleiche Mondsichel, dieser scheinbare Nebelfleck, den das allgemeine Gluthmeer völlig verschlungen hatte, wieder hervor und fing an, sich schwach golden zu färben.

Der Herr auf dem Hügel zog seine Uhr hervor.

„Es ist Zeit zum Aufbruch!“ rief er hinab, „Wir brauchen eine volle Stunde, ehe wir den Wagen erreichen!“

„Ja, Onkel, leider Gottes eine starkgemessene Stunde!“ antwortete der junge Mann. „Ich wollte, wir hätten dies verwünschte Haidegestrüpp bereits hinter uns,“ sagte er mit einem Blick auf seine feinbekleideten Füße mißmuthig zu dem Professor, der seine Rede unter einem nachdrücklichen „Eh, wir werden ja sehen!“ eiligst geschlossen hatte. „Müssen wir wirklich auf dem heillos schlechten Wege wieder zurück?“

„Ich weiß keinen besseren!“ versetzte achselzuckend der Gelehrte.

Der Andere ließ seine Augen finster über die weite Fläche hingleiten.

„Es ist so still, die Haide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle“ –

recitirte er mit spöttischem Pathos. „Ich begreife nicht, wie man die Haide besingen kann. Mir würde der poetische Gedanke im Gehirn, das schildernde Wort im Munde erstarren. … Ist es Ihnen wirklich Ernst mit Ihrer Vorliebe für diese furchtbare Einöde, Herr Professor? Ich bitte Sie, dann zeigen Sie mir etwas Anderes, als Haide und abermals Haide, dieses entsetzliche braune Gespenst! Hören Sie auch nur einen Ton aus einer Vogelkehle? Und wohin verkriecht sich das menschliche Leben und Treiben, das doch durchaus existiren soll? Steckt es unter der Erde? … Ich kann mir nicht helfen, Ihre Haide ist das ausgestoßene Kind Gottes in brauner Kutte!“

Der Professor sagte kein Wort. Er schob nur den jungen Mann um einige Schritte seitwärts, dahin, wo die Lehne des Hügels rasch abfiel, faßte ihn an den Schultern und ließ ihn über den Hügel hinweg nach Süden sehen.

Dort lag der Dierkhof. Sein festes schweres Dach, mit der [517] Haidegarnitur unter jeder Ziegelreihe, hob sich stattlich inmitten vier mächtiger Eichen. Kräftige Rauchwolken, an brodelnde Töpfe auf dem wohlbesetzten Herd erinnernd, wirbelten durch die Aeste und zerflossen in der weichen Sommerluft, hoch über der schwarzweißen Frau Störchin, die, die nackten Beine im Reisernest, nachdenklich den rothen Schnabel über die helle Brust hängen ließ. Es war noch hell genug, daß man das tiefe Grün der sorgfältig gepflegten Rieselwiesen und ein schwaches Glimmen hinter der Garteneinhegung erkennen konnte – es sah aus, als sei dort ein Widerschein des farbensprühenden Abendhimmels liegen geblieben – das waren Ilse’s Lieblinge, die dickköpfigen orangegelben Ringelblumen. … Und da trabte eben auch Mieke, jedenfalls sehr satt und sehr gelangweilt, auf eigene Faust heimwärts. Sie blieb einen Augenblick dumm und faul vor dem gastlich offenen hochgewölbten Hausthor stehen und besann sich, ob sie hineingehen solle, – dies prächtige Thier vervollständigte das Bild ländlicher Wohlhabenheit.

[529] „Sieht das aus, als ob schwachsinnige Troglodyten dort hausten?“ fragte lächelnd der Professor. „Und kommen Sie in einem Monat wieder, wenn die Haide blüht, wenn sie purpurn flimmert und schimmert! Dann ist sie märchenhaft! Noch später aber trieft sie von flüssigem Gold, von dem Golde des Honigs – und was wollen Sie? Das ‚ausgestoßene Kind Gottes‘ schmückt sich wie ein Königstöchterlein – viele der kleinen dunkeln Haidebäche, wie Sie dort drüben einen sehen, haben Perlen.“

„Ja, Milliarden Wasserperlen, die in’s Meer fließen!“ lachte der junge Herr.

Der Professor schüttelte ungeduldig den Kopf. Ich hatte ihn auf einmal herzlich lieb, den Mann, trotz seines vertrockneten Gesichts, seiner vielen Fremdwörter und der häßlichen, rasselnden Blechbüchse auf dem Rücken. Er vertheidigte ja meine Haide, er hatte mit wenigen Worten den ganzen Zauber und Segen, den sie athmete, zur Geltung gebracht. Der junge Spötter mit dem verächtlich lächelnden Munde aber, der mir mit jedem seiner Worte auf das Herz trat, er mußte beschämt werden. Ich weiß noch heute nicht, woher ich den Muth nahm, aber ich stand plötzlich an seiner Seite und hielt ihm schweigend die Hand hin, in der fünf Perlen lagen.

Mir war, als sei ich auf glühende Kohlen getreten; ich fühlte, wie mir die Lippen zitterten vor Scheu und Angst, und meine Augen hingen fest am Boden. Es wurde dunkel um mich her, man umringte mich; der Herr, der inzwischen vom Hügel niedergestiegen war, die Arbeiter, alle kamen heran, und neben mir sah ich Heinzens riesenhafte Schuhe.

„Na, nun sehen Sie ’mal, Herr Claudius, das Kind da will Sie überführen! … Brav, mein Töchterchen!“ rief überrascht und vergnügt lachend der Professor.

Der junge Herr sagte kein Wort. Vielleicht war er erstaunt über die Dreistigkeit, mit der sich das Kind der Haide im groben Leinenhemd und kurzen Wollröckchen neben ihn stellte. Langsam, ich meinte, mit Widerwillen griff er herüber – und jetzt erschrak ich erst recht bis in’s Herz und schämte mich. Unter diesen elfenbeinweißen schlanken Fingern mit den mattglänzenden Nägeln erschien meine sonnenverbrannte Hand völlig kaffeebraun; sie zuckte unwillkürlich zurück, und um ein Haar hätte ich die Perlen verschüttet.

„Wahrhaftig, sie sind noch nicht durchbohrt!“ rief er und ließ zwei der winzigen Kügelchen über seine Handfläche rollen.

„Form und Farbe lassen freilich viel zu wünschen übrig – sie sind sehr grau und unregelmäßig,“ entschuldigte der Professor. „Es sind eben kleine Baroqueperlen ohne sonderlichen Werth; aber sie bleiben immerhin eine interessante Erscheinung.“

„Ich möchte sie gerne behalten,“ sagte der junge Mann; das klang wie eine höfliche Bitte.

„Nehmen Sie,“ antwortete ich kurz, ohne aufzusehen; ich meinte, man müsse in jedem Wort mein Hasenherz klopfen hören.

Er las behutsam die übrigen Perlen von meiner Hand auf, und jetzt sah ich, wie der Herr im braunen Hut, der vor mir stand, ein glänzendes Gewebe, in welchem es leise klirrte, aus der Tasche zog.

„Hier, mein Kind,“ sagte er und legte mir fünf große, runde, hellglänzende Stücke in die Hand.

Zu ihm schlug ich die Augen auf. Ich sah eine breite Hutkrempe, die das halbe Gesicht verdeckte, dann kam eine große blaue Brille, von der ein leichenhafter Schein auf die Wangen fiel.

„Was ist das?“ fragte ich, bei aller Befangenheit doch ergötzt durch das Geflimmer und die Form der fremdartigen Dinge.

„Was das ist?“ wiederholte der Herr erstaunt. „Wissen Sie denn nicht, was Geld ist, kleines Mädchen? Haben Sie noch keinen Thaler gesehen?“

„Nein, Herr, das weiß sie nicht,“ antwortete Heinz mit wahrhaft väterlicher Autorität für mich. „Die alte Frau leidet kein Geld im Hause; was sie findet, wirft sie ohne Gnade in den Fluß.“

„Wie! … Und wer ist denn diese seltsame alte Frau?“ fragten die drei Herren fast zugleich.

„Nu, dem Prinzeßchen seine Großmutter.“

Der junge Herr lachte laut auf. „Diesem Prinzeßchen?“ fragte er und zeigte auf mich.

Ich ließ die Silberstücke auf den Boden hinrollen und entfloh. … Böser, böser Heinz! … Aber warum hatte ich ihm auch die Geschichte von der überaus zarten und feinen Prinzessin auf dem Erbsen-Prüfstein erzählt! und warum hatte ich’s gelitten, daß er mich seitdem „Prinzeßchen“ titulirte, weil er sich einbildete, es gäbe nichts Kleineres und Feineres, als das leichtfüßige Menschenkind, das an seiner Seite die Haide durchstreifte!

Ich lief wie gehetzt heimwärts. Das Spottgelächter des jungen Mannes jagte mich, und ich hatte das dunkle Gefühl, [530] als würde es mir nicht mehr in den Ohren klingen, wenn ich meinen Kopf unter das Dach des Dierkhofes stecken könnte.

Unter dem Hausthor stand Ilse und schaute offenbar nach mir aus; denn Mieke war ja allein heimgekommen. Meine Blicke klammerten sich schon von ferne förmlich an die Gestalt, die in harten, eckigen Umrissen aus dem Dämmerdunkel der hinter ihr sich lang hinstreckenden Tenne hervortrat. … Wie hatte ich den blonden Kopf dort so lieb! Er war genau so strohgelb wie Heinzens ausgedörrte Schläfenhaare, und die Scheitellinie entlang strebte stets eine eigensinnig krause Wolke aufwärts. Ilse hatte auch dieselbe scharfkantige Nase wie ihr Bruder, und das gesunde, frische Blut, das ihr die Backenknochen schön roth lackirte, aber die Augen, die scharfen Augen, die Bruder Heinz so ängstlich respectirte, sie waren anders, und als ich näher heran kam, gefielen sie mir nicht.

„Bist Du toll geworden, Lenore?“ rief sie mir in ihrer gewohnten knappen Kürze zu – sie war böse, so böse, wie sie bei ihrem außerordentlich festen inneren Gleichgewicht überhaupt werden konnte, – denn sie nannte mich beim Namen, und das geschah nur, wenn sie zürnte. Dann schwieg sie und zeigte nur streng auf den Fleck, wo ich stand. Mein Blick glitt hinab, und da sah ich allerdings Etwas, das auch mir äußerst fatal war, nämlich meine nackten Füße.

„Ach, Ilse, Schuhe und Strümpfe liegen noch am Fluß!“ sagte ich niedergeschlagen.

„Unverstand! … Gleich holen!“

Sie schwenkte um und schritt nach dem Herd zurück, der, zwar nach moderner Art als Sparherd eingerichtet, doch seine altgewohnte Stelle im echt niedersächsischen Hause, nämlich am hintersten Ende der Dresch- oder Viehdiele, siegreich behauptete. Ilse hatte Speck auf dem Feuer, er prasselte und duftete kräftig herüber, und in dem brodelnden Kartoffeltopf stiegen die großen Wasserblasen auf.

Das Abendbrod war nahezu fertig, ich mußte eilen, wenn ich rechtzeitig zurück sein wollte. Allein aus dem Hausthor trat ich nicht um die Welt wieder. Verließ ich das Haus durch eine der rückwärts gelegenen Thüren, dann war ich gedeckt durch den Dierkhof selbst und konnte den Fluß erreichen, ohne daß die drüben am Hügel mich bemerkten.




3.

Ich schritt nach der Seitenthür, die zwischen der Dreschdiele und den Wohnungsräumen in’s Freie, in den sogenannten Baumhof, führte. Allein Ilse vertrat mir den Weg und hob abmahnend den Zeigefinger.

„Da hinaus kannst Du nicht, da steht die Großmutter!“ sagte sie mit unterdrückter Stimme.

Die Thür stand offen, und ich sah, wie meine Großmutter den Arm des Pumpbrunnens in rasender Geschwindigkeit auf- und niederschleuderte – ein Schauspiel, das mich sonst nicht befremdete, ich hatte es täglich vor Augen.

Meine Großmutter war eine große, starkbeleibte Frau mit einem Gesicht, das von den Scheitelhaaren an bis auf den breiten Hals hinab zu allen Zeiten eine gleichmäßig brennende Röthe überlief. Diese Färbung der ohnehin starken und auffallend gebildeten Züge über der wuchtigen Gestalt mit den weitausholenden Schritten und den energischen, kraftvollen Armbewegungen machte sie zu einer wilden, furchtbaren Erscheinung, und wenn ich sie mir jetzt noch vergegenwärtige in jenen Augenblicken, wo sie unversehens an mir vorüberschoß, und ich höre wieder das Kreischen und Schüttern der Dielen unter ihren Füßen und fühle ein Wehen, als sei ein Windstoß vorbeigebraust, dann muß ich, trotz ihrer schwarzen Augen und der streng orientalischen Profillinie, doch an jene gewaltigen Cimbernweiber denken, die, das Thierfell um den Leib geschlagen und die Streitaxt in der Hand, sich mitten in den wogenden Kampf der Männer warfen.

Sie hielt den Kopf unter den dicken Wasserstrahl; er schoß ihr über das Gesicht und an den außerordentlich starken, grauen Zöpfen hinab, die in den Brunnentrog hingen. Das that sie immer, auch im eisstarrenden Winter; es schien ihr diese Erfrischung so unentbehrlich wie die Lebenslust zu sein. Heute aber befremdete mich ihre Gesichtsfarbe mehr als je; selbst unter dem kalt niederströmenden Wasser spielte sie in ein tiefes, beängstigendes Braunroth hinüber, und als die gewaltige Frau, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf schüttelnd in den Nacken warf und in dem wohligen Gefühl der Erquickung mit geöffnetem Munde einige Mal kräftig ausathmete, da hoben sich die Lippen bläulich dunkel von den großen, weißen Zähnen.

Ich sah Ilse an; sie blickte wie selbstvergessen hinüber, und ihre hartblauen, strengen Augen schmolzen in dem Ausdruck tiefster Bekümmerniß und Trauer.

„Was ist mit der Großmutter?“ fragte ich beklommen.

„Nichts – es ist schwül heute,“ antwortete sie kurz. Es war ihr sichtlich fatal, auf dem schmerzvollen Blick ertappt worden zu sein.

„Giebt’s denn kein Mittel gegen diesen furchtbaren Blutandrang nach dem Kopfe, Ilse?“

„Sie nimmt nichts – das weißt Du. … Gestern Abend hat sie mir das Fußbad vor die Füße geschüttet. … Jetzt geh’, Kind, und hole Deine Sachen.“

Damit schritt sie nach dem Herd, und ich verließ pflichtschuldigst das Haus durch eine zweite Seitenthür. Ich sprang nach dem Fluß, der kaum dreißig Schritte hinter dem Dierkhof hinlief, und versuchte, durch das Ufergebüsch zu schlüpfen. Das war nicht so leicht in dem engen Geflecht, das unberührt von Menschenhand wachsen durfte, wie es Lust hatte. Aber ich wand mich unverdrossen weiter, denn die zähen Weiden, wenn sie auch nach mir zurückschlugen und meine nackten Füße schmerzend rieben, schützten mich doch vollkommen vor den fremden Blicken, und nachdem ich bereits eine bedeutende Strecke zurückgelegt hatte, segnete ich diesen Schutz doppelt; denn schräg über die Haide her kamen die Herren, Heinz voran, und schritten direct auf den Fluß zu. Nun hoffte ich, vor ihnen die kleine Bucht zu erreichen, wo ich meine Fußbekleidung abgelegt hatte, allein ich kam bei aller Anstrengung nicht so rasch vorwärts, wie die Fremden, und kauerte mich resignirt, ziemlich nahe am Ziele, im Gebüsch auf dem Boden nieder.

Was sie hierher führte, konnte ich mir denken, Heinz zeigte ihnen den schmalen, neben dem Ufergebüsch hinlaufenden Grasstreifen. Da ging sich’s freilich anders, als im spröden, starren Haidekraut, der Weg war sammetweich, wie geschaffen für verwöhnte Füße. Die Herren kamen dicht an mir vorüber, ich hörte das Knistern ihrer Tritte, und leise wurden die Zweige gestreift, die auch meinen Arm berührten. An der Birke blieben sie stehen.

„Aha, hier hat das Haideprinzeßchen Toilette. gemacht!“ rief der junge Herr. Mir stockte der Athem. Ich bog mich vor und sah, wie er einen der Schuhe vom Boden aufnahm. Nun wußte ich, bei aller Unberührtheit von Welt und Leben, dennoch recht gut, wie ein zarter Frauenschuh aussehen mußte. Ich hatte im Märchen von silbergestickten Pantöffelchen, von kleinen rothen Schuhen gelesen, und das Papier, auf welchem diese reizvollen Zaubergeschichten standen, erschien mir noch viel zu dick und grob als Sohle dieser ätherischen Kunstgebilde aus Sammet und Seide. Das Unförmchen aber, das der Fremde dort lachend in die Höhe hielt, war vom stärksten Kalbleder – o Ilse, Dir wäre Holz noch nicht „derb und haltbar“ genug für meine unruhigen Füße gewesen!

Heute Morgen hatten die Schuhe vor meinem Bette gestanden, nagelneu und begleitet von zwei steifen Strümpfen, die Ilse selbst aus Haidschnuckenwolle gesponnen und gestrickt hatte – ihr stolzes Geburtstagsgeschenk für mich. Ich war glücklich, und Ilse hatte sehr zufrieden mit dem Kopfe genickt, denn der Schuhmacher hatte in liebender Fürsorge ein wohlgeordnetes Bataillon blitzblanker Nägelknöpfe über die fingerdicken Sohlen hinmarschiren lassen – jetzt funkelten diese gepriesenen Reihen förmlich feindselig zu mir herüber.

„Je – über das Kindchen! Hat richtig die Schuhe stehen lassen! – Ganz neue Schuhe!“ rief Heinz kopfschüttelnd. „Na, na, ich möchte Ilse hören!“ setzte er ängstlich besorgt hinzu.

„Wem gehört denn das Kind, das wir am Hügel gesehen haben?“ fragte der alte Herr im braunen Hute mit seiner weichen Stimme.

„Es gehört auf den Dierkhof, Herr.“

„Nun ja – aber wie heißt es?“

Heinz schob den Hut auf die rechte Seite und kraute sich hinter dem Ohr. Ich sah sie kommen, seine schlaue Antwort – er erinnerte sich offenbar jenes entsetzlichen Augenblicks, wo ich mit dem Fuß gestampft hatte, und – o, Heinz wußte sich zu helfen!

„Je nu, Herr, Ilse ruft sie ‚Kind‘, und ich sage –“

„Desgleichen Prinzeßchen,“ ergänzte der junge Herr in demselben gravitätischen Ton wie mein pfiffiger Freund. Wie vorhin [531] das Fundstück aus dem Hünenbett, so wog er jetzt das kleine Scheusal von einem Schuh auf der Hand: diesmal jedoch mit jener schwerfälligen Armbewegung, die etwas Gewichtiges ironisirt.

„Ah, die Damen der Haide belieben mit Nachdruck aufzutreten!“ sagte er zu dem Herrn im braunen Hute. „Charlotte müßte dieses feenleichte Prachtstückchen sehen, Onkel! … Ich hätte gute Lust, es ihr mitzubringen –“

„Keine Possen, Dagobert!" unterbrach ihn der Angeredete streng; Heinz aber schrie fast auf.

„Ei beileibe nicht, Herr! … O je – was würde Ilse sagen! – ganz neue Schuhe!“

„Brr – diese Ilse scheint mir der Drache zu sein, der das barfüßige Prinzeßchen bewacht! – – voilà!“ lachte der junge Mann und ließ den Schuh auf den Boden fallen. Darauf schlug er die Hände gegeneinander, um die etwaigen Staubreste von seinen Handschuhen zu entfernen.

Sie grüßten Heinz und schritten weiter, während mein alter Freund die Unglücksschuhe eifrig in seine weiten Rocktaschen packte. Er ließ ihnen auch die Strümpfe folgen, die er kopfschüttelnd eben noch auf einem Zweige entdeckte; dann trabte er eiligst nach dem Dierkhofe.

Ich verharrte noch eine kurze Zeit in meinem Versteck und horchte auf die Schritte der Fremden, die sich bald auf dem weichen Rasen verloren. Ich war sehr aufgeregt; damals wußte ich die Empfindung nicht zu bezeichnen, die mir den Hals zuschnürte und die mich mit verhaltenen Thränen ringen ließ, und der ich mich nichtsdestoweniger mit einer Art von leidenschaftlicher Genugthuung erst recht hingab – es war Groll, rachsüchtiger Groll. … „Wie einfältig!“ hatte ich bei Heinzens diplomatischer Antwort zwischen den Zähnen gemurmelt – jetzt konnte er getrost sagen, daß Doctor von Sassen mein Vater sei; aber nein, er hatte gesprochen, wie der weise Salomo, und ich war ihm gram, ich war bitterböse auf ihn.

Ich verließ das Gebüsch. Von dem Dierkhof stiegen keine Rauchwolken mehr auf; Ilse hatte längst die Kartoffeln in die Schüssel geschüttet; auf einem Teller lagen sicher die schönsten, abgeschält und goldgelb, und daneben stand ein Becher voll süßer Milch – Ilse verzog mich, wenn auch mit dem allerstrengsten Gesicht … Und jetzt wartete sie jedenfalls auf mich; aber heim ging ich noch nicht; ich mußte erst sehen, in welchem Zustande die Fremden den armen zerstörten Hügel zurückgelassen hatten.

Der Hügel sah besser aus, als ich erwartet hatte. Der Block war wieder in seine alte Stelle eingefügt worden, auch die zertrümmerte Erdschicht hatte man darüber hingeworfen, und die Scherben der Urne waren verschwunden. Nur das herausgerissene Gesträuch lag verschmachtend umher; über die schmale Sandblöße am Fuße des Hügels breitete sich noch ein bleicher Hauch der verstreuten Menschenasche, und unter einem Ginsterzweige halb versteckt lag ein feines, schwarzgebranntes Knöchelchen, für immer getrennt von den anderen, die man jedenfalls dem Grabe zurückgegeben hatte.

Ich nahm es behutsam auf – der junge Herr hatte Recht, es waren keine Riesen gewesen, die der Hügel deckte. Das zarte Gebild in meiner Hand mochte ein Fingerglied sein, einst vielleicht von rosigem Fleisch umhüllt, schlank gebaut, von so weißer, atlasglatter Haut bedeckt, wie die Hand, die ich heute gesehen, geliebt und bewundert und von köstlichem Metall schmeichelnd umschlossen, und an einer einzigen seiner Bewegungen hatte vielleicht das Wohl und Wehe vieler anderen Menschenkinder gehangen. Ich stieg auf den Hügel und grub es unter der Föhre ein. Der gute, alte Baum reckte beschirmend seine üppigen Zweige darüber hin – wer wußte, ob er heute nicht selbst den Todesstreich empfangen hatte!

Den Arm um seinen Stamm legend, sah ich da hinüber, wo der kleine Fluß sich nach dem Walde zu krümmte. … Wie seltsam war es, daß sich Menschen dort bewegten! Menschen auf der feierlich stillen, eintönig braunen Fläche, über der höchstens der Raubvogel in schwindelnder Höhe seine Kreise zog, um plötzlich lautlos wieder zu verschwinden – mir war, als müßten die Dahinschreitenden Fußstapfen für immer hinterlassen.

Sie eilten in die Welt zurück – in die Welt! … Ich war ja auch schon dort gewesen. Für mich hatte sie freilich nur in einer großen dunklen Hinterstube und einem feuchten Gärtchen zwischen vier himmelhohen Häusern bestanden, und aus dem Menschengewimmel, das man auch „die Welt“ nennt, waren mir nur wenige Gesichter nahe getreten. In jener Hinterstube hatte ich meine drei ersten Lebensjahre verbracht. … Graublonde, dürftige Löckchen schwebten um das eine Gesicht, das am festesten in meiner Erinnerung haftete – ich hätte den grünlich blassen Schimmer der schmachtenden Augen, das plumpe Stumpfnäschen und den grauen, leblosen Teint noch malen können. Das war Fräulein Streit, meine Erzieherin gewesen. Ein anderes Gesicht flog nur wie ein bleicher Schein an dem dunklen Hintergrund dieser frühesten Erinnerungen auf – ich hatte es zu selten gesehen, aber wenn ich später Seide knistern hörte, da tauchte es wie ein Schemen ohne eigentliche Umrisse vor mir empor, und ich hörte eine geärgerte Stimme sagen „Kind, du machst mich nervös!“ Zürnen und nervös sein war dadurch für mich identisch geworden. Diese seidenrauschende Gestalt, die nur durch die Hinterstube huschte und höchstens einmal eine weiche, heiße Hand auf meinen Scheitel legte, nannte Fräulein Streit gnädige Frau, und ich mußte Mama sagen.

Dann wachte ich einmal auf – nicht mehr in der dunklen Hinterstube. Ich saß auf dem Arme eines großen Mannes, dem gelbe Haare an den Schläfen standen und der mich mit einem „Hä, hä, hä – Ausgeschlafen?“ anlachte. Neben ihm ging Fräulein Streit im schwarzen Hut und Schleier; die dicken Thränen liefen ihr über das Gesicht, und ich sah, wie sie leise die Hände rang. … Ganz nahe vor uns lag das Haus mit dem Storchennest und den vier Eichen und als ich in das erhitzte Gesicht des Mannes sah und mich erschrocken zurückbäumte, um aus voller Kehle zu schreien, da rief er: „Kommt, Putchen!“ und aus dem Hausthor rannte eine Schaar bunter Hühner auf ihn zu.

Dort stand auch die Frau mit dem rothen Gesicht; sie streckte Fräulein Streit die Hand entgegen und küßte mich weinend, worüber ich heftig erschrak; aber das war schnell wieder vergessen. Im Hofraum tollte ein Kalb herum, es sprang plump auf alle vier Füße und blieb lächerlich breitspurig und blökend vor dem Manne stehen. Droben auf dem Dache klapperte der Storch, und Ilse – die Ilse mit den schwarzen Augen – hielt mir ein kleines Thier hin, auf dessen seidenweiches Fell ich zaghaft meine Hand legte – es war ein miauendes junges Kätzchen. … und überall lag Sonne, goldener, glänzender Sonnenschein, und die Blätter an den Bäumen plapperten und rieselten ohne Ende im würzigen Haidewind. Ich jubelte und kreischte auf vor Lust, während Fräulein Streit unter herzbrechendem Schluchzen über die Schwelle des Hauses schwankte.

So hielt ich auf Heinzens Arm meinen Einzug auf dem Dierkhof, und von diesem Augenblicke an begann erst mein Leben – ich war über Nacht ein glückliches Kind geworden, während die Menschen mich beweinten. … Hussah, ging es auf Heinzens Rücken Tag für Tag im lustigen Trabe über die Haide hin! Und da stand auf dem allereinsamsten Flecke eine kleine Lehmhütte mit einem niedrigen Strohdach; der große Heinz mußte sich tief bücken, wenn er unter die Thür trat. Aber drinnen war es wohnlich. Tisch und Stuhl blinkten schneeweiß, und hinter den zwei großen Schrankthüren an der tiefen Wand lagen federnstrotzende Betten im saubern buntgewürfelten Ueberzug. Heinz und Ilse waren Besenbinderkinder gewesen. Der alte Besenbinder hatte mit seinen beiden eigenen Händen die Hütte gebaut, die zwei Kinder waren darin geboren, und an einem anderen Orte wollte Heinz auch nicht sterben. Im Juli fuhr er das Bienenvolk der umliegenden Höfe in die Haide und behielt sie unter Aufsicht, sonst arbeitete er wöchentlich einige Tage als Knecht auf dem Dierkhofe.

In der Lehmhütte war ich so schnell heimisch geworden wie im Hause meiner Großmutter. Ich half Heinz seine Buchweizengrütze essen, und war dabei, wenn er Streuhaide für den Dierkhof hieb und einfuhr. Er hob mich hoch über seinen Kopf nach den alten, pensionirten Bienenkörben, die an den Balken der Tenne hingen und von dem Hühnervolk als Nester benutzt wurden, und ich reichte unter Jubeln und Jauchzen die schönen glatten weißen Eier der neben ihm stehenden Ilse hinab.

Fräulein Streit saß währenddem in der großen Wohnstube und stickte den ganzen Tag und weinte dazu. Damals mag wohl die alte traute Stube recht lächerlich ausgesehen haben; denn ihre Wände waren nur weiß gestrichen, hinter dem Ofen lief die braune, abgenutzte Holzbank hin und die Tische standen grob und ungeschlacht umher. Aber Fräulein Streit zu Ehren hatte die Großmutter ein gepolstertes Sopha aus der Stadt kommen lassen [532] und Ilse hatte blau- und weißgestreifte Vorhänge aufgesteckt. Fräulein Streit zog diese Vorhänge meist zu und klagte, sie fürchte sich vor der endlosen, todtenstillen Haide, wenn die Sonne so darüber hinbrenne, und wenn der Mond schien, da fürchtete sie sich auch … In meinem fünften Jahre begann sie, mich zu unterrichten, da brachte Ilse ihre Arbeit herbei und hörte auch zu. Sie war, fünfzehn Jahre alt, in die Stadt, in den Dienst meiner Großmutter gekommen, und die hatte sie ein wenig im Lesen und Schreiben unterrichten lassen – trotzdem fing die alte Ilse noch einmal mit mir an. Oft, wenn ich Abends, müde getollt und gelaufen, mich auf ihrem Schooß zusammenschmiegte und meinen Kopf an ihre Brust lehnte, da kam auch Heinz heran, natürlich mit der kalten Pfeife, und Fräulein Streit wurde lebendig; ihre schmalen Wangen rötheten sich, und die blonden Löckchen flogen und flatterten alterirt um das Gesicht. Dann erzählte sie von dem Leben und Treiben in meinem elterlichen Hause und dabei wurde es mir allmählich klar in meinem Kopfe. Ich erfuhr, daß mein Vater ein berühmter Mann sei, und meine verstorbene Mutter war eine Gelehrte und Dichterin gewesen. Viele berühmte und vornehme Leute waren in dem Hause aus- und eingegangen, und wenn Fräulein Streit seufzend erzählte: „Ich hatte ein weißes Kleid an und rosa Bänder in den Haaren, es war Leseabend bei der gnädigen Frau“, da dämmerten auch allerlei unliebsame Erinnerungen in meiner Kinderseele auf. Ich hörte wieder das aufregende Trippeln und Hin- und Hergehen vor der Thür meiner Hinterstube – meine Abendmilch wurde mir eiskalt gereicht, und wenn ich aus dem ersten Schlaf auffuhr, da war ich mutterseelenallein in dem weiten, unheimlichen Zimmer. Ich fürchtete mich und schrie auf, und dann kam Fräulein Streit in ihrem weißen Kleide wie ein Gespenst hereingeflogen, schalt mich, steckte mir ein Bonbon in den Mund, deckte mich zu bis über die Nase und schlüpfte wieder hinaus.

Außerdem berührten mich die „himmlischen Erinnerungen“ meiner Erzieherin sehr wenig; ich schlief meist darüber ein und erwachte erst wieder, wenn ich unbarmherzig an den Haaren gezogen wurde. Mit derselben Consequenz, wie die graublonden Löckchen, wurden auch meine langen, schwarzen Haare allabendlich aufgewickelt und dann mußte ich für meinen fernen Vater beten, auf dessen Gesicht ich mich bei aller Anstrengung nicht besinnen konnte.

So vergingen einige Jahre, und Fräulein Streit wurde von Tag zu Tag unruhiger und weinte immer herzbrechender. Sie stand auch wohl draußen im Baumhof, breitete ihre Arme weit aus und rief mit zärtlich dünner Stimme gen Himmel:

„Eilende Wolken! Segler der Lüfte!
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!“ –

und als ihr eines Tages ein Zahn ausfiel – er polterte bei Tische auf ihren Teller nieder und war zu meiner starren Verwunderung kein leibhaftiger, sondern ein eingesetzter Zahn – da wusch sie ihre Hände und packte schleunigst den Koffer.

„Ich bin es mir selbst schuldig, gute Ilse – man hat hier so gar keine Aussichten!“ verabschiedete sie sich von Ilse, während Thränenströme ihr ältliches Gesicht überrieselten.

„Gar keine Aussicht in der weiten, weiten Haide!“ Ich war wie versteinert bei dieser Anschuldigung meiner vergötterten Heimath. Heinz fuhr den Koffer bis in’s nächste Dorf, und ich ging auch ein Stück Weges mit. Nach dem Abschied blieb ich stehen und sah der Fortziehenden nach, bis ihr wehendes Kleid weit, weit drüben im Walde verschwand. Nun nahm ich den Hut vom Kopfe und warf ihn hoch in die blaue Luft, dann streifte ich das enge, drückende Jäckchen ab, ohne welches Fräulein Streit mich nie in’s Freie entlassen hatte … Ei, wie wonnig der laue Wind über Nacken und Arme hinstrich! … So kam ich heim. Da hatte Ilse schon das gepolsterte Sopha in die anstoßende Kammer geschoben und der Schonung wegen mit Decken überhangen, und die blau- und weißgestreiften Vorhänge faltete sie eben fein säuberlich zusammen, um sie im Kasten aufzuheben.

„Ilse, abschneiden!“ sagte ich und hielt meine langen unbequemem Locken hin. Und sie schnitt hindurch mit kreischender Scheere, daß es eine Lust war. Die Lockenwickel flogen in’s Feuer, das Jäckchen paradirte im Schranke, und ich ging von da an in Rock und Mieder wie Ilse.

Das glitt mir Alles durch die Seele, während ich unter der Föhre stand und unverwandten Auges die drei forteilenden Gestalten verfolgte. Es dämmerte bereits, ich konnte sie kaum noch von dem dunklen Buschwerk unterscheiden; auch waren sie schon so weit entfernt, daß ich ihr Weiterschreiten nicht mehr bemerkte; aber ich wußte ja, daß sie sich ebenso sputeten, wie einst Fräulein Streit, die mißachtete Haide möglichst schnell im Rücken zu haben … Was hätte der junge Herr wohl gesagt der Thatsache gegenüber, daß die alte Frau mit dem rothen Gesicht auf dem Dierkhof einst eine volkreiche Stadt verlassen hatte und in die Haide gegangen war, um nie wieder zurückzukehren! Fräulein Streit meinte freilich immer, meine Großmutter sei tiefsinnig, und fürchtete sich unsäglich vor ihrem scheuen Blick; für mich aber war das wunderliche Wesen der alten Frau bis zu diesem Augenblick unzertrennlich von ihrer ganzen Erscheinung gewesen, und wenn es sich später verschärft und verstärkt hatte, so war es ebenso leise und allmählich geschehen wie ich in die Höhe wuchs – ich hatte immer gemeint, so seien eben alle Großmütter. Wie kam es doch, daß ich jetzt nachdenklich wurde über Dinge, die mir bisher als selbstverständlich gegolten halten? Das maßlose Erstaunen der Fremden über die „seltsame alte Frau, die kein Geld im Hause litt“, hatte mich aufmerksam gemacht … Und war es nicht auch seltsam, daß meine Großmutter im Lauf der Jahre völlig verstummte? Daß sie jeder Begegnung mit ihren Hausgenossen auswich und mir einen furchtbar strafenden Blick zuwarf, wenn ich ja einmal ihren Weg kreuzte? Daß sie nie auch nur einen Bissen aus fremder Hand aß? … Die Eier, von denen sie hauptsächlich lebte, nahm sie eigenhändig aus den Nestern; sie molk die Kuh selbst, damit keine andere Hand das Milchgefäß berühre, kein fremder Athem über den Trank hinstreiche, den sie genoß, und Fleisch und Brod rührte sie nie an … Nur im ersten Jahr hatte sie mich hie und da geliebkost – später schien sie ganz vergessen zu haben, wer ich sei.

Mein Vater schickte keine neue Erzieherin, für meine Großmutter existirte ich nicht, und der weit abseits wohnende Dorfschullehrer war kein Hexenmeister. Das sei zu schlimm für mich, meinte Ilse – sie schickte mich nicht in die Schule und setzte sich Abends selbst auf den Lehrstuhl – es wurde ihr sauer genug. Sie las mir meist einzelne Capitel aus der Bibel vor, aber stets mit gedämpfter Stimme, und es entging mir nicht, daß sie sich öfter jäh unterbrach und ängstlich gespannt nach dem Zimmer meiner Großmutter hinhorchte. Ich wurde auch vom alten Pfarrer des Kirchspiels confirmirt; denn ich hatte bei Ilse entsetzlich viel auswendig gelernt; damals stahl sie sich förmlich mit mir aus dem Dierkhof, während Heinz daheim Wache hielt, und ich knieete in der kleinen Dorfkirche und legte mein Glaubensbekenntniß ab, ohne daß meine Großmutter eine Ahnung davon hatte.

So war ich aufgewachsen, wild und lustig, wie die unberührten Weiden drüben am Fluß, und wie ich so dastand unter der Föhre, barfüßig, im kurzen groben Rock, und der Abendwind blies in mein flatterndes Haar, da lachte ich, lachte laut auf über den jungen Herrn, der so sorgsam den weichen Rasenweg für seine feinen Sohlen aussuchte und schützendes Leder über die weißen Hände zog – und das war meine Rache.

[545]
4.

Der Raum, der im niedersächsischen Hause sich zwischen der Tenne und den Wohnräumen hinzieht, und in welchem sich der Küchenherd befindet, heißt der Fleet. Auf dem Dierkhof erhob er sich noch nach uralter Sitte um einige Zoll über den lehmgestampften Boden der Tenne, sonst aber trennte ihn weder eine Wand, noch ein niedriger Bretterverschlag von der letzteren; man konnte somit von dieser Stelle aus die ganze Länge der Dreschdiele bis zum Hausthor und die sich zu beiden Seiten hinziehenden Viehstände bequem übersehen. Auf den Fleet mündeten ein Fenster und zwei Thüren der Wohnräume; er war mit kleinen Steinplatten sauber belegt, hatte, wie schon erwähnt, zu beiden Seiten Thüren, die in’s Freie führten, und war für mich der gemüthlichste Platz im ganzen Hause. Dort stand auch, nicht weit vom Herde, zur Sommerzeit der Eßtisch.

Als ich mit Ilse nach der Heimkehr von meiner stürmischen Abendwanderung, in diesen lauschigen Theil des Hauses trat, brannte schon die Lampe auf dem Tische, sie verlor sich in dem weiten, dunkel angerauchten Raum wie ein kleiner Funken. Durch das offene Hausthor fiel noch das fahle Dämmerlicht von draußen auf die vorderen Viehstände; sie waren leer, auf dem Dierkhofe wurde nur so viel Oekonomie betrieben, als zu unserem eigenen Lebensbedarf nöthig. Nahe dem Fleet aber, mit der Stirn nach der Tenne zu, lag Mieke wiederkäuend und hielt mir die Hörner hin – zur Nachttoilette schien ihr die baumelnde Guirlaude doch nicht wünschenswerth.

Ilse warf einen Blick auf das „feierlich geputzte“ Thier, dann wandte sie den Kopf weg und schlug mich leicht auf die Schulter – ich durfte ja beileibe nicht wissen, daß sie über meinen „ewigen Unsinn“ gar auch noch lache.

Man hatte bereits ohne mich Abendtafel gehalten. An einem mächtigen Berg von Kartoffelschalen sah ich, wo Heinz gehaust hatte. Ilse schob, diesmal ohne Strafpredigt, die kalt gewordenen Kartoffeln von meinem Teller und legte mir dafür ein Paar heiße, weichgekochte Eier hin. Draußen im Baumhof hörte ich Heinz hantiren, und Ilse lief auch emsig auf und ab, sie hatte noch „alle Hände voll zu thun“. Das war nun freilich nicht der günstigste Moment; trotz alledem fuhr mir die Frage heraus, die mir bisher auf den Lippen geschwebt hatte:

„Ilse, wie heißt das Haus, wo mein Vater jetzt wohnt?“

Sie wollte gerade an mir vorüber in den Baumhof gehen.

„Willst Du ihm schreiben?“ fragte sie überrascht stehen bleibend.

Ich lachte laut auf. „Ich? Einen Brief schreiben? Ach, Ilse, wie das lächerlich klingt! … Nein, nein, ich will nur wissen, wie die Leute heißen, bei denen mein Vater wohnt!“

„Muß es auf der Stelle sein?“

Ich wagte nicht „ja“ zu sagen; aber vielleicht las Ilse die brennende Ungeduld auf meinem Gesicht. Sie ging schweigend in die Wohnstube und schob mir gleich darauf ein Kästchen hin.

„Da, suche Dir die Adresse selber – ich hab’ sie nicht im Kopfe. Aber verliere mir nichts und stöbere nicht zu viel herum!“

Sie ging hinaus. Wie sauber und pünktlich geordnet lag die spärliche schriftliche Verbindung zwischen dem Dierkhof und der Außenwelt in dem kleinen Viereck! … Da war das dünne, verschwindend kleine Päckchen, das die Briefe meines Vaters umschloß, sie trugen sammt und sonders Ilse’s Adresse, enthielten stets nur wenige höfliche Zeilen, einen Gruß an die Großmutter und an mich, und eine bestimmt verneinende Antwort auf Ilse’s hie und da wiederkehrende Bitten, mich, der Schule wegen, vom Dierkhof hinwegzunehmen. Was an Schriftstücken von draußen herkam, ging durch Ilse’s Hand und wurde von ihr unter Seufzen und großen Mühen mit steifen Schriftzügen und lakonischer Kürze erledigt. Ich kümmerte mich nie darum; denn so flink ich im Lesen war, und so heißhungrig ich immer wieder die mir von Fräulein Streit massenhaft hinterlassenen Kinderbücher auch jetzt noch verschlang, so blutsauer wurde mir das Schreiben, und so verhaßt war es mir.

Unter dem Päckchen mit meines Vaters Briefen lag auch ein Schreiben, von welchem ich wußte, daß es ganz vor Kurzem eingelaufen war. „An Frau Räthin von Sassen. Hannover.“ stand in schlanker, graciöser Schrift auf dem Couvert; eine andere plumpe Hand hatte den Namen des dem Dierkhof zunächst gelegenen Dorfes hinzugefügt. Der Brief war an meine Großmutter – der einzige, der, so lange ich denken konnte, unter dieser Adresse in unser Haus gekommen war. Als Heinz ihn vor einigen Wochen mitbrachte und Ilse übergab, da glitten meine Augen flüchtig über die Aufschrift, und ich ging gleichgültig hinweg, ohne den Inhalt wissen zu wollen; die Welt außerhalb der Haide und was von ihr herüberkam, hatte für mich nicht die geringste Anziehungskraft. Heute war das plötzlich anders; das aufgebrochene Siegel reizte mich, einen Blick auf das Blatt drinnen zu werfen; [546] allein ich wagte es doch nicht ohne Ilse’s Erlaubniß und legte den Brief einstweilen auf die Tischecke.

Die gewünschte Adresse meines Vaters war schnell gefunden. Als ich sein letztes Schreiben mit hastiger Hand auseinanderschlug, da stand dicht unter seinem Namen: „Firma Claudius Nr. 64 in K.“ Ein jäher Stich durchfuhr mich, und ich fühlte, wie es mir flammendheiß über das Gesicht hinlief, als ich den Namen schwarz auf weiß vor mir sah, den der Professor heute wiederholt ausgesprochen hatte. Wie prächtig verstand ich auf einmal die flüchtigen, kraus durcheinander wimmelnden Schriftzüge meines Vaters zu lesen! Der Name sprang mir förmlich in die Augen. … Ich kannte den Inhalt des Briefes, Ilse hatte ihn mir mitgetheilt; und doch fing ich jetzt an, die Zeilen noch einmal zu studiren. Ach, da war wieder einmal die ganze Oede und Trockenheit, welche die Briefe meines Vaters kennzeichnete! Er fragte nicht: was macht mein Kind? Ist es gesund und denkt es an mich? … In diesem Augenblick fühlte ich zum ersten Mal, wenn auch noch dunkel, daß mein Vater ein schweres Unrecht an mir begehe.

Die nichtssagenden Zeilen schlossen mit dem Satze. „Der Brief aus Neapel wird nicht beantwortet, und daß er meiner Mutter nie zu Gesicht kommen darf, versteht sich von selbst.“ Damit war offenbar das Schreiben gemeint, das da neben mir auf dem Tisch lag; es trug das Postzeichen Neapel und war mir nun doppelt interessant.

Das dünne Blättchen in meiner Hand aber faltete ich mißmuthig und enttäuscht zusammen – Nichts über den neuen Aufenthaltsort meines Vaters, kein Wort über seine Beziehungen zu Denen, die Claudius hießen – ich sprang auf und warf den Brief in den Kasten. Ei, was kümmerten mich die fremden Leute! Da sann und grübelte ich über Menschen und Verhältnisse, die mich nichts, aber auch ganz und gar nichts angingen, und draußen brach die Nacht herein, und Heinz polterte und rumorte immer noch im Hofe herum. Sonst, wenn er über Feierabend noch einmal zu hantiren anfing, da klopfte ich ihn auf die Finger, hing mich an seinen Arm und schleppte ihn herein auf den Fleet, auf den massiven, ungepolsterten Holzstuhl, seinen unbestrittenen Platz. Dann reichte ich ihm einen brennenden Kienspahn, und gleich darauf wirbelten die Rauchwolken um sein selig schmunzelndes Gesicht. Ilse brachte ihr Nähzeug, ich aber las mit unvermindertem Enthusiasmus immer wieder die Erzählungen vor, die ich halb auswendig wußte. War es kühl oder gar stürmisch regnerisch draußen, dann wurde das Feuer im Herd neu geschürt, und Ilse goß einen heißen Thee auf. Wonnig war es dann, auf dem geschützten Fleet, unter dem Dach zu sitzen, auf das der plätschernde Regen unermüdlich niedertrommelte; dazu der Gluthschein vom Herde her und die trauliche Stille in dem weiten, von langen Streifen der Tabakswolken durchzogenen Raum der dämmernden Tenne. Dann und wann klirrte leise die Kette an Miekes Hals, hoch oben auf den Querstangen rührte sich schlaftrunken eines der Hühner, oder Spitz dehnte sich behaglich seufzend vor dem warmen Herde – Alles, was ich liebte, geborgen inmitten der festen vier Wände!

Da war es still in meiner Seele; ich hatte keinen Wunsch, kein Verlangen; mein junges Herz war nur voll von Zärtlichkeit für die Beiden zwischen denen ich saß. … Nun drängten sich auf einmal fremde Gesichter von draußen herein, und ich erröthete heiß vor mir selber, indem ich daran dachte, was heute unter ihrem plötzlichen Einflusse aus mir geworden war. Da half kein Leugnen – statt zu dem alten Freunde zu halten, den der vornehme junge Herr mit so verächtlichen Blicken gemessen, hatte ich mich feiger Weise seiner geschämt; ich war maßlos heftig geworden, hatte mit dem Fuße gestampft ihm gegenüber, der mir allzeit mit der grenzenlosesten Geduld und Nachsicht begegnete, und ihn einfältig dafür gescholten, daß er seinen einfachen Kopf anstrengte, um genau nach meinem Wunsch und Willen zu antworten. … Und warum that ich das? Weil mir auf einmal der glorreiche Einfall kam, mit meinem berühmten Vater prunken zu wollen, mit dem Vater, für den ich nicht existirte, während ich auf Heinzens Armen groß geworden war.

Ich mußte abbitten, reumüthig abbitten, und zwar auf der Stelle, und der Entschluß wurde mir leicht gemacht, denn in demselben Augenblick ging die Thür nach dem Baumhof auf, und Heinz trat, gefolgt von Spitz, auf den Fleet.

Ich flog auf ihn zu und legte meine Hände auf seine breite Brust – höher kam ich nicht.

„Heinz, Du bist furchtbar böse auf mich, gelt?“

„Ei beileibe, davon müßte ich doch auch ’was wissen, Prinzeßchen!“ brummte er neben der Pfeife heraus. Er stand verlegen und unbeholfen wie eine Mauer vor mir und rührte kein Glied.

„Du weißt es auch, Heinz,“ sagte ich. „Geh’, zanke mich tüchtig aus. … Ich bin bodenlos ungezogen gewesen! … Gelt, das hättest Du nie von mir gedacht? – mit dem Fuße zu stampfen –“

„Ach, das war ja nur ein Späßchen –“

„Ein Späßchen? Glaub’ doch das nicht! Es war Ernst, nichtswürdiger Ernst! … Sei Du nur nicht so gut mit mir, Heinz – ich verdiene es nicht, und Strafe muß sein. … Kindisch bin ich und heftig und ein erbärmliches, undankbares Ding –“

„Ei ja – und was nicht noch Alles!“

„Ein Hasenfuß, Heinz! … Ja, siehst Du, das war’s eben, was mich so außer Rand und Band brachte. Da stand ich wie hingeschneit am Hügel, und alle die Köpfe wären doch ganz gewiß nach mir herumgefahren, wenn Du gesagt hättest –“

„Hab’ nichts gesagt! Hä, hä, hä! Nicht ein Wörtchen!“ – Er stippte bedeutsam den Zeigefinger gegen die Stirn. – „Ja, so schlau ist man auch – die hätten lange fragen können!“ – Mit einer schwerfälligen Bewegung griff er in die Brusttasche seines Rockes. „Aber das unmenschlich viele Geld, das da nur so auf den Boden hinkollerte, das haben die Leute nicht wieder genommen, durchaus nicht! … Ich hab’s auflesen müssen – und da ist’s, Prinzeßchen!“

Er zählte die blanken Thaler in langer Reihe auf seine Rechte. Seine kleinen Augen glitzerten und funkelten und huschten liebäugelnd darüber hin.

Fünf Silberstücke – für jede Perle eins! So war es gemeint gewesen. Das „Hier, mein Kind!“ des alten Herren hatte so selbstverständlich geklungen als seien die Dinger da von mir verlangt worden, und ich hatte die Perlen doch hinschenken wollen. Das verdroß mich jetzt erst über die Maßen.

„Ich will sie nicht, Heinz!“ grollte ich und stieß nach seiner Hand.

Das Geld rollte abermals hinab. … Was war das für ein entsetzliches Geräusch, als die schweren Metallstücke klingend und klirrend auf das harte Steinpflaster niederschmetterten! … Ich hatte es noch nie, und der Dierkhof wohl seit vielen Jahren nicht mehr gehört.

Unwillkürlich fuhr ich herum, und mein Blick zuckte scheu über das Fenster, das nach dem Fleet mündete. Hinter den halbblinden Scheiben hing ein dicker, farbenbunter Plüschteppich, den, so lange ich denken konnte, nie eine Hand von drinnen gehoben hatte – jetzt wurde er zurückgeschleudert, und die Augen meiner Großmutter funkelten heraus.

Das war ein Anblick, der dem Beherztesten Grauen einflößen konnte. Zitternd bückte ich mich, um das Geld zu sammeln; aber da flog auch schon die neben dem Fenster befindliche Thür auf – wie ein Windstoß brauste es heran – ich wurde an der Schulter gepackt und auf die Tenne hinabgestoßen.

„Nicht anrühren!“ gellte es mir in die Ohren. Welch einen erschütternden Klang hatte doch die Stimme, die seit langen Jahren für mich verstummt war! Ich schlug entsetzt die Augen auf.

Da stand die gewaltige Frau und schüttelte grimmig die Faust nach Heinz hin. „Du“ – zischte es drohend von ihren Lippen.

„Gut sein, gnädige Frau, gut sein!“ stotterte er bittend. „Ich trage ja gleich, jetzt auf der Stelle, das ganze dumme Lumpenzeug ’nüber in den Fluß!“ Er zitterte wie Espenlaub – ich sah zum ersten Male, daß diese unverwüstlich frische Gesichtsfarbe bis in die Lippen erbleichen konnte.

Sie wandte ihm mit einer heftigen Bewegung den Rücken. Die langen, grauen Flechten peitschten ihre Hüften, und ich erwartete unter stockenden Pulsen, daß sie sich wieder auf mich stürzen werde. Da stieß ihr Fuß an eines der Geldstücke; sie fuhr zurück, als habe sie auf eine Schlange getreten. – Nun kam ein Schauspiel, das ich nie, nie vergessen kann. Kichernd schleuderte sie das Geldstück mit der Fußspitze fort, daß es weithin [547] flog und rasselnd auf die Steine niederschlug, dann ein zweites, ein drittes, und so schritt sie auf dem Fleet hin und her – ich mußte an das grausame Spiel der Katze mit der Maus denken. … Und wie grauenhaft rasch wechselte das Mienenspiel auf dem roth überflammten Gesicht! Man sah, sie stieß das Geld voll Ingrimm und Abscheu von sich, und doch, sobald es wirbelnd niederfiel, lauschte sie vorgestreckte Halses mit unverkennbarer Lust, ja mit einer Art von Begierde, dem hellen Silberklang, bis die letzte leiseste Schwingung erloschen war.

Ich rührte mich nicht von der Stelle und wagte kaum zu athmen; Spitz, der sonst so rauflustige Spitz, schlich mit eingeklemmtem Schwanz vom Herde weg und drückte sich dicht neben Heinz, der regungslos, wie festgemauert auf seinem Platze verharrte, und seine todesängstlichen Augen huschte einige Mal nach mir hinüber. … Ach, Ilse – wo blieb sie nur? … Sie war die Einzige, die Macht über meine Großmutter hatte. Hörte sie denn den Lärm gar nicht, der so unheimlich und nervenerschütternd gegen die alten Balken des Dierkhofes schlug?

Das Klingen und Springen der Silberstücke dauerte fort. Die alte Frau schien nicht mehr zu wissen, daß zwei Menschen wie Bildsäulen in ihrer Nähe standen. Sie rannte immer leidenschaftlicher auf und ab und flüsterte und gesticulirte nach etwas Unsichtbarem hin. … Da auf einmal fuhr es wie ein Ruck durch ihre Glieder; sie kam eben am Eßtisch vorüber und blieb förmlich versteinert stehen, während ihre Augen minutenlang seitwärts auf die Tischecke niederstierten – da lag der unglückselige Brief, der nach dem ausdrücklichen Befehl meines Vaters ihr nie zu Gesicht kommen sollte.

„An Frau Räthin von Sassen!“ unterbrach sie endlich das tödtliche Schweigen und strich sich tiefaufseufzend mit der Hand über die Stirn. „Frau Räthin von Sassen! Das war ich – ich!“

Ich kämpfte mit mir selber, ob ich hinzuspringen und ihr den Brief entreißen solle, auf den sie eben die Hand legte. Aber was war ich schwaches zerbrechliches Geschöpf unter den Händen dieser Frau! Sie hätte mich ohne Weiteres zurückgeschleudert und den Besitz des verhängnißvollen Papieres erst recht behauptet. Ich machte Heinz die beredtesten Zeichen – er sah mich völlig verständnißlos an, und da geschah auch schon das Gefürchtete – meine Großmutter zog den Brief aus dem Couvert.

„Laß ’mal sehen!“ sagte sie, indem sie langsam das Blatt entfaltete.

Sie las nicht, ihr Blick fiel nur auf die Unterschrift – was mußte es wohl für ein Name sein, der eine solche Wirkung haben konnte? … Mit einem Wuthschrei zermalmte die alte Frau sofort den Brief zwischen den Fingern. „Deine Christine!“ lachte sie gellend auf, schleuderte den gestaltlosen Papierklumpen weit in die Tenne hinein und lief mit einer wildabwehrenden Bewegung in ihr Zimmer zurück – gleich darauf kreischte drinnen der vorgeschobene Riegel.

Ilse, die eben mit einem Korb voll Torfstücken aus dem Hofe kam, blieb erstaunt auf der Schwelle stehen.

„War das nicht die Großmutter?“ fragte sie halb erschrocken, halb ungläubig. Die Thür, die da eben krachend zuschlug, wurde ja nie benutzt – Schloß und Riegel mußten längst eingerostet sein.

Mir schlugen die Zähne wie im Fieber zusammen aber ich fühlte mich doch gleichsam erlöst und erzählte ihr flüsternd und athemlos den Vorgang. Ich sah wohl, wie sie zusammenschrak und sich verfärbte; aber Ilse hätte nicht Ilse sein müssen – sie sagte kein Wort, stellte ihren Korb neben den Herd und fing an, die Torfstücke auszupacken und symmetrisch aufeinanderzulegen; nur als Heinz herantrat, hob sie den Kopf – sein heiliger Respect vor den scharfen Augen war sehr begründet, sie hefteten sich vernichtend auf sein schreckerfülltes Gesicht.

„Bist ja ein Mordkerl, Heinz!“ sagte sie. „Hab’ jahrelang gesorgt, daß nicht einmal Groschengeld auf den Dierkhof gekommen ist, und jetzt macht solch ein Politikus das nette Kunststückchen und wirft mir eine ganze Handvoll Silberthaler auf die Steine! … Ei je, die Vierzig auf dem Rücken und keine Ueberlegung!“

Mir traten die Thränen in die Augen. Trotz meiner wahrheitsgetreuen Schilderung und meiner Selbstanklage bekam Heinz die Schelte, und er ließ Alles geduldig über sich ergehen, er widersprach mit keinem Wort. Ich schlug meine Arme um ihn und drückte das Gesicht in den Aermel seines alten Drellrockes.

„Ja, tröste ihn nur, Deinen Heinz! – Das hält eben immer wie die Kletten zusammen!“ sagte Ilse, aber schon war alle Schärfe aus Blick und Ton verschwunden.

Sie nahm die Lampe vom Tisch und schritt die Tenne hinab, um den Papierknäuel zu suchen, aber so viel sie auch umherleuchten mochte, er fand sich nicht.

Bis dahin hatte ich in dem Zimmer meiner Großmutter nur selten eine Lebensäußerung gehört, vielleicht nur nicht beachtet; ich mied ja auch stets instinctmäßig die nächste Umgebung desselben; jetzt drang das Murmeln einer leidenschaftlich erregten, rauhen Stimme, von Stöhnen und tiefem Aufseufzen unterbrochen, durch das teppichverhangene Fenster.

„Sie betet,“ flüsterte Heinz mir zu.

Aber dies Gebet wurde nicht knieend verrichtet. Sie ging mit so wuchtigen Schritten drinnen auf und ab, daß der Teppich hinter den Glasscheiben leise schwankte und der Boden hier draußen unter unseren Füßen nachschütterte.

„Gebt Licht herein!“ schrie sie plötzlich angstvoll auf.

„Licht?“ wiederholte Ilse. „Ich habe ja die Lampen hineingestellt.“ Sie lief nach dem engen Gang, der, an der östlichen tiefen Seite der Wohnräume hinlaufend, nach dem Garten mündete, und in welchem sich die Hauptthür des Zimmers befand.

Nicht lange darauf kam sie scheinbar beruhigt zurück. Darauf aber rasselte fast in demselben Augenblick der Pumpbrunnen, und man hörte den Wasserstrom zischend in den Trog stürzen.

„Es ist ihr schwarz vor den Augen geworden,“ antwortete Ilse kurz auf meine ängstlichen Fragen. „Das wird wieder einmal eine schöne Nacht werden!“ murmelte sie sorgenvoll vor sich hin, während sie das Geschirr vom Eßtisch wegräumte. Und das Kästchen mit den Papieren in das Wohnzimmer zurücktrug.

Also hatte sie öfter schlimme Nächte mit meiner Großmutter zu überstehen! Das war eine unheimliche Neuigkeit für mich; mein gesunder, glücklicher Schlaf hatte mich nie ahnen lassen, daß nächtlicher Weile irgend etwas im Hause vorgehe. Nun erinnerte ich mich freilich, daß ich Ilse schon gar oft des Morgens niedergeschlagen und erschöpft gefunden hatte; aber da waren stets ihre Kopfschmerzen, an denen sie häufig litt, schuld gewesen.

Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf darauf; mir war so bang und beklommen zu Muthe, als müsse mit der Nacht draußen auch Schlimmes über den Dierkhof hereinbrechen. Fast mechanisch horchte ich auf Heinzens Schritte, der noch einmal die Runde um das Haus machte; er vermied wohlweislich den Baumhof, denn wenn auch der Schwengel des Pumpbrunnens augenblicklich ruhte, so hielt sich doch meine Großmutter jedenfalls noch dort auf. Da, wo die Umhegung des Baumhofes als scharfe Ecke in die Haide hineinschnitt, stand sie oft stundenlang und starrte in die unermeßliche Weite hinaus.

„Geh’ in Dein Bett, Kind, Du bist müde!“ sagte Ilse und strich mir mit der Hand über den Scheitel.

Ich war bis dahin, kraft meiner glücklichen Unbefangenheit, das indolenteste, eigennützigste Geschöpf der Welt gewesen – das fühlte ich tief in diesem Augenblick.

„Nein, ich gehe nicht schlafen,“ sagte ich und versuchte einen festen Ton anzuschlagen. „Ilse, ich bin heute siebzehn Jahre alt geworden, und nun groß und stark genug – ich lasse mich nicht mehr in’s Bett schicken, während Dir die Großmutter so schwer zu schaffen macht!“

Ich war aufgesprungen und stellte mich neben sie hin.

„So, das hätte mir gefehlt, daß Du mir auch noch im Wege herumstündest!“ entgegnete sie trocken; sie sah seitwärts auf mich nieder. „Hm ja, nun weiß ich doch auch, wie ein großes und starkes Frauenzimmer aussieht! Es reicht mit dem Kopf gerade über den Eßtisch und piept in die Welt hinein, wie ein Küchelchen, das eben aus dem Ei gekrochen ist –“

„Ilse, solch ein armseliges Ding bin ich doch nicht!“ unterbrach ich sie empört, aber auch kleinlaut – sie übertrieb ja nie.

„Uebrigens weiß ich gar nicht, was Du willst!“ fuhr sie unbeirrt fort. „Lächerlich! Die Großmutter steht ruhig draußen im Baumhof und wird in einer Stunde so fest schlafen, wie wir Alle. Aber das will ich Dir sagen, es regt sie stets auf, wenn sie das Licht zu lange auf dem Fleet brennen sieht.“

[548] Sie nahm ohne Weiteres die Lampe vom Tisch – und aus und vorbei war es mit meiner heroischen Anwandlung; den hätte ich sehen wollen, der auf Ilse’s letztes Wort, auf ihre energische Kopfwendung hin noch etwas zu erwidern versucht hätte.

Ich rief Heinz, der eben das Hausthor schloß, gute Nacht zu und folgte ihr pflichtschuldigst nach der Eckstube, in welcher wir Beide schliefen.




5.


Es war dumpf und heiß in der Stube. Ilse hatte bereits die Holzläden in die zwei Eckfenster eingesetzt; und hätte sie über Vorhänge zu gebieten gehabt, sie wären sicher auch undurchdringlich übereinander gezogen gewesen.

„Hier, Du Leichtsinn, sind Deine neuen Schuhe!“ sagte sie, und zeigte unter den Stuhl, der neben meinem Bett stand. „Wäre Heinz nicht gewesen, da stünden sie noch draußen, und das Gewitter wüsche sie heute Nacht in den Fluß.“

Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden beim Anblick der zwei nägelbeschlagenen, häßlichen Unglückscameraden. Zudem fiel das Lampenlicht grell auf den alten, verräucherten Kupferstich, der an der Wand hing und Karl den Großen vorstellte. Das Bild heftete seine großen Augen unverwandt auf mich - ich wandte ihm den Rücken und stieß die Schuhe unvermerkt mit dem Fuß tief unter den Stuhl; ich mochte sie nicht mehr sehen, ich wollte nie mehr an die Fremden erinnert sein, mit deren Erscheinen eine ganze Reihe von Unannehmlichkeiten und neuen peinvollen Empfindungen in mein einsames, harmloses Leben hereingebrochen war.

Ilse verließ das Zimmer nicht eher, als bis sie mich im Bett wußte. Allein mit einem aufgeregt klopfenden Herzen voll schlimmer Ahnungen schläft auch die Jugend nicht ein. Ich schlüpfte wieder in meine Kleider, hob den Laden aus dem westlichen Eckfenster, das in den Baumhof sah, und setzte mich dicht neben dasselbe auf das Fußende meines Bettes. Das fast greifbare Dunkel im Zimmer lichtete sich, und ich wurde ruhiger, wenigstens verlor sich die leidige Gespensterfurcht sofort.

Geräuschlos klinkte ich das Fenster auf. Ein niedriger Ebereschenbaum draußen an der Wand, der in ihrem Schutz, zur Wonne der Vögel, sich alljährlich üppig mit seinen rothen Beerendolden behing, schob seine äußersten Zweigspitzen über die Scheiben. Hinter dem grünen Gespinst saß ich geborgen und konnte doch über Garten und Wiesen hinweg in die dämmernde Welt hineinsehen. Ilse hatte vorhin von einem drohenden Gewitter gesprochen; aber nie hatte sich der Sternenhimmel makelloser über die Haide hingebreitet! Die köstlich laue Nachtluft wehte mich an mit kaum fühlbarem Athem, nicht das kleinste Blättchen an den Bäumen hob sich vor ihm, um hinauszuflüstern in die herrschende Todesstille – für mich war sie trotzdem belebt; freilich nicht mehr durch die Geistertritte der Riesenrosse, die den greisen Hünenkönig und sein Gefolge über das Haideland trugen – den gold- und purpurstrotzenden Traum hatte heute die unbarmherzige Hacke gründlich zerstört – aber ich wußte ja, in jedem Erikastengel trieb und quoll es empor und formte in zarten Umrissen Millionen und aber Millionen Blüthenköpfchen, die in Kurzem hervorkommen sollten, um sich im Sonnenlicht die blassen Löckchen purpurn färben zu lassen. Und heute war ich droben im höchsten Eichengipfel gewesen und hatte im alten Elsternest vier Eier gezählt – da drin trieb es und dehnte sich auch und frug im emsigen Wachsen nicht, ob es Tag oder Nacht sei, bis das Schnäbelchen an die Schale pochte und Raum und Licht schaffte für zwei neue kluge Aeuglein … Ich wußte auch, daß jetzt weit drüben aus dem Waldsaum leisen Trittes die Rehe kamen und wohlig die Haideluft schlürften, die, auch über den Dierkhof hinstreichend, Wiesen und Kräuterdüfte mitbrachte.

Meine Pulse waren allmählich ruhig geworden. Unbewußt hatte ich in die glatte, friedliche Bahn meines gewohnten Denkens eingelenkt und die Interessen wieder aufgenommen, die meine anspruchslose Seele bisher vollkommen ausgefüllt.

Im Hause war es still geblieben, so still, daß ich Mieke’s Kette durch die Wand hatte klirren hören. Ilse hatte Recht gehabt mit ihrer Versicherung und konnte nun jeden Augenblick mit dem Licht in die Schlafstube treten. – Hei, wie rasch mich der Gedanke auf die Füße brachte! Ich wäre sicher binnen zwei Minuten in dem hochaufgethürmten Federbett rettungslos versunken gewesen, hätte nicht plötzlich das Zuwerfen einer fernen Thür alle Balken und Pfosten des Dierkhofes erzittern gemacht.

Ich war eben im Begriff, das Fenster zu schließen, da kam es lautathmend um die Ecke, dicht am Fenster hin, so daß der gewaltige grauhaarige Kopf meiner Großmutter in erschreckender Nähe an mir vorüberfuhr.

„Es brennt, da – da!“ stöhnte sie im Vorüberlaufen und hielt beide Hände auf die Stirn gepreßt.

Ich wagte nicht, mich hinauszubiegen und ihr nachzusehen, hörte aber, wie sie gleich darauf stehen blieb, und ihre weitausgestreckten Arme kamen in das Bereich meiner Blicke.

„Denn das Fener ist angegangen durch meinen Zorn,“ sprach sie mit erhobener Stimme, in feierlich beschwörendem Pathos, „und wird brennen bis in die unterste Hölle, und wird verzehren das Land mit seinem Gewächs, und wird anzünden die Grundveste der Berge!“

Langsam schritt sie unter den Eichen hin und trat in die Ecke des Baumhofes. Sie stand mir nicht allzu fern, und es war hell genug, ich konnte sie deutlich sehen – bildete doch der Himmel mit seinem Goldgefunkel einzig und allein den Hintergrund für die kräftigen Umrisse der Gestalt. Sie hatte das Obergewand abgeworfen, die weiten Hemdärmel hingen von den Schultern und schimmerten weiß herüber, und den Rücken hinab fielen halbaufgeflochten in vereinzelten Strähnen die langen Zöpfe.

Was sie hinaussprach in die lautlos schweigende Haide – ich verstand es nicht; es war mir, als hörte ich alle die Fremdwörter des alten Professors hier in einem Fluß, aber mit eigenthümlich singender Betonung. … Plötzlich riß das Gemurmel in einem halberstickten Schrei ab; meine Großmutter fuhr herum, und die ruhelosen Füße begannen abermals, in verdoppeltem Geschwindschritt, die Wanderung. Ich meinte, sie wolle auf den Brunnen zustürmen – da lief sie blindlings gegen eine der Eichen, taumelte zurück, nahm nochmals einen Anlauf und brach zusammen, plötzlich, gewaltsam, wie niedergerissen durch unsichtbare Hände.

„Ilse, Ilse!“ schrie ich auf. Aber da stand sie schon und versuchte unter Heinzens Beistand die Gestürzte aufzurichten. Die Beiden hatten jedenfalls von der Baumhofthür aus meine Großmutter bewacht und beobachtet. Ich sprang zum Fenster hinaus.

„Sie ist todt!“ flüsterte Heinz, als ich zu ihnen trat. Er ließ muthlos den gewaltigen Körper zurücksinken, der in seiner Leblosigkeit jedenfalls furchtbar schwer war.

„Sei still!“ gebot Ilse mit erstickter Stimme. „Auf, brauche Deine Kräfte – vorwärts!“ Und sie faßte meine Großmutter unter den Armen und nahm sie mit übermenschlicher Kraft vom Boden auf, während Heinz die Füße hob.

Nie werde ich den erschütternden Anblick vergessen, als sie keuchend über den Fleet schritten, und die grauen Haarsträhnen der Leblosen über die Steinfließen hinschleiften, auf denen vor kaum einer Stunde noch die Geldstücken unter kräftigen Fußstößen umhergeflogen waren.

Ich lief voraus und öffnete die Thür im Zimmer meiner Großmutter; aber ich mußte erst noch eine hohe spanische Wand, die im Halbkreis den Eingang umstellte, zuückschieben, ehe ich in das Zimmer selbst eintreten konnte, der Einblick war den profanen Augen Vorübergehender somit vollkommen verwehrt. Ich hatte diesen Raum nie betreten dürfen, selbst als kleines Kind nicht. Bei aller Seelenangst und Gemüthserschütterung war mir doch in diesem Augenblick zu Muthe, als sähe ich mit zurückschreckenden Augen in eine neue Welt, aber in eine unsäglich düstere. Ich habe denselben Eindruck nur einmal noch empfangen, als ich eintrat in eine uralte dämmerdunkle Kirche voll halberblindeter Pracht, voller Marterbilder und erfüllt mit jenem unbeschreiblichen Gemisch von kalter eingeschlossener Kirchenluft und erstickenden Weihrauchdüften.

Meine Großmutter wurde auf ein Bett niedergelegt, das in der einen Ecke stand, es hatte Vorhänge, altmodische, steifseidene grüne Vorhänge, in die feine Goldblümchen eingewirkt waren. Wie das knisterte und rieselte, als sie zurückgeschlagen wurden, und wie schreckenerregend das bläuliche Gesicht mit den geschlossenen Augen unter dem harten dunkeln Grün hervorsah!

Heinz hatte sich geirrt, meine Großmutter war nicht todt. Schwerathmend lag sie da; sie rührte kein Glied, aber als Ilse in so weichflehenden Tönen, wie ich sie nie von ihr gehört, ihren [549] Namen nannte, da öffnete sie für einen Moment die Lider und sah sie verständnißvoll an. Ilse schob ihr Kissen und Polster unter den Rücken und gab ihr eine sitzende Stellung im Bett; das that ihr sichtlich gut, das leise unheimliche Geräusch, das ihre Athemzüge begleitete, minderte sich.

Während dem hatte Heinz bereits den Dierkhof verlassen, um einen Arzt zu holen. Er mußte in das nächste Dorf laufen, und von da nach dem eine Stunde Wegs entfernten größeren Ort einen Wagen schicken, der den Doctor nach dem Dierkhof brachte; so konnten drei bis vier Stunden vergehen, ehe ärztlicher Beistand kam.

Mein Versuch, Ilse behülflich zu sein, wurde zurückgewiesen. Sie schob schweigend, mit einem besorglichen Blick auf die Kranke, meine Hände weg, gestattete mir aber, dazubleiben.

Ich kauerte mich, halbverdeckt durch den Vorhang, zu Füßen des Bettes auf eine kleine gepolsterte Bank nieder und sah beklommen in das fremdartige Zimmer hinein. Es war das größte im Hause und von einer saalartigen Weite; vielleicht hatte meine Großmutter eine Wand durchschlagen lassen, um den befremdend großen Raum zu gewinnen. An den Wänden hingen mit eingewobenen Gestalten bedeckte wollene Tapeten. Mein Blick kehrte immer wieder zurück auf einen lebensgroßen Kinderkörper mit einem schönen Gesicht voll Trauer und sanftmüthiger Duldung – es war der junge, auf einen Holzstoß festgebundene Isaak. Die [550] Tapeten waren uralt und von den Motten zerfressen, so daß der nervigen Gestalt Abrahams ein Auge und die hochgehobene, opferbereite Hand fehlten. … Wie eine Versammlung mürrisch schweigender Greise, in steifer Ordnung, reihten sich Stühle mit himmelhohen Lehnen und großblumigen, sammtenen Polsterbezügen an den Wänden hin. Ich habe erst späterhin diese aus den kostbarsten Hölzern geschnitzten, schwarzbraunen Säulenlehnen zu würdigen gelernt, bei ihrem ersten Erblicken jedoch stierten mich die aus Band- und Laubgewinden hervorlauschenden Thierköpfe und fabelhaften Gebilde, die auch an all den umherstehenden Spinden und Schreinen wiederkehrten, dräuend und sinnverwirrend an.

Die dunklen Farben und die tiefen Ecken allüberall sogen das Licht der zwei Lampen, die hell auf den Tischen brannten, gierig ein. Dunkel war der Teppich, auf dem meine Füße ruhten und der sich über den ganzen Boden hinbreitete, und fast schwarz der erdrückend niedrige Holzplafond. Nur das nackte Fleisch der Tapetenbilder, im Lauf der Zeit bis in’s Leichenhafte erblichen, leuchtete da und dort wie ein aufgesetzter Lichtpunkt, und ein einziger heller Gegenstand von mildem Glanze schwebte wie die versöhnende weiße Taube in das Düster herein – es war ein vielarmiger, mit weißen Wachskerzen besteckter Silberleuchter, der am Deckenbalken hing.

Es schien im Verlauf der bangen Stunde, die ich bereits am Bette verharrte, besser mit der Kranken zu werden. Sie sah sich mit weitoffenen Augen um, trank etwas frisches Wasser, und plötzlich kehrte ihr auch die Sprache zurück.

„Was ist mit mir?“ fragte sie langsam in gebrochenen, total veränderten Tönen.

Ilse bog sich, ohne zu antworten, über sie – ich glaube, der Jammer nahm ihr die Stimme – und strich ihr lind und liebkosend die Haare aus der Stirne.

„Meine alte Ilse!“ murmelte sie. Sie machte eine Anstrengung, sich zu erheben, es ging nicht – mit einem sonderbar starren, forschenden Blick streiften ihre Augen langsam an dem linken Arm nieder.

„Todt!“ seufzte sie und ließ den Kopf in das Kissen zurücksinken.

Der Ausruf flößte mir kaltes Entsetzen ein. Ich machte eine unwillkürliche Bewegung, das Polsterbänkchen rückte weiter und die Vorhänge rauschten.

„Wer ist noch im Zimmer?“ fragte meine Großmutter aufhorchend.

„Das Kind, gnädige Frau – Lenore,“ antwortete Ilse zögernd.

„Dem Wilibald sein Kind – ja wohl, ich kenne es – es springt mit den kleinen, nackten Füßen durch die Haide und singt drüben am Hügel – ich kann das Singen nicht hören, Ilse!“

Das wußte ich wohl; nie hatte auf dem Dierkhofe ein singender Laut über meine Lippen kommen dürfen – ach, und ich sang so gern! Mir war, als fliege meine Seele auf den Tönen, die mir die Brust weiteten, in die Ferne hinaus. Da sang ich denn in Heinzens Lehmhütte, daß die flaschengrünen Fensterlein zitterten, oder drüben auf dem Hügel, aber ich hatte nie gemeint, daß das die Großmutter auf dem Dierkhof hören könne.

Ich war aufgestanden und trat ihr zitternd um einen Schritt näher.

„Klein wie ihre Mutter,“ murmelte sie vor sich hin, „und hat die großen Augen und ein kaltes, enges Herz – ihr ist ja auch das Wasser über der Stirn ausgegossen worden.“

„Nein, Großmutter,“ sagte ich ruhig, „ich habe kein kaltes Herz!“

[561] Die Großmutter sah mich so erstaunt an, als habe sie bis dahin gemeint, das kleine Wesen könne nur singen und nicht sprechen, am allerwenigsten aber sie selbst anreden. Ilse zog sich hinter den Vorhang zurück und winkte mir angstvoll, zu schweigen; sie mochte durch mein unerwartetes Hervortreten einen Anlaß zu neuer Geistesstörung bei der Kranken befürchten. Aber meine Großmutter blieb vollkommen ruhig; ihre Augen hafteten unverwandt auf meinem Gesicht. Diese Augen, vor denen ich mich immer so entsetzlich gefürchtet, wenn sie im Vorüberlaufen unstät und irr über mich hinflackerten, waren sehr schön; über ihren dunklen Glanz breitete sich freilich ein unheimlicher Schleier, aber es lag Seele darin, bewußtes Denken.

„Komm einmal her zu mir!“ unterbrach sie das minutenlange Schweigen.

Ich trat dicht an das Bett.

„Weißt Du, was es heißt, Jemand lieb haben?“ fragte sie, und ihre gebrochene, tonlose Stimme nahm einen innigen Klang an.

„Ja, Großmutter, das weiß ich! Ich habe Ilse so lieb, so lieb, daß ich’s nicht sagen kann – und Heinz auch!“

Um ihre Lippen zuckte ein leises Beben, und sie schob unter unsäglicher Mühe ihre auf der Decke liegende Rechte nach mir hin.

„Fürchtest Du Dich vor mir?“ fragte sie.

„Nein – nicht mehr!“ wollte ich hinzusetzen, aber ich verschluckte die zwei letzten Worte und bog mich zu ihr hin.

„Nun, so gieb mir Deine Hand und küsse mich auf die Stirn!“

Ich that, wie sie geheißen, und seltsam, in dem Augenblick, wo meine Lippen das gefürchtete Gesicht berührten, und meine Hand von den großen, kalten Fingern umschlossen und sanft gedrückt wurde, zog ein neues, süßseliges Gefühl in meine Brust ein. Ich wußte auf einmal, daß ich an diesen Platz gehörte, ich fühlte das geheimnisvolle Band des Blutes zwischen Großmutter und Enkelin, und hingerissen durch dieses plötzliche Erkennen setzte ich mich auf den Bettrand und schob sanft meinen Arm unter ihren Kopf.

Ein beglücktes Lächeln glitt durch die großen, starken Züge; sie legte sich in meinem Arm zurecht, wie ein müdes Kind, das einschlafen will.

„Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut – ach!“ flüsterte sie und schloß die Augen.

Ilse aber stand hinter dem Vorhang des Bettes; sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.

Es trat wieder Todtenstille ein. Sie wurde nur unterbrochen durch das leise Aufstöhnen der Kranken und ihre schweren, regelmäßigen Athemzüge, und durch das unausgesetzte leise Schnurren in dem hohen, hölzernen Standgehäuse der alten Uhr, deren großes blinkendes Zifferblatt gespenstig herüberstarrte, und die zu jeder Pendelschwingung weit und langsam aushob wie eine kranke Brust zum Athemholen.

So war abermals eine lange, bange Zeit verstrichen; es hatte bereits Eins geschlagen. Da wurde draußen das Hausthor geöffnet, und Heinz schritt in Begleitung eines anderen Mannes durch die Tenne; er brachte also, wider Erwarten, den Arzt gleich mit.

Ilse athmete sichtlich auf und winkte mir, ihm am Bett Platz zu machen; ich zog vorsichtig meinen steifgewordenen Arm an mich und ließ das Haupt der Kranken behutsam in die Kissen sinken. Sie schien weiter zu schlummern; sie gab auch kein Zeichen, daß sie es höre, als die Zimmerthüre leise geöffnet wurde, und die Männer eintraten.

Da stand auf einmal der alte Pfarrer des nächsten Dorfes im vollen Ornat inmitten des Zimmers, während Heinz, den Hut in der Hand, ehrfurchtsvoll im Hintergrund verblieb … Sie sah feierlich ergreifend aus, die ehrwürdige Gestalt des Geistlichen im schwarzen Talar, das Gebetbuch in den Händen haltend. Ilse aber fuhr empor, als sähe sie ein Gespenst; sie stürzte zurückwinkend auf ihn zu, allein es war zu spät – in demselben Moment, als fühle sie den Blick des Eingetretenen, schlug meine Großmutter auch die Augen auf.

Ich wich zurück, so sehr entsetzte mich die furchtbare Verwandlung in den Zügen, die sich eben noch so friedsam geglättet hatten.

„Was will der Schwarzrock?“ stöhnte sie.

„Ihnen Trost bringen, so Sie dessen bedürfen,“ versetzte der alte Mann mild, ohne sich durch die rauhe Anrede beirren zu lassen.

„Trost? … Ich habe ihn bereits gefunden am unschuldigen Kindesherzen, in der Liebe, die sich dahingiebt, ohne zu fragen: wie glaubst Du, und was giebst Du mir dafür? … Lenore, mein gutes Kind, wo bist Du?“

Mir zitterte das Herz bei diesen sehnsüchtigen Tönen. Ich [562] trat rasch an das Kopfende des Bettes, so daß sie mich sehen konnte.

„Trost könnt Ihr mir nicht bringen, die Ihr mich hinausgestoßen habt in die grauenhafte Wüste, wo mir der Sonnenbrand das Gehirn ausgedörrt hat!“ fuhr sie zu dem Geistlichen gewendet fort. „Nicht einen Tropfen kühler Labung habt Ihr mir gereicht auf dem Wege, der nun, wie Ihr predigt, enden soll in die Hölle! … Ihr Unduldsamen, Ihr rühmt Euch, in Demuth vor Gott zu wandeln, und haltet doch jederzeit den Stein in der Hand, ihn auf Euren Nächsten zu werfen, und vermesset Euch, entehrendes Todtengericht zu halten am Grabe der Hingeschiedenen, die bereits vor ihrem Richter stehen! … Ihr falschen Propheten, Ihr rühmt Euch, zu dem Gott der Güte, des unendlichen Erbarmens zu beten, und macht ihn zum Lenker mörderischer Schlachten, zu einem grimmigen und eifrigen Gott, wie das Volk der Hebräer auch, das Ihr das verfluchte nennt! … Vollkommen preist Ihr ihn, und gebt ihm doch alle Gebrechen Eurer sündhaften Menschennatur, Eure Rachsucht, Eure Herrschbegier, Eure kalte Grausamkeit … Euer Mittler hat Euch eine Palme in die Hand gedrückt, Ihr aber macht sie zur Geißel –“

Der Geistliche hob die Hand, als wolle er sie unterbrechen, aber sie fuhr heftiger fort:

„Und mit dieser Geißel habt Ihr mich geschlagen und hinausgehetzt aus Eurem Himmel, da Ihr schwurt: Dein Vater, der Jude, der Dir das Leben gegeben, Deine Mutter, die Jüdin, die Dich genährt, sie sind verflucht bis in alle Ewigkeit! … Mann, mein Vater war der Weisesten Einer. Er hat gesammelt und aufgespeichert in seinem Geiste unermeßliches Wissen – und das sollte nutzlos verkommen in der Hölle, und dem geistig Beschränkten, der nie gedacht und nur geglaubt, würde mühelos das Himmelreich, wo doch dem Forschenden erst recht verheißen ist Wahrheit und Klarheit? … Und mein Vater,“ fuhr sie fort, „hat gebrochen dem Hungrigen sein Brod und dahingegeben, daß die Linke nicht wußte, was die Rechte that. Er hat verabscheut die Sünde der Lüge, des Geizes und des Hochmuths und hat verziehen seinen Beleidigern und nie gerächt, was sie ihm angethan – er hat Gott, seinen Herrn, geliebt von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe, und soll doch schmachten in der Hölle bis in alle Ewigkeit, weil das Wasser nicht über seinem Haupt ausgegossen ist? … Wohl, wohl, so will ich dahingehen, wo er ist – Ich gebe Euch Eure Taufe zurück! Behaltet Euren Himmel – Ihr verkauft ihn theuer genug, Ihr Tyrannen im schwarzen Rock!“

Mit dem tiefsten Erbarmen in seinen milden Zügen trat ihr der alte Pfarrer näher; aber da war keine Versöhnung mehr möglich.

„Lassen Sie das – ich bin fertig!“ sagte sie schneidend und kehrte das Gesicht nach der Wand.




6.

Leise, wie er gekommen, verließ der Geistliche das Zimmer. Unwillkürlich folgte ich ihm. So gewiß mich das Gebahren meiner Großmutter überzeugt hatte, daß einst schwere Missethat an ihr verübt worden sei, so schmerzlich leid that mir der alte Mann, der in der Kirche seine Hand segnend auf meine Stirn gelegt hatte. Er war mild und gut, er gehörte nicht zu Denen, die die unglückliche Tochter der Juden in die Nacht des Wahnsinns getrieben; er war willig und unverdrossen durch die Nacht geschritten, der liebevolle Greis, um einer Kranken die Tröstungen der Kirche zu bringen.

„Herr Pfarrer,“ sagte Ilse draußen auf dem Fleet zu ihm, „ihr dürfen Sie das nicht zurechnen, sie hat sich taufen lassen, und der’s gethan hat, war gut und christlich wie Sie, und sie hat ehrlich zu Christo gehalten … Da ist aber Einer gekommen – er mag’s verantworten – und hat geeifert und hat des Verfluchens und Verdammens kein Ende gewußt. Ja, da war das viele Unglück in der Familie immer und immer nur ein Strafgericht des Herrn! Und das hat ihr den Verstand genommen – er mag’s verantworten!“

„Ich rechte nicht mit ihr,“ entgegnete er sanft. „Weiß ich doch leider zu gut, daß falscher Eifer am Weinberg des Herrn viel edle Frucht zerstört! … Die Frau hat viel gelitten – Gott wird barmherzig sein! Mich schmerzt nur, daß ich nicht trösten durfte, wo ich es freudigen Herzens gekonnt hätte. Aber es widerstrebt mir, mit dem unerbetenen Beistand der Kirche auf eine Seele einzustürmen, die ohnehin im schweren Kampfe liegt, im Kampfe mit der Hülle.“ Er strich liebkosend mit der Hand über meinen Scheitel. „Gehe hinein zu ihr, sie wird Dich vermissen! … Ich wollte, ich könnte allen Trost unseres Glaubens auf Deine Lippen legen, auf daß der geängstigten Seele der wahre Friede werde.“

Ich kehrte sofort in das Zimmer zurück, während er ein Glas Wasser trank und dann, ohne zu rasten, den Dierkhof verließ.

„Wo ist das Kind?“ hörte ich die Kranke schon draußen im Gange wiederholt fragen.

„Da bin ich, Großmutter!“ rief ich eintretend und flog auf das Bett zu. Sie war ganz allein. Heinz, den wir bei ihr zurückgelassen, war fortgegangen, ich vermuthete, aus Furcht vor Ilse, da er eigenmächtig den Geistlichen mitgebracht hatte.

„Ach ja, da bist Du, mein kleines, schwarzbraunes Täubchen!“ sagte sie zärtlich und seufzte erleichtert auf. „Ich meinte schon, Du seiest mir nun auch abgewandt und mit ihm hinweggegangen in Haß und Verachtung.“

Ich protestirte. „So darfst Du nicht denken, Großmutter!“ rief ich lebhaft. „Er hat mich zu Dir geschickt und ist unsäglich gut, und ich – ich weiß gar nicht einmal, wie es ist, wenn man haßt und verachtet.“

„Das heißt, Du liebst die ganze Welt,“ sagte sie schwach lächelnd.

„Ach ja, das habe ich Dir ja schon gesagt! Ilse und Heinz, und Spitz und Mieke, und die gute, alle Föhre drüben auf dem Hügel und den blauen Himmel –“

Ich verstummte plötzlich und schämte mich – es war ja nicht wahr, was ich da sagte; diese volle hingebende, friedsame Liebe für die ganze Welt besaß ich gar nicht mehr! Gerade heute war ich ein zorniges, ungeberdiges Geschöpf gewesen – sollte ich ihr das sagen?

Ich saß wieder auf dem Bettrand, und sie hielt in ihrer Rechten meine Hand; die Finger umschlossen sie so fest, als sollte sie nie, nie wieder losgelassen werden – dabei sanken ihr langsam die Lider über die Augen. Sie hatte vorhin so kraftvoll und energisch gesprochen, und ich war so über alle Begriffe unerfahren, daß ich bei diesem Anblick nicht im Entferntesten mehr an Erschöpfung dachte; aber nun legte ich auch meine Linke liebkosend um ihr Handgelenk; ich wußte recht gut, daß da der Lebensstrom in regelmäßigem Tact unaufhörlich klopfen mußte – zu meiner tiefsten Bestürzung wurde mir allmählich klar, daß es unheimlich still unter dieser kalten Haut blieb; nur selten, nach langen, herzbeklemmenden Pausen, schlug es einmal kurz und hart an meine Fingerspitzen.

„Wir sind wie der Thon in der Hand des Töpfers,“ flüsterte sie plötzlich. „Was sind wir, was ist unser Leben, alle unsere Herrlichkeit?“ Sie stöhnte auf. „Aber du bist unser Vater, und wir sind deine Kinder, erbarme dich unser, wie sich ein Vater seiner Kinder erbarmt –“

Sie schwieg wieder; mich aber überfiel eine unbeschreibliche Angst, ich hätte Alles darum gegeben, diese geschlossenen Augen offen zu sehen, und legte leise meine Lippen auf ihre Stirne. Sie fuhr empor, sah mich aber liebevoll und zärtlich an.

„Geh’, rufe mir Ilse!“ sagte sie schwach.

Ich sprang auf, und in demselben Augenblick rasselte zu meiner unaussprechlichen Erleichterung ein Wagen über das Pflaster des Hofes. Gleich darauf trat Ilse in Begleitung eines Herrn in das Zimmer.

„Der Herr Doctor ist da, gnädige Frau!“ sagte sie und ließ den Arzt an das Bett treten.

Das Gesicht meiner Großmutter zeigte sofort wieder einen festen, gespannten Ausdruck. Sie schob dem Arzt die Rechte hin, um sich den Puls untersuchen zu lassen, und sah ihn aufmerksam an.

„Wie viel Zeit geben Sie mir noch?“ fragte sie kurz und bestimmt.

Er schwieg einen Moment betroffen und vermied es, ihrem Blick zu begegnen.

„Wir wollen einen Versuch machen –“ sagte er zögernd.

„Nein, nein, bemühen Sie sich nicht!“ unterbrach sie ihn. [563] Sie sah mit einem schattenhaften Lächeln an der linken Körperseite nieder. „Das ist bereits dem Staub verfallen!“ sagte sie kalt. „Wie viel Zeit geben Sie mir noch?“ wiederholte sie unabweisbar nachdrücklich mit geschärfter Stimme.

„Nun denn – höchstens eine Stunde.“

Mir stürzte ein Thränenstrom aus den Augen, und Ilse flüchtete in ein Fenster und preßte das Gesicht gegen die Scheiben. Nur meine Großmutter blieb vollkommen ruhig. Ihre Augen hefteten sich auf den Silberleuchter an der Decke.

„Zünde an, Ilse!“ gebot sie, und während diese auf einen Stuhl stieg und Flämmchen um Flämmchen unter ihren Händen aufflackerten, wandte sich die Kranke zu dem Arzt.

„Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,“ sagte sie, „und möchte Sie noch um einen letzten Liebesdienst bitten – würden Sie die Güte haben, niederzuschreiben, was ich dictiren werde?“

„Von Herzen gern, gnädige Frau, aber falls es sich um einen letzten Willen handeln sollte, so muß ich darauf aufmerksam machen, daß es ungültig sein wird ohne gerichtliche –“

„Ich weiß das,“ unterbrach sie ihn. „Allein dazu verbleibt keine Zeit. Meinem Sohne wird und muß mein letzter Wille auch in dieser Form genügen.“

Ilse brachte Schreibgeräth, und meine Großmutter dictirte:

„Ich vermache Ilse Wichel den Dierkhof mit seinen vollen Einrichtungen und allen Liegenschaften –“

„Nein, nein –“ schrie Ilse angstvoll und erschrocken auf, „das leide ich nicht!“

Meine Großmutter warf ihr einen strengen, zurechtweisenden Blick zu und sprach unbeirrt weiter: „als einen Beweis meiner Dankbarkeit für ihre unbegrenzte Hingebung und Aufopferung. … Ich vermache ferner meiner Enkelin, Leonore von Sassen, was ich an Staatspapieren noch besitze, und darf Niemand, wer es auch sei, ein Recht daran erheben.“

Ilse war emporgefahren und sah erstaunt nach ihr hinüber. Die Kranke deutete auf einen Schrank. „Da drin muß ein Blechkasten stehen. … Nimm ihn heraus, Ilse; ich habe völlig vergessen wie viel er enthält.“

Ilse öffnete den Schrank und stellte einen niedrigen Blechkasten auf den Tisch. Ein verrostetes Schlüsselchen steckte in dem Vorlegeschloß.

„Es mag wohl lange, lange her sein, daß ich ihn nicht berührt habe,“ murmelte die Kranke und hob matt die Rechte nach der Stirne. „Es ist finster in mir gewesen – ich weiß es. … Welches Jahr schreiben wir?“

„Das Jahr 1861,“ entgegnete der Arzt.

„Ach, da mag Manches da drin verfallen und werthlos geworden sein!“ klagte sie, während er den Deckel zurückschlug. Auf den Wunsch der Kranken überzählte er die Papiere, die den Kasten bis an den Rand füllten.

„Neuntausend Thaler,“ berichtete er.

„Neuntausend Thaler!“ wiederholte meine Großmutter befriedigt. „Sie genügen, um die Noth abzuwehren. … Es muß auch noch eine kleine Schachtel in dem Kasten liegen.“

Ich sah, wie Ilse den Kopf schüttelte über diese plötzliche Geistesklarheit, die so leicht da anknüpfte, wo vor vielen Jahren der glatte Faden des ungetrübten Denkens abgerissen war. Der Arzt nahm eine unscheinbare Holzschachtel aus dem Kasten – sie enthielt eine Perlenschnur.

„Der letzte Rest der Jakobsohn’schen Herrlichkeit!“ flüsterte die Kranke wehmüthig vor sich hin, „Ilse, lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort! … Sie gehört zu Deinem Gesicht, mein Kind!“ sagte sie zu mir, während ich leise in mich zusammenschauerte unter der kühlen, schmeichelnden Berührung. „Du hast die Augen Deiner Mutter, aber die Jakobsohn’schen Züge. … Das Band hat viel Familienglück und schöne friedliche Zeiten voll Glanz gesehen; aber es ist auch mitgeflüchtet vor dem Scheiterhaufen und anderen grausamen Marten der christlichen Unduldsamkeit!“ Sie rang nach Athem. „Nun will ich unterschreiben!“ stieß sie nach einer Pause der Erschöpfung sichtlich beängstigt hervor.

Der Doctor legte das Papier auf die Bettdecke und drückte die Feder in die steife Hand. … Sie war unsäglich mühselig, diese letzte irdische Handlung, aber der Name, Clotilde von Sassen, geborene Jakobsohn, stand schließlich doch in ziemlich festen großen Zügen unter dem Document, das auch der Arzt als Zeuge mittels einiger Worte unterschrieb.

„Weine nicht, mein Täubchen!“ tröstete sie mich. „Komme noch einmal her zu mir!“

Ich warf mich sprachlos am Bett nieder und küßte ihre Hand. Sie trug mir Grüße an meinen Vater auf, und richtete ihre großen verschleierten Augen von meinem Gesicht hinweg fest und sprechend auf Ilse.

„Das Kind darf nicht verkommen in der einsamen Haide!“ sagte sie bedeutsam.

„Nein, gnädige Frau, dafür lassen Sie mich sorgen!“ versetzte die Angeredete in ihrer gewohnten knappen Kürze, obgleich ihr die Lippen schmerzlich zuckten und helle Thränen an ihren Wimpern hingen.

Noch einmal glitt die kalte matte Hand liebkosend über mein Kinn, dann schob mich meine Großmutter sanft, aber doch in jener ängstlichen Hast, die mit jeder Secunde geizt, von sich und sah starr nach einem der Fenster mit einem so seltsam ausdrucksvollen Blick, als wolle die Seele auf ihm bereits hinausfliegen in das All.

„Christine, ich verzeihe!“ rief sie zwei Mal angestrengt in die Lüfte, in die weite Ferne hinaus. … Sie war fertig, gerüstet. Sichtlich beruhigt rückte sie den Kopf in den Kissen zurecht, wandte den Blick nach oben und begann feierlich inbrünstig, wenn auch mit erlöschender Stimme: „Höre, Israel, unser Herr, unser Gott ist ein Einziger und Einiger! … Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit –“ die Stimme erstarb in einem geflüsterten Hauch; sie neigte sanft und langsam das Haupt seitwärts.

„In Ewigkeit, Amen!“ vollendete der Arzt an Stelle des Mundes, der für immer verstummt war.

Er drückte ihr mit sanfter Hand die Lider über die Augen.




7.

Ich ging hinaus. Das erste tiefe Weh war über mich gekommen. Wie versteinert stand ich vor jenem unerbittlichen „vorbei für immer!“ das uns angesichts des ausgelöschten Lebens so völlig unglaublich erscheint.

Mit der ganzen enthusiastischen Zärtlichkeit, die so leicht aus dem jugendlichen übervollen Gemüth hervorquillt, hatte ich mich an die neugeschenkte Großmutter gehangen. Ich durfte das unaussprechlich süße Gefühl kosten, welches mir sagte, die Hingebung meines kleinen Herzens werde heiß gewünscht – und nun marterte mich der Gedanke, daß ich nicht genug gegeben, daß ich meiner Großmutter bei weitem nicht überzeugend genug ausgesprochen habe, wie sehr ich sie lieben wolle. Es war mir Bedürfniß gewesen, ihr zu versichern, daß ich sie auf den Händen tragen werde, wenn sie erst wieder gesund sei – statt dessen hatte ich sorglos die ganze kostbare Zeit verstreichen lassen und kindischer Weise von meiner Liebe für die ganze Welt gesprochen. … Das hatte sie gewiß am wenigsten hören wollen, sie, der man draußen in der Welt so furchtbar wehe gethan. … Und nun war sie gestorben, und ich konnte ihr dies Alles nicht mehr sagen. … Zu spät! Unsere ganze Ohnmacht und Hülflosigkeit liegt in dem niederschmetternden Wort!

Ich trat durch die Baumhofthür in’s Freie. Ein kräftiger Luftstrom, noch mit den Spuren der Nachtfeuchte im Athem, strich über die Haide her. Er blies dem Torfsumpf die große federweiße Schlafhaube ab und verdünnte sie zum zarten Spitzenvorhang, hinter welchem das Sonnenfeuer aufzuglühen begann. Rothgolden färbten sich die rauschenden Eichenwipfel, und das kleine Giebelfenster des Dierkhofes fing an zu blinken.

Wie trunken schwankten die Grashalme unter dem funkelnden Thau; aber aufgerichtet hatten sich alle wieder, über die meine Großmutter heute Nacht zum letzten Mal hingeschritten war. Die Fenster des Sterbezimmers, die ich nie anders als halbverhüllt gekannt hatte, standen weit offen. Ich schwang mich auf die Brüstung und sah hinein. Das Zimmer war leer. Die Vorhänge, jetzt im schräg einfallenden Morgenlicht smaragdfarben schimmernd, waren nach der Wand zurückgeschlagen und ließen die Lüfte über das Bett hinstreichen. … In eine so athemlose friedensvolle Stille hinein hatte das gequälte Gesicht des jungen Isaak wohl seit langen Jahren nicht gesehen. Die mächtige Gestalt, der das Blut so heiß und ungestüm in den Adern gekreist [564] hatte, dort lag sie hingestreckt unter dem weißen verhüllenden Tuche, nur kenntlich an der prächtigen grauen Flechte, die hervorgeschlüpft war und über den Bettrand hinabhing.

Eine aufgescheuchte Brummfliege zog summend an mir vorüber, und auf dem Silberleuchter an der Decke züngelten die gelben Flammen der Wachskerzen im Luftzuge unruhig hin und her. Das war Alles, was sich regte in dem weiten Zimmer, selbst die Uhr stand still.

Dagegen erscholl nun das erwachende Leben aus dem Vorderhofe herüber. Die Hähne krähten; Spitz fuhr kläffend unter die krakelnden und aufschreienden Hühner, und Mieke verlangte dumpf-brüllend nach der Hand, die ihr das strotzende Euter entleerte. Ueber das Dach her kam die Hauskatze; sie sprang geräuschlos in das Gras des Baumhofes und schlich mit grünfunkelnden Augen unter den Ebereschenbaum, auf welchem ein kleiner Vogel sorglos zwitscherte. Ich bog eben um die Ecke und scheuchte sie fort. Und droben im Reisernest auf dem Dache wurde unter eifrigem Geklapper Toilette gemacht, dann rauschte das Storchenpaar hoch über meinem Haupte hin zum Frühstück nach dem Sumpfe – Alles wie sonst! Nur vor dem Hause schreckte mich Fremdes und Ungewohntes zurück – ein Pferd wieherte in die frische Morgenluft hinaus, und an der niedrigen Umzäunung des Hofes stand mit rückwärts verschränkten Armen der Doctor und schaute über die mit Thau und Sonnengold förmlich überschüttete Haide hin.

Die kleine verstaubte Chaise, die ihn gebracht hatte, stand angeschirrt vor dem Hausthor, und drin auf dem Fleet sah ich Ilse stehen, fest und stramm wie immer. Sie hatte den Eßtisch sauber gedeckt, Tassen und Butterbrod auf der weißen Serviette geordnet und kochte Kaffee für den Arzt.

Ich trat aufgeregt zu ihr.

„Ilse, wie kannst Du das nur? Wie ist Dir das möglich in einem solchen Augenblick?“ rief ich zornig vorwurfsvoll.

„Sollen Andere dursten und hungern, weil ich Schmerz habe?“ fragte sie scharf und strafend. „Hast heute Nacht Deine Großmutter sterben sehen und hast doch nicht von ihr gelernt, daß man in den schlimmsten Stunden den Kopf oben behalten soll!“

Tief beschämt legte ich meine Arme um ihren Hals; denn das Gesicht, das sich mir erst jetzt voll zugewendet, schien wie erstarrt im Jammer, und das urgesunde Roth war bis auf den letzten Schein weggelöscht von den Wangen. Und doch rührten sich die Hände nach wie vor, und nicht die kleinste Pflicht durfte versäumt werden.

Der Doctor kam herein und der Knecht, der ihn gefahren, auch; ich ging ihnen aus dem Wege und trat wieder vor das Haus.

Die Enten des Dierkhofes, sämmtliche Schnäbel nach der Haide hinaus gerichtet, standen am geschlossenen Gatterthor der Einfriedigung, sie warteten sehnsüchtig auf den Augenblick, wo es geöffnet wurde und sie hinausrennen und sich kopfüber in den Fluß stürzen durften. Nur eine balgte sich noch mit einem weißen, zerflatternden Klumpen im Hofe herum – da war ja der Brief, den meine Großmutter heute Nacht vom Fleet aus fortgeschleudert und welchen Ilse nachher so emsig gesucht hatte! Er war bis vor das offene Hausthor geflogen. Ich öffnete den Enten das Gatter und nahm den befreiten Papierknäuel auf; er sah übel zugerichtet aus; das schmutzige Wagenrad war über ihn hingegangen, und der Entenschnabel hatte ihn halb zerfleischt.

Auf das Bänkchen unter dem Ebereschenbaum flüchtend, machte ich mich daran, das Papier auf dem Knie zu glätten und die auseinanderfallenden Stücke zusammenzufügen Es fehlte viel, zudem war die Handschrift eine sehr flüchtige; unter großer Mühe entzifferte ich folgende Stellen:

„Ich habe Dich nie belästigt, weil ich es Dir gegenüber für Ehrensache hielt, den eigenmächtig eingeschlagenen Weg auch selbstständig zu gehen … ‚Die Verlorene‘ hat Alles gethan, damit kein Schatten ihrer Laufbahn auf Dich zurückfalle – nie ist mein eigentlicher Familienname gegen Andere über meine Lippen gekommen, nie habe ich durch irgendwelche Erkundigungen nach Dir und meiner ehemaligen Heimath den Verdacht erregt, als sei ich mit den Sassens verwandt – es hätte sie wahrlich nicht geschändet; denn denke wie Du willst – ich sage es dennoch mit Stolz, man hat mich einstimmig das Wunder, den glänzendsten Stern unserer Zeit genannt.“ … Hier war ein Stück Papier abgerissen, es fehlte – aber auf der andern Seite des Bogens las ich weiter: „Nun ist ein schweres Unglück über mich hereingebrochen – wohin soll ich gehen, wenn nicht zu Dir? … Ich habe die Stimme verloren, meine kostbare Stimme! Die Aerzte sagen, eine Badecur in Deutschland könne sie mir zurückgeben. Aber ich stehe da mit leeren Händen; durch die gewissenlose Verwaltung Anderer ist mein Vermögen bis auf den letzten Groschen verloren gegangen, … Auf den Knieen liege ich vor Dir, die Du im Wohlleben schwimmst, die Du nie erfahren hast, was Noth, grimme Noth ist – ich könnte Dir viel erzählen von schlaflosen, qualvollen Nächten. … Vergiß nur einmal, nur auf eine Stunde, daß ich unfolgsam war, und gieb mir die Mittel, mich zu retten! Was sind einige Hundert Thaler für Dich, die“ – über das Folgende lief die breite schwarze Spur des Wagenrades, die ohnehin blassen Schriftzüge waren total zerkratzt und verwischt. Auf einem herabhängenden Fetzen des zweiten Blattes stand noch ziemlich lesbar die Adresse der Schreiberin, und auf einem andern die zwei Worte, die genügt hatten, meine Großmutter in schäumende Wuth zu versetzen, die Unterschrift „Deine Christine.“

Wer war diese Christine? Dieses Wunder, der glänzendste Stern unserer Zeit? …

Die Stelle „Auf den Knieen liege ich vor Dir!“ machte auf mein einfaches, unverbildetes Gemüth einen ungeheuer dramatischen Eindruck. Ich sah sofort das schlankste Ritterfräulein aus einem meiner Bilderbücher in die Kniee sinken und die weißen Hände flehend erheben. … Und die Stimme hatte sie verloren, ihre kostbare Stimme! … Meine Hände fuhren unwillkürlich nach dem Halse – wie mußte das entsetzlich sein, wenn man mit voller Brust aushob, um die Töne hinausklingen zu lassen, und die Kehle versagte und blieb stumm!

Weder Fräulein Streit, noch Ilse hatten je auch nur mit einer Silbe jener „Verlorenen“ gedacht, und doch mußte sie meiner Großmutter sehr nahe gestanden haben, denn sie war ihr letzter Gedanke gewesen. Jetzt erst erschütterte mich das feierliche „Christine, ich verzeihe!“ in tiefinnerster Seele; unwillkürlich mußte ich an den verlorenen Sohn denken, der im tiefsten, stillsten Herzenswinkel des Vaters doch das geliebte Kind geblieben war.

[577] Ich steckte die Briefreste in meine Tasche und ging hinein auf den Fleet. Eben rollte die Chaise aus dem Gatterthor und bog, bedenklich schwankend, in den nach links führenden schauderhaften Haideweg ein, und von der entgegengesetzten Seite her kam Hainz auf den Dierkhof zugetrabt. In diesem Augenblick erst fiel es mir auf, daß er ja stundenlang verschwunden gewesen war. Ich trat neben Ilse, die den Doctor bis an das Hausthor begleitet hatte und auf der Schwelle stehen geblieben war. … Es wollte mir scheinen, als käme Freund Heinz sehr unsicher daher; er machte sich erst noch in völlig unnützer Weise mit dem Gatter zu schaffen, ehe er es unternahm, auf uns zuzuschreiten – das wurde ihm offenbar blutsauer. Beim Anblick unserer verweinten Gesichter blieb er verwirrt stehen.

„Nu, was hat er denn gemeint?“ fragte er verlegen stockend, indem er mit dem Daumen über die Schulter zurück nach dem wegfahrenden Doctor zeigte.

„Mein Gott, Heinz, Du weißt es nicht?“ rief ich, aber Ilse unterbrach mich mit barscher Stimme.

„Wo warst Du?“ fragte sie kurz und bündig den Bruder.

„Bei mir zu Hause,“ antwortete er trotzig.

Heinz trotzig! Ich traute meinen Augen und Ohren nicht; aber da stand er trotz alledem, der ewig Nachdenkende, und schöpfte offenbar Muth aus seinem eigenen widersetzlichen Ton, denn nun verstieg er sich auch noch zu der unglaublichen Kühnheit, Ilse’s feindlich scharfen Blick zu pariren.

„So – was war denn Nachts um Eins so nöthig bei Dir zu Hause? – Hast wohl Deinen Vogel füttern müssen!“ sagte sie schneidend.

Er sah ängstlich und unsicher auf. „O je – Nachts um Eins den Vogel füttern – wie werd’ ich denn so dumm sein! … Zwischen meine vier Wände hab’ ich mich gesetzt,“ platzte er heraus, „die hat mein Vater mit seinen ehrlichen Händen gebaut, und ein frommer Spruch steht über der Thür. … Wie werd’ ich denn auf dem Dierkhof bleiben, wenn eine Judenseele geradewegs in die Hölle fährt! … Ilse, wenn das mein Vater wüßte, daß Du bei einer Judenfrau gedient hast!“ –

„Heinz, wenn das mein Vater wüßte, daß Du bei einem Christen gedient hast, wo Du halb verhungert und erfroren bist, und der Dir alle Tage mit Ohrfeigen und Stockprügeln gedroht hat!“ parodirte sie ihn zornig. „Das ist mir ja eine ganz neue Weisheit, die Du da auskramst, und die hast Du von da drüben!“ Sie zeigte nach der Richtung eines großen Dorfes hinter dem Walde, wo Heinz in früheren Zeiten als Knecht gedient hatte.

„Ja hast Recht, von dort her hab’ ich’s!“ versetzte er ebenso trotzig wie vorher und nickte verstockt mit steifem Nacken. „Die Juden sind verflucht bis in alle Ewigkeit, weil sie den Heiland gekreuzigt haben. Mein Herr hat’s gesagt, und das war ein Reicher und ein Hofbesitzer, und der Pfarrer hat’s von der Kanzel gepredigt, und der muß es noch besser wissen – dafür war er der Pfarrer!“

Ilse sah dem Sprecher scharf in’s Auge. „Jetzt paß auf!“ setzte sie kurz und resolut hinzu und trat ihm mit aufgehobenem Zeigefinger so nahe, daß er ängstlich zurückwich. „Es ist ein für allemal nicht wahr, daß der Heiland von unserm Herrgott bis in alle Ewigkeit gerächt sein will! Wenn er das zuließe, nachher wär’s aber auch aus und vorbei mit meinem Glauben, denn er hat uns geboten ‚Segnet, die euch fluchen,‘ und thät’s selber nicht! … Wenn ich Christi Leidensgeschichte lese, da hab’ ich freilich allemal einen Heidenzorn auf die Juden, aber, wohlgemerkt, Bruder Heinz, nur auf die Juden, die dazumal gelebt haben. … Wie werd’ ich denn so ein Unmensch sein und meinen Zorn an Leuten auslassen, die bis auf den heutigen Tag als unschuldige Kinder auf die Welt kommen und von ihren Eltern in der alten Lehre aufgezogen werden! … He, Musje Heinz, wie gefiele Dir denn das, wenn irgend ein Mensch mir etwas zu Leide thäte, und ich wollte seine Kinder dafür schlagen?“

„Das ist lauter Studirtes!“ sagte Heinz kleinlaut, „das hast Du von der alten Frau gelernt –“

„Das hab’ ich nicht gelernt, wie die Bibelsprüche in der Schule; das hat mir mein Gewissen und,“ sie deutete auf ihre Stirn, „der gesunde Menschenverstand gesagt. … Gesprochen habe ich freilich im Anfang viel mit meiner armen Frau, und es hat ein Wort das andere gegeben, und ich hab’ sie manchmal beruhigt, wenn ‚die Leute im schwarzen Rock‘ Unheil angerichtet hatten. … Die Juden haben den Heiland einmal gekreuzigt; aber Solche, wie der Herr Pfarrer dort drüben,“ sie zeigte abermals nach dem Dorfe hinter dem Walde, „die kreuzigen ihn alle Tage – Feuer und Schwert und Verfluchen und böse Worte, die machen das Reich Christi gar nicht fein, und ist es den Leuten nicht zu verdenken, wenn sie nicht hinein wollen! … Da hast Du meine Meinung, und nun sage ich noch zu Dir selber: Pfui, schäme Dich in Dein Herz hinein, Du undankbarer Mensch! Hast [578] lange Jahre das Brod auf dem Dierkhof gegessen – und ich meine, es ist Dir recht gut bekommen, das Judenbrod – und nun lässest Du die alte Frau in ihrer Sterbestunde allein – geh’ heim, und lies das Capitel vom barmherzigen Samariter!“

Sie wandte sich um und ging in das Haus hinein.

Recht hatte sie, vollkommen Recht! Bei jedem Worte wurde es mir so leicht, als hätte ich selber gesprochen und meiner Erbitterung Luft gemacht. Ich war tief empört, und doch dauerte mich der arme Sünder, wie er ganz zerknirscht, mit niedergeschlagenen Augen an der Schwelle stehen blieb und sich nicht in das Haus hineintraute. … Wie war es nur möglich? Dieser Mensch mit der kinderweichen Seele, der kein Thier leiden sehen konnte, er zeigte plötzlich eine dunkle Stelle in seinem Gemüth, eine unbegreifliche Härte und Erbarmungslosigkeit, und glaubte sich dazu auch noch völlig berechtigt, ja förmlich autorisirt gerade – als Christ!

„Heinz, Du hast einen sehr schlechten Streich gemacht!“ schalt ich in hartem Ton.

„Ach, Prinzeßchen, wem soll man’s denn nun recht machen?“ seufzte er auf, und Thränen funkelten in seinen Augen. „Todsünde gegen den lieben Gott soll’s sein, wenn man dem Pfarrer nicht gehorcht, und nun meint Ilse, ich sei ein schlechter Kerl, weil ich ihm folge.“

„Ilse trifft immer das Richtige – das hättest Du doch wahrhaftig wissen sollen,“ sagte ich. Die Strenge, die ich mir vorhin erlaubt, gelang mir nicht mehr. So unreif ich auch noch im Denken war, das sah ich doch ein, die Grausamkeit wurzelte auch nicht mit einem Fäserchen in seiner Seele selbst, sie war ihm systematisch eingeimpft worden – abscheulich!

Meine Augen schweiften unwillkürlich über den Himmel – mir graute nicht mehr vor dem vielen Licht, das nun gekommen war; es floß wie milder Balsam in mein gepreßtes Herz, und ich begriff zum ersten Mal, nachdem ich heute Nacht dem Tod in die düsteren Augen gesehen, die Wunderverkündigung des Auferstehens.

Ich nahm Heinzens Rechte zwischen meine Hände. „Hier im Hofe kannst Du doch nicht stehen bleiben,“ sagte ich. „Komme nur mit mir herein – Ilse wird schon wieder gut werden und meine liebe, arme Großmutter – die hat Dir längst verziehen; sie ist im Himmel!“

„Weiß es Gott, wie leid mir die alte Frau thut!“ murmelte er und ließ sich wie ein Kind auf den Fleet führen.

Draußen im Baumhof stand Ilse; sie hatte den Eimer unter den Brunnen gestellt und hob eben den Schwengel; aber beim ersten Aufkreischen desselben ließ sie ihn mit kreideweißem Gesicht wieder sinken.

„O, Herr Jesus, ich kann das nicht mehr hören!“ stöhnte sie auf.

Sie kam herein, sank auf einen Stuhl nieder und verhüllte die Augen mit ihrer Schürze. Aber das dauerte keine zwei Minuten.

„Was für ein albern Ding bin ich doch!“ sagte sie unwirsch, richtete sich straff empor und strich die Schürze über den Knieen glatt. „Möchte, wohl gar die Frau wieder da am Brunnen stehen sehen, wo sie immer ihren armen, heißen Kopf gekühlt hat, und sollte doch Gott danken, daß sie drin still liegt und erlöst ist von dem vielen Jammer.“

„Ilse, war Christine an dem vielen Jammer schuld?“ fragte ich schüchtern.

Sie sah mich scharf an. „Ach so,“ sagte sie nach kurzem Besinnen, „Du hast’s ja heute Nacht mit angehört – nun, da magst Du’s wissen, sie hat so viel Jammer über Deine Großmutter gebracht, wie es eben nur eine ungerathene Tochter kann.“

„Ach, mein Vater hat eine Schwester?“ rief ich überrascht.

„Eine Stiefschwester, Kind. … Deine Großmutter war zuerst an einen Juden verheirathet, der ist jung verstorben – die Christine hat dazumal noch in den Windeln gelegen. Nach zwei Jahren hat die Großmutter sich und das Kind taufen lassen und ist Frau Räthin von Sassen geworden – nun weißt Du Alles –“

„Nein, Ilse, noch nicht Alles – was hat die Christine verbrochen?“

„Sie ist heimlich entwischt und unter die Komödianten gegangen –“

„Ist das so schlimm?“

„Das Durchbrennen freilich – das solltest Du doch selber wissen – was aber die Komödianten betrifft, da kenne ich keinen Einzigen und kann nicht sagen, ob sie schlimm oder recht sind. – Bist Du nun fertig?“

„Ilse, sei nicht böse,“ sagte ich zögernd, „aber Eines möchte ich Dir noch sagen – diese Christine ist doch sehr unglücklich, sie hat ihre Stimme verloren.“ –

„So – Du hast den Brief gefunden und ihn gelesen, Lenore?“ fragte sie in ihrem eisigsten Tone.

Ich nickte stumm mit dem Kopfe.

„Und Du schämst Dich nicht?“ schalt sie. „Mir machst Du Vorwürfe, weil ich in den schweren Stunden meine Pflicht und Schuldigkeit thue, und in dem gleichen Moment guckst Du in fremde Briefe, die Dich auf der Gotteswelt nichts angehen! – Das ist so gut wie Diebstahl – weißt Du das? … Uebrigens glaube ich kein Wort von dem ganzen geschriebenen Zeug; und damit gieb Dich zufrieden!“

„Nein, das kann ich nicht! … Sie dauert mich! Wirst Du ihr wirklich nichts schicken? … Ach Ilse, ich bitte Dich –“

„Nicht einen Pfennig! … Die hat mehr als ihr Erbtheil vornweg genommen in der Nacht, wo sie heimlich aus dem Hause gegangen ist – das hat auch in dem armen Kopf da drinnen gewühlt –“

„Meine Großmutter hat ihr verziehen, Ilse –“

Ich müßte das erst lernen! Das kann wohl eine Mutter, noch dazu, wenn sie schon fast nicht mehr auf der Erde ist; aber Unsereinem, der das Elend jahrelang mit angesehen und redlich mitgetragen hat, dem wird’s schon saurer. … Gelt, nimmst Alles für baare Münze, was in dem Briefe steht? … Ja, ja, auf den Knieen kömmt sie gerutscht, aber nicht etwa, weil sie Verzeihung will – Gott bewahre! – ohne die hat sie lange Jahre draußen gelebt, und ist es recht gut gegangen – Geld will sie! … Das liebe Geld! Darum ist’s freilich der Mühe werth, auf die Kniee zu fallen!“ –

Wie tief mußte ihr dies Alles gehen, daß sie so heftig und bitter und so anhaltend sprach, die schweigsame Ilse!

„Kannst bei der Gelegenheit auch erfahren, weshalb Deine Großmutter das Geldgeklapper nicht hören konnte,“ fuhr sie, tief Athem schöpfend, fort. „Es kann Dir nicht schaden, wenn Du erfährst, wie viel Unglück oft an solchen leidigen Thalern hängt, wie Du sie gestern zum ersten Mal in Deinem Leben gesehen hast. … Deine Großmutter ist die reichste Frau in Hannover gewesen – ihr erster Mann hat ihr volle Kisten und Kasten hinterlassen. … Nachher bei der zweiten Heirath – sie mochte den Mann eben zu gut leiden – da hat sie die größten Opfer gebracht, ihren Glauben hat sie hingegeben; den durfte sie nicht mitbringen – mit dem jüdischen Geld nimmt man’s nicht so genau. Es hat auch gar nicht lange gedauert, da ist’s ihr klar geworden, daß es dem Zweiten nicht im Geringsten um ihre Liebe zu thun gewesen ist – ihre Capitalien aber sind mit der Zeit nur so nach allen vier Winden verflogen – der hat’s verstanden!“

„Das war mein Großvater, Ilse?“

Das prächtige Carminroth erschien plötzlich in seiner ganzen früheren Gluth auf Ilse’s Backenknochen.

„Siehst Du, da lässest Du Einem keine Ruhe und fragst das Blaue vom Himmel herunter, und nachher kommen solche Dinge zum Vorschein!“ schalt sie ärgerlich und stand auf. „Aber das sage ich Dir, mit der Christine kömmst Du mir nicht wieder – die ist todt für mich, das merke Dir, Kind! … Brauchst auch gar nicht mehr an die Verlogene zu denken – das sind Dinge, die nicht in Deinen jungen Kopf passen!“

Sie schob Heinz, der sich demüthig und schweigend auf seinen Stuhl gesetzt hatte, eine Tasse hin und schenkte ihm Kaffee ein; aber einen Blick erhielt er noch nicht. Dann ging sie wieder hinaus an den Brunnen. Ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiß, als sie den Schwengel hob, aber das mußte ja sein! Der Wasserstrom schoß unermüdlich nieder, bis der Eimer gefüllt war.

Nein, und wenn Ilse auch immer das Richtige traf, darin konnte ich ihr doch nicht folgen. Denken mußte ich an die unglückliche Sängerin! Sie war ja meine Tante! Meine Tante! Das klang süß und wohlthuend, aber doch viel zu gesetzt für das reizende Gebild, das mir vorschwebte. … Und doch – sie war [579] älter als mein Vater, älter als zweiundvierzig Jahre – hu, wie entsetzlich alt! … Aber das half doch Alles nichts, meine Phantasie blieb geschäftig, die interessante Gestalt auszuschmücken – sie war ja eine Sängerin. …

Ich flüchtete mit meinem übervollen Herzen hinüber auf den einsamen Hügel und starrte mit schmerzenden Augen in den schönen, blauen Himmel. … Ob sie mich wohl sah, meine liebe Großmutter, wie ich traurig dasaß? Sie war ganz gewiß nicht böse, daß ich an Christine dachte – sie hatte ihr ja verziehen! …




8.

Vier Wochen waren seit dem Tode meiner Großmutter verstrichen. Ich war dabei, als man sie auf den Gottesacker des nächsten Dorfes in die Erde bettete. Der gute, alte Pfarrer betete so inbrünstig um Frieden für die Hingeschiedene, als läge sein liebstes Beichtkind zu seinen Füßen, und Heinz schien auch vergessen zu haben, daß die wenigen Bretter da unten eine getaufte, und dem Christenthum dennoch wieder abgewendete Jüdin umschlossen – er weinte bitterlich. … Nun blühten schon die bunten Sommerblumen auf dem neuen Hügel; sie stiegen leicht und zwanglos aus dem dunklen Erdreich, wie liebliche Traumgebilde der drunten Schlafenden, und nickten helläugig in die sonnige Welt hinein.

Der einsame Dierkhof hatte just seine schönste Zeit; er lag mitten in einem pfirsichfarbenen Bett – die Haide fing an zu blühen, und die Bienenschwärme, die bis dahin auf den goldenen Rübsamenfeldern und in der Buchweizenblüthe geschwelgt hatten, breiteten sich nun wonnetrunken über den unabsehbaren, honigtriefenden Flächen aus. … Nun summte sie wieder bestrickend und einlullend um das traute Dach, die uralte eintönige Haidemelodie! Aus den Lüften taumelten meine Lieblinge, die blauen Schmetterlinge, so massenhaft nieder, als sei der strahlende Sommerhimmel droben in Stückchen zerflattert; über die Sandblößen schlüpften goldflimmernde Laufkäfer, und an den Wiesen- und Gartenblumen hingen Perlmuttervögel, der prächtige Admiral und das Pfauenauge.

Sonst war ich den Schmetterlingen nachgelaufen, hatte sie eingefangen, mich ergötzt an dem wunderbaren Farbenspiel der Flügel, und sie dann wieder davonfliegen lassen – so hatte ich oft halbe Tage lang die Haide durchschwärmt; das war jetzt anders geworden. Ich hielt mich viel im Zimmer meiner Großmutter auf, das mit seinen alterthümlichen, aus dem Judenhause stammenden Möbeln einen geheimnißvollen Reiz auf mich ausübte. Es lag und stand da Alles an seinem alten Platze, nicht ein Geräth war verrückt worden, die große Uhr wurde wieder pünktlich aufgezogen, und damit Nichts fehle, was den Glauben erwecken konnte, die Verstorbene walte noch in dem Raume, hatte Ilse die niedergebrannten Kerzen auf dem Silberleuchter durch neue ersetzt.

Sie schloß mir auch da und dort eine Truhe oder einen Spind auf; die Fächer waren meist leer; meine Großmutter hatte bei ihrer Flucht aus der Welt allen Ballast von sich geworfen. Dafür war mir aber auch jedes beschriebene Papierblättchen, jeder zerstäubende Blumenrest ein interessanter Fund.

In einem Schranke hingen auch noch verschiedene Kleidungsstücke, die meine Großmutter aber nie in der Haide getragen hatte. Eines Tages nahm Ilse ein schwarzes, wollenes Kleid aus dem Schranke, zertrennte es und fing an, zuzuschneiden – sie hatte in der Stadt schneidern gelernt, und das war ihr Stolz. … Ich war sehr erschrocken, als sie mich aufforderte, zur Anprobe in das Werk ihrer Hände zu schlüpfen – das Ding sah aus wie ein Küraß.

„Ilse, nur das nicht!“ protestirte ich schaudernd und zerrte ängstlich an dem pressenden Halsausschnitt, der mir dicht an der Kehle saß, und mein Ellenbogen gab sich insgeheim alle Mühe, die enge, drückende Aermelnaht zu zersprengen.

„Ei was – wirst Dich schon d’ran gewöhnen!“ sagte sie kaltblütig und schneiderte weiter.

Wir saßen im Baumhof unter den Eichen, wohin ich einen Tisch und Stühle getragen hatte. Draußen über der Ebene brütete die flimmernde Nachmittagssonnenhitze; aber hier war es schattig kühl und still; nur die Bienen summten, und droben im Nest schrieen die jungen Elstern. Ich hatte den übergroßen, runden, braunen Strohhut unter den Händen, den mir Ilse vor circa fünf Sommern aus der Stadt hatte kommen lassen, und trennte auf ihr Geheiß das Rosaband herunter, das die Wonne meiner Augen gewesen war.

Da kam Heinz aus dem nächsten Dorfe zurück und legte einen Brief vor Ilse hin.

Mein Vater hatte auf die ihm telegraphisch mitgetheilte Nachricht vom Ableben meiner Großmutter hin geschrieben und sein Nichterscheinen bei der Beerdigung mit ernstlichem Kranksein entschuldigt. Seitdem war die Correspondenz zwischen ihm und Ilse eine ziemlich lebhafte geworden; um was es sich handelte, wußte ich nicht, ich bekam keine Zeile zu sehen; aber so viel war mir bekannt, daß zwischen Ilse’s letztem Schreiben und der Antwort meines Vaters, die sie da eben vor meinen Augen überlas, kaum fünf Tage lagen.

„Nichts da!“ sagte sie und steckte den Brief in die Tasche. „Uebermorgen reisen wir – dabei bleibt’s!“

Hut und Scheere fielen mir aus den Händen.

„Reisen wir!“ wiederholte ich mit stockendem Athem. „Du willst mit Heinz fort? … Ihr wollt mich mutterseelenallein auf dem Dierkhofe lassen?“

„O je, da wär’ er gut aufgehoben, der arme Dierkhof!“ rief sie, und zum ersten Male wieder seit dem Tode meiner Großmutter flog ein schwaches Lächeln über ihre Züge. „Närrisches Ding, Du sollst fort!“

Ich stand auf und warf meinen Stuhl so heftig zurück, daß er polternd hinten überfiel.

„Ich? – wohin denn?“ stieß ich hervor.

„In die Stadt,“ lautete die lakonische Antwort.

Das ganze sonnige Haideland draußen und die urkräftigen, rauschenden Eichen über mir versanken – die entsetzliche, dunkle Hinterstube empfing mich, und ich sah in das feuchte, karge Gärtchen inmitten der vier grünangelaufenen Häuserwände.

„Und was soll ich in der Stadt?“ preßte ich heraus.

„Lernen. –“

„Ich gehe nicht mit, Ilse, darauf kannst Du Dich verlassen!“ erklärte ich entschieden, während ich mit den bitteren, heißen Thränen rang. „Mache mit mir, was Du willst – aber Du sollst sehen, ich klammere mich in der letzten Stunde draußen am Hausthorpfosten an. … Ob Du das Herz hast, mich fortzuschleppen?“ Ich schüttelte Heinz, der wie eine Bildsäule mit offenem Munde dastand, verzweiflungsvoll am Aermel. „Hörst Du denn nicht – fort soll ich! … Wirst Du das leiden, Heinz?“

„Ist’s den wirklich wahr, Ilse?“ fragte er beklommen und faltete die ungeschlachten Hände ineinander.

„Nun sehe mir Einer die zwei Kinder hier an – thun sie doch wirklich, als sollte der Kleinen der Hals abgeschnitten werden!“ schalt sie; aber ich sah recht gut, daß ihr gar nicht wohl zu Muthe war bei meiner ausbrechenden Heftigkeit. „Meinst Du denn, es kann das ganze Lebenlang so fortgehen, Heinz, daß das Kind wie ein Heide den ganzen lieben Tag über draußen herumtobt und mir Abends barfuß, mit Schuhen und Strümpfen in der Hand, heimkommt? … Sie kann nichts und versteht nichts und läuft fort wie eine wilde Katze, wenn ihr ein fremdes Gesicht über den Weg geht! … Wo soll’s endlich hinaus? … Sei vernünftig, Kind!“ sagte sie zu mir und zog mich wie ein kleines Kind auf ihre Kniee. „Ich bringe Dich zu Deinem Vater – nur zwei Jahre bleibe draußen und lerne was Rechtes, und wenn es Dir durchaus nicht gefallen will, da kommst Du wieder heim auf den Dierkhof, und nachher bleiben wir zusammen, gelt?“

Zwei Jahre! Das war ja eine ganze Ewigkeit! … Zweimal sollte die Haide blühen, sollten die Störche fortziehen und wiederkommen, und ich war nicht auf dem Dierkhof; ich steckte zwischen vier dumpfen Wänden und knebelte am verhaßten Strickstrumpf, oder mußte wohl gar Schreibübungen halten und neue Bibelsprüche auswendig lernen! … Ich schauderte und schüttelte mich, und jede Fiber in mir stählte sich zu Aufruhr und energischem Widerstand.

„Ilse, da lasse mich nur gleich drüben auf dem Gottesacker einscharren!“ sagte ich trotzig. „In die entsetzliche Hinterstube bringst Du mich nicht –“

„Dummes Zeug!“ unterbrach sie mich. „Glaubst Du denn, Dein Vater kann sie im Koffer mitnehmen? … Er ist ja fortgezogen, und Vieles ist anders geworden – nun wohnt er ja in K.“

[580] Husch, da war der braune Lockenkopf mit der blendend weißen Stirn wieder und sah mich mit spöttischen Augen an – er kam immer so unversehens und erschreckte mich jedesmal so heftig, daß mir das Blut heiß nach den Schläfen schoß!

„Mein Vater will mich ja nicht!“ sagte ich und steckte das Gesicht in Ilse’s Halstuch.

„Das wollen wir sehen!“ versetzte sie mit einem schlecht unterdrückten Seufzer; aber sie warf herausfordernd den Kopf zurück und schob mich von sich.

„Muß es wirklich sein? … Ach Ilse –“

„Es muß sein, Kind! … Und nun sei still und mache mir das Leben nicht schwer! Denke an Deine Großmutter, die hat’s auch so gewollt!“

Sie nähte mit verdoppeltem Eifer den zweiten Aermel in das schwarze Kleid; Heinz aber schob die kaltgewordene Pfeife in die Tasche und schlich fort. Gegen Abend sah ich ihn drüben auf dem großen Hünenbett sitzen; er hatte die Arme um die Kniee gelegt und sah unverwandt hinaus in’s Weite. … Ich lief hinüber und setzte mich zu ihm, und nun flossen die Thränen unaufhaltsam, die sich in Ilse’s strenger Gegenwart nicht hervorgewagt hatten. Ein so tiefes Trennungsweh hatte das blaue Stück Himmel über uns wohl lange nicht gesehen!

Am andern Tage sah die Wohnstube schrecklich aus. Eine große hölzerne Truhe stand auf den Dielen, und Ilse packte ein.

„Da sieh her!“ sagte sie und hielt mir ein Paket grober, buntgewürfelter Bettüberzüge hin. „Ist das nicht eine wahre Pracht? … Ja, da ist Kern drin! … Das Spinnwebenzeug, in dem die Großmutter schlief, ist mir von jeher ein Gräuel gewesen!“

Sie schob einen Stoß außerordentlich feinen, mit Stickerei besetzten Leinenzeugs verächtlich auf die Seite. „Die neuen Ueberzüge bekommst Du mit; die habe ich nach und nach für den Haushalt angeschafft, seit wir auf dem Dierkhof sind – halte sie ordentlich!“

Auch ein ganzes Regiment jener steifen, unförmlichen Strümpfe aus Haidschnuckenwolle wanderte in den Koffer und füllte einen beträchtlichen Raum. Ilse hatte jahrelang beträchtliche Vorräthe für mich aufgespeichert, die nun draußen in der Welt „Staat machen“ sollten. … Dann wurden kolossale strotzende Federbetten zu einem Ballen geknetet und in Sackzeug eingenäht – ein riesiges Frachtstück!

Mir verursachten alle diese Vorbereitungen entsetzliches Herzweh, und doch gab es Augenblicke, wo meine junge Seele plötzlich schwoll, wo es über sie kam wie ein frohes Ahnen, eine schöne Hoffnung; aber das erschien und erlosch wie der Blitz, und – seltsame Gedankenverbindung – mein Blick huschte jedesmal scheu und prüfend über meine Schuhe hin. Sie waren jetzt recht hübsch ausgetreten und gewährten meinen Füßen in liberalster Weise Spielraum. Ich trat so stark auf, als ich vermochte, und suchte mein ängstliches Herz mit der unumstößlichen Gewißheit zu beruhigen, daß die Nägel doch bei Weitem nicht mehr so entsetzlich klapperten wie vor vier Wochen. Aber das half nicht immer, und so verstieg ich mich denn einmal in meiner Bedrängniß zu der schüchternen Bitte, Ilse möchte mir unterwegs ein Paar neue Schuhe kaufen. Aber da kam ich schön an. Sie zog mir einen Schuh aus und hielt ihn gegen das Licht.

„Solche Nähte und solche Sohlen, die kann man suchen!“ sagte sie. „Das sind Schuhe, in denen Du noch nach zwei Jahren zum Tanzen gehen kannst! … Brauchst keine neuen!“

Damit war die Sache erledigt.

Und er kam wirklich, der Morgen, da ich meinen geliebten Dierkhof verlassen sollte. … Früh vor vier Uhr lief ich schon durch die thautriefende Haide. Ich winkte mit ausgebreiteten Armen über die Millionen blüthenbeschwerter Erikastengel hin und nach dem qualmenden Torfsumpf hinüber, und schüttelte die gute, alte Föhre im Abschiedsschmerz so heftig, daß die letzten dürren Nadeln vom vergangenen Winter auf mein flatterndes Haar herabrieselten … Spitz war mitgelaufen und bellte und freute sich wie närrisch – er hielt alle meine heftigen Bewegungen für eitel Spaß und Kurzweil, die ich ihm machen wolle. Ich flocht einen bunten Kranz – und legte ihn auf Mieke’s Hörner, die schlaftrunken aufblinzelte und zu bequem war, um mir auch nur mit einem leisen Brummen zu danken oder Adieu zu sagen.

Dann zog mir Ilse das neue, schwarze Kleid an und band eine schneeweiße, breite und faltenreiche Battistkrause aus dem Wäschespind der Großmutter um meinen Hals – mein schwarzbrauner Kopf lag darauf wie eine abgefallene Haselnuß auf einem kleinen Schneepolster. Darüber wölbte sich der umfangreiche, braune Strohhut, den Ilse mit einem schwarzen Band besteckt hatte. Ich mag wohl eine merkwürdige Reiseerscheinung gewesen sein, ähnlich wie die kleinen Waldpilze mit den großen Hutdeckeln, die ich immer so lächerlich fand.

Nach dem Kaffee, den ich unter Thränenströmen hinabgeschluckt hatte, brachte Ilse eine Schachtel und nahm feierlich, mit spitzen Fingern einen violetten Taffethut heraus.

„Das war mein Kirchenhut in Hannover,“ sagte sie vor den Spiegel tretend und setzte sich das wunderliche Seidenhaus vorsichtig auf den Scheitel. „In der Stadt darf man nicht ohne Hut ausgehen – es ist nun einmal so!“ –

Ich sah scheu zu ihr auf. Der Begriff „Mode“ existirte natürlicherweise nicht für mich. Ich hatte keine Ahnung davon, daß es jenseits der Haide eine Macht gab, welcher sich der Mensch widerstandslos unterwirft, und von der er seine äußere Erscheinung in Formen treten und kneten läßt, wie sie gerade Lust und Laune hat. Deshalb wurde auch mein Respect vor dem schnabelförmigen Gebäude selbst nicht im Geringsten geschmälert; aber es hatte während der zwanzigjährigen Rast in der Hutschachtel offenbar stark an Glanz und Nüance eingebüßt. Ilse schien das nicht zu finden. Sie zupfte die mißfarbenen Pensées über ihrer krausen, gelben Haarwolke zurecht, warf die offen herabhängenden Bindebänder in den Nacken zurück, schlug ein großes, schwarzes Wolltuch um die Schultern und fort ging es.

Heinz und ein Bauerknecht aus dem nächsten Dorfe fuhren das Gepäck. Sanft, aber unwiderstehlich schob mich Ilse aus dem Hausthor, auf dessen Schwelle meine Füße wie festgezaubert standen. Ich hörte hinter mir den Hausschlüssel umdrehen, dann scheuchte Ilse scheltend die Hühner und Enten zurück, die uns durchaus in’s Freie begleiten wollten; sie schrieen und krakelten durcheinander, und dazwischen hinein brüllte die eingeschlossene Mieke von der Tenne her. … Auch das Gatterthor wurde hinter mir zugeschlagen und verrammelt, und nun wanderte ich hinaus aus dem Paradies meiner Kindheit auf demselben Wege, den einst Fräulein Streit gegangen war. …

Wie ich von Heinz fortgekommen bin, kann ich nicht sagen. Ueber den ganzen sonnigen Abschiedsmorgen breitet sich mir heute noch ein Thränenflor. Ich weiß nur, daß ich das gute, alte, weinende Menschenkind mit beiden Armen umschlungen und der schauderhaft breiten und steifen Hutkrempe zum Trotz mein Gesicht tief in seinen alten Drellrock eingewühlt habe, und daß er, umringt von gaffenden Bauernjungen, sein blutgewürfeltes Taschentuch vor die Augen hielt, während ich im Dorf die Kalesche bestieg, in der wir fortrumpeln sollten nach der weitentfernten ersten Poststation.

[593]
9.

Es war zur Mittagszeit, als wir erschöpft und mit steifgewordenen Gliedern auf dem Bahnhof zu K. anlangten, nachdem wir schon den halben vorigen Tag und die ganze Nacht auf der Eisenbahn gefahren waren. Die neuen Eindrücke, denen ich überall begegnet war, hatten mich nahezu überwältigt. Nun hing die Sonne senkrecht über unserem Scheitel, und es schien, als wolle sie uns und den schnaubenden Zug und die große Häusermasse der vor uns liegenden Stadt insgesammt zu Pulver verbrennen.

„Zu Herrn Doctor von Sassen!“ sagte Ilse gebieterisch zu den zwei Männern, die unsere Habseligkeiten auf einen kleinen Wagen luden.

„Kenne ich nicht!“ versetzte der Eine.

Ilse nannte die Hausnummer.

„Ah, das große Sämereigeschäft – Firma Claudius? … Wohl, wohl!“ sagte er ehrerbietig, und der Wagen rollte fort.

Eine erstickende Staubwolke empfing uns auf der Promenade, die sich zwischen der Stadt und dem Bahnhof hinzog, und auf den weiten Rasenplätzen ringsum und den kleinen hübschen Kastanien über unseren Häuptern lag es schwer und grau, als habe es Asche geschneit. … Hier flog doch wenigstens noch ein Luftzug auf; aber in den Straßen, die wir nun durchwandern mußten, herrschte bleierne, mephitisch dumpfe Schwüle. Dann und wann öffnete sich eine der engen Gassen, und wie eine eintönige, sonnenflimmernde Scheibe breitete sich ein weiter Platz draußen hin – mir war, als müßten dort die erhitzten Pflastersteine dampfen oder helle Funken zurücksprühen. … Ach, die rothblühende Ebene daheim mit dem erquickenden Haideduft und den kühlen, rauschenden Eichen um den Dierkhof!

„Das ist zum Sterben schrecklich, Ilse!“ stöhnte ich, während sie meine Hand ergriff und mich hastig auf das Trottoir zog – eine Equipage raste um die Ecke.

Bis dahin waren uns nur wenige vorübereilende Menschen begegnet; die Mittagsgluth machte die Straßen still und einsam. Nun aber scholl Trommeln und Pfeifen fern herüber.

„Die Wachtparade!“ sagte Ilse aufhorchend mit einem wohlgefälligen Lächeln – alte, fünfundzwanzigjährige hannöversche Erinnerungen mochten wohl in ihr auftauchen.

Der Lärm kam rasch näher und plötzlich fluthete ein Menschenschwall in die Straße herein.

„Hu – guckt ’mal die an! Die hat hundert Jahre im Kleiderschrank gehangen!“ schrie ein Junge und stellte sich vor Ilse hin. Er legte seine zwei Fäuste auf dem Kopfe übereinander, um die Hutform anzudeuten, und schnitt eine Grimasse. Alles lachte und schrie durcheinander, und selbst unsere zwei Lastträger schmunzelten.

„Gassenjungen!“ sagte Ilse verächtlich und hob steif den Kopf, während wir zu meiner Beruhigung gerade in eine stille Seitenstraße einbogen. „In Hannover sind die Leute doch manierlicher – da ist mir so ’was nie passirt!“

Jeder Nerv zitterte in mir und die tiefste Niedergeschlagenheit überkam mich – Ilse, meine heilig respectirte Ilse war verhöhnt worden! … Ich drückte ihre Rechte, die mich bis dahin geschützt und geleitet, leisetröstend und liebkosend an meine Wange, und ließ meine müden, heißen Füße mechanisch weiter wandern.

Der Wachtparadenlärm hinter uns erlosch allmählich, und endlich hielten die Männer in einer abgelegenen, todtenstillen, aber mit vornehmen Häusern besetzten Straße. … Wir standen vor einem düstern Steinbau. Sämmtliche Fenster im Erdgeschoß waren vergittert und zu der hochgelegenen Hausthür führten Stufen mit einem schönen Eisengeländer. Das alte Haus mit seiner breiten, massiven Nordfront mochte wohl imposant sein; ich aber entsetzte mich vor den Fenstergittern, vor den geschwärzten Mauersteinen, auf die kein Sonnenschein fiel, und die reichgeschnitzte und verschnörkelte schwere Bohlenthür, mit dem ungeheuren, blitzenden Messingdrücker starrte mich an, wie ein dunkles, unheimliches Räthsel.

„Siehst Du, Ilse, daß ich Recht hatte mit der Hinterstube?“ rief ich verzweiflungsvoll. „Wir wollen umkehren!“

„Abwarten!“ sagte sie und zog mich die Stufen hinauf. Die Lastträger nahmen das Gepäck auf die Schultern und traten hinter uns. Ilse klingelte. Gleich darauf wurde die Thür langsam zurückgeschlagen und ein alter Mann ließ uns eintreten. Eine ungewöhnlich hohe und weite Hausflur nahm uns auf. Wir standen auf einer glänzend polirten Steinmosaik – von Stein waren die breiten, gewundenen Treppen im Hintergrund und die zwei mächtigen Träger inmitten der Flur, die sich droben an der Decke in kühne Bogen spalteten. Diese Steinmassen hauchten eine köstliche Kühle aus, aber über sie hin breitete sich auch tiefer Schatten, ein kirchenartiges Dämmerlicht, das nicht einmal die über den Treppen hereinfallenden Sonnengluthen zu durchströmen vermochten.

[594] „Firma Claudius?“ fragte Ilse.

Der Mann nickte steif, indem er mit achtbarem Unwillen zurücktrat, um den beladenen Männern Raum zu geben.

„Hier wohnt Herr Doctor von Sassen?“

„Nein, hier nicht!“ versetzte er rasch und trat nun mit vorgestreckten Armen den Leuten in den Weg. „Herr von Sassen wohnt in der Karolinenlust – da müssen Sie draußen rechts um die Straßenecke biegen –“

„O Herr Jesus, wir sollen wieder hinaus in die entsetzliche Hitze?“ klagte Ilse mit einem Seitenblick auf mich.

„Thut mir leid,“ sagte der Alte ungerührt und achselzuckend; „aber durch dieses Haus geht der Weg einmal nicht – und Ihr solltet doch wahrhaftig wissen, daß für dergleichen Dinge, für solch einen Huckepack, drüben in der Seitenstraße das Thor ist!“ fuhr er die Leute an und zeigte auf die Effecten.

In dem Augenblick, wo er scheltend die Stimme erhob, fing auch im Hintergrund der Halle ein Hund an, zornig mitzukläffen. Dort führten Stufen zu einer Thür hinab. Auf diesen Stufen stand eine alte Dame in schwarzseidenem Kleide und buntbebändertem Häubchen und wischte, einem zierlichen Pinscher, der jedenfalls eben von draußen hereingekommen war, mit einem Tuche sorgsam die kleinen Pfoten ab.

„Lassen Sie doch die Leute durchgehen, Erdmann!“ sagte sie freundlich herüber.

„Aber, Fräulein Fliedner, sehen Sie doch nur den Staub!“ protestirte er so ängstlich, als hätten wir die ganze Asche des Vesuvs auf unseren Kleidern und Schuhen und könnten damit seinen sauber polirten Fußboden verschütten. „Und wenn nun gar Herr Claudius in der Hinterstube ist und die Leute über den Hof gehen sieht, da kann es Etwas geben, Fräulein Fliedner.“

„Ich schicke Dörte nachher gleich mit dem Besen herunter, und was die Schelte betrifft, so nehme ich sie auf mich,“ beschwichtigte sie ihn. „Uebrigens ist Herr Claudius auf keinen Fall in der Hinterstube – binnen fünf Minuten will er ja nach Dorotheenthal fahren.“

Sie öffnete eigenhändig die Thür nach dem Hofe und winkte uns, durch die Halle zu kommen. Ein leises schelmisches Lächeln huschte über ihr feines Gesicht, als Ilse an ihr vorüberschritt und den bethürmten Kopf dankend neigte, aber sie wandte sich rasch ab und stieg, den knurrenden Hund auf dem Arm, die Stufen wieder hinauf.

„Ein vernünftiges Frauenzimmer,“ sagte Ilse befriedigt vor sich hin, als die Thür rasselnd hinter uns zugefallen war.

Das Wort „Hof“ hatte mich förmlich elektrisirt – ich sah sofort das ganze Geflügel des Dierkhofes fröhlich aufflattern; aber davon war nichts zu sehen in dem großen kahlen Viereck, das wir betraten. Es wurde durch das Vorderhaus, zwei daranstoßende lange Seitenflügel und eine im Hintergrund hinlaufende Mauer gebildet. Den linken Flügel durchbrach ein großes weitoffenes Thor, in welches die Häuser der benachbarten Straße hereinsahen. Hohe Stöße neuer Kisten thürmten sich auf dem reingefegten Pflaster, und die völlige Abwesenheit von Gardinen oder sonstigem Schmuck an den Fenstern der Hintergebäude ließ dieselben als das Geschäftslocal der Firma Claudius erkennen.

Eben, als wir in den Hof traten, zog ein Kutscher ein Paar feurige Pferde aus dem Stalle und führte sie nach einem hübschen hellausgeschlagenen Wagen, der vor der Remise stand.

Unsere Lastträger schritten schnurstracks auf eine inmitten der Mauer gelegene Thür zu, und wir folgten ihnen.

„Wohin wollen denn die Leute?“ rief uns plötzlich eine Stimme in ziemlich kurzem Tone.

Ich zog meinen Hut noch tiefer in die Augen und hütete mich, den Kopf zu wenden – ich erkannte sofort die Stimme des alten Herrn im braunen Hut wieder, wenn sie auch jetzt nicht so weich klang, wie vor vier Wochen in der Haide. … Er war also doch in der Hinterstube und jetzt „gab es Etwas“, wie der Alte in der Hausflur gesagt hatte. … Die zwei Männer blieben auch sofort wie auf ein militärisches Commando stehen und wagten nicht den Fuß weiter zu setzen. Nur Ilse wandte sich resolut um.

„Wir wollen zu Herrn von Sassen – ist’s erlaubt, hier durchzugehen?“ fragte sie höflich.

Es erfolgte keine Antwort; aber der Herr hatte jedenfalls mit der Hand zustimmend gewinkt, denn Ilse öffnete ohne Weiteres die Thür und ließ die Lastträger eintreten. … Diesmal mußte sie mich genau so, wie gestern Morgen auf dem Dierkhof, über die Schwelle schieben, denn ich stand wie versteinert. … Mein an das gleichförmige Graubraun und das ununterbrochene Blüthenroth der Haide gewöhntes Auge flog im ersten Augenblick völlig verständnißlos über das Farbenmeer hin, das den weiten Plan da vor mir förmlich übergoß. Es war mir unmöglich, zu denken, daß diese tausendfarbig gemischten oder auch in scharf abgegrenzten Nüancen hinfließenden breiten Ströme Blumen nichts als dicht aneinandergedrängte vielgestaltige Blumenkronen und Dolden sein könnten. … Jetzt erst begriff ich, wie menschliche Phantasie die Wunder der Märchenwelt hatte ersinnen mögen – wie eine ungeahnte einsame Zauberinsel schwamm dieses köstliche Blumenfeld inmitten der neuen Welt, die mir bis zu diesem Augenblick so häßlich und graubestaubt erschienen war.

Neben meinen Füßen streckte sich ein Beet voll lilablauer Heliotropen hin; ihr starker Vanillenduft hing schwer in den Lüften und versetzte mich in eine Art von Rausch. … Vergessen waren die stauberfüllten heißen Straßen und die widerwärtigen Reise-Eindrücke, vergessen der gräuliche Wachtparadenlärm, die höhnenden Gassenjungen und das Grauen vor der Hinterstube! Mein Hut saß nicht mehr wie festgemauert auf dem Kopfe – ich warf ihn hoch in die Luft.

„Ach, Ilse, ich möchte mich gleich mitten in die Blumen hineinwerfen, daß sie über mir zusammenschlügen!“ jubelte ich auf.

„Ja, Du wärst’s im Stande,“ meinte sie trocken, fand es aber doch gerathen, mich am Rockzipfel festzunehmen.

Das ununterbrochene Bienengesurr und das Rauschen eines fernen Gewässers ausgenommen, war es sehr still und einsam in dem Garten. Die Vögel hatten sich verstummend in das kühle Gebüsch zurückgezogen, und die Menschen hielten Mittagsrast. Nur ein älterer Mann, dem Arbeitscostüm nach ein Gärtner, trat aus einem Gewächshaus, als wir vorüberkamen, und zeigte den Trägern den nächsten Weg nach der „Karolinenlust“. Ilse dankte ihm.

Wir kamen an einen Fluß, über welchen eine zierlich geschwungene Eisenbrücke führte. Er schnitt das ungeheure Blumenparterre ab; das jenseitige Ufer war mit dichtem Gebüsch bestanden, und wo es auseinanderriß, da sah man in das labende, grüne Düster unter dichtgeschaarten Baumgruppen hinein, auf sorgsam geschorene Rasenflächen und helle Kieswege.

Ich schrak zusammen und floh plötzlich hinter Ilse, als wir die Brücke überschritten hatten – ein Lachen scholl herüber, jenes harmonische Lachen, das ich vor vier Wochen am Hügel gehört hatte, und von welchem ich wußte, daß ich es nie bis an das Ende meiner Tage vergessen würde, … Trotzdem flüchtete ich, denn wo das Lachen, da waren ja auch die spöttischen Augen, vor denen ich mich entsetzlich fürchtete. Ilse’s breite, knochige Gestalt verdeckte meine kleine Person vollkommen; so rückten wir vorwärts durch dunkelschattige Alleen und kühle Bosquets – laute Ausrufe, Gelächter und plaudernde Mädchenstimmen drangen immer deutlicher bis zu uns, und plötzlich sahen wir bunte Reifen über dem Kiesrund wirbeln, auf das wir eben hinaustraten.

Einer der Reifen verirrte sich und flog in ein Bosquet. Eine junge, zartgebaute Dame und ein schlanker Mann in hellem Sommeranzug verfolgten ihn mit hochgehobenen Armen und Stöcken und drangen tief in das Gebüsch ein, wo er verschwunden – der schlanke Mann war der junge Herr Claudius, und das Mädchen, das neben ihm hergelaufen mit den feinbeschuhten, flüchtigen Füßchen und dem offen wehenden, blonden Haar, erschien mir mit ihrem silberhellen Gelächter ganz unausstehlich, obgleich ich ihr Gesicht nicht einmal gesehen hatte. … Mir war seltsam zu Muthe; ich grollte, und wußte nicht weshalb, und athmete doch froh und erleichtert auf, weil ich nun vorüberschlüpfen konnte, ohne dem jungen Herrn begegnen zu müssen.

Ich lugte neben Ilse hervor und sah noch mehr junge Damen umherstehen, eine aber überragte sie alle, eine hohe, starkgegliederte Gestalt in weißem Kleide, über das sie ein feuerfarbenes, mit Gold gesticktes Jäckchen geworfen hatte. … Sie hatte etwas Kühnes in ihren Bewegungen, und doch auch wieder jene stolze Lässigkeit, die aus Kraftbewußtsein und großer innerer Sicherheit hervorgeht.

„Alle guten Geister!“ rief sie in komischem Entsetzen und schlug die Hände zusammen, als Ilse, den Trägern voran, in ihren [595] Gesichtskreis trat, dann brach sie rücksichtslos in ein muthwilliges Gelächter aus.

Ilse wandte sich verständnißvoll um und sah nach dem Bettenfrachtstück zurück, das ja so herausfordernd und lächerlich über dem Kopf des Trägers schaukelte.

Im Nu waren wir von den sämmtlichen Damen umringt.

„O Herr Jesus, Lenore, was zerrst Du mich denn immer und hängst mir am Rocke wie ein kleines Kind!“ schalt Ilse unwillig; sie schüttelte mich ab und zog mich mit einem energischen Ruck an ihre Seite.

Wie schämte ich mich! In einer Hand hielt ich den Hut und in der anderen die große, weiße Halskrause, die sich, Gott weiß wie, von meinem Halse losgemacht hatte. … Hätte ich am Pranger stehen müssen, mein scheues Gefühl würde sich nicht mehr gekrümmt und gewunden haben, als jetzt unter allen diesen fremden, neugierigen Mädchenaugen!

„Ach, eine kleine Zigeunerin!“ riefen zwei Stimmen auf einmal, als ich befangen den Kopf hob und die Augen aufschlug.

„Ei, warum nicht gar auch – ein Zigeunermädchen!“ sagte Ilse tief beleidigt. „Es ist dem Herrn von Sassen sein leiblich Kind –“

„Wie, die Mumie hat auch Kinder?“ unterbrach sie die große junge Dame überrascht, und um ihre rothen Lippen zuckte es fortgesetzt in verhaltenem Muthwillen. Die Anderen aber zogen sich ein wenig zurück und sahen mich auf einmal mit ganz anderen, ich möchte sagen, freundlich ehrerbietigen Blicken an.

In diesem Moment kam auch der junge Herr über den freien Platz her. Ich sah auf meine Schuhe, die ihre plumpen Spitzen keck über den hellen Kies hinstreckten, und unwillkürlich zog und zerrte ich an meinem schwarzen Rock, um ihn, wenn auch nur um einen halben Zoll, zu verlängern.

Der Herr warf den Reifen im Weiterschreiten hoch in die Luft und fing ihn stets mit einer sehr gewandten, graziösen Bewegung wieder auf, so viel Mühe sich auch die junge Dame neben ihm geben mochte, das hübsche, bunte Ding mit ihren weißen Händen zu haschen. … Da fiel sein Blick auf mich – er stutzte und kniff die großen braunen Augen prüfend zusammen; dann kam er spornstreichs auf mich zu.

„Was, der Tausend – das ist ja das Haideprinzeßchen!“ rief er erstaunt.

„Wer?“ fragte die hochgewachsene junge Dame mit großen Augen.

„Ei, Du weißt es ja, Charlotte – das Haideprinzeßchen! Ich habe Dir doch von dem kleinen barfüßigen Wesen erzählt, das wie eine Eidechse durch die Haide schlüpfte – freilich eine Eidechse mit einem Prinzessinnenkrönchen!“ Er lachte auf „Wie in aller Welt kommt denn die kleine Perlenverkäuferin hierher?“

Die Rücksichtslosigkeit, mit der er in meiner Gegenwart mich kritisirte, und das unverhohlene Erstaunen des stolzen jungen Herrn über meine Anwesenheit in seinem Garten schlugen den letzten Rest meines Selbstbewußtseins zu Boden; aber die Bezeichnung „Perlenverkäuferin“ machte mir auch das Blut stocken.

„Es ist nicht wahr!“ stieß ich heraus, „Ich habe Ihnen die Perlen nicht verkauft – Sie wissen doch, daß ich Ihre Thaler in den Sand geworfen habe!“ –

Charlotte lächelte und trat mit aufstrahlenden Augen rasch auf mich zu.

„Ach wie reizend – sie ist stolz, die Kleine!“ rief sie. Sie bog sich herab und strich mir mit ihrer großen schlanken Hand über das Haar, aber ungefähr so, wie man ein nettes Bologneserhündchen streichelt. „Was meinst Du zu der merkwürdigen Neuigkeit, Dagobert?“ sagte sie zu dem jungen Herrn. „Die Mumie hat Familie – das niedliche Ding da ist dem Doctor von Sassen sein Töchterchen –“

„Unmöglich!“ fuhr er in maßloser Ueberraschung zurück.

„Na, was ist denn dabei so erschrecklich zu verwundern?“ versetzte Ilse trocken. „Meinen Sie denn, weil die Kleine nicht auch solch eine Schabracke um hat“ – sie zeigte auf Charlottens elegantes Jäckchen – „da darf sie nun auch nicht vornehmer Leute Kind sein?“

Die junge Dame lachte wie ein Kobold – die schneidige Zurechtweisung schien sie höchlich zu amüsiren.

„Aber wie siehst Du auch aus, Lenore!“ schalt Ilse. „Es fehlt nur noch, daß Du Schuhe und Strümpfe ausziehst!“ Sie legte mir die Krause um den Hals, fuhr mit beiden Händen glättend über meinen Scheitel und band den Hut darüber. Ich sah ängstlich auf die umstehenden Damen; neben ihnen war ich mir der Lächerlichkeit meiner äußeren Erscheinung plötzlich sehr wohl bewußt – jetzt lachten sie gewiß; aber keine verzog eine Miene, sie sahen im Gegentheil so ernsthaft zu, als ob eine wirkliche Prinzessin da vor ihnen Toilette mache. Nur um Charlottens Mund zuckte ein unbezwinglicher Lachreiz.

„Armes Opfer!“ sagte sie in tiefen Tönen des Erbarmens. „Aber wie ist’s denn, bleibt Haideprinzeßchen bei dem Papa?“ setzte sie lebhaft hinzu.

„Versteht sich!“ entgegnete Ilse kategorisch. „Bei wem denn sonst? … Nun möchte ich aber bitten, uns vorbeizulassen – wir haben müde Füße. … Ist das dort endlich die Karolinenlust, oder wie das Ding heißen mag?“ fragte sie und zeigte auf einen mattweißen Streifen, der durch die Hecken und Baumkronen herüberdämmerte.

„Ich werde Sie führen,“ erbot sich der junge Herr sehr geschmeidig und höflich – er war vollständig umgewandelt; selbst seine Augen, die vorher mit unverkennbarem Ergötzen immer wieder über Ilse’s unselige Kopfbedeckung hingehuscht waren, erlaubten sich nicht einen einzigen spöttischen Blick mehr.

Mir schwoll das Herz. Was für ein Mann mußte mein Vater sein, daß schon sein Name allein hinreichte, Ilse und mir sofort Geltung und Achtung bei Anderen zu verschaffen!

Die Damen blieben grüßend zurück, und wir schritten in Begleitung des jungen Herrn schräg über das Kiesrund, in das Taxusgebüsch hinein.



10.

Es war nur ein kurzer Weg durch grüne, heimliche Dämmerung, aber ich ging ihn mit heftig pochendem Herzen. Ilse schritt tapfer voraus und wandte sich nicht um – kaum aber waren die hellen Mädchengestalten hinter dem Dickicht verschwunden, als sich der junge Herr rasch zu mir niederbog und mir tief und schelmisch in die unbewachten Augen sah.

„Zürnt mir Haideprinzeßchen noch?“ fragte er mit unterdrückter Stimme.

Ich schüttelte den Kopf – seltsam, daß ein paar halbgeflüsterte Worte Einen bis in’s tiefste Herz hinein erschauern machen konnte. …

Da lag sie plötzlich vor uns, die Karolinenlust! … Es würde mich nicht im Entferntesten befremdet haben, wenn dort aus einem der hohen Fenster Frau Holle genickt und mich aufgefordert hätte, ihr Federbett auszuschütteln und ihre Säle zu fegen. … Ein Zauber hielt mich bereits gefangen, und das Haus vor uns war durchaus nicht geeignet, ihn zu lösen und mich zu ernüchtern. … Was wußte ich damals von Renaissance- und Baroquestil! Das Feenhafte des Anblicks wurde mir nicht verkümmert durch die Kenntniß strenger Kunstregeln. Ich sah nur schöngeschwungene Linien, weich und biegsam, als seien sie aus Wachs und nicht aus Stein, in die Lüfte steigen. Ich sah Säulen, Pilaster und Gesimse reizend verknüpft durch verschwenderisch hingestreute Frucht- und Blumenschnüre, und zwischen ihnen die funkelnden, breiten Spiegelscheiben der Fester – ein Rococoschlößchen, so verschnörkelt und üppig geschmückt, wie es nur je der Zopfstil des vorigen Jahrhunderts ersonnen. Sein Spiegelbild dämmerte noch einmal auf in dem silberklaren Gewässer, das, umfangen von einem durchbrochenen Steingeländer, zu seinen Füßen lag. Der Teich und fächerartig hingebreitete, mit weißen Steinbildern und steifen Taxuspyramiden geschmückte Rasenflächen füllten das ziemlich enge Parterre, das ein breiter Weg ringartig flankirte; aber über feinen Kies breitete sich bereits wieder tiefer Baumschatten. – Wie eine Perle in grüne Wogen versunken, lag das Schlößchen heimlich geborgen inmitten der Waldbäume, die im Hintergrund hoch bergauf stiegen. Noch im Gebüsch huschte uns ein Silberfasan fast über die Füße, und vor dem Portal, im kühlen Schatten des Hauses, schritt ein Pfau und entfaltete sein edelsteinflimmerndes Gefieder, während ein aschgrauer Kranich auf einem Bein unbeweglich neben dem Teiche stand und träumerisch den nackten, rothen Hinterkopf nach vorn sinken ließ – er kam gravitätisch auf uns zu, fing an zu tanzen und machte die lächerlichsten Verbeugungen, als sei er der Ceremonienmeister des Schlosses – Wunder über Wunder für meine unverwöhnten Augen!

[596] In einer offenen Halle des Erdgeschosses hatten die Träger unser Gepäck niedergelegt; sie wurden ausgezahlt, dann stiegen wir eine Treppe hinauf. Wir schritten in der Beletage an hohen Thüren vorüber, die seltsamer Weise mit handgroßen, verstaubten Gerichtssiegeln beklebt waren – breite, weiße Papierstreifen legten sich über den Schluß der Thürflügel, wie ein Schweigen gebietender Finger auf ein Paar Lippen. …

Erst im zweiten Stock machten wir Halt. Der junge Herr öffnete eine Thür und wir traten ein, während er sich mit einer freundlichen Verbeugung zurückzog und die Thür hinter uns geräuschlos wieder schloß.

Mich überfiel plötzlich eine tödtliche Angst. Ich hatte daheim ganz richtig herausgefühlt, daß mein Vater mich nicht wolle, daß ich für ihn eine Last sei, die er am liebsten für immer in der Haide wissen mochte, und die Verwunderung über meine Existenz, die mir hier überall entgegentrat, bestätigte mir, daß er sein Kind nie auch nur mit einer Silbe erwähnt habe. … Und nun stand ich doch in seinem Zimmer, zudringlich über die Maßen, und sah mit erschreckten Augen in die Welt, in welcher er lebte und wirkte. … Wie fremd und unsäglich erschien mir Alles, was ich sah! Die Wände des weiten Saales, in welchen wir eingetreten, waren von unten bis hinauf zur Decke mit Büchern bedeckt, „mit so vielen Büchern, wie Erikastengel auf der Haide standen“ – meinte ich. Es blieb nur Raum für vier mit grünen Wollgardinen behangene Fenster und zwei Thüren. Die Thür linker Hand war weit zurückgeschlagen – ein zweiter Saal that sich auf, ein Saal mit Oberlicht. Durch eine weite und tiefe Kuppel inmitten des Plafond strömten die Sonnengluthen blendend herein auf hingestreckte, weiße Menschenglieder, auf eine drohend emporgereckte, keulenschwingende Menschengestalt, aber auch über liebliche Frauenbilder in faltenreichen, weich niedersinkenden Gewändern.

In einer der Fensternischen des Büchersaales stand ein Schreibtisch; vor demselben saß ein Herr und schrieb. Er hatte unser Eintreten nicht bemerkt, denn während wir noch einen Augenblick regungslos an der Schwelle verharrten, hörten wir das unausgesetzte Kritzeln seiner Feder – es verursachte mir Nervenfrösteln. … Ich weiß nicht, war es die Seltsamkeit und Neuheit der Umgebung, oder dasselbe Gefühl, das mich packte – die Furcht vor meinem Vater – genug, Ilse, die stets schlagfertige, rückhaltslos thatkräftige Ilse zögerte einen Moment; dann aber nahm sie entschlossen meine Hand und führte mich nach dem Fenster.

„Schönen guten Tag, Herr Doctor, da wären wir!“ sagte sie – mir war, als schlüge diese sonore, aber doch ein wenig bebende Stimme mit einem wahren Donnerton erweckend an die stillen Wände.

Mein Vater fuhr aus den rings aufgehäuften Papierstößen empor und starrte uns an; dann schnellte er wie elektrisirt in die Höhe.

„Ilse!“ rief er in unverkennbarem Schrecken.

„Ja, die Ilse, Herr Doctor!“ sagte sie ruhig. „Und das ist Lenore, Ihr einziges Kind, das seinen Vater seit vierzehn Jahren nicht gesehen hat. … Das ist lange her, Herr Doctor, und wär’s kein Wunder, wenn Sie aneinander vorübergingen, ohne sich zu kennen.“

Er schwieg und strich sich wiederholt über die Stirn, als koste es ihm die größte Mühe, sich zu sammeln und unser Hiersein zu begreifen. Mit weicher Hand schob er mir den Hut zurück und sah mir in die Augen, und ich sagte mir, innerlich ein wenig zurückschreckend, daß es wohl selten ein so mageres eingesunkenes Gesicht geben könne, als das meines Vaters; aber er hatte die schönen Augen meiner Großmutter.

„Also Du bist Lenore?“ sagte er sehr sanft und küßte mich auf die Stirn. „Klein ist sie, Ilse, ich glaube, sie ist kleiner, als meine Frau war“ – er seufzte auf. „Wie alt ist das Kind?“

„Siebenzehn Jahre, Herr Doctor, ich habe es Ihnen ja schon zwei Mal geschrieben.“

„Ach so!“ sagte er und strich sich wieder über die Stirn; dann schlang er seine Finger aneinander und ließ sie in den Gelenken knacken – er war das Bild eines Menschen, den man plötzlich aus einem tiefen Traume gerissen und in die grelle Wirklichkeit gestellt hat.

„Du bist müde, mein Kind, verzeihe, daß ich Dich so lange stehen ließ!“ sagte er in ausgesucht höflichem Tone zu mir, nachdem er einmal rasch auf- und abgegangen war. Inmitten des Saales stand ein schwerfälliger mit Büchern und Papieren bedeckter Tisch; mein Vater schob uns zwei der Lehnstühle hin, die den Tisch umkreisten.

„Vorsicht, liebe Ilse, ich bitte Sie inständigst!“ rief er angstvoll, als sie im Niedersetzen arglos ihren Strickkorb auf ein aufgeschlagenes Papierheft stellte. Seine mageren Hände zitterten beim behutsamen Aufnehmen des Körbchens, und ein zärtliches Mutterauge kann die Züge des erkrankten Lieblings nicht ängstlicher prüfen, als mein Vater das scheinbar uralte Papier, nachdem er es von der ungewohnten Berührung befreit hatte.

Ich sah Ilse an; sie verzog keine Miene; jedenfalls kannte sie diese Eigenthümlichkeit meines Vaters schon.

„Komm, ruhe ein wenig aus!“ sagte er, als er bemerkte, daß ich zögerte, mich zu setzen. „Dann wollen wir in das Hôtel gehen –“

„In’s Hôtel, Herr Doctor?“ fragte Ilse gelassen. „Was soll denn das Kind im Gasthaus? … Das würde Ihnen einen schönen Thaler Geld kosten zwei Jahre lang –“

Mein Vater taumelte förmlich zurück. „Zwei Jahre? Was reden Sie da, Ilse?“

„Ich rede nur, was ich Ihnen zehn Jahre lang in jedem Briefe geschrieben habe – wir sind da mit Sack und Pack! … Ich leide es ein für allemal nicht mehr, daß das Kind in der Haide verwildert! Sehen Sie sich Lenoren an! Sie kann kaum lesen und schreiben – daß Gott erbarm – Sie sollten nur ’mal die Krakelfüße sehen! … Auf die Bäume kann sie klettern und in die Nester gucken, aber eine ordentliche Naht nähen, oder eine Ferse in einen Strumpf stricken, das kann sie nicht – hab’s ihr mit dem besten Willen nicht beibringen können, und vor einem fremden Menschengesicht läuft sie wie vor einer Mördergrube und bringt’s nicht fertig, auch nur ‚guten Tag‘ zu sagen. … Und das ist dem Herrn von Sassen sein einzig Kind! … Ihre Frau müßte sich in der Erde umdrehen, wenn sie das wüßte!“

Es fiel meinem Vater nicht ein, auf dies schmeichelhafte Signalement hin meine kleine Persönlichkeit zu mustern.

„Mein Gott, das mag ja Alles vollkommen wahr und richtig sein!“ rief er und fuhr sich mit beiden Händen verzweiflungsvoll in die Haare; „Aber ich bitte Sie, Ilse, was soll denn ich mit dem Kinde anfangen.“

Bis dahin hatte ich den Wortwechsel regungslos und schweigend mit angehört, aber nun erhob ich mich.

„Ach, wie schrecklich ist dies Alles!“ rief ich, und meine Stimme zitterte vor Angst und Schmerz. „Vater, sei ruhig; ich will Dir ganz gewiß nicht wieder unter die Augen kommen! Ich gehe auf der Stelle wieder, und wenn es sein muß, laufe ich zu Fuße in die Haide zurück. Dort ist ja Heinz, der freut sich ganz gewiß, wenn ich wiederkomme. … Und ich will nun auch fleißig werden, Vater; darauf kannst Du Dich verlassen – ich will nähen und stricken … Du sollst sehen, ich werde Dir nie, nie wieder zur Last fallen! …“

„Sei still, Kind“ sagte Ilse, indem sie sich mit überströmenden Augen rasch erhob.

Aber schon hielten mich zwei Arme umschlungen – ich ruhte am Herzen meines Vaters. Er nahm mir den Hut ab, warf ihn auf den Fußboden und drückte sanft meinen Kopf an seine Brust.

„Nein, nein, mein Kind, mein armes, kleines Lorchen, so war das nicht gemeint!“ tröstete er mich bewegt. Seltsam – es war, als hätten ihn erst meine Worte zu sich selbst und zur vollen Erkenntniß der ganzen Lage gebracht. „Nun gerade sollst Du bei mir bleiben … Ilse, hat das Kind nicht ganz die Stimme meiner Frau? Klingt sie nicht genau so erquickend silberhell? … Bei mir bleiben soll sie, in die Haide darf sie nicht wieder zurück, das steht fest! … Aber, liebe Ilse, wie fängt man die Sache an? … Hier ist ja nicht einmal mein Heim; ich bin selbst Gast in diesem Hause auf unbestimmte Zeit. … Ja, wie fängt man das an?“

[609] „Dafür lassen Sie mich sorgen, Herr Doctor,“ versetzte Ilse resolut – sie war wieder vollkommen in ihrem Fahrwasser. „Ich kann getrost eine Woche vom Dierkhof fortbleiben, wenn mir auch der Heinz unterdessen ein paar Dummheiten macht. … Ich will schon Alles einrichten. … Und das Kind kommt auch nicht mit leeren Händen.“

Sie zog ein Papier aus ihrem Strickkorb und reichte es meinem Vater hin; es war das Testament meiner Großmutter.

Ich hob den Kopf von seiner Brust und brachte ihm die letzten Grüße der Heimgegangenen.

„Sie ist nicht im Wahnsinn gestorben, meine arme Mutter?“ fragte er.

„Nein,“ sagte Ilse. „Sie war so bei Verstande wie in ihren gesundesten Tragen und hat ihr Haus erst noch bestellt, ehe sie aus der Welt gegangen ist. … Lesen Sie das nur. Das Gericht war zwar nicht dabei, aber sie hat gemeint, Sie würden ihren letzten Willen auch so respectiren –“

„Das versteht sich von selbst.“

Er schlug das Papier auseinander und überflog die ersten Zeilen. „Das freut mich für Sie, liebe Ilse!“ sagte er. „Der Dierkhof gehört Ihnen von Rechtswegen.“

„Meinen Sie wirklich, Herr Doctor? … Je nun, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ich dächte nur: ‚Aha, da hat die Ilse nur bei der alten Frau ausgehalten, um sich den hübschen Hof zu erschleichen‘ –“

„Das fällt mir nicht ein –“

„Aber mir. … Ich nehme den Dierkhof nicht; der gehört mit Ihrer Erlaubniß der Kleinen. Sie muß eine Zuflucht haben, ein eigen Stückchen Erdboden, das ihr bleibt, wenn’s ihr in der Welt nicht gefällt. … Wenn ich auf dem Dierkhof bleiben kann und Sie leiden’s, daß ich ihn in Ordnung halten darf bis an mein Ende, so ist das vollauf genug. Ich hätte das Papier ja auf der Stelle zerrissen, als meine arme Frau die Augen zugethan hatte; aber ich durfte ja nicht, weil noch mehr darauf stand.“

Mein Vater las weiter. „Wie, es war doch noch Vermögen da?“ rief er auf das Höchste überrascht. „Sie haben mir stets geschrieben, meine Mutter lebte einzig und allein von ihrer Pension und dem geringen Ertrag des Dierkhofes.“

„Ist auch die reine Wahrheit gewesen, Herr Doctor. … Im Anfang sind noch ein paarmal Extragelder eingelaufen, aber ich verstehe ja von dergleichen Sachen so viel wie nichts und als die gnädige Frau aufgehört hat, ihre Briefe selbst zu schreiben, da ist auch nicht ein Groschen mehr eingegangen. Der Doctor hat mir’s erst auseinandergesetzt, daß man die kleinen bedruckten Papiere abschneiden und hingeben muß, und dafür bekommt man den Zins.“

„Haben Sie die Papiere mitgebracht?“

„Ja,“ sagte sie auf einmal sehr verlegen und zögernd. „Aber, Herr Doctor, das will ich Ihnen gleich sagen,“ setzte sie sofort resolut hinzu, „die dürfen nicht so auf die Art ausgegeben werden“ – sie winkte bedeutungsvoll mit dem Kopfe nach dem anstoßenden Saal – „wie die großen Geldpakete, die Ihnen die gnädige Frau immer von Hannover aus geschickt hat.“

Die tiefeingefallenen Wangen meines Vaters rötheten sich, und sein Blick hatte etwas so Unsicheres, als sei er auf einem Unrecht ertappt worden.

„Nein, nein!“ versicherte er lebhaft. „Machen Sie sich keine Sorge – das Geld gehört Lenoren“.

„Und Sie werden es ganz sicher aufheben? Und pünktlich jedes Vierteljahr –“

„Nein, Ilse, nur das nicht!“ unterbrach er sie ganz entsetzt. „Mit Geldsachen kann ich mich unmöglich befassen! Mein Beruf nimmt mich so ausschließlich in Anspruch –“

„Ach, darum grämen Sie sich nicht, da wird sich auch schon Rath finden, Herr Doctor!“ beschwichtigte sie ihn – es entging mir nicht, daß sie wie befreit aufathmete. „Aber wie ist’s denn nun? In der großen Stube da können wir doch wohl nicht bleiben? … Ich sehe keine Commode, keinen Schrank –“

„Ich werde Sie gleich hinunterführen in meine Wohnung – nur einen Augenblick Geduld, einen kleinen Augenblick! Ich will nur mein Manuscript einschließen.“

Er ging an seinen Tisch und kramte mit gedankenvoll gesenktem Kopf in den Papieren. Dabei strich er sich wiederholt über die Stirn, dann über den sehr dünnen, bereits ergrauten Kinnbart und ließ sich schließlich langsam in den Lehnstuhl niedersinken. Plötzlich ergriff er die Feder und fing an zu kritzeln.

Ilse war einstweilen in den Nebensaal eingetreten, und ich ging ihr nach. … Wie sich unsere zwei Gestalten inmitten des Antikencabinets ausgenommen haben mögen, kann ich mir jetzt recht gut denken, und mit welchen Augen ich die Kunstschätze, für [610] die ich selbstverständlich keinen Namen wußte, damals angesehen, weiß ich auch noch. Sie standen und lagen noch durcheinander und harrten der ordnenden Hand, das sah man. Aus Kisten, zwischen Heu und Stroh hervor, leuchtete Marmor; pompejanische Bronzen lagen auf den Tischen und antike Terracotten – halbzerbrochene Thonornamente mit Farbenspuren, die ich keines Blickes würdigte – auf dem Fußboden. Es war überhaupt des Zerbrochenen und Zerbröckelnden viel. – über eine geschlossene Kiste hingestreckt lag sogar eine weibliche Gestalt ohne Hände und Füße – was wußte ich von einem Torso!

„Sollte man denn meinen, daß es menschenmöglich ist!“ murmelte Ilse indignirt, fast grimmig. „In solchem zerbrochenen Kram steckt beinahe das halbe Jakobsohn’sche Vermögen!“

Das war auch mir unbegreiflich; aber ich blieb doch plötzlich gefesselt stehen, und unbewußt dämmerte die Ahnung von den Wundern und der überwältigenden Macht der Kunst in mir auf. An einen Baumstamm zurückgelehnt lag ein Knabe; den linken Arm gehoben um einen abgebrochenen Schößling des Stammes schlingend zeigten seine Glieder das weiche, ungezwungene Sichgehenlassen im beginnenden süßen Schlaf. Ich sah einen Augenblick unbeweglich in das schöne Gesicht; von den leichtgeöffneten Lippen säuselte der Athem, die halb zugesunkenen Lider bebten im Kampfe mit dem Schlummer, und in das frei schwebende, magere, aber muskulöse linke Händchen trat schwer das Blut und ließ die feinen Adern anschwellen unter der gelblichen Haut – darin pulsirte Leben, unheimliche Bewegung – ich fuhr zurück.

„Wirst Dich doch nicht fürchten, Kind!“ sagte Ilse. „Schauerlich genug ist’s freilich! … Aber nun sieh nur Einer Deinen Vater an! Ich glaube, er hat rein vergessen, daß wir da sind.“

In diesem Augenblick wurde drüben an die Thür geklopft; mein Vater hörte es nicht, er schrieb weiter. Auf ein abermaliges Klopfen rief Ilse kräftig „Herein!“ Genau so wie bei unserm Kommen fuhr er empor und starrte fassungslos auf den Lakai in reicher Livrée, der eingetreten war und sich dem Schreibtisch respectvoll näherte.

„Seine Hoheit der Herzog lassen herzlich grüßen und Herrn von Sassen auf heute Nachtmittag fünf Uhr zu einer Besprechung in das gelbe Zimmer bitten,“ sagte er mit einem tiefen Bückling.

„Ah so, so! – Stehe jederzeit zu Befehl!“ entgegnete mein Vater, indem er sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr.

Der Diener glitt lautlos wieder hinaus.

„Wir sind auch noch da, Herr Doctor!“ rief Ilse von der Schwelle aus, als er Miene machte, sich wieder zu setzen.

Ich mußte innerlich auflachen; aber ich hatte auch das Gefühl, als löse sich ein Druck von meiner Brust – ich fing an, meinen Vater zu verstehen. Er hatte seine Mutter und mich nicht vergessen aus Herzenskälte und Härte – er lebte nur in einer andern Welt. Seiner Liebe war ich sicher, wenn nicht die Ferne zwischen uns trat, wenn ich bei ihm blieb. … Jetzt galt es vor Allem, die ängstliche Scheu zu überwinden und nicht mehr vor der eigenen Stimme zurückzubeben.

„Vater,“ sagte ich so beherzt, wie nur je mein Vorbild Ilse, und deutete auf das schlafende Kind, während er, in fast lächerlicher Verlegenheit die Hände reibend, unsicheren Schrittes auf uns zu kam, „gelt, Du lachst mich nicht aus? Ich meine, das Kind da müßte aufwachen oder sein Händchen von dem Ast nehmen, das Blut steht ja d’rin.“

„Ich Dich auslachen, mein kleines Lorchen, weil Du sofort meine Perle, mein Kleinod herausgefunden hast?“ rief er sichtlich erfreut. Er streichelte den gelblichen Marmor noch zärtlicher als vorhin meine Wange. „Ja, sieh Dir’s nur recht an, Kind! Es ist eine herrliche That, es nähert sich der Meisterschaft Gottes selbst! … Es existirt nur einmal in der Welt, nur hier, hier! … Welch ein Fund! … Gott mag wissen, wie der Krämer dazu gekommen ist! … In diesem Hause stecken unermeßliche Schätze, und wo habe ich sie gefunden, wo gerade dieses unschätzbare Stück erst vorgestern an’s Tageslicht gezogen? Drunten im Souterrain, aus dunklen Ecken und Verschlägen, wo sie mindestens vierzig Jahre in Kisten verpackt und vergessen gestanden haben – ein nie zu entschuldigender Raub an der Wissenschaft! … O, diese Krämerseelen!“

Das Alles klang freilich nicht, als spräche er zu mir, dem Kind der Haide, das einen blöden Blick in das Reich der Kunst und Wissenschaft warf; allein seine Redeweise war mir doch viel verständlicher als die des Fremdwörter-Professors am Hügel, und der unerwartete Fund im „Krämerhause“ erhielt plötzlich denselben Reiz für mich wie die Geheimnisse des Hünenbetts.

Ilse sah mich von der Seite an, als wollte sie sagen: „So, jetzt fängt die auch noch an;“ aber sie verschluckte jede Nebenbemerkung und schritt wie immer schnurstracks auf ihr Ziel los. Sie zeigte auf ihre dickbestaubten Schuhe.

„Das Leder brennt mir an den Füßen,“ sagte sie, „und wenn ich ein Glas frisches Wasser hätte, da wär’ ich froh, Herr Doctor.“

Er lächelte, verschloß seinen Schreibtisch und führte uns hinab in das Erdgeschoß. Wir sahen vorübergehend durch eine offene Thür in ein Zimmer; da stand ein hübsches Stubenmädchen in weißer Latzschürze und wischte die Möbel ab.

„Fräulein Fliedner hat zwei Zimmer aufschließen lassen für das gnädige Fräulein von Sassen,“ sagte sie ehrerbietig zu meinem Vater – ich lachte ihr in’s Gesicht, das gnädige Fräulein von Sassen war erst gestern Morgen noch beim Abschiednehmen barfuß durch die Haide gelaufen. – „Der Herr ist zwar nach Dorotheenthal gefahren,“ fuhr sie fort, „und Fräulein Fliedner weiß nicht, wie er es einzurichten wünscht, wenn er zurückkommt; aber sie erlaubt sich vorläufig wenigstens für das Allernöthigste zu sorgen. Ich habe auch noch zwei Bestecke auflegen müssen und gleich zwei Portionen Essen mehr aus dem Hôtel mitgebracht.“

Mein Vater dankte ihr und öffnete uns sein sehr elegantes Wohnzimmer.

Soll ich erzählen, wie sich nun sofort das Wunder des erwachenden weiblichen Instinctes an dem wilden und verwilderten Kind vollzog? Jenes Wunder, das urplötzlich tausend zarte Fühlfäden aus der Mädchenseele springen läßt, sobald zärtliche Pflichten an sie herantreten! … Meine oft so „gräulich ungeschickt“ gescholtenen Hände schälten Kartoffeln und legten sie, wenn auch noch scheu und zaghaft, bei Tische auf den Teller des Vaters; ich sprang auf und zog die Jalousie vor das Fenster, als ein Sonnenstrahl um die Ecke kam und belästigend über seine Stirn glitt, und als er nach einer Stunde wieder in seine geliebte Bibliothek ging, da rief ich ihm nach, er möge nicht vergessen, daß er um fünf Uhr zum Herzog gehen müsse, und fragte an, ob ich vielleicht hinaufkommen und ihn erinnern dürfe.

Er wandte sich strahlenden Auges in der Thür um.

„Ich danke Ihnen, Ilse,“ rief er herüber. „Sie haben mir mit meinem Kinde die glückliche Zeit wiedergebracht, wo ich meine kleine Frau um mich hatte! … Lorchen, punkt fünf Uhr kommst Du hinauf! Ich bin manchmal ein klein wenig zerstreut, und es ist fataler Weise schon öfter vorgekommen, daß ich die Einladung rein vergessen habe.“

Er ging hinaus.

„Die Sache macht sich,“ sagte Ilse sehr zufrieden und streifte die Aermel ihrer Jacke über die Ellenbogen.




11.

Neben den Wohnräumen meines Vaters lag das Zimmer, welches Fräulein Fliedner mir vorläufig angewiesen, und an dieses stieß ein Schlafcabinet; es bildete die südwestliche Ecke des Hauses und hatte zwei Fenster, an denen schwere, wenn auch etwas verblichene, gelbe Damastgardinen hingen. Es enthielt ein Bett mit gelbseidener Steppdecke und schwellenden, eben in frischduftendes Leinen gesteckten Polstern, einen eleganten, gelb drapirten Toilettentisch, und an der tiefen Wand stand ein schmaler, auf Schnörkelfüßen ruhender und mit farbigen Hölzern ausgelegter Schrank.

„Das Bett ist unnütz,“ sagte Ilse, indem sie mit kraftvollen Armen unser in Sackleinen genähtes riesiges Frachtstück über die Schwelle zog. „Betten haben wir selber, und was für welche!“ Sie räumte die feinen Polster aus der Bettstelle, wobei sie mit verächtlicher Miene die feinen Dunen auf ihren Händen wog. „Aber ist das nicht ein Ungeschick!“ rief sie plötzlich und übersah mit in die Seite gestemmten Armen das kleine Zimmer. „So wie das Bett steht, liegst Du zur Hälfte unter dem zugigen Fenster, und da an der schönen, geschützten Wand steht der einfältige Schrank. He, faß ein wenig an, Kind – der muß fort!“

[611] Wir schoben den Schrank auf die Seite. Ilse schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. „Daß Gott erbarm, Seide an den Fenstern, und hinter den Schränken fingerdicke Spinnweben und ein Staub, daß man nicht durchsehen kann – das ist mir die rechte Wirtschaft!“

Ich mußte an die Kissen denken, die vierzig Jahre vergessen drunten im Dunkel gestanden hatten; so lange war wohl auch das nach allen Seiten hinflüchtende Spinnengeschlecht hinter dem Schranke nicht gestört worden. Außer den altersschwarzen Staubzotteln und den langbeinigen Ungeheuern kam aber auch noch eine kleine, kaum wahrnehmbare Tapetenthür zum Vorschein. Ilse öffnete sie ohne Weiteres; in einem sehr engen Raum lief eine kaum zwei Fuß breite, steile Treppe in das obere Stockwerk empor.

„Hat also seine Gründe, daß der Schrank dasteht,“ sagte Ilse, indem sie die Thür wieder schloß. „Er muß wieder an seinen Ort!“

Sie ging hinaus, um irgendwo Besen und Kehrichtschaufel zu suchen.

Leise öffnete ich die kleine Thür wieder. … Wer wohnte oben? Vielleicht die schöne Charlotte? … Stufe um Stufe stieg ich hinauf … plötzlich tauchte rechts, in gleicher Höhe mit meinen Augen, ein matter Lichtstreifen auf, eine Spalte zwischen der Schwelle und einer Thür, die mit der drunten correspondirte. Lautlos, wie ich meinte, öffnete ich dieselbe – o weh, es entstand ein abscheulicher Spectakel, ein starkes Knistern und Rieseln, und die Unglücksthür knarrte, als sei sie seit Jahrzehnten nicht eingeölt worden! Meine Hand fuhr vom Drücker nieder und im jähen Zusammenfahren wäre ich um ein Haar in die Treppe hineingefallen. Die Thür fiel langsam in das Zimmer zurück – es war Niemand drin – ein schwarzseidener Frauenmantel hatte zum Theil über der Thürfuge gehangen und das Rauschen verursacht.

Mir war, als flösse das Morgenroth, das erste, blasse, dem ich oft in der Haide entgegengejubelt, über die Wände – sie waren mit rosenrothen Gazefalten überzogen. Rosenbouquets lagen verstreut, wohin das Auge sah, auf dem weichen, graugrundigen Fußteppich, den kleinen, lehnenlosen, gestickten Stühlen und auf den niedergelassenen Rouleaux – da waren es freilich nur noch Rosengespenster, die Sonne hatte sie völlig ausgesogen. In der Nähe des einen Fensters stand ein Ankleidetisch voll Silbergeräth, außer ihm und den Stühlen waren keine Möbel da. …

Ich trat behutsam ein. … Puh, da war auch seit lange nicht gefegt worden! „Schöne Wirthschaft das!“ würde Ilse wieder gesagt haben. … Fühlte sich Charlotte wirklich wohl in der dicken, staubigen Luft? … Ein Flügel der Thür zu meiner Linken war zurückgeschlagen, und mein Blick fiel auf zwei nebeneinander stehende Betten unter einem dunkelvioletten Baldachin. Neben dem einen Bett stand auf einfachem Gestell eine Korbwanne voll kleiner Polster, über die ein grüner Schleier hingeworfen lag. … Seltsam, wer mochte hier wohnen? … Stille, tiefe, geisterhafte Stille herrschte in dem verdunkelten Zimmer, hier hingen nicht nur die Rouleaux, sondern auch die zugezogenen Gardinen vor den Fenstern, und Alles sah so unbenutzt aus. … Ah, nun wußte ich’s! Die Familie, die hier wohnte, war verreist! … Einen Augenblick schlug mir doch mein im Ganzen noch sehr ungeschultes Gewissen – meine kleine, naseweise Person gehörte nicht hierher. … Ach was! Es war wonnig, in dieses wildfremde Hauswesen voll niegesehener Pracht verstohlen zu gucken! … Ich war richtig bei Frau Holle, in ihrem Schlößchen voll Sammet und Seide und Gold und Silber. Staub genug gab es auszufegen und Betten zum Aufschütteln waren auch da. … Ich ging mutterseelenallein durch ihre Zimmer und Säle – mutterseelenallein! Aber ich fürchtete mich nicht, nicht im Geringsten! Und wenn sie nun wirklich im nächsten Zimmer saß, die Frau Holle in hoher Dormeuse mit langen Zähnen und wackelndem Kopfe – keck wäre ich auf sie zugeschritten und hätte ihr meinen Knix gemacht, dazu brauchte es doch wahrhaftig keinen übermäßigen Muth – nein, dazu nicht, aber – ich schrie plötzlich auf, daß es gellend von den Wänden zurückkam, und schlug die Hände vor das Gesicht. Ich hatte die Thüre aufgestoßen. Ich war nicht allein, aber auch Frau Holle saß nicht drin – ein kleines, schwarzes Wesen trat mir aus der gegenüberliegenden Thür entgegen.

Unter heftigem Herzklopfen erwartete ich das Näherkommen der Fremden; ich meinte, jetzt müsse sie mir die Hände vom Gesicht nehmen und mich zur Rede stellen; allein es blieb todtenstill, keine Sohle huschte über die Dielen, und die Thür drüben wurde auch nicht wieder zugemacht – mit einem entschlossenen Ruck machte ich der verzweifelten Situation ein Ende, ich sah auf. Die Schwarze stand noch immer drüben auf der Schwelle und ließ ein Paar brauner Hände langsam vom Gesicht niedersinken, dann warf sie ein wildes, dunkles Haargemenge in den Nacken zurück – ei, das that ich ja eben auch! … Jetzt lachte ich, lachte aus vollem Halse. Das Zimmer hatte lauter Spiegelwände; bis hinauf zur Decke lief das Glas – das mochte sich schon wundern über die seltsame Erscheinung, die es von allen Seiten zurückwarf! … Ich schüttelte meine Locken und lachte wie närrisch, und trat in den Saal, der sich vor mir aufthat.

Er durchmaß die ganze Tiefe des Hauses und hatte an der Süd- und Nordfront je drei ungeheure, dicht nebeneinander gestellte Glasthüren, die in’s Freie führten. Sie waren mit blauer Seide drapirt; die Farbe hatte sich nur nach der nördlichen Seite erhalten, nach Süden hin war sie zu einem schmutzigen Grauweiß erblichen. … Hier strömte es wie frischer Lebensathem von allen Wänden. Kleine, schwebende, bausbäckige Kinder hielten Medaillons in den Händen und lachten mich schelmisch an, und vom Plafond schütteten herrliche Frauengestalten einen ganzen Blumenregen nieder. Goldene Ornamente ragten in die Malereien hinein und umrahmten sie in vielgestaltigen Schnörkeln und Arabesken. Die Möbel waren von glänzendem Weiß, mit vergoldeten Rändern umsäumt, und über die Polster hin breitete sich blaue Seide.

Es war ein Prunksaal, aber er wurde offenbar benutzt wie ein gemüthliches Familienzimmer. In trauliche Gruppen zwanglos zusammengeschoben, füllten die Möbel alle vier Ecken, und in der mittleren Thür der Nordfront stand ein großer Schreibtisch. Er war bedeckt mit Porcellanfiguren und allerhand zierlichen Dingen, deren Gebrauch ich nicht kannte. … Ich sah auch ein silbernes Schreibzeug stehen, ein kunstvolles Blättergeflecht, auf welchem Tintenfaß und Streubüchse als Rosenkelche lagen – auf eines der breiten Blätter war ein Wappen mit darüber prangender Krone gravirt. … Und vor dem Schreibzeug lagen wappengeschmückte Briefbogen. Eine zarte, flüchtige Frauenhand hatte offenbar eine Feder probirt; unzählige Mal quer und gerade stand da: Sidonie, Prinzessin von K. – und dazwischen hin liefen die Namen Claudius und Lothar.

Ich fuhr zurück. Wie, sollten das wohl gar fürstliche Gemächer sein? … Eine Prinzessin saß an diesem Tisch und schrieb mit dem zierlichen goldenen Federhalter, der so nachlässig hingeworfen neben dem Briefbogen lag! … Ihre feinen Füße glitten über den glänzend polirten Fußboden, den jetzt meine groben Wollstrümpfe rieben, und aus den Glasthüren sah ein zartes, vornehmes Frauengesicht! … Eine ängstliche Scheu überkam mich – ich griff nicht mehr auf den Drücker der nächsten Thür, mit zaghaftem Finger bewegte ich den Schieber am Schlüsselloch und ließ einen scheuen Blick durch dasselbe huschen – draußen lief die schöngeschwungene Treppe empor, die ich heute in des jungen Herrn und Ilse’s Begleitung hinaufgestiegen war. … Ach, ich stand hinter einer der Thüren, welche die großen Siegel auf ihrer Fläche trugen! So sicher also hatte die Prinzessin bis zu ihrer Rückkehr die Wohnräume vor jedem Eindringling zu schützen gesucht – sie hatte sogar Siegel davor legen lassen. Und auch das hatte nicht einmal genügt; ich stand ja drin und ließ meine neugierigen Augen über Alles hinschweifen, was doch kein fremder Blick berühren sollte. Darüber aber machte ich mir nun erst recht keine Gewissensbisse – ich fand es im Gegentheil gar schauerlich süß, daß die Siegel auf den Thüren klebten, und daß kein lebendes Wesen, vielleicht eine naseweise Fliege ausgenommen, die durch irgend ein Schlüsselloch schlüpfte, hier umherhuschen konnte, nur ich, ich allein!

Und nun mußte ich auch einmal probiren, wie es wohl der schönen Prinzessin zu Muthe sei, wenn sie durch die Glasthüren hinaussähe. Ich schob eine der Draperien ein wenig zurück – wie ein kleines, trautes, in die Lüfte hineinragendes Cabinet ohne Dach und Decke schloß sich draußen der Balcon an die Thüren an – ich hatte ja noch nie einen Balcon gesehen – wie mußte es wonnig sein, hoch über der Erde so schnurstracks aus den heißen Zimmern in’s Freie treten zu können!

[612] Vielleicht sah man draußen auf dem Balcon durch irgend eine Baumlücke in das Land hinaus! Ich war leichtsinnig und keck genug, den Schlüssel umzudrehen und die Thür um Spannbreite zu öffnen; die schwüle Sommerluft drang herein und trug köstliche Düfte aus dem Blumengarten herüber – den Kopf konnte man wohl auch einen Augenblick hinausstecken – Himmel, da trat Ilse mit raschen, kräftigen Schritten aus dem gegenüberliegenden Gebüsch und schulterte einen langen Stielbesen! Ich schlug die Thür zu, rannte wie besessen durch die Zimmer, fuhr in meine Schuhe und schlüpfte die Treppe hinab. Ich hatte eben die Tapetenthür geschlossen und mich möglichst harmlos auf einen Stuhl geworfen, als Ilse eintrat.

„Hab’ doch gar bis nach vorn in den Hof laufen müssen um den Besen da!“ sagte sie. „Das Haus hier ist ja rein wie verzaubert – verschlossene Thüren, wo man hinguckt, und nirgends eine Menschenseele! … Und meine liebe Noth hab’ ich auch gehabt – wollte mir doch das Stubenmädchen den Besen nicht geben, aus lauter Ehrfurcht … das hat mich aber in den Harnisch gebracht! … Der infame Kirchenhut – ich möchte ihn am liebsten gar nicht wieder aufsetzen!“

Sie kehrte sorgsam jedes Staubwölkchen von der Thür, drehte den Schlüssel zweimal um und schob den Schrank an seine alte Stelle. Dann trennte sie das Sackleinen auf und thürmte die ungeheuren Federbetten in der reichverzierten Bettstelle übereinander. … Ei, wie unverschämt der roth- und weißgewürfelte Ueberzug neben dem gelben Seidendamast sich blähte, und wie schüchtern und winzig das verächtlich hingeworfene feine Leinenzeug zusammensank neben meinem Betttuch, an welchem ich in ziemlicher Entfernung die Fäden zählen konnte!

Aber Ilse übersah mit geschmeichelter Miene das Werk ihrer Hände – es war derb und haltbar, dagegen ließ sich nichts einwenden.

„Morgen früh gehen wir in das Vorderhaus“ sagte sie zu mir, indem sie eine frische, weiße Halskrause aus dem Koffer nahm und auf den Toilettentisch legte. „Nach dem, was Dein Vater heute sagte, scheinen es sehr vernünftige Leute zu sein.“

Ich besann mich vergeblich auf diesen Ausspruch; mein Vater hatte nur indignirt von den vernachlässigten Kisten gesprochen und die „vernünftigen Leute“ Krämerseelen genannt.

„Vielleicht kann ich mit dem Herrn selbst über Dich sprechen,“ warf sie hin.

„Um Gotteswillen nicht, Ilse!“ schrie ich auf. „Ich laufe auf der Stelle auf und davon, und Du siehst mich nie, nie wieder!“

Sie sah mich groß an. „’s ist wohl nicht richtig?“ fragte sie und legte den Zeigefinger bezeichnend an die Stirn.

„Denke was Du willst, aber ich leide es nicht, daß Du auch nur ein Wort mit dem jungen Herrn über mich sprichst –“

„Ei, wer denkt denn an den jungen Laffen? An das gedrechselte Mannsbild, das mit Reifen spielt? … Das hätte mir gefehlt! –“

Ich fühlte, wie mein Gesicht aufglühte – Entrüstung, Schmerz und Scham durchfuhren mein Inneres, wie schneidende Messer. … Nein, Ilse war doch auch manchmal zu rücksichtslos hart und grob!

„Ich meine den Herrn, der uns gestern im Hofe nachrief!“ fuhr sie unbeirrt fort.

„Ach, der,“ sagte ich; „mit dem sprich meinetwegen so viel Du willst – der ist alt, uralt!“

„So – das sind wirklich die Leute, die vor vier Wochen in der Haide waren?“

Ich nickte mit dem Kopfe.

„Und der Alte hat Dir die Unglücksthaler gegeben?“

„Ja, Ilse!“

Ich trat an das Fenster und sah hinaus. Ich war im Begriff, mich sehr lächerlich zu machen – die Thränen traten mir in die Augen. Ilse wußte freilich, daß ich auch weinte, wenn sie Heinz zu nahe trat, aber das war doch ganz etwas Anderes, den hatte ich lieb von Kindesbeinen an – was aber kümmerte mich der wildfremde junge Mann? Was in aller Welt ging es mich an, wenn ihn Ilse einen Laffen, ein gedrechseltes Mannsbild nannte? … Es war die reine Lächerlichkeit – und diese Verunglimpfung erzürnte mich trotzdem noch viel mehr und noch ganz anders, als wenn Ilse meinem guten, alten Heinz rauh den Text las.


12.

Als ich am anderen Morgen aufwachte, war mir sehr wunderlich zu Muthe. … Gestern hatten mich die neuen Eindrücke überrumpelt; ich war wie von einem Rausch befangen schlafen gegangen; nun war das helle, klare Morgenlicht da und der frisch ausgeschlafene Geist ernüchtert, und ich war wieder die scheue Eidechse, die sich vor den Menschenaugen in eine dunkle Höhle zu flüchten suchte.

Wie ein Tröster zwitscherte und sang auf einmal ein kleiner Vogel in meine niederschlagenden Erwägungen hinein. Er saß jedenfalls draußen auf dem Fenstersims, und ich meinte in schmerzlicher Freude, er käme aus der Haide, direct vom Ebereschenbaum an der Dierkhofwand her. … Die tiefe Morgenstille wurde zu meiner großen Ueberraschung aber auch noch auf andere Weise unterbrochen. Hinter der Wand, an welcher der Schrank stand, sang plötzlich eine tiefe, klangvolle Männerstimme in langgehaltenen Tönen den Vers eines Kirchenliedes. Zugleich wurde die Thür nach meinem Wohnzimmer aufgemacht; Ilse trat lauschend auf die Schwelle. Sie nickte mir schweigend guten Morgen zu und blieb mit gefalteten Händen stehen.

„Ein frommer Mann,“ sagte sie erbaut, als der Vers zu Ende war, und trat an mein Bett. „Da wohnen ja außer Deinem Vater doch noch Leute in dem Hause – und was für Leute! … Ist mir doch gestern das ganze Haus so heidnisch und verhext vorgekommen –“

Sie schwieg, denn die Stimme begann einen zweiten Vers – das liebliche Tiriliren draußen auf dem Sims war längst verstummt; die starke Menschenstimme hatte den kleinen, schüchternen Sänger verscheucht.

„So, nun stehe auf, Kind!“ sagte Ilse, nachdem sie auch dem zweiten Vers andächtig gelauscht hatte. „Die Nachbarschaft da drüben ist mir lieber, als wenn ich einen Schatz gefunden hätte. Das war eine schöne Morgenandacht! … Nun geht’s an’s Tagewerk!“

Damit zog sie die Rouleaux in die Höhe und ging hinaus.

Ich sprang aus dem Bett. Draußen sprühten und tanzten goldene Funken auf dem Wasserspiegel; die Bäume und Büsche troffen von farbenglitzerndem Thau, und über die Rasenflächen hin liefen Pfauen und Goldfasane.

Während ich mich ankleidete, sang die nachbarliche Stimme unermüdlich weiter.

„Je – kriegt denn der’s bezahlt?“ fuhr Ilse mit einer Falte des Unmuths zwischen den weißblonden Brauen ganz erstaunt herein, als nach dem sechsten Vers auch der siebente begann. „Unserm Herrgott muß ja Zeit und Weile lang werden bei dem Ansingen! … Dazu hat er doch wahrlich die schöne, kostbare Morgenzeit nicht gemacht!“

Sie war freilich schon thätig gewesen. Sie hatte sich eine Küche aufschließen lassen und, trotz aller Anbietungen des Stubenmädchens, das Frühstück selbst bereitet. Ilse konnte „absolut keinen fremden Kaffee trinken“. Die Stube war bereits gefegt, das Bett fortgeräumt, das sie sich auf dem Sopha zurechtgemacht, und auf dem Tisch stand schön geordnet ein von Fräulein Fliedner gesandtes Kaffeegeschirr.

Ich klopfte mit schüchternen Fingern an die Thür meines Vaters.

„Komm nur herein, kleines Lorchen!“ rief es drinnen. … Gott sei Dank, er wußte noch, daß ich da war, ich mußte mich nicht auf’s Neue vorstellen! Er zog mich an der Hand über die Schwelle, küßte mich auf die Stirn und entschuldigte sich, daß er uns gestern so allein gelassen, aber er habe bis nach elf Uhr beim Herzog bleiben müssen. Ilse theilte ihm mit, daß sie sich „nachher“ bei Fräulein Fliedner Raths erholen wolle, was nun mit mir zu beginnen sei, und damit war er vollkommen einverstanden. Fräulein Fliedner sei eine sehr würdige achtungswerthe Dame, es würde ihm lieb sein, wenn sie sich seines Töchterchens annehmen wolle; später werde er ihr selbst seinen Besuch machen und sie darum bitten. Heute aber könne er unmöglich, er stecke tief in dringenden Arbeiten und müsse mit jeder Minute geizen.

Er war bei Weitem nicht so zerstreut wie droben in der Bibliothek an seinem Schreibtisch, und wenn er mich auch ein paar Mal mit dem Namen meiner verstorbenen Mutter anredete und sich angelegentlichst erkundigte, wie alt ich sei – ich fühlte doch aus Allem heraus, daß er sich mit dem Gedanken, sein Kind [614] bei sich zu haben, vollkommen vertraut gemacht hatte – das ermuthigte mich wieder. Er behielt fortwährend meine Hand in der seinen, und ich durfte ihn bis an die Treppe begleiten, denn er war gewohnt, seinen Kaffee im Bibliothekzimmer zu trinken.

In der Halle ging ein stattlicher alter Herr an uns vorüber. Er hatte schneeweißes Haar und ein schneeweißes Halstuch unter dem Kinn, und sein schwarzer Anzug glänzte wie Atlas in dem hereinfallenden Morgensonnenstrahl. Er zog zwar tief den Hut, aber mit sehr steifer gemessener Haltung, und seine hellblauen Augen glitten förmlich feindselig hochmüthig an der nachlässigen Erscheinung meines Vaters hin.

„Wer ist das?“ fragte ich leise, als er rasch, aber mit außerordentlich viel Würde draußen den Teich umschritt; bei seinem unvermutheten Erscheinen war es mir wie ein jäher Stich durch das Herz gefahren.

„Der alte Buchhalter der Firma Claudius,“ sagte mein Vater. „Er ist Dein Nachbar – hast Du ihn vorhin nicht singen hören?“ Ein sarkastisches Lächeln flog um seine feinen Lippen, während er einen Blick auf den eifrigen Morgensänger zurückwarf, der eben im gegenüberliegenden Gebüsch verschwand.

Zwei Stunden später ging ich denselben Weg an Ilse’s Seite, den Weg nach dem Vorderhaus. Ilse trug den Blechkasten mit den Werthpapieren meiner Großmutter unter ihrem schwarzen Umschlagtuch: sie hatte ihre Reisetoilette noch durch ein Paar dunkler baumwollener Handschuhe vervollständigt und sah ganz feierlich aus.

Heute war das Kiesrund leer, dafür herrschte desto regeres Leben im Blumengarten. Der Schubkarren kreischte im Sand der Wege, zwischen den Beeten wandelten Leute in der Arbeitsblouse Blume um Blume in Bouquets einfügend, und aus Rosenhecken hinter Spalieren tauchten Männerköpfe empor, die uns erstaunt nachsahen.

Als wir in die Nähe des großen Gewächshauses kamen, trat der alte Buchhalter aus der Thür. Er war ohne Hut; von dem ehrwürdigen blüthenweißen Scheitel ging ein förmliches Leuchten aus. Er sprach mit dem jungen Herrn, der, wie es schien zum Ausgehen gerüstet, neben ihm herschritt. Sie bemerkten uns nicht, obgleich wir, kurz nach ihnen, in den breiten Weg einbogen, der direct nach der Thür in der Hofmauer lief.

„Sie sind Brauseköpfe – Sie und Ihre Schwester; Ihr Flug geht hoch –“ sagte der alte Buchhalter.

„Verdenken Sie uns das?“

„Und das Nest, in dem Sie flügge geworden sind, paßt nicht mehr – ich weiß es längst!“ fuhr der silberhaarige Herr fort, ohne den Einwurf zu beantworten. Er hatte auch beim Sprechen eine tiefe angenehme Stimme, nur war seine Sprechweise so eigenthümlich breit und betonend, als halte er selbst jedes seiner Worte für goldschwer.

„Das will ich nicht gerade sagen,“ entgegnete der Andere achselzuckend, „aber es brauchte so Manches nicht zu sein, was Charlotte und mich demüthigt, was sich uns in der Gesellschaft, und hauptsächlich mir bei meiner Carrière wie ein Bleigewicht anhängt. … Wenn sich der Onkel nur einmal entschließen könnte, diese Krambude aufzugeben!“

Er holte mit seinem feinen Spazierstock weit aus und köpfte eine prachtvolle feuerfarbene Nelke, die in den Weg hereinnickte, mit einem so wuchtigen Hieb, daß der Kelch weithin über den Kies flog. … Ich stieß einen leisen Schrei aus und fuhr unwillkürlich mit beiden Händen nach dem Halse, als sei mir der grausame Hieb selbst durch das Genick gegangen.

Die Sprechenden fuhren herum. Mein erschrockenes Gesicht, noch mehr aber wohl meine Bewegung lockten ein spöttisches Lächeln auf das Gesicht des jungen Herrn.

„Ah, Haideprinzeßchen kann auch sentimental sein?“ rief er und nahm den Hut verbindlich grüßend von seinen kastanienbraunen Locken. „Nun bin ich sicher ein Vandale, ein Barbar, und Gott weiß, was Alles, und bin verurtheilt für ewige Zeiten,“ fuhr er mit einem lächelnden Seitenblick auf mich fort. „Es bleibt mir nichts Anderes übrig, als die Blume sofort wieder zu Ehren zu bringen.“

Er hob die Nelke auf und steckte sie in sein Knopfloch.

„Das macht das arme Ding auch nicht wieder ganz und heil,“ sagte Ilse trocken im Vorübergehen.

Er lachte auf.

„Heißen Sie nicht Ilse?“ fragte er schelmisch.

„Aufzuwarten, ja – Ilse Wichel, wenn’s erlaubt ist,“ entgegnete sie, sich nach ihm umdrehend – das klang scharf, als habe sie Pfeffer und Salz auf der Zunge, wie aber würde ihre Antwort erst ausgefallen sein, hätte sie gewußt, daß er in der Haide an den Namen Ilse das Bild eines – Drachen geknüpft hatte!

Wo sie übrigens den Muth hernahm, so selbstständig fest und gleichmüthig in die braunen Augen zu sehen, als gehörten sie zu dem ersten besten Besenbinderjungen, den sie mit irgend einer Vermahnung und einem Stück Brod vom Dierkhof fortschickte, das war mir ganz unfaßlich. Ja, Ilse war tapfer wie ein Soldat, mit der konnte sich Keine messen, Keine in der ganzen Welt, ich aber am allerwenigsten, denn mein Hasenherz schlug so heftig, daß ich meinte, der Herr Buchhalter sähe es und betrachte mich deshalb so scharf von Kopf bis zu Füßen.

Ich glaube, der junge Mann wollte seinem Begleiter sagen, wer ich sei; allein Ilse hielt nicht Stand; sie nickte mit dem Kopfe und wandte sich um, und ich machte selbstverständlich die Schwenkung mit.

Die Herren gingen langsam hinter uns her. „Ein Wagen kommt draußen um die Ecke!“ sagte der junge Herr plötzlich stehenbleibend. „Ja, ja, es sind die Rappen! Onkel Erich kommt von Dorotheenthal zurück!“

Sie beschleunigten ihre Schritte und traten noch vor uns in den Hof, wo eben durch das Thor der hübsche hellausgeschlagene Wagen hereinbrauste. Der alte Herr mit dem braunen Hut und der blauen Brille saß drin. Er sah gerade so aus, wie in der Haide, nur sprang er mit weit mehr Leichtigkeit über den Tritt herab, als ich nach seinen sonst so gemessenen, jedenfalls vom Alter bedingten Bewegungen vermutet hätte.

„Guten Morgen, lieber Onkel!“ sagte der junge Mann, und „Bist Du da, Onkel Erich?“ rief Charlottens Stimme aus einem Fenster herab.

Der alte Herr winkte grüßend hinauf und reichte seinem Neffen und dem Buchhalter die Hand. Wir gingen eben vorüber, wurden aber nicht beachtet; denn mit dem Wagen zugleich war auch ein stattlicher, kräftiger Mensch mit einem Felleisen auf dem Rücken in den Hof getreten und hielt in diesem Augenblick seinen abgezogenen Hut bittend hin.

Ich sah, wie der junge Herr sofort seine Börse zog und ein großes Silberstück in den Hut werfen wollte; allein der Onkel schob die freigebige Hand zurück.

„Was für ein Handwerk?“ fragte er den Bittenden.

„Bin ein Schreiner –“

„Habt Ihr hier in der Stadt Arbeit gesucht?“

„Ja wohl, gnädiger Herr, und wie! Hab’ aber keine gefunden, partout nicht, und wär’ mir doch jede recht, weiß es Gott! – Ich hab’ das Wandern dicksatt!“

„So, so – dann kommt einstweilen zu mir, ich habe Arbeit für Euch“ – er zeigte auf die Kistenstöße ringsum – „und bezahle gut.“

Der Mensch kraute sich verlegen in seinem wirren Haar.

„Nun ja, ist mir recht, Herr – will aber erst noch einmal in die Herberge gehen“ – sagte er stockend.

„So geht!“ sagte kurz der alte Herr und wandte sich weg.

„Tausend noch einmal, der hat Haare auf den Zähnen!“ meinte Ilse bewundernd, während wir die Stufen in der Hausflur hinaufstiegen; ich aber war empört. Der Bettler sah erbärmlich zerlumpt und zerrissen aus, und wie rauh und kurz war er angelassen worden! War es nicht an sich schon schrecklich, bitten zu müssen – mir hätte das Herz weh gethan, als der stattliche Mann so demüthig gebückt vor dem stolzen Reichen stehen mußte! … Da war der junge Herr doch viel barmherziger und edler gewesen; ohne zu fragen, hatte er sein Almosen hingereicht. … Wenn der Schreiner nicht wiederkam, so verdachte ich ihm das nicht einen Augenblick – wer mochte sich denn von den häßlichen, blauen Brillengläsern anfunkeln lassen?

[625] Charlotte hatte uns jedenfalls durch den Hof gehen sehen. Sie kam die Treppe herab und begrüßte uns in der Hausflur. Ich konnte den Blick nicht von ihr wegwenden. Ein Spitzenhäubchen, klar und durchsichtig wie Spinnweben, hing nachlässig hingeworfen auf dem dunkelglänzenden Scheitel und legte sich verklärend um das schöne, wenn auch für ein junges, weibliches Gesicht etwas zu große und volle Oval der Wangen. In lockeren Falten floß ein helles Morgenkleid um die hoch aufgebaute Gestalt; nur ein schmaler Gürtel bezeichnete in weitgeschwungenen Contouren die durchaus nicht beengte, kräftig gebaute Taille.

„Will Haideprinzeßchen zu mir?“ fragte sie freundlich und ergriff ohne Weiteres meine Hand.

„Nachher auch zu Ihnen, Fräulein; aber erst müssen wir Fräulein Fliedner sprechen,“ sagte Ilse. Auch ihre Augen hingen wohlgefällig an der schönen Erscheinung – ja, das Große und Starke, davor hatte sie doch auch Respect; jedenfalls schmückte sie solch einen großen Kopf auf breiten Schultern auch stets mit ihrem eigenen starken Willen aus. … Ich selber kam mir neben den zwei stämmigen Frauengestalten so verkürzt, so grenzenlos unwichtig vor wie etwa eine zwischen zwei Eichen hingewehte Flaumfeder.

Charlotte schüttelte bei Ilse’s unverblümter Antwort lachend den Kopf und öffnete eine Thür. … Gott sei Dank, die Dame, die sich bei unserm Eintreten in einer der tiefen Fensternischen erhob, sie war wenigstens nicht so groß wie meine zwei Flügelmänner! Fräulein Fliedner sah in ihrem seidenen Kleide und weißen Häubchen und mit der feinen goldenen Uhrkette am Gürtel wieder ebenso appetitlich und zart, so vornehm aus wie gestern Morgen in der Hausflur und kam uns mit einem freundlichen Lächeln entgegen.

Ich versank sofort neben Ilse in den dicken kattunüberzogenen Federkissen eines altfränkischen Sophas, während Charlotte sich in einen Lehnstuhl warf, den kläffenden Pinscher, der eben ein Stück aus meinem kostbaren Kleide zu reißen gesucht hatte, ohne Umstände am Genick auf ihren Schooß zerrte und ihm eine Strafpredigt hielt.

Ilse schilderte ohne lange Präliminarien in den knappesten Umrissen mein bisheriges Leben. Mein Kopf voll Unsinn, meine braunen Hände, die nicht stricken wollten, und der unbezähmbare Trieb, barfuß zu laufen, das waren die schauderhaften Grundzüge des Portraits, welche die zweijährige Bildungszeit verwischen sollte. … Ich saß lammstill dabei und sah in den gegenüberstehenden Glasschrank nach der großen häßlichen Porcellanfigur drinnen, die zu Ilse’s kerniger Rede mit ernsthaftem Gesicht ein schweigendes „Ja, ja, das muß anders werden!“ unermüdlich nickte. Dann zählte ich die endlosen Schlüsselreihen an der Wand – Himmel, diese schreckliche Menge großer und kleiner Schlüssel hatte Fräulein Fliedner auch in ihrem kleinen zierlichen Kopf und mußte wissen, was jeder verschloß! Mir wurde angst und bange vor dem Hause, das so unzähligemal hinter Schloß und Riegel lag – ach, mein lieber, lustiger Dierkhof mit seinem allereinzigen Hausschlüssel, der oft Nachts nicht einmal umgedreht wurde!

„Gern, herzlich gern will ich das kleine Fräulein von Sassen unter meine Flügel nehmen,“ sagte die alte Dame, als Ilse geendet und dabei den Blechkasten mit den Papieren auf den Tisch gestellt hatte. „Aber es muß dabei Manches, vorzüglich die Geldangelegenheit, in ernste Erwägung gezogen werden. Ich bin der unmaßgeblichen Meinung, daß Sie auch Herrn Claudius um seinen Rath bitten –“

„Um Gotteswillen nur heute nicht, liebe Fliedner!“ unterbrach sie Charlotte lebhaft. „Onkel Erich hat seine Arbeitsmarotte schlimmer als je – er hätte eben um ein Haar einen unglücklichen Handwerksburschen gepreßt, der war aber so schlau, zu entwischen. … Er ist im Stande und steckt das arme Ding da ’nüber in die Hinterstube und läßt es sein Lebenlang Todtenkränze aus getrockneten Blumen binden!“

Ich sah ihr starr vor Schrecken in’s Gesicht.

„Ja, ja, sehen Sie mich nur an, Kleine!“ sagte sie und betrachtete ihre großen, weißen, schöngepflegten Finger. „Für diese zehn unglücklichen Geschöpfe hier zittere ich beständig, daß sie eines schönen Tages confiscirt und in der Hinterstube angestellt werden!“

„Nun, Sie dürfen sich doch wahrhaftig nicht beklagen, Charlotte,“ meinte Fräulein Fliedner bei aller Milde doch ein wenig scharf.

Ilse machte ein bedenklich langes Gesicht. Bei aller scheinbar rücksichtslosen Strenge hatte sie mich doch viel zu lieb, als daß sie den Gedanken, mich unglücklich in der fremden Stadt zurückzulassen, ertragen hätte. … Ja, sie malte meine Unwissenheit und Ungeschicklichkeit in den schwärzesten Farben; aber sie mußte sich auch sagen, daß sie selbst viel Schuld trug – sie hatte nie die Kraft gefunden, mich zur Arbeit zu zwingen und meinen Hang zum ungebundenen Umherschweifen zu unterdrücken.

[626] „Seien Sie ganz ruhig,“ sagte Fräulein Fliedner lächelnd zu ihr. „Fräulein Claudius liebt es manchmal, in Uebertreibungen zu sprechen. Der Herr ist streng, aber nicht tactlos. Sie können getrost mit ihm reden.“

„Nun, wenn Sie meinen,“ entgegnete Ilse sichtlich erleichtert. „Ich weiß nicht warum, aber ich habe Vertrauen zu dem Mann. Was er für ein Gesicht hat, weiß ich freilich nicht – er stand draußen im Hofe mit dem Rücken nach mir zu – aber die Kleine hat ihn vor vier Wochen in der Haide gesehen und sagt, er sei ein alter, uralter Herr, und da muß er doch Erfahrungen haben und die Welt kennen.“

Charlotte fuhr mit beiden Armen in die Luft und schüttelte sich vor Lachen.

„Onkel Erich wird sich bei Ihnen bedanken, Durchlauchtigstes Haideprinzeßchen!“ rief sie, und auch Fräulein Fliedner sah mich schalkhaft an.

„Nehmen Sie nur Ihren Kasten und kommen Sie mit!“ sagte sie zu Ilse. Sie warf eine Mantille über die Schultern, zupfte die weißen Manschetten am Handgelenk zurecht und fuhr mit beiden Händen über den tadellos glatten, graumelirten Scheitel.

„Da muß ich auch dabei sein!“ rief Charlotte aufspringend und warf den Pinscher in seinen Polsterkorb.

„Im Morgenanzug?“ fragte Fräulein Fliedner mit großen Augen.

„Ach was, ist er denn nicht schön und frisch?“ rief Charlotte leichthin, indem sie sich vor dem Spiegel das Spitzenhäubchen tiefer in die Stirn zog.

Die alte Dame zuckte die Achseln und ließ uns wieder hinaustreten in die dämmernde Hausflur. Sie öffnete geräuschlos eine am entgegengesetzten Ende der Halle liegende Thür.



13.

Ich wäre am liebsten gleich auf der Schwelle umgekehrt und in den Hof gelaufen, um mich zu überzeugen, daß draußen die Julisonne wirklich noch am wolkenlosen Morgenhimmel brenne. … Ach, wie düster und kalt war es hinter diesen vergitterten Fenstern! Von der gegenüberliegenden Straßenseite leuchtete freilich eine helle Hausfront herein, allein diese hartgrelle Fläche ließ die Schatten, die um die steingewölbte Decke und die braunen Ledertapeten webten, nur um so greifbarer dunkel erscheinen. Mit jedem Athemzug schluckte die Lunge eine dumpfe, dicke Luft, in der alle Blumen der Welt gestorben und eingetrocknet zu sein schienen.

An einer langen Tafel stand der alte Buchhalter. Er hatte graue Leinwandärmel über seine Arme gezogen und wühlte sortirend in einem Haufen kleiner Papierpakete; um ihn her waren mehrere Leute beschäftigt.

„Guten Tag, Herr Eckhof!“ sagte Charlotte und reichte ihm im Vorübergehen in burschikoser Weise, wie etwa ein Student dem anderen, die Hand. Er grüßte freundlich zurück – vor Fräulein Fliedner dagegen neigte er sich genau so steif und gefroren wie vor meinem Vater.

Wir durchschritten das große, saalartige Zimmer und traten in einen daranstoßenden Raum. Es war nur ein Herr anwesend, obgleich mehrere Schreibpulte die Fensterwand entlang standen.

Der Herr saß so, daß er das ganze Zimmer und auch die Thür übersehen konnte, durch die wir eintraten. Bei unserem Erscheinen hob er den Kopf, dann stand er auf, ein wenig frappirt, wie es schien, und verließ den Fenstertritt, auf welchem sein Schreibtisch stand. … Er hatte ein schmales, edles, etwas blasses Gesicht.

Charlotte eilte, uns voraus, auf ihn zu.

„In der Morgenhaube, Charlotte?“ fragte er, und ein großes, blaues, feuriges Augenpaar heftete sich befremdet auf das Gesicht der jungen Dame. Das lebhafte Roth ihrer Wangen färbte sich tiefer und lief bis unter das Stirnhaar hinauf.

„Ach Onkel, Du bist ja allein,“ sagte sie bittend und ließ ihre Augen noch einmal flink durch das Zimmer schweifen. „Nimm es diesmal nicht so streng mit den Hausregeln – ich muß dabei sein, wenn Du eine interessante Bekanntschaft machst.“

Ich hatte mich längst hinter Ilse geflüchtet.

„Das ist der Herr nicht, der mir die Thaler gegeben hat,“ flüsterte ich ängstlich.

Charlottens scharfes Ohr hatte die Worte aufgefangen.

„Onkel,“ sagte sie, wie ein Kobold in sich hineinlachend, „vor vier Wochen hat Dich eine junge Dame in der Lüneburger Haide gesehen und will nun zu dem ‚alten, uralten Herrn Claudius‘ –“

„Ach, das ist ja schließlich ganz egal, ob es der Herr ist, oder nicht, den die Kleine gesehen hat,“ fiel Ilse resolut ein. „Ich will mit Herrn Claudius sprechen, und der sind Sie doch?“

Er neigte mit dem schwachen Anflug eines Lächelns um seine Lippen den Kopf.

Und nun begann Ilse abermals ihren Bericht. Sie mußte ihn eingelernt haben, wie der Pfarrer seine Predigt, denn er schnurrte und rollte ohne Unterbrechung genau in der Reihenfolge herab, wie Fräulein Fliedner gegenüber.

Währenddem steckte ich hinter den Damen und betrachtete mir den Herrn genauer. Er hatte die schlanke, feingebaute Gestalt des alten Herrn im braunen Hut und auch seine Stimme, aber das war ja unmöglich dessen Kopf. Ueber der jugendlich glatten Stirn lag ein Streifen dicker, aschblonder Haarwellen und Ringel, die allerdings im schrägeinfallenden Licht einen intensiven Silberschein annahmen. Auffallend erschienen unter diesem mattglänzenden Haar die dunklen Brauen. Fest und kühn die blauen Augen überwölbend, gaben sie dem blassen, vornehmen, wenn auch nicht gerade schöngebildeten Gesicht einen Zug von Kraft. … Ich sah, wie sich allmählich eine kleine Falte zwischen ihnen vertiefte – Ilse’s Vortrag mißfiel ihm offenbar, er hatte nicht die mindeste Lust, sich mit der Sache zu befassen, hie und da warf er einen Seitenblick auf den neben ihm liegenden, aufgeschlagenen Folianten; man sah, es war ihm fatal, gestört worden zu sein, wenn er sich auch höflicher Weise Mühe gab, eine aufmerksame Haltung zu zeigen.

„Ich kann Ihnen nur rathen,“ sagte er kühl, als Ilse eine Pause machte, um Athem zu schöpfen, „die junge Dame so bald wie möglich in einem Institut unterzubringen –“

„Nein, Onkel!“ unterbrach ihn Charlotte. „Es wäre grausam, das junge, scheue Geschöpfchen, das bis jetzt die ungebundenste Freiheit genossen hat, in diese Maschinen, diese Schablonen zu pressen! Das Leben im Institut ist schrecklich! –“

„Es ist schrecklich, Charlotte?“ wiederhole er tief betroffen. „Und Du hast beinahe Dein ganzes bisheriges Leben im Institut verbracht! … Warum hast Du nie gesprochen?“

Sie zuckte die Achseln. „Was hätte mir denn meine Klage genützt?“ klang es ziemlich bitter von ihren Lippen.

Er sah sie streng und durchdringend an, sagte aber kein Wort mehr. In diesem Augenblick wurde die Thür aufgemacht; der alte Buchhalter trat ein, und ihm folgte ein hochgewachsener, sehr schöner, junger Mann. Der Letztere erschrak sichtlich über die Anwesenheit der Damen und wollte sich wieder zurückziehen.

„Kommen Sie nur herein!“ rief Herr Claudius. Seine Augenbrauen falteten sich ein wenig; er zog seine Uhr und hielt sie dem Eingetretenen hin.

„Es ist sehr spät, Herr Helldorf,“ sagte er kalt.

Charlotte hatte den Gruß des jungen Mannes mit einem vornehm gleichgültigen Kopfnicken erwidert; bei den Worten ihres Onkels aber wurde sie feuerroth, und ein Zornblick streifte dessen Gesicht.

„Verzeihen Sie, Herr Claudius; ein Kind meines Bruders erkrankte vor einigen Stunden sehr heftig,“ entschuldigte sich der junge Mann mit leichtbebender Stimme und nahm Platz an seinem Schreibpult.

„Das thut mir leid – ist Gefahr vorhanden?“

„Gott sei Dank, sie ist vorüber!“

Herr Claudius wandte sich wieder zu Ilse. „Ich weiß in der That nicht, wie ich mich in der Angelegenheit nützlich machen kann,“ sagte er. „Herrn von Sassen darf man doch bei seinem Beruf und seiner ganzen Lebensweise unmöglich zumuthen, den Bildungsgang eines – wie Sie selbst sagen – ziemlich verwilderten jungen Mädchens zu leiten –“

„Das möchte ich schon gern übernehmen!“ fiel Fräulein Fliedner ein.

„Und ich auch,“ sagte Charlotte rasch.

„Es handelt sich hauptsächlich um die Verwaltung des kleinen großmütterlichen Vermögens, das Fräulein von Sassen zugefallen ist,“ setzte die alte Dame hinzu.

[627] „Nun das, sollte ich meinen, könnte doch ihr Vater in die Hand nehmen.“

„Er will absolut nicht,“ sagte Ilse rasch. „Und das ist mir auch gar sehr lieb, von wegen“ – sie schwieg einen Augenblick wie verlegen um die passende Form – „na, von wegen der zerbrochenen Steinbilder und Scherben, die er immer kauft,“ fügte sie rasch entschlossen hinzu.

Sie stellte den Blechkasten auf einen Tisch und schloß ihn auf. Herr Claudius griff hinein und durchlief die Documente.

„Es sind viel verfallene Coupons dabei; aber die Papiere sind gut,“ sagte er und legte sie wieder in den Kasten. „Also ich soll das Geld verwalten? … Wollen Sie, daß die Zinsen zu dem Capital geschlagen werden?“

„Ach ja, sparen Sie, soviel wie möglich!“ versetzte Ilse. „Aber freilich, der Herr Doctor ist gar sehr vergessen, und da wird es wohl gut sein, wenn die Kleine manchmal selbst ein paar Groschen in die Hand bekömmt, damit sie sich helfen kann.“

„Wo ist die junge Dame?“

„Aber so lassen Sie sich doch auch einmal sehen!“ sagte Charlotte zu mir. Ehe ich mich dessen versah, hatte sie mir den Hut vom Kopfe genommen, strich mir mit den Händen glättend über das wilde Haar und schob mich an den Schultern hin, so ungefähr, wie ein Kind, das seine eingelernten Geburtstagsverse hersagen soll. Diesmal trat ich vollkommen unbefangen hin. Vor dem Mann mit der trockenen, ruhigen Geschäftsmiene fühlte ich nicht die mindeste Scheu – ich sah so arglos zu ihm auf, wie ich den alten Herrn in der Haide gesehen hatte. Ich glaube, ich hätte den Muth gefunden, ihm entschieden zu widersprechen, wenn er von seinen Todtenkränzen aus getrockneten Blumen angefangen.

In dem Moment, wo sich unsere Augen begegneten, sah ich auch das Wiedererkennen in den seinen – er war doch der Herr mit der blauen Brille.

„Ach sieh’ da! Das seltsame, kleine Mädchen, das noch nie Geld gesehen hatte!“ sagte er überrascht.

„Ja, Onkel, das Haideprinzeßchen, wie Dagobert sagt – die kleine, freie Haidelerche, die Euch Euer Geld vor die Füße geworfen hat und sich nicht so ohne Weiteres in den Vogelbauer stecken läßt!“ rief Charlotte lachend. „Nun, Kleine, machen Sie doch Ihre Reverenz vor dem alten Herrn!“

Es lief fein röthlich über das Gesicht des Herrn Claudius hin.

„Keine Possen, Charlotte!“ sagte er so ernst und streng, wie er Dagobert in der unglückseligen Schuhaffaire zurechtgewiesen hatte.

„Sind Sie damit einverstanden, daß das Geld in meine Hände niedergelegt wird?“ fragte er mich freundlich.

Es erschien mir so wunderlich, zum ersten Mal in meinem Leben ernstlich über einen Besitz verfügen zu sollen, daß ich lachen mußte. „Gehört es mir denn wirklich?“ fragte ich.

„I nu freilich – wem denn sonst?“ sagte Ilse ärgerlich.

„Es gehört mir so, wie meine Hand da, oder wie meine Augen – ich kann eben damit thun, was ich will?“ fragte ich beharrlich, aber auch fast athemlos vor Spannung weiter.

„Nein, so unumschränkt dürfen Sie augenblicklich noch nicht darüber verfügen,“ sagte Herr Claudius – er hatte wieder den milden, weichen Ton, wie in der Haide. „Sie sind noch viel zu jung. … Wenn ich die Papiere, behufs der Verwaltung, übernehme, dann müssen Sie mir auch über jede Summe, die Sie von mir einfordern, Rechenschaft ablegen.“

„Ach, dann ist’s nichts,“ sagte ich niedergeschlagen und traurig.

„Haben Sie einen speciellen Wunsch?“ Er bog sich nieder und sah mich fragend an.

„Ja, Herr Claudius, aber ich will ihn lieber nicht sagen – Sie erfüllen ihn doch nicht.“

„So – hm, woraus schließen Sie denn das?“ fragte er gelassen.

„Weil ich vorhin gesehen habe, daß Sie den armen Handwerksburschen ohne Almosen fortschickten,“ antwortete ich muthig.

„Ach so, Sie wollen Jemand unterstützen.“ Er blieb völlig unbewegt, mein indirecter Vorwurf hatte ihm nicht den mindesten Eindruck gemacht.

„Aber was fällt denn der Kleinen ein?“ rief Ilse ganz erstaunt. „Wen willst Du denn unterstützen, Kind? Du kennst ja auf der Gotteswelt Niemand!“

„Ilse, Du weißt es,“ sagte ich bittend. „Du weißt recht gut, wer jetzt in Noth ist und vielleicht jede Stunde zählt, bis Geld aus Hannover kommt –“

„Höre, Lenore, wenn Du mir damit kommst, da hat Alles ein Ende,“ unterbrach sie mich. Sie war so zornig, wie ich sie noch nie gesehen. „Ein für allemal, nicht ein Groschen wird hingegeben!“

„Nun, dann behaltet Euer Geld!“ rief ich heftig, während die hervorquellenden Thränen meine Augen verdunkelten. „Ich nehme aber auch nie einen Groschen davon – niemals, darauf kannst Du Dich verlassen, Ilse! … Lieber will ich in der Hinterstube Todtenkränze und Bouquets für Herrn Claudius binden!“

Er sah mich an. „Wer hat Ihnen denn schon von dieser Hinterstube erzählt?“

Meine Augen huschten unwillkürlich zu Charlotte hinüber. Sie erröthete und lachte.

„Charlotte hat gescherzt, Herr Claudius!“ sagte Fräulein Fliedner mild entschuldigend. Als mir die Thränen hervorbrachen hatte die alte Dame sofort ihren Arm um meine Schultern gelegt und mich an sich herangezogen. Ilse dagegen erbitterte mein „kindisches Wesen“ immer mehr. Sie legte ihre große, hartgearbeitete Hand schwer und dröhnend auf den Deckel des Blechkastens, als solle er damit gefeit und verschlossen werden für jeden unbefugten Eingriff.

„Herr Claudius, leiden Sie es ja niemals, daß Lenore Geld fortschickt!“ warnte sie dringend. „Ich sage Ihnen, thut sie es einmal, nachher ist auch schon ihr bischen Ererbtes so gut wie verloren! … Ich kann Ihnen das nicht so auseinandersetzen, – es ist eben eine schlimme Familiengeschichte, die begraben bleiben muß … o Herr Jesus, daß Einen solch ein junger Mund auch zwingt, so Etwas vor Anderen auszukramen! … Kurz und gut, es handelt sich um eine Verwandte, die Schande auf Schande über das Haus gebracht hat, die ausgestoßen ist –“

„Kennen Sie diese Anverwandte?“ fragte Herr Claudius, sich an mich wendend.

„Nein – ich habe sie nie gesehen und weiß erst seit vier Wochen, daß sie lebt –“

„Sie bittet um eine Unterstützung?“

„Ja, in einem Brief an meine todte Großmutter. … Aber Niemand will ihr Etwas geben. … Sie ist unter die Komödianten gegangen, sagt Ilse, und ist eine Sängerin –“

Ein heißes Erröthen schoß über das Gesicht des Mannes – er schlug den Folianten neben sich zu.

„Aber sie hat ihre Stimme verloren, ihre wunderschöne Stimme!“ fuhr ich fort und suchte angstvoll und bittend seine Augen – er wandte sie weg. „Wie schrecklich muß es sein, wenn man singen will, und die Töne versagen! … Ilse, Du bist doch so gut, wie kannst Du es nur über das Herz bringen, nicht zu helfen, wenn Jemand in Noth ist!“

„Wie viel beträgt die Summe, die Sie verlangen?“ schnitt Herr Claudius mit seiner ruhig milden Stimme meine leidenschaftlichen Bitten ab.

„Einige hundert Thaler,“ versetzte ich muthig.

Ilse schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

„Sie haben offenbar keinen Begriff, wie viel Geld das ist,“ sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Mag es doch sein, so viel es will. Ich gebe es freudig hin – wenn sie nur ihre Stimme wieder bekommt!“

„Ja, das glaube ich!“ lachte Ilse ingrimmig auf. „Solch ein Kindskopf handelt eben in’s Tageslicht hinein und fragt viel danach, was daraus folgt!“

„Ich will Ihnen das Geld geben,“ sagte Herr Claudius zu mir.

Ilse schrie förmlich auf.

„Seien Sie doch ruhig. Ich werde Sorge tragen, daß Fräulein von Sassen kein Verlust daraus erwächst – ich stehe dafür ein!“ Er griff in eine neben dem Schreibtisch stehende Cassette und legte mir vier Banknoten hin. Dann warf er mit flüchtiger Feder einige Worte auf einen Briefbogen „Haben Sie die Güte, diese Quittung zu unterschreiben.“ Er reichte mir seine Feder hin.

„Das muß Ilse thun – ich schreibe zu schlecht,“ sagte ich unbefangen.

[628] Ein verstohlenes Lächeln huschte durch seine Züge. „Das wäre nicht geschäftsmäßig,“ sagte er. „Wenn ich Ihnen das Capital gebe, dann genügt die Unterschrift der Frau Ilse nicht. … Ihren Namen werden Sie doch schreiben können?“ –

„O ja; aber Sie werden sehen, es sind schauderhafte Krakelfüße.“

Ich stieg auf die Estrade, setzte mich auf den gepolsterten Drehstuhl, den er mir zurechtschob, und sah vergnügt auf Fräulein Fliedner und Charlotte herunter, die Beide lachten. Wie lächerlich mochte aber auch die schmächtige Mädchengestalt mit der unförmlichen Rathsherrnkrause und den wilden Locken aussehen auf dem ehrwürdigen Comptoirstuhl, vor dem dicken, ernsthaften Folianten, über den sie kaum ihre kleine Nase zu erheben vermochte! … Ich lachte mit, und wie leicht kam mir das vom Herzen! Ich war ja so glücklich, daß ich das Geld für meine Tante erkämpft hatte.

Herr Claudius stützte seinen Arm auf den Schreibtisch, so daß seine Gestalt mich völlig von den Anderen schied. Ich ergriff die Feder und begann ein L zu malen.

„Das geht aber nicht,“ sagte ich und hielt inne, als ich bemerkte, daß er mich ansah. „Auf meine Hände dürfen Sie nicht sehen.“

„So, ist das verboten? Darf man fragen, weshalb?“

„Ei, sehen Sie das nicht selber? Weil sie so braun und abscheulich sind,“ sagte ich unumwunden und ein wenig geärgert darüber, daß er mich zwang, es auch noch selbst auszusprechen.

Er bog lächelnd den Kopf weg, und ich begann eifrig weiter zu schreiben – es gehörten doch aber auch gar zu viel Buchstaben zu dem Namen!

Da ging die Thür auf und der junge Herr trat eilig herein. Die feuerfarbene Nelke sprühte zu mir herüber, wie ein Gluthball – ich ließ die Feder fallen und legte die Hand über die Augen; mir war, als drehe sich die ganze Welt vor mir im Kreise.

„Onkel,“ rief er hastig, „ich bin mit dem Grafen Zell einig über den Preis – nur fünf Louisd’or mehr, als Du angenommen. … Ist Dir’s recht? Und willst Du Darling nicht einmal ansehen? Ich habe ihn in den Hof bringen lassen.“

„Herr Helldorf hat Dich gegrüßt, Dagobert,“ sagte Herr Claudius statt aller Antwort und zeigte auf den jungen Commis.

Dagobert neigte den Kopf flüchtig dankend hinüber und trat, sichtlich erstaunt und ergötzt über meine Situation am Schreibtisch, näher heran.

„Himmel, Dagobert, eine sentimentale Nelke im Knopfloch?“ rief Charlotte und schlug in die Hände. „Wie kommt denn die zu der Ehre?“

Dagobert lächelte verständnißvoll und schalkhaft zu mir hinüber. Ilse fing den Blick auf, der Allen auffallen mußte.

„Ach, thun Sie doch nicht, als wenn Ihnen die Kleine da oben die Blume geschenkt hätte!“ sagte sie trocken. „Er hat das arme Ding mit seinem Stock vor unseren Augen geköpft und läßt es nun auch noch in seinem Knopfloch elend umkommen,“ wandte sie sich erklärend, zum allgemeinen Ergötzen, an die Umstehenden.

Der junge Herr zuckte, in das Gelächter einstimmend, die Achseln.

„Aber wie ist’s denn nun, Onkel Erich, darf ich Dich bitten? Willst Du nicht mitkommen?“ fragte er, indem er die Sache auf sich beruhen ließ.

„Geduld – erst muß ein Geldgeschäft erledigt werden,“ sagte Herr Claudius. „Nun?“ wandte er sich wieder zu mir und nahm seine frühere Stellung ein.

Die Feder lag noch auf der Quittung, ich hatte jetzt beide Hände über das Gesicht gelegt, denn ich fühlte, daß es glühendroth sein müsse.

„Ich kann nicht,“ flüsterte ich.

„Gehe hinaus, Dagobert, damit kein Unfug im Hofe geschieht,“ gebot er. „Ich komme in wenig Augenblicken.“

Der junge Herr verließ das Zimmer.

„So, nun schreiben Sie,“ sagte Herr Claudius beschwichtigend zu mir und heftete seine blauen Augen durchdringend, aber freundlich auf meine heißen Wangen.

Ich vollendete die letzten Züge und schob ihm das Blatt hin. Zugleich griff ich nach seiner Hand; es geschah zum ersten Mal in meinem Leben einem Fremden gegenüber. „Ich danke Ihnen!“ sagte ich aus vollem Herzen.

„Wofür denn?“ fragte er in gütigem Ton zurück, Hand und Dank ablehnend. „Wir sind einfach in Geschäftsverbindung getreten, und dafür dankt man nicht.“

Ich stieg vom Fenstertritt herunter und legte meine Arme um Ilse’s Hals – ihr finsteres Gesicht ängstigte mich über die Maßen. „Ilse, sei gut,“ bat ich. „Das mußte sein. Siehst Du, nun kann ich auch wieder ruhig einschlafen.“

„Ja, ja, die Ilse ist nun auf die Seite geschoben und hat nichts mehr zu sagen,“ versetzte sie, aber sie wies mich nicht zurück. „Also das mußte sein. Nun meinetwegen – ich wasche meine Hände. … In der Haide konntest Du vor einem fremden Gesicht nicht drei zählen, und nun auf einmal, wo es gilt, Deinen Kopf durchzusetzen, und wo Du merkst, daß Du Andere auf Deiner Seite hast, da kannst Du schwatzen und lärmen wie eine Elster und hast Backen so heiß, wie die Bratäpfel. … Zum Segen fällt Dir die Geschichte nicht aus – denk’ an mich – dann kommst Du mir aber nicht mit Klagen!“

Sie löste meine Arme von ihrem Halse, nahm meine Hand in ihre Rechte und wollte das Zimmer verlassen.

„Halt!“ rief Herr Claudius, der sich unterdessen an seinen Schreibtisch gesetzt hatte und die Feder über das Papier fliegen ließ, „wollen Sie Fräulein von Sassen’s Vermögen ohne alle Bescheinigung in meinen Händen lassen?“

Jetzt wurden Ilse’s Wangen heiß, wie die Bratäpfel. Sie schämte sich, so alle Vorsicht aus den Augen gesetzt zu haben, sie, die Besonnene, die „den Kopf stets oben behielt“.

„Da ist nur Ihr gutes Gesicht schuld, Herr Claudius – bei jedem Anderen hätte ich ganz gewiß nicht vergessen, mir eine Bescheinigung auszubitten,“ entschuldigte sie sich verlegen und nahm das Papier in Empfang, während ich die Banknoten, die ohne Herrn Claudius’ Erinnern auch auf dem Tische liegen geblieben wären, in die Tasche schob – der strenge Geschäftsmann mochte einen schönen Begriff von der Gesellschaft aus der Haide bekommen.

„Gott, diese unausstehliche Pedanterie!“ rief Charlotte in der Hausflur. „Als ob nicht die ganze Welt wüßte, daß sich die Firma Claudius mit solch lumpigen paar tausend Thalern nie die Finger beschmutzen würde! … Aber da muß jeder Pfennig und jedes Samenkorn verbrieft und besiegelt werden!“

„Ordnung muß sein – vielleicht lernen Sie das doch noch einmal einsehen,“ sagte Fräulein Fliedner und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Mantille, die im vorderen Zimmer einen leichten Staubstreifen mitgenommen hatte.

Die junge Dame warf den Kopf zurück. „Jetzt wollen wir Darling ansehen,“ sagte sie statt jeder Antwort und sprang die Stufen zur Hofthür hinab.




14.

Der Hof war leer. Dagegen lagen beide Flügel der Gartenthür weit zurückgeschlagen an der Mauer, und aus dem Garten herüber scholl ein wüstes Geschrei und Toben, als ob Menschen und Thiere wild durcheinander liefen.

Herr Claudius war uns nachgekommen. Er horchte einen Augenblick befremdet, dann eilte er uns voraus in den Garten.

Mir schlug das Herz vor Angst und Mitleid bei Dem, was ich durch die offene Thür sah. … Ein scheugewordenes Pferd raste durch den Blumengarten. Wie ein Blitz fuhr das schlanke, rehähnliche Thier, dessen spiegelnden Rücken- und Weichenflächen die Sonne alle Nüancen der reinsten Goldfarbe entlockte, über den weiten, farbenbunten Plan und spottete mähneschüttelnd und in wilder Freiheitsfreude aufwiehernd aller der Hände und Füße, die es verfolgten. Mit einer wahren Wollust zerstampften die Hufe ein weites Levkoyenfeld, dann flogen sie schmetternd in die Scheiben des großen Glashauses. Hoch aufbäumend und zurückschaudernd vor dem Geklirr, stand der Goldfuchs einen Moment wie in Erz gegossen auf den Hinterhufen, aber auch nur einen Augenblick – pfeilschnell wandte er sich und stürmte weiter gegen ein Spalier, das, betropft von tausend prächtigen Purpurrosen, sofort zusammenbrach.

Alle Gartenarbeiter, die im Hause beschäftigten Leute, und [629] selbst die zwei Herren aus dem Comptoir, die jedenfalls den Lärm drinnen gehört, rannten im Verein mit Dagobert und einem betreßten Jockey auf und ab, und jetzt flog auch Charlotte, die bis dahin mit flammenden Augen neben mir gestanden, in den Garten hinein.

Wie aus der Erde gewachsen stand plötzlich die hohe, kräftige Gestalt im hellen wehenden Kleide inmitten des Weges, auf welchem das Thier in blinder Raserei herantoste – es fuhr schnaubend vor der befremdlichen Erscheinung zurück; aber mit einer einzigen gewandten und raschen Bewegung hatten die zwei schlanken, kraftvollen Damenhände den Zügel erfaßt und hielten ihn eisern fest, und das kühne Mädchen ließ sich um einige Schritte weit fortschleifen, bis sich von allen Seiten die rettenden Hände herüberstreckten und das ungeberdige Thier festhielten.

„Charlotte, Du bist ein Prachtmädel!“ rief Dagobert, noch athemlos, aber stolz und jubelnd, und küßte seine Schwester ohne [630] Weiteres auf die Stirn. Neben ihr stand der junge Mann aus dem Comptoir – bleich wie ein Gespenst, mit versagenden Blicken – er war der Erste, der ihr zu Hülfe gekommen. … Ich sah Charlottens Auge sein Gesicht streifen – sie wurde dunkelroth; aber auch sofort wandte sie sich leichthin mit einer so gleichgültigen Bewegung ab, als schwebe ihr ein geringschätzendes „Ah bah!“ auf den Lippen.

Alle bewunderten einstimmig ihre Kraft und Kühnheit, ich selbst hätte ihr die kraftvollen Hände küssen mögen – nur Herr Claudius hatte kein Wort für sie.

„Wer hat beide Flügel der Gartenthür aufgemacht?“ fragte er streng und trat mitten unter die Leute, die sofort ehrerbietig auseinanderstoben.

„Ich wollte die Blumen auf den Tischen bei Banquier Tressel erneuern und hatte zwei Leute mit der großen Trage bei mir, und da mußten beide Flügel der Thür aufgemacht werden,“ sagte der Gärtner mit der sanften Stimme, der uns gestern Morgen im Garten den Weg gezeigt. „Vor den großen Oleanderbäumen auf der Trage mag wohl auch das Pferd gescheut haben.“

Herr Claudius schwieg. Er sagte weder ein tadelndes Wort zu Dagobert, der das fremde Pferd in den Geschäftshof gebracht, noch schalt er den Jockey dafür, daß er dasselbe nicht besser gehütet. Auch über die Zerstörung im Garten fiel nicht eine Bemerkung von seinen Lippen. Er betrachtete den schweißtriefenden Goldfuchs aufmerksam. Es war ein schönes Thier, aber in der Art und Weise, wie es den Kopf gesenkt hielt und ihn dann unversehens zurückwarf, lag etwas Tückisches.

Unterdeß hatte sich Dagobert auf den Rücken des Pferdes geschwungen, und plötzlich flogen Roß und Reiter wieder in den weiten Hof zurück. … Das war nun freilich ein herrlicher Anblick. Nach kurzer, leidenschaftlicher Gegenwehr fügte sich das Thier seinem Herrn und Meister und gehorchte scheinbar dessen feinstem Winke.

Wie verschwanden alle die Männer, die umherstanden, selbst der auffallend schöne, junge Helldorf nicht ausgenommen, vor dem Tancred dort mit dem kastanienbraunen Gelock! … Nur an dem jähen Aufschießen einer hellen Purpurröthe über die Wangen des Reiters hin sah man, daß das Pferd insgeheim Widerstand leiste, die elastische Gestalt des erstern ließ keine erhöhte Kraftanstrengung merken.

„Onkel,“ rief er herüber, „verzeihe Darling seine Unart um seiner herrlichen Eigenschaften willen! … Ist er nicht prächtig? Sieh ihn Dir an! Mit seinem zierlich elastischen Bau, dem kleinen Köpfchen auf dem schlanken Halse, fein wie eine graziöse Dame, hat er Muth und Feuer wie ein Held … Onkel, sein Besitz macht mich zu glücklich!“

„Das thut mir sehr leid, Dagobert, denn ich kaufe ihn nicht. … Der Herr Graf mag ihn selbst reiten,“ sagte Herr Claudius bedauerlich, aber sehr fest, und ging, den angerichteten Schaden zu besehen.

Mit einem Satz sprang Dagobert von dem Thier herab und reichte dem malitiös lächelnden Jockey den Zügel hin, „Ich lasse den Grafen grüßen und werde weiter mit ihm sprechen,“ sagte er mit fliegendem Athem.

Der Mensch ritt fort, und die Umstehenden zerstreuten sich schleunigst, um auf ihren Posten zurückzukehren.

[641] Charlotte hing sich an den Arm ihres Bruders und sah ihm zärtlich in das heißgeröthete Gesicht. Sie zog ihn über die Schwelle in den Garten, wo auch bereits Fräulein Fliedner und Ilse eingetreten waren und rasch nach dem zertrümmerten Gewächshaus zuschritten. Mich hatte man total vergessen. Ich ging hinter den Geschwistern her, die den Weg nach der Brücke einschlugen.

„Nicht wahr, da stand ich nun wieder einmal da, wie ein gemaßregelter Schulbube?“ stieß Dagobert zwischen den Zähnen hervor – seine Stimme klang halberstickt, als schnürten ihm Groll und Grimm die Kehle zu. – „Mich empört nichts mehr, als diese scheinheilige Ruhe bei Allem! … Er kauft das Thier aus zweierlei Gründen nicht – einmal, weil es ihn durch seine Unart um ein paar Bouquetgroschen und einige Samendüten gebracht hat, und dann will sein Spießbürgerhochmuth mit dem aristokratischen Verkäufer nichts zu thun haben; lieber läßt er sich von dem ersten besten Juden betrügen. … Aber davon verlautet beileibe kein Wort! Er schweigt, thut, als bemerke er den Schaden gar nicht, und rächt sich einfach durch unmotivirtes Zurückweisen. … Und dieses plötzliche Herausbeißen cavalierer Manieren und Kenntnisse! Lächerlich! Er, der nie auf einem anderen Rücken als dem seines einbeinigen Comptoirstuhles gesessen hat, er giebt sich plötzlich das Ansehen eines Sachverständigen, mustert mit Kennermiene ein Pferd –“

„Du, damit sei nicht so vorschnell!“ unterbrach ihn Charlotte. „Ich habe im Gegentheil den Onkel sehr im Verdacht, daß er einst, vorzüglich in Paris, das cavaliere Leben und Treiben mitgemacht hat, nicht aus Passion – Passionen hat er nicht, die eine für die Arbeit ausgenommen – aber vielleicht um der Mode willen, was weiß ich!“ Sie zuckte die Achseln und sah zurück nach dem Rosenspalier, das eben unter Herrn Claudius’ Anleitung wieder aufgerichtet wurde.

„Gegen diesen eisernen Schild der Kälte und Berechnung vermögen wir Beide nichts!“ fuhr sie hinüberdeutend fort. „Da heißt es, die Zähne zusammenbeißen, die Hand auf das heiße, unruhige Herz pressen und abwarten, bis ein erlösender Stern über uns aufgeht.“

Sie hatte mich beim Umdrehen bemerkt und reichte mir unbefangen die Hand hin, um mich zu führen. Dagobert dagegen fuhr vor meiner kleinen Person erschrocken zurück; es war ihm sichtlich fatal, einen Zeugen hinter sich gehabt zu haben. … Hätte er nur gewußt, wie es in diesem Augenblick in mir aussah! Meine Finger umklammerten die Banknoten in der Tasche – ich hätte sie am liebsten dem Manne da drüben an der Rosenhecke hingeworfen, wie in der Haide seine Thaler; diesem Eisblock, der bei äußerer milder Freundlichkeit und scheinbarer Güte die zwei jungen, herrlichen Wesen tyrannisirte und sie seine Macht fühlen ließ. … Hatten sie denn gar Niemand weiter auf der Welt, als diesen alten, hartherzigen Onkel? … Ich war ihre enthusiastische Verbündete, ohne daß sie es ahnten.

Dagobert verabschiedete sich an der Brücke von uns; er ging in die Stadt. Wie gut und edel mußte er sein! Bei allem innern Groll ging er doch erst noch hinüber zu dem Onkel und verabschiedete sich von ihm, als sei nichts vorgefallen.

Charlotte schritt langsam neben mir her und sagte, sie wolle sich ein Buch in der Bibliothek holen.

„Kommen Sie her, Kleine,“ sagte sie ihren Arm um meine Schultern legend; – sie zog mich im Weiterschreiten eng an sich heran, so daß ich die starken, heftig pochenden Schläge ihres Herzens fühlen konnte. „Ich mag Sie gern. Sie haben Charakter und ein muthiges Herz in Ihrem Liliputkörperchen. … Es gehört schon Muth dazu, in Onkel Erich’s Augen zu sehen und etwas von ihm zu verlangen.“

„Haben Sie denn keinen Vater oder wenigstens eine Großmutter?“ fragte ich, mich an sie anschmiegend, und sah schüchtern empor in ihr schönes Gesicht, das noch das Gepräge der Aufregung trug. Mir fiel in diesem Moment ein, daß ich selbst bei meiner geisteskranken Großmutter ein glückliches Kind hatte sein dürfen.

Sie sah lächelnd auf mich nieder. „Nein, Prinzeßchen, auch keine Großmutter, die mir neuntausend Thaler hinterlassen könnte – o Gott, wie wollte ich da den Staub von meinen Füßen schütteln! … Wir sind sehr früh Waisen geworden. Mein Vater ist Anno 44 am Isly in Marocco gefallen – er war französischer Officier. Als er Frankreich verlassen hat, lag ich noch in den Windeln – ich weiß nicht einmal, wie er ausgesehen –“

„Vielleicht wie Herr Claudius – er war doch wohl sein Bruder?“

Sie blieb stehen, zog ihren Arm zurück und schlug auflachend die Hände zusammen.

„O, Kind Gottes, Sie sind doch köstlich naiv! … Ein Claudius in französischen Diensten! … Ein Sohn aus dem [642] urrespectablen, urdeutschen Hause der Samendüten! … Na, das würde seinen ehrwürdigen, steifen Zopf schön geschüttelt haben! … Nein, nein, in uns ist nicht ein Atom dieses biderben deutschen Krämerelements! Dagobert und ich, wir sind Franzosen durch und durch, Franzosen mit Leib und Seele! … Gott sei Dank, wir haben auch nicht einen Tropfen dieses Fischblutes in unseren Adern! … Adoptivkinder sind wir – Onkel Erich hat uns angenommen, Gott mag wissen, weshalb – aus mitleidig gerührtem Herzen ganz gewiß nicht! … Das klingt vielleicht abscheulich gerade aus meinem Munde; aber ich kann es nun einmal nicht glauben!“

Sie umschlang mich wieder und ging langsamen Schrittes weiter.

„Diese Aufnahme in sein Haus wäre an und für sich ja ganz edel und lobenswerth, und ich würde gewiß nicht die Letzte sein, die ihm dafür dankte,“ fuhr sie fort; „wenn sich nur nicht gerade auch hier wieder der crasseste Despotismus so sichtbar zeigte. Er hat uns seinen Namen octroyirt – während wir Méricourt heißen, müssen wir uns Claudius nennen, Claudius schreiben. … Claudius, was für ein schrecklicher, bockbeinig steifer, spießbürgerlicher Name! … Wenn er den das deutsche Ohr bestechenden Namen Méricourt einigermaßen aufwiegen wollte, dann müßte er wenigstens das ‚von‘ vor sich haben. … Wir haben durchaus keine Ursache, für diesen unfreiwilligen Umtausch dankbar zu sein! Er hängt uns die Krämerfirma an die Stirn und ist ganz besonders hinderlich bei Dagobert’s Carrière als Soldat.“

„Er ist ein Soldat?“ rief ich erstaunt. Fräulein Streit hatte oft genug ausführlich beschreibend von dem zweifarbigen Tuch mit den blanken Knöpfen erzählt, das einst auch im Hause meines Vaters Zutritt gehabt hatte.

„Nun, wundert Sie das so sehr? … Ach so. Sie haben ihn ja noch nicht im Lieutenantsrock gesehen! Aber ich sollte meinen, man erkenne auch im Civil sofort den Officier in ihm. Er liegt in Z. in Garnison und ist auf mehrmonatlichen Urlaub hier. … Ich bin stolz auf Dagobert. Wir harmoniren zusammen und ergänzen uns gegenseitig, wie selten ein paar Geschwister. Wir lieben uns vielleicht um deswillen noch mehr, als wir lange, lange getrennt gewesen sind. Ich habe von meinem dritten Lebensjahre an bis vor zwei Jahren im Institut gesteckt und er zuerst in einer Professorenfamilie und dann im Cadettenhause.“

Wir traten heraus auf das Parterre vor der Karolinenlust.

„Komm, Hans, komm!“ rief Charlotte. Der Kranich, der eben wieder am Deiche Posten stand, rannte auf sie zu wie ein feuriger Anbeter; von verschiedenen Seiten stürzten Pfauen und Perlhühner herbei und hier und da blinkte auch ein Fasanengefieder auf, aber es schlüpfte sofort wieder in das Gebüsch zurück – meine Anwesenheit verscheuchte die scheuen Thiere.

„Nun sehen Sie nur diese unverdiente Liebe von allen Seiten!“ lachte Charlotte. „Die ist wirklich mühelos erworben; ich füttere die Thiere nie und schmeichle ihnen nicht, und doch verfolgen sie mich auf Tritt und Schritt, sobald sie meine Stimme hören. Ist das nicht seltsam?“

Ich fand es ganz und gar nicht seltsam. Lief ich doch selber schon wie ein von ihr verwöhntes, aber darum auch enthusiastisch treues Hündchen neben ihr her. Ich war noch viel zu unerfahren und urtheilslos, um die Macht ihrer Persönlichkeit auf einzelne Eigenschaften zurückführen zu können. Jedenfalls war es hauptsächlich die unglaubliche Sicherheit und Kraft in ihrer Gesammterscheinung und in jedem ihrer mit fester, klangvoller Stimme gesprochenen Worte, was mir imponirte und mich so bestrickte, daß ich sie selbst und Alles, was sie sagte, bereits wie ein geoffenbartes Evangelium hinnahm – daß sie auch irren und Unrecht haben könne, wäre mir nicht eingefallen.

„Wo sind denn die Leute hingereist, die da drin wohnen?“ fragte ich und zeigte auf die versiegelten Thüren, als wir in der Karolinenlust die Beletage durchschritten.

Charlotte sah mich groß und zweifelhaft an, als sei es nicht ganz richtig bei mir; dann lachte sie laut auf. „Versiegelt man denn bei Ihnen zu Lande die Thüren, wenn man verreist? Hat etwa auch Frau Ilse den Dierkhof versiegelt? … Ha, ha, ha! Wo die Leute hingereist sind? … In den Himmel, Kleine!“

Ich erschrak heftig. „Sie sind gestorben?“

„Nicht sie, sondern Er. … Ein lediger junger Herr hat die Beletage bewohnt, Lothar, Onkel Erich’s älterer und einziger Bruder – ein prachtvoller Officier. Sie werden sein sehr schön gemaltes Oelbild kennen lernen, es hängt im Vorderhause, im Salon –“

„Und er ist todt?“

„Todt, Kindchen, wirklich, unwiderruflich todt. … Er ist am Schlagfluß gestorben, wie die officielle Todesanzeige besagt – ganz insgeheim aber hat er sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Die Welt bringt seinen Tod mit einer Prinzessin des herzoglichen Hauses in Verbindung –“

„Heißt diese Prinzessin Sidonie?“ fuhr es mir heraus.

„Ei, der kleine Wildling aus der Haide hat auch genealogische Kenntnisse? … ‚Hieß,‘ müssen Sie übrigens sagen, denn Prinzessin Sidonie ist auch längst gestorben – einige Tage vor dem Tode des schönen Officiers. … Das ist eine längst verschollene Welt, über die Niemand etwas Bestimmtes weiß, ich aber am allerwenigsten. Ich weiß eben nur, daß die Siegel da kleben und nach der letzten Verfügung des ehemaligen Bewohners dran bleiben sollen, bis – na, bis an das Ende aller Tage – will’s Gott! … Hineingucken möchte ich schon einmal – so ganz verstohlen. Aber da ist ja Alles verrammelt und verbarrikadirt für die Ewigkeit, und Onkel Erich wacht wie ein Argus über den Siegeln.“

Himmel, wenn der unerbittliche Mann mit dem durchdringenden Blick je erfahren sollte, daß die Fremde bereits hinter den Siegeln umhergehuscht war! Ein Zittern durchlief meine Glieder, und ich preßte die Lippen fest auf einander – daß mir um Gotteswillen nur nie das unselige Geheimniß entschlüpfte! … Kaum in die Welt eingetreten, hatte ich schon etwas vor ihr zu verbergen, ich, deren Gedanken und Plaudereien bis dahin so zwanglos, so frank und frei hinausgeflattert waren wie meine wilden Locken im Haidewinde.

Unterdeß war auch Ilse, hinter uns her, die Treppe heraufgekommen und schalt mich, daß ich „ihr durchgebrannt sei, derweil sie sich das Unheil im Gewächshause angesehen“.

„Das ist ja eine schöne Geschichte, die das gräuliche Thier angerichtet hat!“ sagte sie ganz entrüstet. „Zwei von den großen theuren Glasscheiben sind total zerschlagen, und einen großen Baum hat es mit dem einen Tritt auch umgeworfen – die schönen rothen Blumen liegen wie hingeschneit an der Erde herum. … Und da ist der Mann mäuschenstill und sagt kein Wort – das hätte mir passiren sollen!“

„Onkel Erich hat Camelien genug,“ sagte Charlotte leichthin und spöttisch, „die paar abgeknickten Blüthen zählen nicht! … Uebrigens glauben Sie ja nicht, daß auch nur eine einzige unbezahlt bleibt; die werden auf Draht gesteckt und kommen in die Bouquets, die auf heute Abend zu einem Bürgerball massenhaft bestellt sind. Bei uns kommt nichts um – darauf können Sie sich verlassen.“

Sie öffnete die Thür des Bibliothekzimmers; ich aber drängte mich neben ihr hinein und lief nach der Fensterecke, wo mein Vater arbeitete. Nein, sie durfte es nicht sehen, wie er so lächerlich auffuhr von seiner Schreiberei und so hülf- und verständnißlos in die Welt hinein sah! Sie durfte nicht lachen, ich litt es nicht!

„Vater, wir sind wieder da,“ sagte ich und legte meinen Arm um seinen Hals, so konnte er nicht emporfahren, und er that es auch gar nicht, er schlug nur die Augen auf und sah lächelnd in mein vorgeneigtes Gesicht. Ich war überglücklich – er kannte bereits meine Stimme, und ich hatte Macht über ihn.

„So, kleiner Schalk, so überrumpelst Du mich?“ scherzte er und klopfte meine Wange. „Wenn Du aber ganz so werden willst wie Deine liebe Mama, dann darfst Du nur ganz, ganz leise die Hand auf meine Stirn legen oder eine Blume auf mein Manuscript fallen lassen und mußt husch wieder draußen sein, ehe ich mich nur besinnen kann, wer es gewesen.“

Mir gab es jedesmal einen schmerzenden Stich durch’s Herz, wenn er meine Mutter, die er über Alles geliebt haben mußte, in der Weise erwähnte – für ihn hatte sie tausend zartsinnige Aufmerksamkeiten gehabt, aber ihr einsames Kind hatte nicht für sie existirt.

Jetzt sah mein Vater auch Charlotten. Er sprang auf und verbeugte sich.

[643] „Ich habe Ihnen Ihr Töchterchen wiedergebracht,“ sagte sie. „Herr Doctor, Sie müssen schon erlauben, daß auch die ‚Unwissenschaftlichen‘ im Vorderhause ein wenig herummeißeln und bilden dürfen an der kleinen wilden Hummel von der Haide.“

Er dankte ihr herzlich für ihr Anerbieten und gab ihr unumschränkte Vollmacht. Dabei rieb er sich plötzlich besinnend die Stirn. „Da fällt mir eben ein, – ach ja, ich bin manchmal ein wenig vergessen –, ich habe ja gestern auch auf einige Augenblicke die Prinzessin Margarethe gesprochen; ich erwähnte beiläufig Deine Ankunft, mein Kind, und sie sprach lebhaft den Wunsch aus, Dich nächste Woche zu sehen. Sie hat Deine Mama gekannt, als sie noch Hofdame am Hofe zu L. war.“ –

„Sie Glückliche!“ rief Charlotte. „Einen altadeligen Namen, einen hochberühmten Vater und eine Mutter, die Hofdame gewesen ist – wahrhaftig, die Götter haben ihr Füllhorn über Sie ausgeschüttet! Und das erscheint Ihnen wohl gar nicht einmal wünschenswerth?“

„Nein – ich fürchte mich vor der Prinzessin!“ versetzte ich scheu und ängstlich und drückte mich neben Ilse.

„Fürchte Dich nicht, Lorchen; Du wirst sie sofort liebgewinnen,“ tröstete mich mein Vater; Charlotte aber zog die prächtigen, schöngeschwungenen Brauen zusammen.

„Haideblümchen, seien Sie nicht kindisch!“ schalt sie. „Die Prinzessin ist sehr liebenswürdig. Sie ist die Schwester der Prinzessin Sidonie, von der wir eben noch gesprochen haben, und die Tante des jungen Herzogs. Sie macht die Honneurs an seinem Hofe, denn er ist noch nicht verheirathet, und soll ganz besonders lieb und gut gegen die kleinen, schüchternen und – nehmen Sie mir’s nicht übel – ein wenig albernen jungen Mädchen sein, die sich vor der ersten Vorstellung bei Hofe fürchten. … Also beruhigen Sie sich, Kleine!“

Sie drehte mich an den Schultern hin und her.

„Wollen Sie der Prinzessin Ihr Töchterlein so vorstellen?“ fragte sie meinen Vater und zeigte mit einem wahren Koboldlächeln ihre perlmutterweißen Zähne.

Er sah sie unsicher und verständnißlos an.

„Nun, ich meine, in diesem vorsündfluthlichen Costüm?“

„Hören Sie ’mal, Fräulein,“ fiel Ilse scharf ein, „in dem Kleide da hat meine arme Frau um den gnädigen Herrn getrauert. Dazumal war sie auch noch stolz und vornehm, und das Kleid ist ihr gut genug gewesen, und da wird es ja wohl der Frau Prinzessin auch nicht schaden, wenn sie die Kleine drin ansieht.“

Charlotte lachte ihr in’s Gesicht. „Vor wie viel Jahren war das, gute Frau Ilse?“

Jetzt ging auch meinem Vater ein Licht auf. Er strich sich mit der Hand über die Stirn. „Hm, darum handelt sich’s? … Ja, ja, Sie haben Recht, Fräulein Claudius, so ist Lorchen nicht ganz präsentabel. Ich erinnere mich – meine verstorbene Frau hatte einen exquisiten Geschmack und ist ja auch später noch viel mit mir zu Hofe gegangen. Liebe Ilse, drunten im Erdgeschoß, unter meinen Effecten müssen noch zwei Koffer voll Toilettengegenstände sein – nach dem schmerzlichen Ereigniß hat sie die damalige Wirthschafterin gepackt –“

„Daß Gott erbarm, das sind jetzt über die vierzehn Jahr her!“ rief Ilse die Hände zusammenschlagend. „Und das Alles ist nicht einmal aufgemacht und gelüftet worden?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ach, Sie arme Creatur!“ jubelte Charlotte förmlich auf und schlang den Arm um mich. „Da muß ich retten, sonst hat die Residenz ein Gaudium, wie noch nie! … Ich werde für Alles sorgen, Herr Doctor!“

„So – und wer bezahlt’s denn?“ fragte Ilse trocken.

Mein Vater machte ein sehr verdutztes Gesicht und sah seltsam ängstlich drein – er schlang die Finger ineinander und ließ sie in den Gelenken krachen.

Charlotte bemerkte das sehr wohl. „Ich spreche sofort mit dem Onkel,“ sagte sie.

„Der kann der Kleinen auch kein anderes Geld geben, als ihr selber gehört,“ fiel Ilse beharrlich ein, „und da haben wir ja gleich die Bescheerung; da fliegt das bischen Vermögen für Lappen und Firlefanz in alle vier Winde, ehe wir es uns versehen.“

„Nun meinetwegen, behalten Sie Ihr Geld in der Tasche!“ rief Charlotte ärgerlich. „Ich gebe ihr meine neueste Toilette, die der Schneider erst gestern gebracht hat. … In dem Aufzug lasse ich die Kleine nicht an den Hof – dazu habe ich sie schon viel zu lieb!“

Ich neigte den Kopf seitwärts und küßte verstohlen die volle, weiße Hand, die meine Schulter umschloß. Ilse sah diese Bewegung; sie schüttelte den Kopf, und ein niegesehener, wehmüthig bitterer Zug stahl sich in ihr Gesicht. Ich glaube, sie bereute heute schon zum zweiten Mal tief, mich in das Haus der „vernünftigen Leute“ gebracht zu haben.

Noch hatte sie übrigens keinen Grund zur Besorgniß; noch mischte sich in das Dankgefühl, mit welchem ich Charlottens Hand küßte, nicht eine Spur von befriedigter Eitelkeit. Ich dachte nicht im Entferntesten daran, daß ich ohne die dicke Mullkrause, von der mich Charlotte kühn befreite, schöner aussehen könne – mein braunes Gesicht wurde wohl auch über einem so zarten Spitzenkragen, wie die junge Dame ihn trug, nicht um einen Schein weißer, und die kleinen Ohren, die sich bei dem leisesten inneren Angstgefühl stets so heiß rötheten, fuhren sicher ebenso lächerlich daraus empor wie aus den weißen Mullwogen. Aber auch das erwog ich nicht einmal in diesem Augenblick – ich dankte einzig und allein für die Liebe, die mir entgegengebracht wurde.

Charlotte verabschiedete sich von meinem Vater, ohne das gewünschte Buch mitzunehmen; meine Vorstellung bei Hofe schien hinter der festen weißen Stirn einen wahren Wirbel von Gedanken erregt zu haben. Sie versicherte mir drunten in der Halle nochmals, für Alles Sorge tragen zu wollen, ermahnte mich noch einmal ernstlich, meine „völlig unmotivirte Scheu und Aengstlichkeit“ zu besiegen, und eilte in das Vorderhaus zurück.

„Du ziehst die geborgten Sachen natürlich nicht an,“ sagte Ilse zu mir, während Charlotte jenseits des Teiches im Bosquet verschwand. „Deine selige Großmutter müßte sich ja in der Erde umdrehen. … O Herr Jesus, nun muß ich auch gar noch selbst Herrn Claudius bitten, daß er das Geld für den Firlefanz ’rausgiebt! … Sie werden eine schöne Putzdocke aus Dir machen in dem Hause da vorn!“

Als wir in das Wohnzimmer traten, wo das Stubenmädchen eben den Tisch deckte, kam uns auch der alte, freundliche Gärtner entgegen und sagte mir, daß er im Auftrag des Herrn Claudius in meinem Zimmer einen Blumentisch aufgestellt habe.

Mit Mühe suchte ich ein paar steife Worte des Dankes zusammen – ich wollte ja die Blumen des Herrn Claudius gar nicht haben; mochte er sie doch lieber verkaufen, der engherzige Zahlenonkel! … Ich ging auch durchaus nicht hinein, um sie anzusehen. Aber Nachmittags, in einer der heißesten und drangvollsten Stunden meines ganzen bisherigen Lebens, saß ich doch neben ihnen; denn sie beschatteten halb und halb meinen Schreibtisch. … Meinen Schreibtisch! Welche Ironie lag darin, mir einen Tisch hinzustellen, auf welchem ausschließlich geschrieben werden sollte! … Und nun saß ich doch d’ran und schwitzte vor Seelenangst und Mühe; denn ich sollte und mußte einen Brief schreiben – den ersten in meinem Leben. Ilse war unerbittlich gewesen. „Siehe Du nun auch, wie Du mit der eingerührten Geschichte fertig wirst; nicht einen Finger rühre ich darum!“ hatte sie mitleidslos und entschieden erklärt und mich mit meiner Riesenaufgabe allein gelassen.

„Liebe Tante! Ich habe Deinen Brief gelesen. Es thut mir in der Seele weh, daß Du Deine schöne Stimme verloren hast, und da meine liebe Großmutter gestorben ist, so schicke ich Dir das Geld,“ besagten die durcheinanderquirlenden, schwarzen Buchstaben auf dem weißen Papierblatt, das vor mir lag. Der Anfang war glücklich gefunden, und ich schlug die Augen auf nach weiterer Eingebung von außen.

Ein köstlicher Duft strömte mir zu; ja, da stand der Blumentisch; prachtvolle, blaßgelbe Theerosen hingen schwer herüber, und – o Himmel – um alle diese hochstrebenden blüthenbeschneiten Rosen-, Azaleen- und Camelienbäume legte sich drunten ringsum ein Kranz von blühenden Haidebüschen! Das hatte der alte Gärtner doch zu sinnig ausgedacht! … Ich warf die Feder hin und griff mit beiden Händen in die Blüthenrispen. … Da stieg es auf, das bienenumsummte Dach mit der Haidegarnitur unter jeder Ziegelreihe, und von den Eichenwipfeln schrieen die Elstern in den stillen Baumhof hinab. Die alte Föhre trug die ganze Last der glühenden Nachmittagssonne auf ihren struppigen Zweigen, und in dem roth- und lilafarbenen Haideteppich blinkten die gelben [644] Ginsterblüthen wie eingestickte Goldsternchen. … Blaue Schmetterlinge! Ich lief ihnen nach bis unter die Birke, in das dicke Erlen- und Weidengebüsch hinein, und, husch, fuhren meine nackten, heißen Füße in den köstlich kühlen, dunklen Haidefluß! … Ich schrak empor und zog die Hände zurück und tunkte auf’s Neue tief und zornig die Feder in das tückische Schwarz, das die Menschen zu meiner Qual erfunden.

Aber nun weiter! „Ich wohne mit meinem Vater bei Herrn Claudius in K., wenn Du mir vielleicht schreiben und mir sagen willst, ob Du das Geld richtig durch die Post bekommen hast.“ – Punctum! Das war ganz gut so, aber ob sie es lesen konnte? Ilse sagte immer, man könne keinen Sinn in meiner Schreiberei finden, weil die Buchstaben „gar so falsch nebeneinander stünden“. – Ach, da fing draußen der Kranich an zu tanzen, und eine Schaar Perlhühner flüchtete scheu hinter die steinerne Teicheinfassung – Dagobert trat drüben aus dem Bosquet; er hieb im raschen Weiterschreiten mit seinem schlanken Stöckchen durch die Luft und schritt stracks auf die Karolinenlust zu. … Ich duckte mich ganz erschrocken nieder, denn er sah unverwandt nach dem Fenster, an welchem ich saß. Nein, nein, er kam nicht herein – es wäre doch zu einfältig gewesen, wenn ich meinem ersten, blitzschnellen und angstvollen Gedanken gehorcht und die Thür verriegelt hätte! … er ging hinauf in das Bibliothekzimmer; ich hörte noch seinen verhallenden Tritt droben auf der letzten Stufe der Steintreppe. … Gott, was Alles geschah doch in der Welt und wie viel gab es zu sehen und zu erleben, und doch gab es Menschen, die den ganzen Tag schrieben und sich über das starre, leblose Papier bückten, wie zum Beispiel Herr Claudius über seinen großen Folianten im Vorderhause! …

Nun noch die Unterschrift: „Deine Nichte Leonore von Sassen“, und schließlich die Adresse, die ich mühsam, Buchstaben um Buchstaben, von dem zerknitterten Brieffragment meiner Tante copirte. … Gott sei Dank! Das war der erste, aber auch ganz gewiß der letzte Brief, den ich geschrieben – ich wollte es nie wieder thun! … Da lag die Feder wieder auf dem altfränkischen Tintenfaß, wo ich sie vorgefunden – ich gönnte ihr von Herzen die ewige Ruhe einer Dahingeschiedenen.

Ilse mußte, wohl oder übel, die fünf Siegel auf das Couvert drücken; dann trug sie den Brief zornig, mit spitzen Fingern, als brenne er, aber doch eigenhändig auf die Post – fremden Händen mochte sie um alle Welt das viele Geld nicht anvertrauen.

Dieses mein armseliges Schriftstück und seine Folgen lassen mich stets an einen kleinen unschuldigen Vogel denken, der unbewußt das Samenkorn eines schlimmen, überwuchernden Unkrautes in ein künstlich angelegtes Blumenbeet trägt.




15.

Die Firma Claudius war sehr alt. Sie hatte schon geblüht und einen bedeutenden Ruf gehabt, als der Tulpenschwindel von Holland aus durch die Welt lief, in der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts, wo für drei Zwiebeln des Semper Augustus die unserm Jahrhundert völlig unbegreifliche Summe von dreißigtausend Gulden gezahlt wurde. Aus jener Zeit hauptsächlich stammte das große Vermögen der Claudius. Sie hatten sich dieses Zweiges der Blumenindustrie bemächtigt und die kostbarsten Tulpenexemplare erzielt. Man erzählte sich, viele der berühmtesten Species seien aus den geschickten deutschen Händen der Claudius hervorgegangen, man habe sie in Holland um fabelhafte Preise angekauft, adoptirt und unter holländischem Stempel in den Handel geschickt. … Je mehr aber die Reichthümer des Handlungshauses sich angehäuft, desto ehrbarer, einfacher und zurückhaltender gegen die Welt und ihre Freuden waren die verschiedenen Chefs der Firma geworden. Sie hatten die strengste bürgerliche Einfachheit und Schlichtheit aufrecht erhalten, und durch eine ganze Reihe von Testamenten und letztwilligen Verfügungen lief – für den jedesmaligen Nachfolger – eine ernste Mahnung zur Zucht und Ehrbarkeit und zum Fernhalten von jedwedem Luxus unter Androhung der Enterbung im Fall des Ungehorsams.

So kam es, daß die äußere Physiognomie des dunklen, steinernen Hauses in der abgelegenen Mauerstraße nie eine verschönende Restauration erfahren hatte. … Sie mußten Alle darin wohnen, wie sie nach einander folgten, und das Geschäftslocal, die große steingewölbte Stube mit den braunen Ledertapeten, sah heute noch genau so aus, wie dazumal, wo in ihr jene kostbaren Zwiebeln verpackt wurden, aus denen, vor den entzückten Augen der fieberhaft erregten Tulpen-Fanatiker, die despotisch herrschende Blumenkönigin in neuem Farbenspiel emporsteigen sollte.

Die alten Herren, die mit einer Hand zarte Blumengestalten pflegten und mit der andern eiserne Ketten und Panzer um ihr nachfolgendes Geschlecht zu gürten suchten, hätten doch am besten wissen sollen, daß Abart oder Varietät bei ihrem Durchbruch nicht nach dem Gängelband der Gesetze fragt, und wenn sie weise gewesen wären, hätten sie diese Blumenerfahrung auch zu Gunsten der Menschennatur gelten lassen.

Eberhard Claudius, ein geistig offenbar sehr bedeutender Mensch, hatte unter den beengenden Traditionen des Hauses jedenfalls schwer leiden müssen, aber er hatte sich zu helfen gewußt. Wie man sich erzählte, war seine schöne, vornehme und leidenschaftlich geliebte Frau in den düsteren Räumen des Vorderhauses schwermüthig geworden. … Da waren – ohne daß die Welt es ahnte – eines Tages fremde Arbeiter gekommen, hatten unter Anleitung eines französischen Baumeisters inmitten des umfangreichen Waldreviers, das durch weite Mauern umgrenzt zu dem Grundbesitz der Firma gehörte, eine Anzahl uralter, geschonter Bäume ausgerodet, und allmählich war im beschützenden Walddickicht ein heiteres Schlößchen voll Sonnenlicht und schwellender Seidenpolster, voll flatternder Liebesgötter und deckenhoher Spiegel, welche die Schönheit der angebeteten Frau glanzvoll zurückwarfen, in die Lüfte gestiegen. Und an dem Tage, wo die bleiche Blume zum ersten Mal den märchenschnell hervorgezauberten Teich umschritten, und in der weiten sonnigen Halle dem zärtlich besorgten Mann aufjauchzend um den Hals gefallen war, hatte er das Schlößchen ihr zu Ehren „Karolinenlust“ getauft.

Eberhard Claudius war auch der Begründer des Antikencabinets und der reichhaltigen Bibliothek und Handschriftensammlung gewesen. Er hatte Italien und Frankreich durchreist und mit seltenem Kennerblick Schätze der Kunst und Wissenschaft aufgefunden und eingeheimst, die aber auf deutschem Boden, in den Räumen der Karolinenlust ebenso verborgen hausten, wie die schöne, neu aufblühende Frau.

Nach ihm war Conrad, sein Sohn, Chef des Hauses geworden und in die alten Geleise zurückgekehrt. Er hatte mit puritanischer Strenge die alten Hausregeln auch im Inneren wieder aufgerichtet, hatte die Karolinenlust, als ein gegen den Geist der Vorfahren verstoßendes Werk des raffinirtesten Luxus und Weltsinnes sammt ihren Schätzen unter Schloß und Riegel gelegt, und die Varietät war erst wieder in seinem Enkel, Lothar Claudius, zum Durchbruch gekommen.

Dieser hatte sich entschieden geweigert, Vertreter der Firma zu werden, als er und sein jüngerer Bruder Erich sehr früh beide Eltern verloren. Sein feuriges Temperament entschied sich für die militärische Carrière. Er avancirte schnell, wurde geadelt und Adjutant und bevorzugter Liebling des Landesfürsten. Nun wurde die Karolinenlust wieder aufgeschlossen. Sie eignete sich vortrefflich zum Wohnsitz für den hochaufstrebenden, sich abzweigenden Ast des alten Handelsgeschlechts, und, wie um gegen jegliche fernere Gemeinschaft mit dem Vorderhause zu protestiren, wurde plötzlich sogar am Brückenkopf auf Seite der Karolinenlust eine festverschlossene Thür angebracht.

Da residirte nun, umgeben von einer wahren Waldeinsamkeit, der schöne, junge Officier, während im Vorderhause der Buchhalter Eckhof das Geschäft verwaltete, bis der in einem Knabeninstitut erzogene Erich Claudius von seinen Reisen zurückkehrte und, den alten Traditionen getreu, mit eiserner Ausdauer und Arbeitskraft sein Erbe antrat.

Für das Antikencabinet hatte der verstorbene flotte, gefeierte Officier so wenig Verständniß gehabt, wie seine Vorgänger. Die Kisten und Kasten im Souterrain waren nicht berührt worden seit langen Jahren, bis plötzlich der junge Herzog an das Ruder kam und eine wahre Leidenschaft für Archäologie an den Tag legte. Mein Vater, eine der größten Autoritäten, wurde nach K. berufen, und nun wuchsen die Antiquitäten-Liebhaber wie Pilze aus der Erde – Seine Hoheit hätte Höchstseine Residenz mit ihnen pflastern können. Die Ballgespräche bei Hofe wimmelten von griechischen, römischen und etruskischen Alterthümern, und schwerwiegende Wörter, wie Numismatik, Glyptik und Epigraphik, perlten nur so von den rosigen Lippen der graziösen Tänzerinnen.

[645] Die Nachricht von dem neuen Umschwung bei Hofe hatte Dagobert in das stille Geschäftshaus der Mauerstraße gebracht. Fräulein Fliedner, die noch bei Lebzeiten der letztverstorbenen Frau Claudius, Lothar’s und Erich’s Mutter, als Stütze derselben, in das Haus gekommen und seitdem, kraft testamentlicher Verfügung, in ihrer Stellung als Castellanin und Verwalterin verblieben war, wußte manches Halbverschollene aus der Familie zu erzählen, und so erinnerte sie sich auch der eingesargten Antiken. Dagobert hatte meinen Vater davon in Kenntniß zu setzen gewußt. Der Letztere erzählte später wiederholt, daß er einen Augenblick zweifelhaft lächelnd vor dem Haus mit der strengen, ehrbar bürgerlichen Physiognomie gestanden habe; aber er war doch eingetreten, um die Erlaubniß, behufs einer Nachforschung, von dem Besitzer zu erbitten. Herr Claudius hatte sie ertheilt, wenn auch dem Anschein nach nicht besonders gern.

Am frühen Morgen war mein Vater in das Souterrain der Karolinenlust hinabgestiegen und den ganzen Tag nicht wieder zum Vorschein gekommen; er hatte weder gegessen, noch getrunken, er war wie toll vor Aufregung gewesen – eine ungeheure Fundgrube für die Wissenschaft hatte sich vor ihm aufgethan. … Herr Claudius gestattete das Auspacken und Aufstellen der Kunstschätze und räumte meinem Vater die Wohnung im Erdgeschoß und die unumschränkte Benutzung der Bibliothek ein.

Dies Alles erfuhr ich freilich nicht in den ersten Tagen meines Aufenthaltes in K. Ich war da überhaupt wenig geneigt, mich zu orientiren; denn, nachdem sich die Fluth der ersten Eindrücke einigermaßen gelegt, da kam das Heimweh nach der Haide mit aller Macht über mich. … Ilse war zwar noch da; sie hatte sich einige Tage Urlaub zugegeben, um „einmal gründlich Ordnung in der Junggesellenwirthschaft meines Vaters zu machen“, und wohl auch, damit sie mich erst in dem neuen Boden ein wenig einwurzeln sähe. Allein das beschwichtigte mein unruhiges Herz nicht; ich wußte ja doch, daß sie schließlich gehen und mich zurücklassen würde, und der Gedanke brachte mich stets in eine unbeschreibliche Aufregung.

Im Vorderhause war man unsäglich gut gegen mich; aber ich haßte das dunkle, kalte Haus und betrat es nur gezwungen an Fräulein Fliedner’s oder Charlottens Hand. Zu einem Besuch [646] aus eigenem Antrieb konnte ich mich nie entschließen. Dagegen zog es mich immer mehr in die Nähe meines Vaters. Auf seine zarte Zurechtweisung hin störte ich ihn freilich nicht mehr in der kräftigen Art und Weise, wie neulich, wo ich unversehens meinen Arm um seinen Hals gelegt hatte – ich wagte es nicht einmal, wie meine Mutter, eine Blume auf sein Manuscript zu werfen; aber seit ich Muth gefaßt, stand jeden Morgen eine Vase voll frischer Waldblumen auf seinem Schreibtisch, und im unhörbaren Vorüberhuschen ließ ich meine Hand scheu und leise über sein halbergrautes Haar hingleiten. Ich war gern in der Bibliothek, noch lieber aber in dem Saal „mit dem zerbrochenen Zeug“, wie Ilse beharrlich sagte, Alle diese stummen Gesichter gewannen allmählich Macht über mich und ließen mich manchmal sogar auf Augenblicke vergessen, daß droben im Norden die weite Haide lag, nach der meine ganze Seele fieberte.

Aber ich wurde dort auch sehr oft verscheucht. Dagobert, der eine wahre Leidenschaft für Alterthumskunde an den Tag legte, und sich stolz den Famulus meines Vaters nannte, verweilte halbe Tage lang in Bibliothek und Antikencabinet. Sobald ich ihn in die Bibliothek treten hörte, entfloh ich durch die entgegengesetzte Thür, rannte über Hals und Kopf die Treppe hinab, und dieser kindischen Angst und Scheu genügte oft nicht einmal der weite Raum zwischen Mansarde und Erdgeschoß – ich lief und lief, bis ich mich athemlos im Walde wiederfand.

Dieses Stück Wald war köstlich in seiner scheinbaren Urwüchsigkeit. Die alten Herren Claudius hatten es angekauft und mit Mauern umzogen, nicht zur Nutzbarmachung für das Geschäft, sondern einzig und allein zu dem Zweck, daß sie ihren sonntäglichen Erholungsspaziergang, ungestört und unbehelligt durch fremde Gesichter, auf eigenem Grund und Boden ausführen konnten – der einzige Luxus, den sie sich gestattet. … Die heiße Sehnsucht nach dem schrankenlos weiten Himmel der Haide machte mich anfänglich eiskalt und verständnißlos für die Waldschönheit. Meine Blicke richteten sich nie aufwärts – ein grüner Himmel, wie schrecklich! – Desto zärtlicher aber hingen sie an den hellen Blüthen, die mit scheuen, wilden Aeuglein aus Moos und Blattwerk und schattenfeuchtem Steingeröll hervorguckten, – sie kamen mir so weitverschlagen und furchtsam vor, wie ich selber.

So sorglos ich die Haide stets durchstreift hatte, so wenig Muth fand ich, tiefer in die anscheinende Wildniß einzudringen. Ich beschränkte mich auf die nahe Umgebung des Hauses, und mein liebster Aufenthalt wäre sicher das Ufergebüsch des Flusses geworden, denn da drinnen war es doch genau so wie daheim; allein ich wurde schon am zweiten Tag meines Aufenthaltes in K. daraus vertrieben. Als Ilse den Brief auf die Post trug, begleitete ich sie bis an die Brücke. Unter dem zierlich geschwungenen eisernen Bogen hin floß das farblos klare Wasser so leise und lieblich murmelnd, wie der traute Haidefluß hinter dem Dierkhof. Ich schlüpfte in das Gebüsch – es waren Erlen und Weiden, und von draußen dämmerten weißglänzende Birkenstämme herein. Perlmuscheln lagen nicht auf dem Grund, wohl aber die kleinen glattgewaschenen Kiesel, und das seichte Ufer war mit Laichkräutern und weißblühenden Ranunkeln ausgekleidet. Ein zackiger, leuchtend blauer Fleck zitterte auf den Rieselwellchen – der hereinlauschende Sommerhimmel – Alles, Alles wie in dem kleinen Becken daheim; ich warf die Fußbekleidung ab und bald floß die blaugefärbte Fluth um die Füße, die freilich zu meinem Verdruß in den wenigen Tagen strenger Inhaftirung schon weißer geworden waren. Es fiel mir wie Ketten von Leib und Seele und floß mit den Wellen dahin. Vor Vergnügen und Wonne lachte ich in mich hinein und stampfte wiederholt und übermüthig das Wasser, so daß die blauen Tropfen hochauf spritzten. Da knisterte es im Gebüsch. – Spitz war ja so oft vom Dierkhof gekommen, hatte mich gesucht und war zu mir in’s Wasser gesprungen. Er brach dann gewöhnlich quer durch das Buschwerk, und jetzt fühlte ich mich so ganz in die Umgebung der Heimath versetzt, daß ich bei jenem Knistern den lieben täppischen Gefährten zu hören glaubte. Laut rief ich seinen Namen, ach, ich hatte mich schön blamirt mit meiner Illusion – es kam selbstverständlich kein Spitz; an der Stelle aber, wo ich das Geräusch gehört hatte, bewegten sich die Weidenzweige durcheinander, und ein hellbekleideter Männerarm zog sich hastig zurück.

Mit einem Satz flüchtete ich an das Ufer; ich hätte weinen mögen vor Aerger. Gleich in den ersten Stunden der bildenden zwei Jahre war ich rückfällig geworden. Dagobert hatte die Eidechse bereits wieder barfuß gesehen – nun wurde gespottet und gelacht im Vorderhause. … Aber er war ja dunkel gekleidet gewesen, als ich ihn vor kaum einer Stunde zu meinem Vater hatte gehen sehen, und dann – hatte nicht ein heller Blitz aus dem Gebüsch herübergezuckt? Das Blitzen hatte ich heute schon einmal gesehen, und zwar am Comptoirschreibtisch, es kam von dem Ring an Herrn Claudius’ Hand. … Ich athmete erleichtert auf – ach ja, es war nur Herr Claudius gewesen! Er hatte jedenfalls das unvernünftige Stampfen im Wasser gehört und war besorgt gekommen, um nachzusehen, wer ihm denn einen Weidenzweig von seinem Eigenthum abknicke und die hübschen Kiesel in seinem Fluß aufstöre. Er konnte ruhig sein, der gestrenge Herr – ich that es gewiß nicht wieder.

Nun waren wir fünf Tage in K. und es war Sonntag geworden. Auf dem Dierkhof hatten wir das ferne Thurmglöckchen nur wie ein unterbrochenes Wimmern gehört – wie fuhr ich zusammen, als plötzlich ein tiefes, prachtvolles Glockengeläute durch die Lüfte brauste! …

Ilse machte sich auf den Weg zur Kirche und während sie, begleitet von den Glockentönen, feierlich den Teich umschritt, blieb ich in der Halle stehen und sah ihr nach. … Da kam auch der alte Buchhalter aus seinem Zimmer, er hatte das Gesangbuch unter dem Arm und zog im Weitergehen einen lilafarbenen, neuen, engen Handschuh über die Hand – der alte Herr leuchtete förmlich in Sauberkeit und Eleganz.

Als er in meine Nähe kam, blieb er stehen. Er grüßte nicht; sein spiegelnder hoher Hut saß wie festgenagelt auf dem Kopfe; dafür aber maß er mich mit einem langen Strafblick von Kopf bis zu Füßen. Ich zitterte und fürchtete mich, und in dem Augenblicke, wo er die Lippen öffnete, um mich anzureden, floh ich hinaus in den Wald.

Der Schreckliche – ob er mir wohl nachkam? … Ich blieb athemlos stehen und sah scheu über die Schulter zurück. Der Weg, den ich gekommen, fiel hinter mir förmlich in das Dickicht hinein – ich war, ohne es zu wissen, ziemlich steil bergan gelaufen. Es blieb lautlos still drunten – der fromme Mann hatte jedenfalls seinen Weg in die Kirche fortgesetzt. … Vor mir mündete der enge Pfad auf eine Wiese, an den gefiederten Gräsern hing noch Thau, und rings am Waldsaum lagen die dicken Purpurköpfchen der Erdbeeren wie hingesäet; es kam wohl Niemand hier herauf, sie zu pflücken. Sie würzten die Luft, die golden flimmerte – ich meinte, die Glockentöne noch in ihr nachzittern zu sehen. Langhaarige Fichten standen umher, an ihren rissigen Stämmen nieder flossen goldgelbe Harzthränen, und durch die trauerdunklen Wipfel zog leises Summen.

Hier webte ein in der Welt verschollener, geheimnißvoller Geist – es war so verschwiegen still wie drunten hinter den Siegeln. … Im Walde knisterte es; ein weiß- und rothbraun geflecktes Etwas wandelte drinnen, und dann breitete sich plötzlich ein schaufelförmiges Geweih majestätisch zwischen den Stämmen; das zierliche Wild war zahm und sanft; die Thiere kamen über die Wiese her und sahen mich mit stillen Augen furchtlos an.

Ich schritt weiter. … Wie lange meine Entdeckungsreise auf diesem neuen Terrain angedauert, wußte ich nicht. Es waren wohl Stunden vergangen, seit ich bergauf und bergnieder trollte. Ich war völlig im Unklaren, wo ich mich befand; allein ich fühlte keine Furcht, die reine, keusche Waldluft hatte sie mitgenommen. … Den Berg hatte ich hinter mir, ich war wieder in der tiefe, aber wo? … Die Wege liefen kreuz und quer, und ich wußte nicht, welchen ich betreten sollte – da hörte ich plötzlich durch das Dickicht zu meiner Linken eine Menschenstimme. Ich erkannte sie sofort. Es war die Stimme des freundlichen alten Gärtners, der mit den sanftesten Schmeicheltönen ein unablässig schreiendes Kind zu beschwichtigen suchte. Ich ging dem Schalle nach und stand auf einmal vor einer Mauer; hinter ihr war es hell – sie schloß den Wald ab. Um Alles gern mochte ich den kleinen Schreihals sehen, aber an der Mauer empor konnte ich nicht; sie war hoch und spiegelglatt. Dagegen verstand ich mich ja auf das Baumklettern wie eine Eichkatze, war es doch eine meiner liebsten Gewohnheiten wie das Fußbad im klaren Wasserspiegel, und nach wenigen Augenblicken saß ich hoch droben im Wipfel einer Ulme.

Ich sah hinaus in die Weite, sah ein großes Stück Himmel. Zu meiner Rechten breitete sich die bethürmte Stadt hin, flankirt von [647] prächtigen Promenaden, dann kam der Fluß, derselbe, der auch die Claudius’sche Besitzung durchschnitt. … Ich war ganz nahe bei der Karolinenlust gewesen, ohne es zu wissen, denn das Wasser lief keine zweihundert Schritte entfernt vorüber, eine breite steinerne Brücke wölbte sich darüber hin. Diesseits des Flusses, weithin, bis hinauf an den Saum des Waldes verstreut, lagen elegante Landhäuser inmitten reizender Gartenanlagen. Zu meiner Linken, so nahe, daß ich jeden Gegenstand im oberen Stockwerk bequem übersehen konnte, stand ein hübsches kleines Schweizerhaus. Das Fleckchen Grund und Boden, auf welchem es lag, war engbegrenzt. Vor der Hauptfaçade breitete sich ein schmaler Blumengarten hin, und rückwärts über einem engen Rasengrund wölbte eine prachtvolle Roßkastanie ihre undurchdringlich befiederten Aeste – sie war der einzige Baum der ganzen kleinen Besitzung, die nur eine breite Fahrstraße von der Claudius’schen Waldmauer trennte.

Der alte Gärtner Schäfer ging unter dem schattenwerfenden Balcon des Hauses auf und ab. Er hatte einen rosenfarbenen Kattunmantel um die Schultern geschlagen, trug den kleinen schreienden Bösewicht so kunstgerecht wie nur die gewiegteste Kindermuhme und sang ihm in sichtlicher Todesangst alle bekannten Kinderlieder vor. Auf dem Rasenfleck hinter dem Hause spielte ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren. Es hatte ein weißes Kleidchen an, und lange, flachsgelbe Locken fielen über den Rücken bis fast auf den Gürtel hinab. Die Kleine hatte sich glückselig, mit ganzer Seele in ihr Spiel vertieft. Sie raufte mit beiden Händchen Grashalme aus und lud sie auf ein Korbwägelchen. Eine Zeitlang ließ sie sich in ihrem Eifer durch das Kindergeschrei nicht stören, aber endlich ging sie in den Vordergarten, pflückte eine halbverwelkte Levkoye ab und reichte sie dem ungezogenen Brüderchen hinauf.

„Du sollst ja keine Blumen abreißen, Gretchen – Papa hat’s verboten!“ rief eine Männerstimme vom Balcon hinab.

Die südliche Ecke des Balcons war so üppig von wildem Wein umsponnen, daß nicht ein Sonnenstrahl in die Laube und auf den gedeckten Eßtisch inmitten derselben fallen konnte. Der junge Helldorf, der im Comptoir des Herrn Claudius arbeitete, bog sich unter dem Weinlaub hervor; ich hatte ihn bis dahin nicht bemerkt. Er hielt ein Buch in der Hand, und wenn er auch die Mahnung im strafenden Tone hinabrief, so flog doch beim Anblick des auf den Zehen stehenden reizenden Geschöpfchens ein zärtliches Lächeln um seinen Mund.

Da kam über die Brücke her ein Herr, der eine Dame am Arme führte. Sie blieben einen Augenblick aufhorchend stehen, dann entschlüpfte die Dame ihrem Begleiter und lief voraus, auf das ungeduldige Kind zu. Sie war jedenfalls in der Kirche gewesen, denn sie legte eilig ein Gesangbuch auf den nächsten Gartentisch und reichte nach dem Knaben, der bei dem Klang ihrer Stimme sofort verstummt war und nun lallend mit Händen und Füßen ihr entgegenstrampelte – in überströmender Mutterzärtlichkeit bedeckte sie das kleine, dicke Kerlchen mit Küssen. Dann schlang sie den linken Arm um das Töchterchen und zog es an sich. Sie war sehr zart, die kleine Frau, man hätte meinen können, der feine Arm zerbräche unter dem dicken Jungen. Sie nahm den Strohhut ab, an dessen blauen Bändern das Kind mit täppischen Händchen zerrte, und ich sah ein wunderfeines, lilienweißes Gesichtchen unter einer Fülle so hellblonder Haare, wie sie über Gretchens Rücken hinabhingen.

Mittlerweile war auch der im Stich gelassene Herr Gemahl nachgekommen und in den Garten eingetreten. Er sah dem jungen Helldorf sehr ähnlich, die schönen Männer waren offenbar Brüder. Mit beiden Armen nahm er sein Töchterchen und warf es in die Luft; das weiße Kleid blähte sich wie ein Sommerwölkchen; die goldenen Locken wogten und flatterten im Luftzug, und das Kind jauchzte zum Balcon hinauf. „Onkel Max, siehst Du mich?“

Ich war wie berauscht; ich hatte zum ersten Mal das reinste Familienglück vor Augen. Herzinniges Behagen an dem schönen Bild und eine tiefe Sehnsucht, für die ich keinen Namen wußte, mischten sich mit Wehmuth in meiner Seele. Mich hatte nie eine Mutter leidenschaftlich an ihr Herz gedrückt, ich hatte nie erfahren, wie das glückliche Bübchen dort, daß ein einziger Laut von zärtlichen Mutterlippen alles vermeintliche Leid sofort zu stillen vermag. Aber ich hatte auch mit heimlicher Lust gesehen, wie die junge Frau ihre Kinder herzte – die Beneidenswerte! Wie süß mußte es sein, wenn solch ein Kinderärmchen sich verlangend ausstreckte und alles Heil, alle Beruhigung ausschließlich von der Mutter erwartete!

Gretchen ging wieder zu ihrem Heuwagen und setzte plaudernd ihr Spiel fort, während die Anderen in das Haus traten. Leise glitt ich von der Ulme herab und schritt suchend die Mauer entlang, und da stand ich richtig vor einer Thür, die in’s Freie führte. Es steckte sogar ein Schlüssel im Schloß, er war freilich mit einer dicken Rostschicht überzogen und wurde augenscheinlich nie berührt. Aber mein Verlangen, das kleine Mädchen zu sprechen, machte mich kräftig und gewandt, nach langer Anstrengung wankte der Schlüssel unter meinen Händen, er fuhr herum, und die Thür that sich kreischend auf.

[675]
16.

Ich lief über den Fahrweg und trat an das Staket. Gretchen sah mich mit großen Augen an; sie verließ schleunigst ihr Wägelchen und kam auf mich zu.

„Hast Du aufgemacht?“ fragte sie mich und deutete nach der offenen Thür hinter mir. „Darfst Du denn das, Du Kleine?“

Ich bejahte lachend.

„Aber höre, Dein Garten ist nicht hübsch,“ sagte sie, das Näschen verächtlich emporziehend – sie nickte nach dem grünen Düster hin, das sich hinter der Thür aufthat. „Hast ja nicht eine einzige Blume drin! … Da guck’ ’mal unseren an – Herr Schäfer hat viele, viele – ach, wohl hunderttausend Blumen!“

„Ja, aber Du darfst keine abreißen.“

„Nein, abreißen nicht,“ versetzte sie niedergeschlagen und steckte den kleinen, spitzen Zeigefinger in den Mund.

„Aber ich weiß viele blaue Glockenblumen und niedliche weiße – die darfst Du nehmen, und Erdbeeren kannst Du pflücken, Deinen ganzen großen Heuwagen voll!“

Sie zog sofort den Wagen hinter sich her, kam herüber zu mir und legte ihre Hand vertrauensvoll in die meine; wie ein Vögelchen so weich und warm schmiegte sie sich zwischen meine Finger. Ich war glücklich über meine neue Bekanntschaft; es fiel mir nicht ein, die eigenmächtig geöffnete Thür wieder zu schließen, sie blieb weit offen hinter uns, während wir in das Gebüsch eindrangen. Da gab es freilich Erdbeeren und Glockenblumen, als hätten sie droben die Baumkronen von sich abgeschüttelt. Die Kleine schlug die Hände zusammen und fing an, zu rupfen und zu zupfen, wie wenn es gelte, den halben Waldboden des Herrn Claudius nach Hause zu schleppen.

„Ach Gott, diese Menge Erdbeeren!“ seufzte sie glückselig auf und pflückte und mühte sich, daß ihr die hellen Schweißperlchen auf die Stirn traten. Dabei aber summte sie doch ein Liedchen vor sich hin.

„Ich kann auch singen, Gretchen,“ sagte ich.

„So schöne Lieder wie ich? Das glaub’ ich nicht – Onkel Max hat sie mich gelehrt – na, da sing’ doch einmal!“

Mein musikalisches Gehör mußte sich frühe entwickelt haben, denn all den kleinen Singsang, den ich kannte, hatte mir Fräulein Streit noch in der Hinterstube eingelernt. Ich liebte über Alles die Taubert’schen Kinderlieder und begann jetzt „Der Bauer hat ein Taubenhaus –“ zu singen. Ich hatte mich auf eine Steinbank gesetzt, und bei den ersten Tönen verließ Gretchen ihren Heuwagen, legte die Arme auf meine Kniee und sah mir aufhorchend und athemlos in das Gesicht.

Es war seltsam – ich erschrak vor meiner eigenen Stimme. In der Haide war sie schwach verklungen, die Lüfte hatten sie nach allen Himmelsrichtungen hin versprengt und verweht; hier aber fingen die engzusammengezogenen grünen Coulissen der Waldbäume den Klang auf; er strömte so voll und glockenartig, so ganz anders beseelt aus, daß ich meinte, ich sei das gar nicht selber.

Es ist ein lustiges Liedchen, das von dem Bauer und seinen Tauben, die ihm davonfliegen. Gretchen lachte aus vollem Halse und schlug in die Hände vor Vergnügen nach dem ersten Vers. „Fängt er die Tauben wieder? Geht denn das Liedchen nicht weiter?“ fragte sie.

Ich begann abermals, aber plötzlich erstarb mir der Ton auf den Lippen. Ich konnte von meinem Steinsitz aus ziemlich tief in das Gebüsch einen Weg verfolgen, der nach der Karolinenlust mündete. Wenn ein Windhauch hie und da die Blätterschichten lüftete, sah ich die Fenster des Hauses aufblinken. … Auf diesem Weg her kam der alle Buchhalter – ich mußte an die weißgekrönte Hagelwolke denken, wenn sie der Sturm über die Haide hintrug, so finsterdräuend erschien das Gesicht unter dem unbedeckten, silberglänzenden Haar, und so beschleunigt und überraschend schritt die mächtige Gestalt auf mich zu.

Gretchen folgte der Richtung meiner Augen – ihr Gesicht färbte sich purpurroth, mit einem Freudenruf flog sie auf den alten Herrn zu und schlang ihre Arme um seine Kniee.

„Großpapa!“ rief sie mit zurückgeworfenem Köpfchen zärtlich zu ihm hinauf.

Er stand wie zu Stein erstarrt und sah auf das Kind nieder; er hielt beide Arme vorgestreckt, wie Jemand, der sich im arglosen Weiterschreiten plötzlich vor einer ungeahnten Tiefe sieht und entsetzt zurückweicht, und in dieser Stellung verharrte er regungslos; es war, als fürchte er, seine Hände könnten im Niedersinken eines der hellen Goldhaare auf dem Köpfchen berühren.

„Gelt, Du bist mein Großpapa? … Luise hat’s gesagt –“

„Wer ist Luise?“ fragte er mit tonloser Stimme – mir klang es, als wolle er mit dieser Frage näherliegende Erörterungen abwehren.

„Aber Großpapa – unsere Luise! – Sie hat meinen kleinen Bruder getragen, wie er noch im Wickel lag. Aber nun ist sie fort. Wir können kein Kindermädchen halten, sagt die Mama, es kommt viel, viel zu theuer. …“

Jetzt lief ein Zucken durch das versteinerte Gesicht, und die Hände sanken tiefer.

„Wie heißest Du denn?“ fragte er.

„Ach, das weißt Du nicht einmal, Großpapa? … Und Herrn Schäfer sein Caro weiß es, und unsere Miezekatze auch! … Gretchen heiß ich. Aber ich habe noch mehr Namen – wunderhübsche Namen – ich will sie Dir alle einmal hersagen. Anna, Marie, Helene, Margarethe Helldorf heiße ich.“

Sie faßte bei der feierlichen Aufzählung jedesmal einen ihrer kleinen Finger. Es lag ein unbeschreiblicher Zauber in der Stimme und dem ganzen Wesen des unschuldigen Geschöpfchens, und der alte Mann vermochte sich ihm bei aller Anstrengung nicht zu entziehen – ich sah plötzlich seine beringte Hand auf dem blonden Scheitel liegen; er bog sich nieder – wollte er wirklich das holde Gesichtchen küssen? … Vielleicht, wenn ihm Zeit verblieben wäre, das kleine Wesen in seine Arme zu nehmen und Herz an Herzen zu fühlen, daß es zu ihm gehöre durch das Blut, das diese jungen Pulse pochen machte – vielleicht wäre das ein Augenblick geworden, zu welchem die Engel im Himmel gelächelt hätten. Aber in das Gute und Versöhnende, das sich gestalten will, greift oft eine dunkle Hand herüber und stößt heimtückisch die Seelen selber, die sich in besserer Erkenntniß nähern sollten, störend in die feinen Webefäden.

Ich wußte nicht, warum ich so heftig erschrak, als ich das helle Frauengewand in der Richtung der Mauerthür durch das Gebüsch flattern sah. Es kam in fliegender Eile näher, und plötzlich stand die junge Frau aus dem Schweizerhäuschen nur wenige Schritte von der Gruppe entfernt – sie stieß einen Schrei aus und schlug die Hände vor das Gesicht.

Der alte Herr schreckte empor – nie werde ich den Ausdruck von eisigem Hohn vergessen, in welchem das tiefbewegte, schöne, alte Männergesicht sofort wieder erstarrte.

„Ach, sieh’ da! Die Komödie ist vortrefflich gelungen! … Man weiß ja seine Kinder recht gut zu verwenden und abzurichten!“ Er stieß das Kind von sich, daß es taumelte.

Die Frau fuhr zu und fing es in ihren Armen auf. „Vater,“ sagte sie und hob warnend den Zeigefinger, und ein fast aberwitziges Lächeln zog die Oberlippe von den Zähnen zurück, „mir hast Du Alles anthun dürfen, mich kannst Du mit Füßen treten … ich leide es willig, aber mein Kind darfst Du mir nicht mit Deiner harten Hand berühren – das wagst Du nicht wieder!“

Sie nahm die Kleine, von deren blaßgewordenen Lippen kein Laut mehr kam, auf ihren Arm.

„Ich weiß nicht, wer das Kind hierhergebracht hat“ – fuhr sie fort.

„Ich!“ sagte ich vortretend mit bebender Stimme. „Verzeihen Sie mir!“

Bei aller heftigen Aufregung wandte sie doch augenblicklich das Gesicht mit einem milden, wenn auch sofort wieder verfliegenden Ausdruck nach mir hin.

„Ich wollte die Kleine in das Haus holen,“ sagte sie weiter [676] zu dem alten Mann – mir kam es vor, als sei plötzlich jeder Muskel dieser durchsichtig zarten Gestalt stählern geworden; – „sie war fort und die Mauerthür stand offen. In namenloser Angst bin ich hereingeflogen, um dem Augenblick vorzubeugen, wo Dein Blick auf das Kind fallen könnte – ich bin zu spät gekommen. … Vater, ich habe mich nach furchtbaren Kämpfen endlich darein ergeben, von Dir die herzlose, undankbare, die verlorene Tochter genannt zu werden; ich bin ohnmächtig Deinen Angriffen gegenüber, zu denen die fromme Welt ‚Ja‘ und ‚Amen‘ sagt. Aber als Mutter darfst Du mich nicht antasten! … Ich sollte mein Kleinod, mein Heiligthum“ – sie preßte das Kind in leidenschafllicher Inbrunst an sich – „dieses süße, selige Kinderherz in Verfolgung selbstsüchtiger Zwecke zu einer Komödie abrichten? Das ist eine Schmähung, die ich nicht ertrage, die ich zurückweise, und für die Du mir dereinst bei Gott Rechenschaft schuldig bist!“

Sie wandte sich und ging.

Ich meinte, er müsse der schwerbeleidigten Frau nachspringen und sie versöhnend in seine Arme schließen; allein er war offenbar einer jener schrankenlos eitlen Menschen, die es für unmöglich halten, je im Unrecht zu sein – kommt ihnen ja einmal das dunkle Gefühl, daß sie geirrt, dann reizt sie die Beschämung erst recht zu Trotz und Härte.

Er sandte der Davoneilenden einen tief erbitterten Blick nach und trat mir plötzlich mit zorngeröthetem Gesicht so nahe, daß ich in das dornige Gesträuch hinter mir zurückweichen mußte.

„Sie da, wie können Sie sich denn unterfangen, auf fremdem Grund und Boden eine festverschlossene Thür ohne alle Befugniß zu öffnen?“ fuhr er mich an – aus diesen Tönen brach ein Groll hervor, der unverkennbar lange Zeit hindurch heimlich genährt worden war.

Ich stand da wie gelähmt vor Bestürzung, ich konnte weder Hand noch Fuß rühren. … O Gott, und nun bekam dieser Entsetzliche auch noch einen Helfershelfer! – Dicht neben mir stand plötzlich, wie aus der Erde gehoben, Herr Claudius; er mußte aus dem Dickicht getreten sein. Ich sah zu ihm empor, er hatte die schreckliche blaue Brille vor den Augen und sah dadurch noch viel blässer aus, als neulich im Comptoir. … Der verzieh es mir sicher niemals, daß ich unerlaubter Weise seine Gartenthür geöffnet und Fremde hereingebracht hatte. … Jetzt hielten diese zwei unerbittlich strengen und hartherzigen Krämer Gericht über mich, und ich konnte nicht entfliehen – ich stand ihnen wehrlos gegenüber. … Ob ich nicht doch einen Versuch machte, Ilse oder meinen Vater herbeizurufen?

„Herr Claudius,“ sagte der Buchhalter, merkwürdiger Weise sehr frappirt durch das unerwartete Hervortreten des Besitzers selbst, in herabgestimmtem Ton, „Sie sehen mich in großer Aufregung. Ich kam auf meinem gewöhnlichen Sonntagsspaziergang hierher, da –“

„Ich habe den Vorfall in seinem ganzen Verlaufe hinter dem Gebüsch mit angesehen,“ unterbrach ihn Herr Claudius ruhig.

„Desto besser – dann werden Sie mir auch zugeben, daß ich Grund genug habe, ungehalten zu sein. Erstens einmal wird ohne unser Vorwissen eine weitentfernte Hinterthür, die wir nicht überwachen können, geöffnet –“

„Das ist allerdings unstatthaft, Herr Eckhof. … Aber Sie haben in Ihrem Eifer vergessen, daß Fräulein von Sassen die Tochter meines Gastes ist und nicht in solcher Art und Weise, wie Sie sich eben noch erlaubt, zur Rede gestellt werden darf.“

Ich sah erstaunt auf und suchte nach den Augen unter der Brille – es kam ganz anders, als ich erwartet hatte. Der Buchhalter aber trat so betroffen zurück, als höre er zum ersten Male in seinem Leben eine solche Antwort aus diesem Munde. Er zog die weißen Brauen grollend zusammen, und ein hämischer Zug entstellte den untern Theil seines Gesichts.

„Fräulein von Sassen?“ wiederholte er spöttisch. „Wo soll ich da den Adel respectiren? … Doch nicht etwa in dieser lächerlich herausstaffirten Kindergestalt?“

„Es ist mir nicht eingefallen, den adeligen Namen zu betonen,“ versetzte Herr Claudius leicht erröthend. „Ich habe einfach auf die Rücksicht hingewiesen, die Sie jedem Gast meines Hauses, ohne Unterschied, schuldig sind.“

„Nun, nun, Sie werden schon noch erleben, welchen Segen die Gastfreundschaft gerade in diesem Falle über Ihr ehrliches Dach bringen wird! … Ich habe gewehrt und gebeten genug – es hat Alles nichts genutzt! Die heidnischen Bilder sind wieder an’s Tageslicht gezerrt worden, und droben in der Karolinenlust sitzt Einer, der keinen Gott kennt, und die alten Götzen wieder aufrichtet. Und der das Scepter in der Hand hat, der junge Gottlose auf dem Fürstenthron, der seinem Volk in Zucht und Ehrbarkeit und Gottesfurcht vorangehen und sein Volk zu einer Hütte voll des Lobens und Betens machen sollte, er hilft das neue Kalb aufrichten. ‚Es ist ein Geschrei zu Sodom und Gomorra, das ist groß, und ihre Sünden sind fast schwer.‘ … Der Herr ist langmüthig, aber die Stunde wird kommen, da Feuer und Schwefel vom Himmel regnen!“

Herr Claudius ließ schweigend, aber in sichtlich tiefer Betroffenheit den fanatischen Eiferer gewähren. Der alte Mann sprach offenbar aus vollster Ueberzeugung; aber vielleicht hatte er dieselbe seinem Chef noch nie so drastisch laut werden lassen, als in diesem Augenblick der heftigsten Erregung.

„Der Herr hat mich gewürdigt, zu sehen und zu hören, wo die Ungläubigen mit Blindheit und Taubheit geschlagen sind,“ fuhr er fort. Er hob den Arm und deutete wie ein Seher nach der Karolinenlust hinüber. „Das Haus dort ist in Sünden erbaut und zu allen Zeiten ein Pfuhl des Lasters geblieben, und die dort gefehlt haben gegen die Gebote des Herrn, können den Frieden nicht finden – sie wandeln umher und wehklagen und weissagen Unglück dem Hause, das die Sabbathschänder aufgenommen hat –“

Herr Claudius hob unterbrechend die Hand.

„Habe ich ihn nicht gehört, den markerschütternden Schrei in den Sälen, vor denen die Siegel liegen?“ fuhr der Alte unbeirrt mit erhöhter Stimme fort. „Habe ich nicht gesehen, wie die Ampel an meiner Zimmerdecke geschwankt hat unter den Tritten des Unheimlichen, der ruhelos droben gewandert ist? … Ich weiß es, sie sind aufgestanden aus ihren Gräbern, sie sind verdammt um ihrer Sünde willen, in die Welt zurückzukehren und die Blinden zu warnen. … Herr Claudius, an dem Tage, wo dieses junge Geschöpf“ – er zeigte auf mich – „die Karolinenlust betreten hat, ist es lebendig geworden droben in den vermauerten und versiegelten Sälen.“

Großer Gott, der Mann hatte mich belauscht! Während ich unverantwortlich leichtsinnig in der streng gehüteten Verlassenschaft eines Todten herumgestöbert, hatten die scharfen, blauen Augen drunten an der Ampel gehangen und an ihren Schwingungen jeden meiner Schritte gesehen; der alte Mann hatte den Schrei gehört, den ich vor meinem Spiegelbild ausgestoßen, und benutzte nun in seinem finstern Wahn den Vorfall, den Hausbesitzer gegen meinen Vater und mich zu hetzen.

Unwillkürlich suchte mein Blick das Gesicht des Herrn Claudius – es war mir zugewendet; allein die funkelnden, blauen Gläser bedeckten so vollkommen seine Augen, daß es sich unmöglich bestimmen ließ, welchen Eindruck die Worte des Buchhalters auf ihn machten. Er war mir nur um einen Schritt näher getreten; vielleicht hatte der Schrecken mein Gesicht entfärbt, und er fürchtete eine nervöse Schwäche meinerseits; als er aber sah, daß mir die Füße nicht treulos wurden, wandte er sich wieder zu meinem finstern Verfolger.

„Sie bestätigen schlagend, daß uns die Orthodoxie schließlich dem crassesten Aberglauben wieder zuführen muß!“ sagte er – Entrüstung und Bedauern mischten sich ist seiner sonst so gleichmüthigen Stimme. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir thut, Sie diesem entsetzlichen Mysticismus verfallen zu sehen, Herr Eckhof! Man hat mich bereits darauf aufmerksam gemacht, aber ich habe es nicht glauben wollen. … Das Recht, Ihre Ansichten zu meistern, steht mir selbstverständlich nicht im Entferntesten zu – ich habe Sie nur zu bitten dieselben im Geschäft sowohl, als auch meinen Anordnungen im Hause gegenüber vollständig aus dem Spiel zu lassen.“

„Werde nicht verfehlen, Herr Claudius,“ entgegnete der Buchhalter – in seiner auffallend betonten Unterwürfigkeit lag viel versteckte Malice. „Aber Sie werden mir erlauben, an dieser Stelle auch eine Bitte auszusprechen. … Ich bewohne nun die Karolinenlust seit langen Jahren, und es hat mir stets als Vorzug gegolten, daß ich hier den heiligen Sonntag streng nach des Herrn Gebot in ehrfürchtiger Stille und ungestörter innerer Einkehr feiern durfte. Ich bitte Sie hiermit dringend, anzuordnen, [677] daß die Sonntagsfeier künftighin nicht durch solch unstatthaftes Geschrei, solchen leichtfertigen Singsang, wie er vorhin den ganzen Garten alarmirt hat, unterbrochen werde – ich glaube, so viel Rücksicht verdiene ich alter Mann schon.“ –

Wieder wandten sich die blauen Gläser nach mir hin; ich erwartete eine strenge Zurechtweisung und Verhaltungsmaßregeln für die Zukunft – aber nichts von alledem!

„Ich habe kein Geschrei gehört,“ versetzte Herr Claudius sehr gelassen. „Aber eine Scene habe ich mit ansehen müssen, die mein Gefühl verletzt hat. … Dieses junge Mädchen“ – er neigte den Kopf nach mir hin – „hat mit seinem unschuldigen Kinderliedchen nicht gegen das Gebot des Herrn gefehlt; aber, Herr Eckhof, Sie kamen eben aus der Kirche – Sie sind, wie Sie mir heute deutlich beweisen, einer jener unfehlbaren Christen, die jede ihrer Handlungen auf ein Gesetz Gottes zurückzuführen wissen – wie war es Ihnen möglich, den Tag des Herrn durch Härte und Unversöhnlichkeit Ihrem Kinde gegenüber zu beflecken?“

Ein böser Blick zuckte unter den weißen Brauen hervor nach dem Sprecher.

„Ich habe keine Kinder mehr, Herr Claudius, das wissen Sie doch am allerbesten,“ sagte er, das „Sie“ so scharf zuspitzend, als solle es tiefe Wunden schlagen.

Er verbeugte sich und ging mit raschen Schritten den Weg zurück, den er gekommen. Ich hatte deutlich gefühlt, daß Herr Claudius mittelst des einen so charakteristisch betonten Wörtchens verletzt und geschlagen werden sollte, und sah ihn an – der Dolch saß.

[691]
17.

Ja, es mußte dem Buchhalter gelungen sein, Herrn Claudius auf das Tiefste zu verletzen. Nach einem blitzähnlichen Aufzucken blieb dessen schlanke Gestalt in starrer Ueberraschung stehen und sah dem Dahinschreitenden nach, bis er im Gebüsch verschwunden war.

Ich wollte diesen Augenblick benutzen, um fortzuschlüpfen, allein bei dem leisen Geräusch, das meine Bewegung verursachte, wandte sich Herr Claudius nach mir um.

„Bleiben Sie noch!“ sagte er und streckte den Arm zurückhaltend gegen mich. „Der alte Mann war in großer Aufregung, ich möchte nicht, daß Sie ihm in diesem Augenblicke noch einmal begegneten.“

Er sprach so freundlich und gelassen wie immer. … Sollte ich in diesem Moment des Alleinseins ihm beichten, wie es sich mit dem Spuk in der Beletage der Karolinenlust verhielt? … Nein, ich hatte kein Vertrauen zu ihm, ich fühlte mich bis in mein warm schlagendes Herz hinein erkältet in seiner Nähe. So rückhaltlos meine ganze Seele Charlotte zugeflogen war, so wenig sympathisirte ich mit diesem Manne der kalten Berechnung – sein eigenthümlich gehaltenes Thun und Wesen, das weder bei sich selbst, noch bei Anderen ein Zuviel zuließ, stieß mich entschieden zurück. Er hatte zwar eben noch im Sinne der christlichen Liebe gesprochen – bei jedem Anderen würde ich die Worte auf innere Herzenswärme zurückgeführt haben, von seinen Lippen klangen sie mir nur als die Rüge eines leidenschaftslosen klaren Verstandesmenschen. Er hatte mich in Schutz genommen; allein, so kindisch und urtheilslos ich auch war, ich sagte mir doch, daß das nur geschehen sei, um die Uebergriffe seines Untergebenen abzuwehren. … Ich war eine viel zu beeiferte und enthusiastische Schülerin Charlottens, um nicht bei jeder Begegnung mit diesem Manne ihres Urteils über ihn eingedenk zu sein.

Jetzt gehorchte ich ihm aber und wartete geduldig, bis wir die dröhnenden Schritte des Buchhalters nicht mehr hören würden. Mechanisch schob ich den Sand des Weges mit der Fußspitze zusammen – der plumpe Schuh in seiner ganzen Häßlichkeit kam zum Vorschein; das alterirte mich gar nicht – es war ja nur Herr Claudius, der neben mir stand, und dessen Blick darauf fiel.

„Ich will gehen und die Thür wieder schließen,“ unterbrach ich das momentane Schweigen, mir fiel plötzlich ein, daß sie ja noch weit offen stand. … Ich wollle ihn um Verzeihung bitten, aber ich brachte es nicht über die Lippen.

„So kommen Sie,“ sagte er. „Ich begreife nicht, wie Sie mit Ihren kleinen Händen das alte seit Jahren verrostete Schloß haben öffnen können.“

„Das Kind –“ sagte ich und mußte bei dem Gedanken an das liebliche kleine Geschöpf lächeln – „ich wollte durchaus das Kind nahe sehen und die Leute, die so glücklich zusammen sind. Ich habe nie gewußt, wie es ist, wenn die Eltern ihre kleinen Kinder so sehr lieb haben.“

„Wie ist es Ihnen denn möglich gewesen, in das fremde Familienleben hineinzusehen?“

Ich deutete unbefangen nach dem Wipfel der Ulme, unter der wir eben hinschritten. „Da droben hab’ ich gesessen.“

Er lächelte verstohlen, und trotz der Brille sah ich, daß seine Augen an meiner linken Seite niederglitten; unwillkürlich folgte ihnen mein Blick – o weh! die rachsüchtige Ulme hatte mir ein weitklaffendes und so regelrechtes Dreieck auf meinen schwarzen Staatsrock gezeichnet, als habe sie das Winkelmaß dazu genommen.

Ich fühlte, daß ich feuerroth wurde, und wenn es auch nur Herr Claudius war, ich schämte mich doch.

„O Gott – Ilse!“ mehr brachte ich nicht heraus.

„Seien Sie ruhig, Frau Ilse darf nicht schelten – das leiden wir nicht!“ sagte er freundlich, aber auch in so protegirendem Tone, als spräche er zu dem kleinen Gretchen und das verdroß mich – so kinderklein und hülfsbedürftig war ich doch wahrhaftig nicht. … In diesem Augenblick fiel es mir so recht auf, wie ganz anders doch Dagobert war. Er behandelte mich, besonders seit er wußte, daß ich bei Hofe vorgestellt werden sollte, als völlig erwachsene Dame. „Frau Ilse hat übrigens bereits für Ersatz gesorgt,“ sagte er weiter. „Sie hat mir gestern eine Summe Geldes abverlangt zu einer Hoftoilette für Sie. … Bei dieser Gelegenheit muß ich Sie aber auf Etwas aufmerksam machen. So lange die Frau dableibt, mag sie dergleichen Angelegenheiten in den Händen behalten, später jedoch werde ich Sie bitten müssen, sich direct an mich zu wenden.“

„Muß das sein?“ fragte ich, ohne meinen Verdruß zu verbergen.

„Ja, das muß sein, Fräulein von Sassen – es ist der Ordnung wegen.“

„Nun, da hat meine liebe Großmutter doch Recht gehabt, wenn sie das Geld nicht leiden konnte. … Gott, was für Umstände, wenn solch ein paar Thaler von einer Hand in die andere gehen!“

Er sah mich lächelnd von der Seite an. „Ich werde Ihnen die Sache so leicht wie möglich machen,“ sagte er gütig.

„Aber ich muß doch um jeden Groschen in Ihr dunkles Zimmer kommen?“

„Das freilich. … Ist Ihnen denn dies Zimmer so schrecklich?“

„Das ganze Vorderhaus ist ja so kalt und grabesdunkel … wie es nur Charlotte und Fräulein Fliedner drin aushalten? … Ich stürbe vor Angst und Beklemmung!“ – Ich legte unwillkürlich beide Hände auf die Brust.

„Das schlimme alte Haus – es hat schon einmal ein Frauenleben gefährdet!“ meinte er schwach lächelnd. „Und nun ist es wohl auch schuld, daß es Ihnen bei uns nicht gefällt?“

„O, den Blumengarten hab’ ich sehr lieb!“ versetzte ich rasch, ohne seine Frage direct zu beantworten. „Er kommt mir vor wie ein ganzes Buch voll Wunder- und Zaubergeschichten! Ich muß manchmal die Augen rasch schließen und Hände und Füße festhalten, sonst – würfe ich mich unversehens mitten in solch ein Blumenbeet hinein!“

„Das thun Sie doch,“ sagte er in seiner freundlichen Gelassenheit.

Ich sah ihn überrascht an. „Na, da würden Sie doch schön schelten,“ fuhr es mir heraus. „Wie viel Bouquetgroschen gingen Ihnen da verloren! … O Gott, und wie viel Samendüten!“

Er wandte sich ab, schloß die Thür zu, vor der wir standen, und zog den Schlüssel aus dem Schloß.

„Diese Bouquetgroschen-Weisheit haben Sie wohl aus demselben Munde, der Ihnen bereits von der Hinterstube erzählt hat?“ fragte er, nachdem er den Schlüssel in die Tasche gesteckt hatte.

Ich schwieg – Dagobert’s Namen konnte ich unmöglich aussprechen, von ihm hatte ich ja diese „Weisheit“, wie es Herr Claudius mit einem ganz leisen Anflug von Bitterkeit nannte. Er drang nicht weiter in mich.

„Aber die Karolinenlust und der Wald, gefallen sie Ihnen denn gar nicht?“ fragte er.

„Es ist ganz schön hier –“

„Allein lange nicht so schön, wie in der Haide – nicht wahr?“

„Das weiß ich nicht – aber – ich habe heftige Sehnsucht nach dem Dierkhof! Ich leide oft schrecktich und ängstige mich, daß ich mir die Stirn an den vielen Bäumen einstoßen könnte.“ Die Klage trat mir fast unwillkürlich auf die Lippen. … Das hatte mich noch Niemand im Hause gefragt, sie setzten ohne Zweifel Alle voraus, daß der Tausch ein überwiegend vortheilhafter für mich sei.

„Armes Kind!“ sagte er, – nein, nein, das war keine Theilnahme! – Die Natur hatte ihm nur eine so weiche Stimme gegeben.

Wir betraten eben das Parterre seitwärts der Karolinenlust. Da stand der alte Erdmann, der neulich Ilse und mir den Eintritt in das Vorderhaus verwehrt hatte. Er hielt eine Mulde im linken Arm und streute unermüdlich Futter für das Geflügel auf den Kies. Herr Claudius schritt rasch auf ihn zu und hielt die Rechte zurück, die eben wieder einen Körnerregen hinwerfen wollte.

„Sie füttern viel zu verschwenderisch, Erdmann,“ sagte er. „Gehen Sie da hinein in den Busch, überall keimen die Körner, die die Thiere mit dem besten Willen nicht bewältigen können; ich habe es eben mit großem Mißfallen bemerkt.“ – Er griff in die Mulde und ließ die Körner durch seine schlanken Finger laufen. [692] „Das ist ja der reine Weizen – Erdmann, da muß ich schelten! Sie wissen, daß mir eine solche achtlose Verschwendung ein Gräuel ist. Bei uns kommt das Getreide nutzlos um, und manches arme Kind sehnt sich vergeblich nach einer Semmel.“

Eine förmliche Erbitterung überkam mich – wie doch dieser Mann seinen Geiz zu beschönigen verstand! Er schalt nicht, weil ihm in dem verschwenderisch hingeworfenen Weizen ein paar Groschen verloren gingen – Gott bewahre! Die Semmel wurde beklagt, die für ein hungriges Kind aus den Körnern möglicherweise hätte gebacken werden können.

Der alte Erdmann entschuldigte sich damit, daß auch nicht ein Körnchen Gerste mehr im Hause gewesen sei. Er zog wie ein schuldbeladener Sünder den Kopf zwischen die Schultern und suchte eiligst das rettende Bosquet zu gewinnen. … Hu, diese abscheulichen blauen Gläser, wie sie ihm nachfunkelten! Ich mochte sie aber auch gar nicht mehr ansehen. Ich wandte das Gesicht weg; meine Hände griffen in das nächste Gebüsch und zupften und zausten an den Blättern und streuten sie achtlos über den Kies hin.

„Was hat Ihnen denn der arme Chocoladenstrauch gethan?“ fragte Herrn Claudius’ Stimme neben mir wieder so sanft und gleichmüthig, als sei sie es gar nicht gewesen, die eben noch gescholten. „Denken Sie einmal, wenn nun doch in den muthwillig und nutzlos abgerissenen Blättern ein klein wenig von dem Heimweh lebte, das Sie quält –“

Ich bückte mich, las schleunigst die Blätter vom Boden auf, schichtete sie übereinander und legte sie auf den kühlen Rasen, dicht neben den Hauptstamm des Strauches, indem ich einen dickbelaubten Zweig über sie hinbog. „Nun sterben sie doch wenigstens in der Heimath,“ sagte ich und sah wider Willen in die Brillengläser hinein.

„Werden Sie es hier aushalten können?“ fragte er.

„Ich muß wohl – ich soll ja gebildet werden, und dazu gehören zwei Jahre“ – ich faltete unwillkürlich und seufzend die Hände – „zwei lange Jahre! … Aber es hilft nichts, ich weiß nun auch selbst, daß ich lernen muß – ich bin doch zu entsetzlich unwissend in der Haide geblieben! … Das kleine Gretchen da drüben weiß ja mehr als ich!“

Er lachte leise auf. „Nöthig ist Ihnen diese Lehr- und Leidenszeit freilich, wenn ich bedenke, wie sauer es Ihrer kleinen Hand wird, den eigenen Namen zu schreiben,“ sagte er. „In zwei Jahren können Sie viel lernen; aber Ihr Vater und vielleicht auch Andere werden wünschen, daß Sie Manches nicht in Ihre junge Seele aufnehmen, was die Welt, und vor Allem das Leben in einer Residenz, lehrt und verlangt. … Frau Ilse hat mich gestern ersucht, Ihr Thun und Treiben zu überwachen.“

Ein jäher Schreck durchfuhr mich – das litt ich nicht! Dagegen wehrte ich mich aus Leibeskräften! Freiwillig begab ich mich ganz gewiß nicht in das unerträgliche Joch, unter dem Dagobert und Charlotte schmachteten! Seltsam aber war es doch, daß ich nicht den Muth fand, ihm diesen meinen festen Entschluß ungescheut in das Gesicht zu sagen.

[694] „Ich weiß nicht, was Ilse einfällt – das hat ja Fräulein Fliedner längst übernommen und Charlotte auch,“ sagte ich zögernd. „Und Charlotte habe ich so sehr lieb, ihr werde ich ganz gewiß gehorchen.“

„Das soll eben vermieden werden,“ versetzte er ernst. „In Fräulein Fliedner’s Händen sind Sie gut aufgehoben. Charlotte dagegen hat noch viel zu viel mit sich selbst zu thun, als daß sie die Verantwortlichkeit für Ihren Bildungsgang übernehmen dürfte. … Wenn ich ihren unumschränkten Einfluß auf ein unerfahrenes Gemüth zulassen sollte, dann müßte sie in allen Stücken ein Vorbild sein können – davon ist sie jedoch weit entfernt. … Charlotte ist im Grunde eine edle Natur, aber sie hat Schlacken in ihrer Seele – ich weiß es, ich werde oft genug warnend und verbietend zwischen Sie Beide treten müssen.“

Hätte je ein Funken von Sympathie für diesen Mann in mir gelebt, bei seinem letzten, so rücksichtslos unumwundenen Ausspruch wäre er erloschen. Er rächte sich in diesem Augenblick bitter für Charlottens Plauderei hinsichtlich der Hinterstube – ich wußte es wohl – das war wieder einmal die hinterlistige Art und Weise der Revanche, die Dagobert so tief erbitterte … Und zu Allem gab mich Ilse diesem steifen, eingerosteten Zahlenmenschen ohne Weiteres in die Hände. Er steckte mich zwischen vier Wände, ließ mich lernen, sprach von den mir am meisten verhaßten Schreibübungen, und in Alles, was ich that, guckten die verabscheuten Brillengläser.

Wir waren während dem in die Halle getreten und standen vor dem Corridor, in den die Thür meines Zimmers mündete. Herr Claudius nahm die Brille ab und steckte sie in die Tasche. … Und wenn es auch nur Herr Claudius war und ich ihn nicht leiden konnte, auffallend schöne Augen hatte er doch – es ging mir genau so mit ihnen wie mit dem wolkenlosen Mittagshimmel; er sieht sanft und harmlos mild aus, und wenn man fest hineinsehen will, da senken sich die Lider tief vor dem Sonnenfeuer, das ihn durchglüht.

Jetzt schwieg ich beklommen – die Brillengläser waren mein Bollwerk gewesen; mit ihnen floh mein Muth und verkroch sich in dem allerentferntesten Winkel meiner Seele. Da kreischte draußen der Kies unter Menschentritten, die sich dem Hause näherten.

„Na, das nehmen Sie mir aber nicht übel, Fräulein!“ hörte ich Ilse schon von ferne sagen. „Das ist mir ja eine gräuliche Mode! … So ’ne junge hübsche Dame, und raucht wie ein Schornstein!“

„Ach, Sie haben nur Angst, daß Ihnen der Tabaksrauch die brillanten Pensées auf Ihrem Hute verderben könnte, Frau Ilse!“ lachte Charlotte.

„Dummes Zeug – fällt mir nicht ein! Aber das sage ich Ihnen, wenn ich mir dächte, daß das Kind je solch ein Papier zwischen ihre kleinen Zähne steckte – ich packte auf der Stelle mit ihr ein –“

Sie verstummte; denn sie war auf die Schwelle getreten und stand vor uns. Charlotte, die neben ihr erschien, hatte eine Papiercigarre zwischen den kirschrothen Lippen, und ihr lachendes Gesicht verschwand hinter einer dicken Rauchwolke, die sie, jedenfalls Ilse zum Trotz, kräftig ausgestoßen hatte. Bei Herrn Claudius’ Anblick fuhr sie aber doch sichtlich frappirt zurück, sie wurde feuerroth und nahm schleunigst die Cigarre aus dem Munde. Ihr Anblick reizte mich zum Lachen, und die Leichtigkeit und Grazie, mit der sie die Cigarre handhabte, machte sie mir nur um so interessanter.

Herr Claudius schien sie gar nicht zu bemerken.

„Sie haben Recht – leiden Sie das nicht, Frau Ilse!“ sagte er gelassen. „Ihrem Hute wird der Tabaksrauch nicht schaden, aber den milden keuschen Glanz der Weiblichkeit überzieht er mit einem häßlichen Ruß.“

Charlotte schleuderte mit einer heftigen Bewegung die Cigarre hinüber in den Teich.

„Hast Du die Einladungen besorgt, Charlotte?“ fragte er so ruhig, als sähe er die Leidenschaft nicht, die ihr in den Fingern zuckte und aus den Augen flammte.

„Noch nicht – Erdmann wird sie gegen Abend forttragen –“

„Dann vergiß nicht, Helldorf eine Karte zu schicken.“

„Helldorf, Onkel?“ fragte sie stockend, als traue sie ihren Ohren nicht; eine hohe Gluth überflog ihre Wangen.

„Ja, er soll morgen mit uns essen – hast Du etwas einzuwenden gegen meine Anordnung?“

„Das weniger – aber neu ist sie mir,“ versetzte sie zögernd.

Er zuckte leicht die Achseln, zog den Hut höflich vor uns und stieg die Treppe hinauf; er ging nicht in das Bibliothekzimmer – ich hörte, wie er droben eine Thür aufschloß.

„Steht denn die Welt plötzlich auf dem Kopfe?“ fragte Charlotte, die bewegungslos, mit niedergesunkenen Armen stehen geblieben war und den Schritten des Hinaufsteigenden gelauscht hatte, bis das Zufallen der Thür herunterklang. „Na, gnade Gott, das wird eine allerliebste Geschichte geben! … Ich will Hans heißen, wenn uns Eckhof morgen die Suppe nicht versalzt!“

„I, was hat sich denn der alte Buchhalter um die Küche zu kümmern!“ rief Ilse ärgerlich – der unermüdliche Morgen- und Abendsänger hatte es bei ihr gründlich verdorben.

„Liebe Frau Ilse,“ lachte Charlotte, „ich will Ihnen einmal etwas sagen. … An dem Geschäftshimmel der Firma Claudius kreist eine Nebensonne, und das ist Herr Eckhof. Onkel Erich thut freilich, was er will; allein er respectirt den hochweisen Rath und die Wünsche des Herrn Buchhalters in einer Weise, daß die bescheidene Nebensonne thatsächlich regiert. … Nun ist Eckchof Helldorf’s Todtfeind, ob mit Recht oder Unrecht, das weiß ich nicht, geht mich auch auf der Gotteswelt nichts an und ist mir schließlich sehr egal, denn ich kenne den – Menschen nicht, rein gar nicht! Ich weiß nur, daß Helldorf bis zu dieser Stunde mit keinem Fuß die Gesellschaftsräume im Hause Claudius betreten hat, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es Herr Eckhof nicht wünscht. … Morgen nun soll er plötzlich an einem Diner theilnehmen, das Onkel Erich zwei angesehenen amerikanischen Geschäftsfreunden giebt – Eckhof wird wüthen und mit Tractätchenschwung das Gericht des Herrn herabbeschwören – denn das ist eine Auszeichnung für Helldorf, wie sie der Onkel sonst nur hochehrwürdigen Glatzen oder weltberühmten Firmen gönnt. … Ich sage Ihnen ja, die Welt steht auf dem Kopfe, und es soll mich gar nicht wundern, wenn die steinernen Männer dort,“ sie zeigte nach der Gruppe inmitten des Teiches, „aufstehen, ihre Reverenz machen und uns versichern, daß wir schöne Mädchen sind!“

Ich mußte lachen, und auch Ilse schmunzelte wider Willen.

„Was thut denn Herr Claudius im oberen Stockwerk?“ fragte ich – es wollte mir durchaus nicht in den Kopf, ja, ich ärgerte mich darüber, daß „der Krämer“, wie ihn mein Vater nannte, das Reich der Wissenschaft betrat.

„Er kramt jedenfalls zwischen seinen Fernrohren. … Haben Sie denn die zwei Auswüchse auf der Karolinenlust noch nicht gesehen? Der eine bildet die Kuppel im Antikencabinet und den anderen hat sich der Onkel zur Sternwarte eingerichtet. … Nicht wahr, das sieht aus, als hätte auch er höhere Interessen? Glauben Sie’s um Gotteswillen nicht – die Beschäftigung läuft ganz auf Eines hinaus, er zählt droben am Himmel die blanken Goldstücke, wie die Thaler auf dem großen Comptoir-Zahltisch.“

Sie griff in die Tasche und zog ein kleines, schmales Paquet hervor. „Und nun, weshalb ich gekommen bin, Hier sind die Strümpfe – ein Dutzend – die ich für Sie aus R. verschrieben habe – sie sind eben eingetroffen, und morgen bringt auch die Schneiderin den Anzug.“

„Lassen Sie sich doch nicht anführen, Fräulein; das ist doch sein Lebtag kein Dutzend!“ rief Ilse und wog das Päckchen auf ihrer breiten Hand; es hatte genau den Umfang wie ein einziges Paar der berühmten Haidschnuckenstrümpfe. Sie schlug das umhüllende Papier zurück, ein wunderfeines, zartes Spitzengewebe quoll heraus.

„So – na, das ist ja recht schön!“ sagte sie grimmig. „Da kann die Kleine auch in K. halb barfuß laufen. … Das sind mir ja recht vornehme Dinger, die kommen nie auf die Wäschleine – nach dem ersten Spaziergang fliegen sie in die Lumpenkiste. … O weh, meiner armen Frau ihr Geld!“

Sie schritt spornstreichs nach dem Wohnzimmer.

„Lassen Sie sich nicht irre machen, Kleine,“ sagte Charlotte in ihrem bestimmtesten Ton. „Ich trage Jahr aus, Jahr ein keine anderen, und wenn zehnmal Fräulein Fliedner über diese sogenannte Verschwendung ihre kleine Nase rümpft. … Ich habe nun einmal eine empfindlich feine Pariser Haut, und Sie müssen Ihrer Stellung Rechnung tragen, und damit Basta!“

Sie huschte fort, und ich ging mit etwas ängstlichem Herzen [695] Ilse nach. Sie hatte Hut und Gesangbuch abgelegt, und stand eben mit dunkelgeröthetem Gesicht vor dem Blumentisch in meinem Zimmer. Er sah schlecht und vernachlässigt aus. Ich hatte die Blumen von vornherein mit ungünstigen Augen angesehen und begoß sie nicht, obgleich mir Ilse streng dieses Geschäft zugewiesen hatte. Jetzt hingen die prachtvollen Blüthen verschmachtend die Kelche nieder.

Ilse sagte kein Wort und zeigte nur mit dem Finger auf mein Werk, und da kam der Widerspruchsgeist und Trotz über mich.

„Ei, was geht mich denn der Tisch an?“ sagte ich grollend. „Ich sehe gar nicht ein, weshalb ich mich mit den Blumen abquälen soll. Ich habe sie ja gar nicht von Herrn Claudius verlangt – weshalb stellt er sie denn durchaus in mein Zimmer! Nun mag er sie auch pflegen lassen!“

„So ist’s recht – es wird ja immer schöner!“ sagte sie mit tonloser Stimme. „Spitzen an den Füßen und ein undankbares Herz. Lenore, auf den Dierkhof kommst Du nicht wieder zurück, und – ich will Dich auch gar nicht haben!“

Ich schrie laut auf und warf mich an ihre Brust – ihre Stimme hatte mir wie ein Dolch das Herz zerschnitten.

„Täubchen hat Dich die Großmutter genannt,“ fuhr sie unerbittlich fort; „ein schönes Täubchen! … Wenn sie’s nur gewußt hätte, was in Dir steckt, da würde sie Dich wohl –“

„Teufel genannt haben,“ ergänzte ich zornig und tief erbittert gegen mich selbst. „Ja, ja, Ilse, das bin ich – ich habe ein böses, schwarzes Herz; aber ich hab’s ja gar nicht gewußt, und nun überrumpelt es mich immer.“

[697]
18.

Am andern Morgen sagte mir mein Vater, daß mich die Prinzessin Margarethe Abends um sechs Uhr zu sehen wünsche. Zum Ueberfluß kam auch noch ein Lakai, um mir selbst die Stunde meines Erscheinens anzuzeigen, da die Prinzessin dem Gedächtniß meines Vaters offenbar nicht traute. Er war aber auch seit gestern viel zerstreuter und in sich gekehrter als bisher. In den Nachmittagsstunden war ein sehr elegant gekleideter Herr mit einem Kästchen unter dem Arme in die Bibliothek hinaufgestiegen und sehr lange droben geblieben, und als dann später mein Vater zu dem Herzog ging, da vergaß er völlig, mir Adieu zu sagen. Ich hörte seine Schritte und lief hinaus in die Halle, und da sah ich, daß eine fieberhafte Röthe auf seinen Wangen lag; er hatte einen seltsam funkelnden Blick, und in dem zerflatternden Haar mußten die Hände unablässig gewühlt haben.

Nun saßen wir Mittags bei Tische. Ich konnte nur wenig essen; mir war beklommen und ängstlich zu Muthe – ich fürchtete mich entsetzlich vor der Prinzessin, die ich mir nicht anders als im goldbrokatenen Kleide, mit der steinfunkelnden Krone auf dem Kopfe denken konnte. Zudem befremdete mich das Wesen meines Vaters. Er rührte keinen Bissen an, unermüdlich drehte er Brodkügelchen zwischen den Fingern, wobei er in das Leere starrte. Er rang offenbar mit sich selbst, etwas auszusprechen; sein Blick streifte dann und wann forschend Ilse’s Gesicht, die arglos, mit mit gutem Appetit aß und dabei wiederholt versicherte, daß es doch in der ganzen Welt nicht so mehlreiche Kartoffeln gebe wie auf dem Dierkhof, weil da sandiger Boden sei.

„Liebe Ilse, ich möchte Sie um etwas bitten,“ hob plötzlich mein Vater an – das klang so kurz und gepreßt, als kämen die Worte nur in Folge eines gewaltsamen innern Ruckes über seine Lippen.

Sie sah von ihrem Teller auf.

„Nicht wahr, Sie haben die Werthpapiere, den letzten Nachlaß meiner verstorbenen Mutter, mitgebracht?“

„Ja, Herr Doctor,“ sagte sie aufhorchend und legte die Gabel hin.

Er griff in die Brusttasche und zog behutsam einen in Papier gewickelten Gegenstand hervor; seine Hände zitterten und die Augen leuchteten auf, als er die seidenweiche Hülle auseinanderschlug – eine prachtvolle, sehr große Denkmünze lag darin.

„Sehen Sie sich das an, Ilse – was sagen Sie dazu?“

„Was Schönes ist’s,“ meinte sie und wiegte mit beifälliger Miene den Kopf.

„Und denken Sie sich, das ist spottbillig zu haben. Für dreitausend Thaler kann ich einen Münzenschatz bekommen, der unter Brüdern mindestens zwölftausend Thaler werth ist.“ – Sein sonst so sanftes, stilles Gesicht hatte etwas Verzücktes angenommen. – „Es ist der erste glückliche Zufall in meinem Leben; bis jetzt habe ich Alles sehr schwer, oft mit unsagbaren Opfern erringen müssen – und gerade in diesem Augenblicke steht mir kein größeres Capital zur Verfügung. … Liebe Ilse, Sie würden mich zu lebenslänglichem Danke verpflichten, wenn Sie mir von dem Ihnen anvertrauten Gelde dreitausend Thaler in die Hände geben wollten. Leonore ist nicht im Mindesten gefährdet, denn ich gebe Ihnen mein Wort, daß das Werthobject wenigstens dreimal so viel in sich enthält, als der dafür gezahlte Preis beträgt.“

„Ja, ja, das mag schon sein, aber wie ist’s denn, gilt denn das auch?“ fragte sie und tippte mit dem Finger auf die Münze, was meinem Vater eine Art von Nervenzucken verursachte.

„Wie verstehen Sie das?“ fragte er langsam.

„Je nun, ich meine, so, daß es der Kaufmann nimmt, wenn man bezahlen will.“

Mein Vater prallte zurück, als habe sie ihn gestochen.

„Nein, Ilse,“ sagte er nach einer Pause niedergeschlagen; „da machen Sie sich eine falsche Vorstellung. Ausgeben kann man diese Art von Geld nicht – man kann es nur wieder verkaufen.“

„So – da bleiben also die dreitausend Thaler im Kasten liegen und sind nur da zum Ansehen, nicht um ein Haar anders, als das zerbrochene Zeug droben in dem großen Saale auch? … Davon aber kann sich das Kind nicht satt essen und keinen Schuh an die Füße kaufen. … Herr Doctor, ich habe Ihnen gleich gesagt, daß das Geld nicht angerührt wird! Wenn ich in Hannover so Päckchen um Päckchen mit den fünf Siegeln, die ich zuletzt nicht ausstehen konnte, auf die Post trug und schließlich ein brummiges Gesicht machte, da sagte meine arme Frau allemal: ‚Ilse, das verstehst Du nicht! Mein Sohn ist ein berühmter Mann, und das gehört dazu.‘ – Und ich bin auch so stockdumm geblieben, Herr Doctor, und hab’s in meinem Leben nicht begriffen, warum meine gnädige Frau so arm werden mußte, warum sie das schöne [698] alte Silberzeug von den Jacobsohns und die Ringe und Armbänder und Ketten verkaufen mußte, weil Sie ein berühmter Mann sind – sehen Sie, und noch weniger will mir’s in den Kopf, daß nun auch das Kind sein Bischen Ererbtes hergeben soll. Nehmen Sie mir’s nicht übel, Herr Doctor, aber es ist mir immer gewesen, als fiele das unmenschlich viele Geld in ein großes, grundloses Loch, denn man sieht und hört nichts wieder davon, wenn es einmal geschluckt ist. … Es kann ja sein, daß es in Ihrem Geschäft steckt, und daß es später einmal, wenn das verkauft wird –“

Mein Vater fuhr in die Höhe – Alles konnte er ertragen und hinnehmen, nur den Gedanken nicht, daß sich je eine fremde Hand an seine Sammlungen legen würde. Er streckte Ilse entrüstet und unterbrechend beide Hände entgegen. Sie verstummte für einen Augenblick, dann aber fuhr sie unerschrocken fort. „Ich habe übrigens auch gar keine Macht mehr über das Geld – es liegt im Vorderhause im Geldschrank – Sie wollten es ja nicht annehmen, Herr Doctor – und da hab’ ich’s Herrn Claudius gegeben. Der ist aber nicht der Mann, der mit sich spaßen läßt, der heute nimmt und morgen wieder herausgiebt, wie Andere gerade wollen.“

Mein Vater schlug, ohne noch ein Wort zu verlieren, das Papier wieder um das Goldstück und steckte es in die Tasche. Seine Verstimmung und wortlose Niedergeschlagenheit gingen mir tief zu Herzen – allein da war nichts zu machen. In Ilse’s ganzem Wesen lag die tiefste Genugthuung darüber, daß sie das Geld in Sicherheit gebracht hatte. Ich fürchtete mich vor den harten, hellen Augen und wagte auch nicht ein Wort der Fürsprache, als mein Vater wieder in die Bibliothek gegangen war. –

In der vierten Nachmittagsstunde trat das hübsche Stubenmädchen, das bei Charlotte auch den Dienst der Jungfer versah, in mein Zimmer. Sie hatte eine kleine verdeckte Korbwanne im Arm, und als sie das verhüllende Tuch lüftete, da bauschten mir weiße mit kleinen schwarzen Blättern besäete Gazewogen entgegen.

„Fräulein Claudius schickt mich – ich soll Anprobe halten,“ sagte sie und kramte den Korb aus. Währenddem versicherte sie Ilse, daß es heute „ein Tag zum Davonlaufen“ im Vorderhause sei.

„Denken Sie sich,“ sagte sie, „wir haben Herrendiner. Alles ist auf den Beinen und läuft und rennt – da befiehlt auf einmal in aller Frühe Herr Claudius – werden Sie’s wohl glauben? – daß die Schreibstube nach dem Hofe zu verlegt werden soll, und zwar sofort – unsere sämmtlichen Männer wollten auf den Köpfen stehen! Ich bitte Sie, die Schreibstube, in der alle Claudius weit über hundert Jahre gearbeitet haben! Und Keiner hat gewagt, auch nur einen Schrank anders zu stellen, und nun auf einmal werden alle die bröckligen, morschen Sachen behutsam aus der alten dunklen Stube in eine sonnenhelle getragen – die werden sich schon wundern! … Und grüne Vorhänge hat der Tapezierer sofort aufstecken müssen, weil es gar zu hell ist und Herr Claudius mit seinen schwachen Augen das Licht nicht vertragen kann. … Darauf mache sich Einer einen Vers – Niemand im Hause kann’s, aber der alte Erdmann geht ganz blaß herum und meint, das deute auf den Untergang der Welt.“

Ich hörte nur mit halbem Ohr hin – was kümmerte mich denn die Schreibstube des Herrn Claudius? … Meine Augen verschlangen die Wunderdinge, die sich unter den Händen der Sprecherin entfalteten. Auch Ilse verfolgte jeden Gegenstand mit prüfenden Blicken, und ihre Finger zogen und zupften zu meinem Schrecken an dem leichten Stoff des Kleides, in wie weit er wohl haltbar sei; als aber die Zofe schließlich ein paar wunderkleiner schwarzer Atlasstiefelchen mit spitzen Fingern vom Boden des Korbes aufnahm und mir lächelnd vor die Augen hielt, da verließ sie, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer.

Ich war doch schrecklich verhärtet – dieses Hinausgehen machte mir nicht den geringsten Kummer, im Gegentheil, ein Stein fiel mir vom Herzen, als Ilse’s härener Rockzipfel hinter der Thür verschwand. Rechts und links polterten die gediegenen Schöpfungen des Haideschusters auf die Dielen – Ilse hatte Recht, in „den Spitzen“ und dem Atlas war es genau so, als sei ich wieder barfuß, als flösse die Haideluft schmeichelnd um meine Füße. Dann tauchte mich die Jungfer in die Gazewolke und steckte hier und da eine schwarze Taffetschleife auf – Duft, wohin ich sah! Er floß um die Arme und Schultern und von der Taille bis auf die Zehenspitzen nieder – und da drin sollte ich stecken? Ich? … Ach, das war ja gar nicht zum Aushalten, das war wirklich zum Davonlaufen! … „Halt, halt!“ schrie die Zofe, „noch die Schleife auf die linke Achsel! So können Sie sich doch vor Niemandem sehen lassen!“

Aber dafür hatte ich keine Ohren. Ich lief bereits durch die Halle, dann über die Brücke und durch den Blumengarten, und um mich her wogte und wallte es, als habe mich eine weiße Sommerwolke aufgenommen.

Heute graute mir nicht vor dem Vorderhaus. Ich rannte die gewundene Steintreppe hinauf nach Charlottens Zimmer. In dem dunklen Corridor stand freilich der alte Erdmann, stets wie aus Holz geschnitzt, und hielt eine Serviette in der Hand – er riß die Augen weit auf vor Erstaunen, und es kam mir vor, als griffe er nach meinem Kleid, um mich zurückzuhalten, als ich an ihm vorüberflatterte – ei, was ging mich denn der alte Isegrimm an? … Ich stürmte ohne Weiteres in das Zimmer hinein.

Seine Fenster gingen nach Hof und Garten hinaus, und wenn auch durch dunkle Tapeten und schwere, braune Damastgardinen abscheulich verdüstert, war es doch das freundlichste im ganzen Hause. Ein prachtvoller Flügel stand an der Wand mir gegenüber. Charlotte saß davor und ihre Hände lagen auf den Tasten, als wolle sie eben beginnen zu spielen. Nicht weit von ihr saß Fräulein Fliedner im perlgrauen Seidenkleid und duftigen Blondenhäubchen – weiter sah ich nichts.

„Ach, Fräulein Charlotte,“ rief ich, „sehen Sie mich doch nur an! … Was sagen Sie denn nur?“ – Ich faßte eine der abstehenden Aermelbauschen. – „Ist’s nicht, als hätte ich Flügel, wirkliche Flügel? … Ach, und die Schuhe – nein, die Schuhe müssen Sie sich ansehen!“ – Ich hob leicht den Saum des Kleides und ließ den Atlas im Licht spiegeln „Nun geht’s nicht mehr: ‚Trab, trab‘, wie in meinen schrecklichen Nägelschuhen! … Passen Sie auf, ob Sie auch nur einen Laut hören, wenn ich über die Dielen gehe.“ – Mit festem Schritt, wie ein Soldat, marschirte ich auf sie zu. – „Nicht wahr, nun bin ich nicht mehr die lächerlich herausstaffirte Kindergestalt, wie Herr Eckhof sagt?“

„Nein, Haideprinzeßchen, nein!“ rief sie. „Wer hätte denn gedacht, daß in der schwarzen Puppe solch ein Schmetterling stecke?“ Sie lachte, lachte, daß sie sich die Seiten halten mußte, und auch Fräulein Fliedner hielt sich ihr Taschentuch vor den Mund und sah mit lächelnden Augen neben mir hin – ich meinte, nach der Wand.

„Haben Sie sich denn schon im Spiegel gesehen?“ fragte Charlotte.

„Ei bewahre – so viel Zeit blieb mir nicht; ist auch gar nicht nöthig. Ich sehe ja das Kleid und die Schuhe so auch, da brauche ich doch nicht erst den Spiegel dazu.“

„Na, aber ansehen müssen Sie sich doch einmal,“ kicherte sie und zeigte nach dem deckenhohen Spiegel, der den Raum zwischen den zwei Fenstern einnahm. Arglos lief ich hin und sah in das Glas – ich stieß einen Schrei aus und steckte den Kopf tief in die verschränkten Arme – o Gott, nicht mit dem leisesten Gedanken hatte ich an die Herrengesellschaft im Vorderhaus gedacht, und nun stand ich mitten drin. Hinter mir, dem Spiegel genau gegenüber, führte eine Thür in die Gesellschaftsräume des Hauses – ich hatte sie bisher nur geschlossen gesehen – jetzt waren beide Flügel zurückgeschlagen, und auf der Schwelle stand Dagobert; seine braunen Augen begegneten lächelnd den meinen. Ein rother Kragen leuchtete unter seinem Kinn, und auf der Brust und an den Schultern blitzte Gold – er war in Uniform. Hinter ihm aber tauchten noch andere lachende Männergesichter auf, und in einem Eckdivan, neben einem alten Herrn, saß Herr Claudius. … Das Alles hatte ich mit einem einzigen Blick erfaßt.

Ich zitterte am ganzen Körper, und in meine Augen traten Thränen der Scham und des Aergers. Da legten sich ein Paar weiche, kühle Hände auf meine Arme und zogen sie vom Gesicht. Herr Claudius war aufgesprungen und stand vor mir.

„Sie haben sich erschreckt, Fräulein von Sassen,“ sagte er. „Es war ein übler Scherz von Charlotte, den sie Ihnen abzubitten hat.“ Er führte mich zu einem Fauteuil und drückte mich sanft in die Polster.

[699] „Ich meine, Du könntest Deinen Vortrag nun beginnen,“ wandte er sich an Charlotte.

„Gleich, lieber Onkel!“ Sie flog auf mich zu, sank auf die Kniee und erfaßte meine Hand. „Geruhen Euer Durchlaucht, mir armen Sünderin zu verzeihen,“ bat sie schelmisch. „Ich thue hiermit Abbitte; aber nur vor Ihnen, Haideprinzeßchen – von allen Anderen beanspruche ich Dank dafür, daß ich eine Augenweide verlängert habe.“

Ich mußte lachen, obgleich mir noch die Thränen an den Wimpern hingen. … Wie sie es nur fertig brachte, so vor Aller Augen auf die Kniee zu fallen – das erschien mir ganz besonders bewundernswürdig – ich wäre am liebsten in ein Mäuseloch gekrochen. Sie fuhr mir mit beiden Händen liebkosend durch die Locken, dann erhob sie sich und setzte sich wieder an den Flügel.

Sie spielte fertig, aber mit zu großem Kraftaufwand; das Instrument dröhnte unter ihren Händen, und es wäre mir lieber gewesen, wenn all das Rauschen und Tosen in der weiten Haide hätte verklingen können – hier kam es nervenerschütternd von den Wänden zurück. Aber ich war der Musik von Herzen dankbar, sie hatte die Aufmerksamkeit der Anwesenden von mir abgelenkt, und nachdem ich eine Zeitlang, tief im Fauteuil wie in einem schützenden Hafen gebettet, regungslos verharrt hatte, wagte ich auch einmal, die Augen aufzuschlagen.

Das Erste, was ich sah, war der alte Buchhalter; er saß in der Fensternische, von dem Vorhang halb verdeckt – Charlotte hatte Recht gehabt, „er war wüthend“. – Gestern hatte seine Entrüstung einen ziemlich grandiosen Styl angenommen – wie eine Art Prophet war er anzusehen gewesen, und das beschwörende Pathos in seiner Stimme und Haltung hatte mich eingeschüchtert und mit Furcht erfüllt. In diesem Augenblick aber war er nur ein tiefgeärgerter Mann, der mit Mühe seinen Groll hinunterwürgte – die Linke, an der kostbare Steine funkelten, lag festgeballt auf dem Fenstersims; das mir halb zugewendete, classisch edle Profil war entstellt durch grollend herabgesenkte Mundwinkel, und die ganze Gesellschaft schien seine Gnade verwirkt zu haben, denn er wandte ihr den Rücken. … Der Gegenstand seines Hasses, der junge Helldorf, lehnte an der Thür, durch die ich gekommen. Er war vielleicht der aufmerksamste und dankbarste Zuhörer, denn er stand unbeweglich, und seine Augen hingen wie festgezaubert an der Spielerin – er mochte anderer Meinung sein, als Herr Claudius, der bei jeder Steigerung, die unter den kraftvollen Händen erdröhnte, finster die Brauen zusammenzog und mißbilligend den Kopf schüttelte – also auch hier spielte er sich auf den Sachverständigen, der – Krämer!

Ich fühlte plötzlich eine leichte Erschütterung des Fauteuils, und sah seitwärts. Dagobert stand neben mir, er hatte den Ellenbogen vertraulich auf die Lehne meines Stuhles gelegt. Bei meinem Aufblick sah er mir tief in die erschrockenen Augen, bog sich ohne Weiteres nieder, und, gedeckt durch rauschende Accorde, flüsterte er mir in das Ohr: „Sie gehen heute noch zu der Prinzessin?“

Ich neigte den Kopf.

„Dann denken Sie auch ein klein wenig an mich in dem Paradies, das Sie betreten werden – ich bitte darum!“

Es kam eine Art von Schwindel über mich. Diese flüsternden Laute, die weich und innig baten, übten eine unbeschreibliche Wirkung auf mein Inneres. Ich sollte ihm, der mir in der Haide so spöttisch und unnahbar gegenüber gestanden, eine Gunst gewähren, ihm, dem Tancred, der in seiner Schönheit und Officierswürde wie ein König unter all den Krämern stand? – Das Blut stürmte mir nach den Schläfen, und ohne zu antworten, senkte ich den Kopf tief auf die Brust – ich war stolz und glücklich, aber das brauchten ja die Anderen nicht zu sehen.

Nach Beendigung des Musikstückes und den üblichen Danksagungen für den Genuß brachen die Gäste auf. Auch Helldorf griff nach seinem Hut. Herr Claudius gab ihm einen Wink, und ich hörte, wie er leise zu dem jungen Mann sagte: „Bleiben Sie noch, ich möchte Sie auch einmal singen hören; man spricht viel von Ihrem Bariton.“

Während des allgemeinen Aufbruchs schlüpfte ich in das anstoßende Zimmer; vielleicht konnte ich von dort aus eine Thür erreichen, durch die ich in den Corridor gelangte. Meine ganze Situation, das unvermuthete Hereinplatzen in die Gesellschaft war doch zu lächerlich gewesen, ich fürchtete Charlottens Spott, wenn wir allein sein würden, und ging ihr für heute lieber ganz aus dem Wege.

An das Zimmer, durch das ich huschte, stieß ein großer Salon, in welchem gespeist worden war. Eine offene Thür führte nach dem Corridor, wo noch der alte Erdmann wie eine Schildwache auf- und abging. … Welch ein Reichthum von Silbergeschirr bedeckte die Tafel inmitten des Zimmers und die Nebentische! Mein Blick streifte im Vorbeigehen darüber hin, dann aber blieb er auf der einen Seitenwand hängen, und ich konnte nicht weiter. …

Das war „der prachtvolle Officier“, wie Charlotte ihn genannt hatte, der aus dem geschnitzten, schweren Rahmen niedersah! – Ein schöner, stolzer Mann mit dem Lächeln der Lebenslust und Siegesgewißheit auf den schwellenden Lippen! … Und die weiße Hand, die sich so kräftig und doch mit so viel ungezwungener Grazie auf die Tischplatte stützte, sie hatte wirklich die Waffe gehoben und mit einem einzigen Druck diese strahlend heitere Stirn zerstört? … Hatte er die grause That in der Karolinenlust verübt? War mein Fuß vielleicht über die Stelle geschritten, wo der Mann mit dem zerschmetterten Kopf gelegen? … Wie oft hatte mir Heinz gruselnd versichert, daß die Selbstmörder Nachts „umgehen müßten und keinen Frieden fänden“! … Und wenn es nun wirklich um Mitternacht durch die versiegelten Säle schlich und die schmale, dunkle Treppe herabkam, und den Schrank neben meinem Bett lautlos auf die Seite rückte? – Fast hätte ich aufgeschrieen vor Entsetzen – ich wandte das Gesicht weg von dem Bild, das mich mit lebendig funkelnden Augen anstarrte – da trat Herr Claudius mit suchenden Blicken in das Zimmer. Alle Scheu und Vorsicht vergessend, deutete ich zurück auf die gefürchtete Gestalt.

„Ist das Unglück in der Karolinenlust geschehen?“ fuhr es mir heraus.

Er wich mit rothüberströmtem Gesicht zurück, und seine Augen schossen Blitze.

„Kind, an was rühren Sie da!“ sagte er finster. „Ich werde diese unberufenen Zungen denn doch bitten müssen, sich ein wenig zu menagiren!“ Er schwieg einen Augenblick und heftete sein Auge auf das Gesicht des Bruders. „Nein,“ sagte er dann milder, „es ist nicht in der Karolinenlust geschehen – ängstigt Sie der Gedanke?“

„Ich – ich fürchte mich vor Gespenstern und Heinz auch, und Ilse, die sagt’s nur nicht!“

Ein ernstes Lächeln schwebte um seine Lippen. „Ich sehe bisweilen auch Gespenster, die ich fürchte, und in diesem Augenblick mehr als je,“ sagte er – ich wußte nicht, ob er im Scherz oder Ernst sprach – „Sie gehen heute noch an den Hof?“

Ich mußte innerlich lachen, er stellte dieselbe Frage, wie Dagobert.

„Ja,“ versetzte ich, „und ich werde mich sputen müssen, um sechs Uhr sollen wir im Schlosse sein.“

Ich wollte rasch über die Schwelle schreiten, er hielt mich mit sanfter Hand zurück.

„Denken Sie an sich, damit Sie sich in der Hofluft nicht selbst verlieren!“ warnte er mit einer eigenthümlichen Betonung und hob den Zeigefinger. Es war seltsam, fast, und zwar zum ersten Mal, wäre mir diese Stimme zu Herzen gegangen – ah bah, das rieth mir der Mann, der auch immer nur an sich dachte! Wie ganz anders hatte doch Dagobert gebeten! …

Ich schüttelte den Kopf, lief hinaus und sprang die Treppe hinab. … Ein Glück aber war’s, daß Ilse mein widerwilliges Kopfschütteln nicht sah – o, die Moralpredigt, die es da abermals gegeben hätte!



19.

In meinem Zimmer fand ich die Zofe noch vor. Sie bemächtigte sich meiner, steckte die fehlende Schleife fest, und setzte mir ein rundes, weißes Strohhütchen auf die Locken.

Ich warf einen Blick in den Spiegel und fand plötzlich, daß mein nie beachtetes Haar, das mir stets eine unliebsame Last gewesen, doch eigentlich in prächtigen, glänzend schwarzen Ringeln über den Nacken hinabwoge, und daß es vorzüglich schön von den milchweißen Bändern des Hutes absteche. Ilse mit ihren scharfen Augen ertappte mich sofort auf dieser allerersten Selbstbeäugelung, das harte Gesicht mit den carmoisinrothen Backenknochen erschien [700] auf einmal mit einem bitterbösen Ausdruck über meinem geschmückten Kopf im Spiegel.

„Nun ist wohl auch schon der Spiegelnarr fertig?“ schalt sie. „Das ist sein Lebtag kein ehrbares Frauenzimmer, das sich neugierig beguckt, ob ihm auch die Nase schön im Gesicht stehe. … Sünde ist’s, weißt Du das? … Wenn meine arme Frau der Christine bei Zeiten den Spiegel weggenommen hätte, da wäre auch Vieles anders gekommen. … Zuhängen werd’ ich das Glas, ehe ich fortgehe, daß Du’s weißt!“

Das brauchte sie nicht. Daß es Sünde sei, konnte ich nicht einsehen; denn die Nase und die ganze Gestalt hatte mir ja der liebe Gott gegeben; aber eine Lächerlichkeit war’s, mit sich selbst zu liebäugeln; ich errötete vor meinen eigenen Augen und schämte mich, als hätte ich etwas Dummes gesagt.

Das Stubenmädchen entfernte sich mit einem mitleidig lächelnden Blick auf mich, der der Text so scharf gelesen wurde, und ich ging hinauf in die Bibliothek, um meinen Vater abzuholen.

Schon draußen vor der Thür hörte ich ihn mit raschen Schritten hin- und hergehen und laut sprechen. Ich meinte, es sei Jemand bei ihm, und öffnete leise die Thür, – er war allein, aber in nicht zu verkennender Aufregung. Unablässig durchmaß er das weite Zimmer und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Manchmal blieb er stehen, nahm die Goldmünze, die er heute Ilse gezeigt, vom Tische auf, besah sie, als wolle er das mattblinkende Metall mit seinem Blick durchdringen, und legte sie tief aufseufzend wieder nieder. Dann schlug er mit seinen fleischlosen Knöcheln so hart auf die Tischplatte, daß sie erdröhnte, und die Wanderung begann von Neuem. Mich bemerkte er nicht, obwohl ich schon einige Minuten im Zimmer stand.

„Vater, was hast Du?“ fragte ich endlich schüchtern.

Er fuhr herum. Im ersten Augenblick erkannte er mich nicht in dem neuen Costüm, ich lachte und lief auf ihn zu. Sein verdüstertes, sehr erhitztes Gesicht erheiterte sich, ein wohlwollendes Lächeln, das mich tief beglückte, flog wie ein Sonnenstrahl darüber hin.

„Ei sieh da, Lorchen! … Was bist Du für ein hübsches, kleines Mädchen!“ rief er. Er erfaßte meine beiden Hände und betrachtete mich von Kopf bis zu Füßen. … Wie unsäglich dankbar schlug ihm mein Herz entgegen! Inmitten seiner wissenschaftlichen Sorgen und Kümmernisse hatte er doch Augen für meine kleine Person.

„Wollen wir noch nicht gehen, Vater?“ fragte ich, nahm allen meinen Muth zusammen, strich ihm das Haar glatt und zog die verschobene Atlascravatte unter seinem Kinn zurecht. „Die Prinzessin wartet vielleicht – o, wie mein Herz klopft vor Angst!“

„Ich erwarte erst noch einen Herrn, den ich zum Herzog führen will,“ sagte er kurz, ohne meinen letzten Ausruf zu beachten – weg war die heitere Stimmung! Er entzog sich meinen ordnenden Händen, fing wieder an zu wandern, und nach zwei Secunden starrten die glattgestrichenen Haare zu meinem Leidwesen nach allen vier Winden.

„Willst Du mir denn nicht sagen, was Dich so sehr bekümmert?“ fragte ich bittend.

Er schritt gerade mit rückwärts verschränkten Armen an mir vorüber.

„O mein Kind, das kann ich Dir nicht sagen! … Ich wüßte gar nicht, wie ich es anfangen sollte, mich Dir verständlich zu machen! – War es doch heute Mittag eine wahre Riesenaufgabe Ilse gegenüber!“ rief er fast ungeduldig nach mir zurück und ging weiter.

Ich ließ mich nicht so ohne Weiteres abfertigen. „Es ist wahr, ich bin entsetzlich dumm in der Haide geblieben!“ sagte ich aufrichtig. „Aber wer weiß, vielleicht verstehe ich Dich doch besser, als Du denkst – probir’s einmal!“

Er lächelte halb verdrossen und unlustig, nahm aber doch die Münze auf und hielt sie mir hin.

„Nun, da sieh her! … Das ist ein wunderseltenes Stück – ein sogenanntes Medaillon. … Es ist in meiner Sammlung nicht vertreten, weil ich bis zur Stunde seiner nicht habhaft werden konnte.“ Mit strahlenden Blicken hielt er es gegen das Licht. „Köstlich! – Es hat seine Stempelblume fast unberührt erhalten! … Der Herr, den ich erwarte, verkauft diese Medaillen, lauter unschätzbare Exemplare – verstehst Du mich, mein Kind?“

„Die Ausdrücke nicht, Vater, aber was Du schließlich willst, weiß ich ganz genau – Du möchtest die Goldstücke um Alles nicht wieder aus der Hand lassen –“

„Kind, ich gäbe freudig Jahre von meinem Leben darum, wenn ich sie kaufen könnte!“ unterbrach er mich schwärmerisch. „Aber ich bin leider außer Stande – binnen einer Stunde wird der Herzog die auserlesensten Stücke für sein Medaillencabinet erworben haben – und ich –“

Er verstummte, denn der Herr mit seinem Kästchen unter dem Arm, der gestern schon in der Bibliothek gewesen war, trat herein. Ich sah, wie mein Vater erblaßte.

„Nun, wie ist’s, Herr von Sassen?“ fragte der Herr im Eintreten.

„Ich – muß davon absehen –“

„Vater,“ sagte ich rasch, „ich verschaffe Dir, was Du brauchst!“

„Du, mein kleines Mädchen? … Wie wolltest Du denn das anfangen?“

„Das lasse meine Sorge sein! Aber die Münze muß ich haben, damit ich mich auf sie berufen kann!“ … Ei, wie ich plötzlich resolut und praktisch wurde! Ich war ganz stolz auf mich selbst – das hätte Ilse sehen sollen!

Mein Vater lächelte ungläubig, aber es war doch ein Strohhalm, an den er sich noch für einen Augenblick anklammern konnte. Er sah den Herrn fragend an – derselbe neigte zustimmend den Kopf, wickelte die Münze in das Papier und übergab sie mir. Ich umschloß sie in der Tasche krampfhaft mit meiner Hand, denn ich wußte ja, daß sie unschätzbar sei, und lief nach dem Vorderhause.

Wie wollte ich Herrn Claudius bitten, mir dreitausend Thaler von meinem Gelde zu geben! Wie wollte ich ihm den Kummer meines Vaters in beweglichen Worten vorstellen! Wenn er nicht durch und durch von Stein war, da mußten ihn doch die Bitten der Tochter rühren, die ihren Vater um Alles gern glücklich sehen wollte. … Freilich hatte mich noch nie eine so unsägliche Scheu vor ihm erfaßt, als gerade in diesem Augenblick, wo ich, in mich hineinfröstelnd, als Bittende die kühle dunkle Hausflur wieder betrat, die ich kaum erst im offenkundigen und übermüthigen Widerspruch verlassen. … Aber vorwärts! – Es mußte ja sein! Ich hatte meinen Vater schon viel zu lieb, um ihm nicht jedes Opfer zu bringen, selbst das, vor der kalten Geschäftsmiene des Herrn Claudius geduldig auszuharren. … Ach was! Hatte er mir doch auch die vierhundert Thaler für meine Tante gegeben – weshalb sollte er mir da die Dreitausend verweigern! Ich unterschrieb eben einfach wieder, und damit war die Sache abgemacht.

[713] Erdmann und das Stubenmädchen trugen eben eine Korbwanne voll Eßgeschirr die Treppe hinab, als ich hinaufstieg. Noch stand die Thür des Speisesalons weit offen. War Herr Claudius noch in Charlottens Zimmer, so konnte ich mich ihm vielleicht durch die offene Thür bemerklich machen, ohne daß die Anderen es sahen, denn Zeugen mochte ich nicht haben bei meiner Bitte.

Ich wollte eben das nächste Zimmer betreten, da schlugen zwei prachtvolle Menschenstimmen an mein Ohr – wie festgewurzelt blieb ich stehen, obgleich mir der Boden unter den Füßen brannte und die Angst um jede verlorene Minute mein Herz heftig klopfen machte.

„O säh’ ich auf der Haide dort
Im Sturme dich!
Mit meinem Mantel vor dem Sturm
Beschützt’ ich dich –“

sangen Charlotte und Helldorf. Ich sah schräg durch die Thüröffnung die zwei prächtigen Gestalten nebeneinander stehen, während Dagobert am Flügel saß und den Gesang begleitete.

O, meine Haide im Sturm, im Frühlingssturm! Wenn er über den Dierkhof hinfuhr, die trotzigen, alten Eckpfeiler wegzustoßen und die Fensterscheiben einzudrücken versuchte, wenn er den Eichen die vorjährige, ehrwürdig vertrocknete Blätterperrücke abriß und sie in tausend Atome zerpflückte, wenn Ilse vorsorglich alle Thüren schloß und die Hühner aus dem weiten, unbeschützten Hof auf ihre Querstangen in der Tenne flüchteten, da lief ich hinaus vor die Umzäunung und schrie das vorüberbrausende Heer in den Lüften an. … Es war ja kein Sturm, wie der im Winter! Es waren tausend und abertausend Stimmen, die ausgeschlafen hatten, und nun in einander jubilirten! Da brauste das Wasser drin, das sich vom Eis erlöst hatte, da rauschte der Wald hinein, in dem das aufquellende Leben stürmisch pulsirte, da klang schon jedes Blumenglöckchen mit, das sich aus der braunen Hülle schälen sollte. … Und ich ließ mich von seinen Händen greifen und forttragen – Ruck um Ruck ging es über die Haide hin, taumelnd wie ein fortgewirbeltes Eichenblatt, bis ich auf dem Hügel stand und halb erschrocken, halb aufjauchzend meine Arme um die Föhre schlang. Wir zitterten und schwankten beide, die alte Föhre und mein kleiner Körper, aber sie rasselte lustig mit ihren Nadeln, und ich lachte hinauf in die großen, dicken Wolken, die mit zuckenden Gliedern hülflos weiterstürmen mußten. Es riß und zerrte an meinem Röckchen, und das Haar zerpeitschte mir das Gesicht – aber ich brauchte „keinen Mantel, der mich beschützte“ – es war etwas von Stahl und Eisen in meinen gescholtenen Kinderhänden und -Füßen; ich kämpfte mich tapfer wieder heim und schalt Spitz, der sich unterdessen faul seinen Pelz in der sichern Ofenecke gewärmt hätte.

„Und käm’ mit seinem Sturme je
Dir Unglück nah –“

sangen sie drinnen, und die Stimmen stiegen aufwärts, wie der Sturm auffliegt und im vollen Ausbrausen gipfelt. Ich war wie berauscht von den Tönen; allein ich durfte mich dem Zauber nicht länger hingeben – fort mit dem Heimweh und seinen schmerzlich süßen Träumen! … Ich sah meinen Vater aufgeregt in der Bibliothek hin- und herlaufen, und das trieb mich sofort über die Schwelle.

Da saß seitwärts, tief in die Ecke des Zimmers gedrückt, Herr Claudius, ganz allein. Er hatte den Ellenbogen auf die Seitenlehne des Fauteuils gestützt und vergrub Stirn und Augen tief in der Hand. Das dicke blonde Lockengeringel fiel über die weißen Finger – ich wich beklommen zurück, selbst der matte Silberschein der Haare wirkte erkältend und ernüchternd auf mich; ich konnte mich plötzlich auf kein Wort meiner heroischen schönausgedachten Anrede mehr besinnen; angesichts seiner Persönlichkeit fühlte ich nur das Eine, daß er mich zurückweisen würde, sehr höflich und mit gütevoller Stimme, allein so fest und bestimmt, daß jedes fernere Wort zur Zudringlichkeit wurde. … Und wenn er jetzt auch dasaß, wie der Welt entrückt, wie tief versunken in den erschütternden Gesang – in seinem Kopfe kreisten doch nur Zahlen, und ich wußte es, sobald ich ihm die Dreitausend nannte, da lächelte er leise und sagte wieder: „Sie haben offenbar keinen Begriff, wie viel Geld das ist!“

Trotz alledem stand ich plötzlich neben ihm; wie ich die wenigen Schritte Weges überwunden, wußte ich selbst kaum. Ich bog mich zu ihm hin und nannte halblaut seinen Namen. … Himmel, ich hatte ihn ja nicht erschrecken wollen, meine Stimme hatte so schwach und verzagt geklungen, und doch fuhr er in die Höhe, als habe die Posaune des Weltgerichts sein Ohr getroffen. Er sprang auf und lächelte – ich wußte wohl, warum – wie konnte man auch über solch ein kleines Geschöpf erschrecken, das wie ein winziger Zaunkönig lautlos herangehüpft war! …

Böse war er nicht, das sah ich, und doch brachte ich kein Wort über die Lippen. Hätte er doch nur die schreckliche Brille [714] vor den Augen gehabt und die breite Hutkrempe über der Stirn – er sah auf einmal gar so jung aus seinen feurig blauen Augen. … Ich kam mir entsetzlich einfältig vor, und ihm fiel es nicht ein, mir aus meiner unbeholfenen Verlegenheit zu helfen – er schwieg, während sie drinnen sangen.

„Dann wär’ mein Herz dein Zufluchtsort,
Gern theilt’ ich’s ja.“

„Wollten Sie mich sprechen?“ fragte er endlich halblaut, als die Sänger schwiegen.

„Ja, Herr Claudius, aber nicht hier.“

Er trat sogleich mit mir in den anstoßenden Salon und schloß beide Thüren.

Die Augen unverwandt auf ein glänzend polirtes Carreau in dem getäfelten Fußboden gerichtet, trug ich mein Anliegen vor, und es ging; ich fand die Worte und Ausdrücke wieder, die ich mir ausgedacht, ich schilderte ihm, wie heftig mein Vater den Besitz der Münzen wünsche, daß er nicht essen könne vor Aufregung; ich versicherte ihm, daß ich es durchaus nicht ertragen könne, ihn leiden zu sehen – durchaus nicht, und deshalb Rath schaffen und die Dreitausend haben müsse, um jeden Preis – dann sah ich zu ihm auf.

Er sah wieder genau so aus, als stünde er drunten im Schreibzimmer neben seinem dicken Folianten – das Bild des ruhigen Anhörens, der kühlsten Ueberlegung und Vorsicht.

„Ist das Ihr eigener Gedanke oder hat Herr von Sassen zuerst den Wunsch ausgesprochen, ein Capital aus Ihrem Vermögen zu entnehmen?“ fragte er – wie stach dieser gehaltene Ton häßlich ab von meiner warmen Beredsamkeit, und wie reizte er mich! … aber in die klarblickenden Augen hinein konnte ich doch weder geradezu lügen, noch eine Bemäntelung erfinden, wozu ich allerdings einen Augenblick die größte Lust verspürte.

„Mein Vater hat heute Mittag den Wunsch gegen Ilse ausgesprochen,“ versetzte ich zögernd.

„Und sie hat sich geweigert?“

Ich bejahte niedergeschlagen – ich wußte es, die Sache war bereits verloren.

„Haben Sie sich nicht selbst gesagt, Fräulein von Sassen, daß ich Ihnen die Summe dann noch viel weniger geben darf und werde?“ –

Vergessen war der Vorsatz, mich auf demüthiges Bitten zu verlegen und in Geduld auszuharren gegenüber dieser kaufmännischen Berechnung und Gelassenheit! … Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden, „mein böses Herz überrumpelte mich“.

„Freilich habe ich mir das selbst gesagt,“ antwortete ich rasch, mit fliegendem Athem, – ich zeigte auf die Thürschwelle. „Da hab’ ich eben noch gestanden und mich vor Grauen geschüttelt. … Aber ich habe meinen Vater lieb und wollte ihm das schwere Opfer bringen.“

Er sagte nicht ein Wort, als ich für einen Moment verstummte – er war wirklich durch und durch von Stein, alle meine Vorstellungen waren wirkungslos abgeprallt – und da sollte man nicht zornig werden? … In meinen Füßen zuckte es fast unwiderstehlich, den Boden zu stampfen – ich wandte ihm heftig den Rücken und rief in ausbrechendem Groll über die Schulter zurück: „Ich will das Geld nun gar nicht! Lächerlich, daß ich um das, was mir meine liebe Großmutter doch geschenkt hat, bei Fremden betteln soll! … Aber das thue ich nicht, ganz gewiß nicht! … Ich werde Sie nie, nie wieder um Etwas bitten, und wenn es mir zehnmal gehört, und ich das Recht habe, darüber zu verfügen –“

„Nicht über einen Pfennig haben Sie in diesem Augenblick zu verfügen!“ fiel er ein, ohne alle Heftigkeit, aber mit großem Ernst und Nachdruck. „Und das will ich Ihnen sagen, wenn Sie das wilde Kind der Haide in so ungeberdiger Weise herauskehren, dann erreichen Sie bei mir nie Etwas. … Mögen Sie immerhin auf die Bäume klettern und durch den Fluß laufen, darin sollen Ihnen die Flügel nicht beschnitten werden – aber aus der Seele will ich das wilde Element scheiden.“

Also er umklammerte mich richtig mit seinen eisernen Fingern und ließ mich nicht eher wieder frei, als die zwei Leidensjahre um waren! … Gott, was für ein klägliches Zerrbild wollte er aus mir machen!

„Wenn ich’s leide,“ sagte ich und warf den Kopf zurück. „Heinz hatte einmal einen Raben gefangen, und als er ihm die Flügel beschneiden wollte, da biß ihm der Vogel den Finger blutig –“

„Und so tapfer wollen Sie sich auch wehren, kleine Haidelerche?“ fragte er und sah lächelnd auf seine schlanken Finger herab. „Der böse Rabe hat eben nicht einsehen können, daß ihn Heinz zu seinem trauten Hausgenossen machen wollte. … Aber nun wollen wir weiter über die Geldangelegenheit reden. Mit Ihrem Vermögen darf ich so wenig willkürlich schalten und walten, wie Sie selbst, dagegen bin ich sehr gern bereit, Herrn von Sassen die nöthige Summe aus eigenen Mitteln vorzustrecken. … Sagten Sie nicht, der Verkäufer sei augenblicklich bei Ihrem Vater?“

Beschämt griff ich in die Tasche und reichte ihm das Medaillon hin.

„Ach, eine Kaisermünze aus der Zeit der Antonine! Ein schönes Exemplar!“ rief er. Er trat an das Fenster und betrachtete sie eine lange Zeit scharf prüfend von allen Seiten – wieder einmal, als ob er wirklich auch davon etwas verstünde.

„Kommen Sie,“ sagte er und öffnete das anstoßende Zimmer zur rechten Hand. Es hatte schwerseidene Draperien an den Wänden und war eben so düster, wie alle in dieser endlos langen Flucht liegenden. Einem der Fenster nahe stand ein Schrank von dunklem Schnitzwerk mit schweren, fein ciselirten Silberbeschlägen.

Herr Claudius schloß das wunderliche, altmodische Geräth auf und zog einen Kasten heraus – da lagen ganze Reihen solcher Medaillen, von denen mein Vater gesagt, daß sie wunderselten seien, wohlgeordnet auf dunklem Sammetgrunde. Er nahm eine derselben auf, legte sie auf seiner Handfläche neben die von mir gebrachte, verglich beide noch einmal prüfend, und hielt sie mir hin. Sie glichen sich, wie ein Ei dem anderen, nur sah die aus dem Kasten genommene bedeutend abgegriffener aus.

„Diese ist schöner,“ sagte ich und zeigte auf die Münze, die mein Vater so heiß ersehnte.

„Ja, das glaube ich Ihnen,“ versetzte er. „Mir aber gefällt sie nicht.“

In diesem Augenblick wurde die nach dem Speisesalon führende Thür aufgemacht, und als wir Beide uns umwandten, sahen wir Dagobert auf der Schwelle stehen. Herr Claudius faltete mißmuthig die Brauen, allein der junge Mann ließ sich dadurch nicht verscheuchen; er trat näher, und seine braunen Augen irrten erstaunt über die Münzenreihen hin.

„Himmel, welche Pracht!“ rief er überrascht. „Onkel, bist Du denn Sammler?“

„Ein wenig, wie Du siehst.“

„Und davon weiß die Welt kein Wort!“

„Ist es nöthig, daß die Welt meine kleinen Passionen kennt?“ – Wie stolz gelassen klang das!

„Nun, wenn auch das nicht,“ versetzte Dagobert. „aber in einer Zeit, wo fast die ganze Residenz sich mit wahrhaft fieberndem Interesse der Alterthumskunde zuwendet, ist diese Passivität geradezu unbegreiflich.“

„Meinst Du? … Ich will Dir sagen, daß ich selten an Etwas Genuß finde, das gerade als Modeartikel auf dem großen Markt liegt, und von Unberufenen zu ganz anderen Zwecken ausgebeutet wird, als sie die Wissenschaft verfolgt. … Auch bin ich sehr auf meiner Hut mit meinen kleinen Neigungen, ich bringe sie durchaus nicht in Concurrenz – sie wachsen uns unter fremdem Einfluß über den Kopf, und einer solchen ausgebildeten Leidenschaft ist dann Nichts unerreichbar, sie rührt an das Heiligste und nimmt die Mittel vom Altar, wenn es sein muß.“

„Nun, vor der Sünde schützen Dich denn doch die Ersparnisse Deiner Ahnen, Onkel!“ lachte Dagobert. Er schüttelte den Kopf „Unglaublich! Du interessirst Dich für Alterthümer und lässest eine kostbare Antikensammlung so und so viel Jahre im Keller verschimmeln, ohne sie zu berühren.“

Herr Claudius zuckte leichthin die Achseln. „Vielleicht beurtheilst Du das anders, wenn Dir das Testament meines Großvaters zu Gesicht käme. Nach seinem Wunsch sollten die Antiken begraben bleiben für alle Zeiten.“

„Ach so – da kann ja Herr von Sassen stolz sein – er hat mit seinen Bitten die unsinnigen Traditionen des Hauses über den Haufen geworfen –“

„Er weniger, als meine schließliche Ueberzeugung, daß weder [715] meinem Großvater, noch mir das Recht zusteht, Kunstschätze der Welt zu nehmen und sie für immer verschwinden zu lassen,“ lautete die sehr ruhige Antwort.

Ich stand wie auf Nadeln bei diesem Gespräch – die kostbare Zeit verrann. Zu meiner Beruhigung trat Dagobert in das Fenster und sah einer Equipage nach, die vorüberrollte; Herr Claudius aber legte das Medaillon in den Kasten, schob ihn zu und gab mir die Münze zurück.

„Es thut mir herzlich leid, daß ich mein gegebenes Wort zurücknehmen muß,“ sagte er zu mir. „Allein beim Ankauf dieser Art Münzen möchte ich nicht behülflich sein – das Medaillon in Ihrer Hand ist unecht.“

Dagobert fuhr herum.

„Wer will die Münzen kaufen?“ fragte er

„Herr von Sassen.“

„Wie, Onkel, er findet die Münzen preiswürdig, und Du willst ihn corrigiren? … Verzeihe, das fuhr mir so heraus – es war nicht höflich!“ setzte er augenblicklich entschuldigend hinzu.

Herr Claudius lächelte leise. „Du hast eben nur meine Ansicht documentirt, nach welcher der Laie sehr wohl thut, mit seiner Weisheit still zu Hause zu bleiben. Einer Autorität gegenüber wird sein Urtheil stets eine Unbescheidenheit sein.“

Er schloß den Schrank, und ich verließ, ohne noch ein Wort zu verlieren, aber auch mit steifem Nacken, das Zimmer. Dagobert trat mit mir zugleich über die Schwelle der Salonthür.

„Unverschämt!“ murmelte er zwischen den Zähnen, doch so, daß ich’s hören konnte, und schritt wieder nach dem Zimmer seiner Schwester, während ich scheu und schweigend davonrannte.

Ja, eine Unverschämtheit war es meinem weltberühmten Vater gegenüber! … Ich lief wie gejagt durch die Gärten und stürmte in großer Aufregung die Treppe der Karolinenlust hinauf.

„Nun?“ fragte mein Vater in athemloser Spannung, als ich eintrat.

„Herr Claudius behauptet, die Münze sei unecht!“ rapportirte ich mit erstickender Stimme.

Der fremde Herr brach in ein unauslöschliches Gelächter aus – er schien sich gar nicht wieder beruhigen zu können. Mein Vater dagegen zuckte verächtlich die Achseln. „Krämerweisheit!“ stieß er hervor. „Mit solchen Leuten muß man sich eben nicht einlassen.“

Er griff nach seinem Hut, stülpte ihn auf das wirre Haar und reichte mir den Arm. „Gehen wir,“ sagte er resignirt.




20.

Im Geschwindschritt ging es durch die Gärten; mein Vater wußte schon nach wenig Augenblicken nicht mehr, daß ein ängstlich trippelndes kleines Mädchen an seinem Arme hing und auf den Zehenspitzen wie eine fortgewirbelte Schneeflocke neben ihm herflog. Er sprach unausgesetzt mit dem fremden Herrn, zu meinem Verdruß genau so unverständlich und in Fremdwörtern herumwühlend wie der alte Professor in der Haide.

Als wir quer den Hof durchschritten, scholl Helldorf’s prachtvolle Stimme herab, er sang allein. Mein Vater hemmte überrascht für einen Moment seinen Sturmschritt. Bis dahin hatte ich mich nie weiter in dem Hofe zu orientiren gesucht, er war mir zu kahl und nüchtern. Jetzt aber, wo wir uns direct nach dem Ausgangsthor wandten, das den linken Seitenflügel durchbrach, glitten meine Augen über das vor mir liegende Erdgeschoß des Hintergebäudes. An vier Fenstern, die sich nebeneinanderreihten, war je ein Flügel halb geöffnet; eine ganze Schaar junger Mädchen saß drinnen; die Brustwehr war sehr niedrig und ließ ununterbrochen geschäftige, flinke Hände sehen; an dem mir zunächstliegenden Fenster hielt eben eine Arbeiterin einen halbvollendeten Myrthenkranz prüfend an sich, ehe sie den nächsten Zweig einband.

Das war also die Hinterstube, mit welcher mir Charlotte schon am zweiten Tage meines Aufenthaltes einen heillosen Schrecken eingejagt hatte. Sie erschien mir durchaus nicht finster und abschreckend; Licht und Luft hatte sie vollauf, und die Mädchen sahen sehr sauber und wohlgekleidet aus. Alle diese blonden und dunklen Köpfe lauschten dem Gesange, keine Lippe regte sich. … Da sah ich, wie plötzlich ein jähes Aufschrecken durch die ganze Gesellschaft zuckte, sämmtliche Stirnen senkten sich tief auf die Arbeit, und das Mädchen mit dem Myrthenkranz schob leise und unmerklich mit dem Ellenbogen den Fensterflügel zu, während sich ihr erröthetes Gesicht nach der Tiefe des Zimmers drehte. … Eine Thür fiel drinnen heftig in das Schloß und gleich darauf hörte man den alten Buchhalter schelten.

„Welch ein Zugwind!“ rief er – seine sonore Stimme scholl um so kräftiger hinaus in den Hof, als der Gesang droben für einen Augenblick schwieg – „Ach so, man hat die Fenster geöffnet und horcht auf die Verlockung des Satans und legt dabei die Hände in den Schooß! … Ihr thörichten Jungfrauen, bei Euch wird es auch heißen: ‚Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht‘ … ‚Es ist besser hören das Schelten des Weisen, denn hören den Gesang des Narren.‘“

Während des letzten Bibelspruchs schlug er klirrend ein Fenster um das andere zu und rüttelte an ihnen, auf daß auch nicht der kleinste Spalt für die eindringenden Töne der Weltlust blieb. Er sah uns vorübergehen; aber seine Augen glitten stolz und abweisend an uns hin – er grüßte nicht.

Mein Vater schüttelte ironisch lächelnd den Kopf.

„Das ist auch so ein dictatorisches Päpstlein,“ sagte er zu dem Fremden, „einer jener Beschränkten, die sich zum Scandal breit machen dürfen mit ihrem leeren Kopf, weil die Reaction den Gedanken verfehmt. … Mit welch staunendem Hohne wohl die nächsten Jahrhunderte auf diese entstellenden und zärtlich gehätschelten Sonnenflecken unserer Zeit zurückblicken werden!“

Wie dauerten mich die armen jungen Geschöpfe in der Hinterstube! Ihnen waren auch die Flügel grausam verschnitten worden; in ihrer Seele hatten sie freilich keine Spur des „wilden Elementes“ mehr; dafür waren sie aber auch Gefangene ohne allen Willen. Sie duckten mäuschenstill die Köpfe und ließen es geschehen, daß man ihnen auch noch die frische Luft entzog, weil sie verbotene Klänge zu ihnen getragen hatte. … Und der unheimliche Morgensänger war es, der ihnen die Flügel stutzen und sie bewachen mußte. … O Herr Claudius, ich machte Ihnen ganz gewiß mehr Mühe! Ich konnte laufen wie ein Hase, und wenn ich hier nirgends ein rettendes Dach fand, unter das ich den Kopf stecken konnte, da ging es eines schönen Tages wieder dahin zurück, wo ich hergekommen. … Es mußte ja nicht gerade der Dierkhof sein, wo Ilse mich scheltend empfing – ich schlüpfte in die kleine Lehmhütte mit den flaschengrünen Fensterlein, da aß ich mit Heinz Buchweizengrütze und flog lachend mit meinen unbeschnittenen Flügeln über die Haide hin. …

Wir hatten das Haus in der Mauerstraße verlassen, und nun ging ich ja doch durch die häßliche, stauberfüllte Stadt, die ich nie wiedersehen wollte. Sie erschien mir nicht mehr so schrecklich, als da die sengende Mittagshitze über ihr brütete. Es hatte sich aber auch Manches verändert – meine Augen begegneten nicht einem einzigen spöttischen Blicke. Frauen gingen an uns vorüber, die mir wohlwollend und so freundlich forschend unter den Hut sahen, als mache es ihnen Freude, zu wissen, was für ein Gesicht auf dem kleinen trippelnden Menschenkinde im nagelneuen Galakleide säße. … Was mir aber plötzlich einen ganz besondern Halt, ja eine Art innern Schwunges gab, infolge dessen ich meinen Kopf um einige Linien höher zu tragen suchte, das war die Art und Weise, wie mein Vater gegrüßt wurde. Der eilig dahinrennende Mann mit der nachlässigen Haltung und dem wirrflatternden Haar war eine nichts weniger als imposante Erscheinung, und doch neigten sich Officiere und elegant gekleidete Herren tief und respectvoll vor ihm, und vornehme Damen, die in prächtigen Equipagen vorüberrollten, grüßten ihn, lebhaft mit der Hand winkend, als sei er ihr bevorzugter Freund. … Dieser große Respect galt einzig und allein dem berühmten Manne, der so ungeheuer viel Wissen in seinem Kopfe hatte – Alle beugten sich vor ihm, nur „der Krämer“ in der Mauerstraße nicht – der wußte ja Alles besser. …

Grollend dachte ich an die Scene vor dem Münzenschranke, und was mich am meisten ärgerte, das war der Eindruck, den ich selbst dabei empfangen. … Hatte der Mann doch wirklich dagestanden, als sei er mit einer überlegenen Macht ausgerüstet, als ruhe jedes seiner Worte auf so solidem Grunde wie sein altes Krämerhaus, und – abscheulich – selbst der glänzende Officier bei all seiner Eleganz und Schönheit war doch neben dem Manne im simplen schwarzen Rocke für einen Augenblick völlig in den Schatten getreten. … Welch eine Entpuppung! Das war „der [716] alte, stille Herr“, der mir am Hünengrab so völlig unwichtig vorgekommen, den ich gar nicht beachtet hatte. …

Wir mußten lange wandern, ehe wir das herzogliche Schloß erreichten. Ein Lakai eilte voraus, um uns zu melden, und während der Münzenverkäufer in einem Vorzimmer wartend zurückblieb, führte mich mein Vater durch Zimmer und Säle. Er fuhr sich noch einmal mit den Fingern durch das Haar, dann schob er mich leise über die Schwelle der Thür, die der heraustretende Lakai weit zurückschlug.

Da war ja der große Moment gekommen, gegen den sich das ungeschulte Kind der Haide im wohlbegründeten Instinct erfolglos gesträubt hatte – ich debütirte über die Maßen kläglich. Charlotte hatte mir gezeigt, wie ich mich verneigen müsse – du lieber Gott, da machte ja Spitz seine kleinen Künste besser, die ihm Heinz eingelernt hatte! Meine „quecksilbernen Sohlen“ blieben bleischwer an dem Fleck hängen, wohin mich mein Vater geschoben. Ich sah unter tiefgesenkten Lidern hervor nur ein Stück spiegelnden Parquets zu meinen Füßen und hörte das leise Rieseln eines seidenen Gewandes und sagte mir unter aufquellenden und wieder verschluckten Thränen des Grimmes gegen mich selbst, daß ich plump und einfältig dastehe, wie ein grobzugehauenes Götzenbild. … Da schlugen die lieblichen Laute einer sanften, glockenreinen Frauenstimme an mein Ohr – die Prinzessin begrüßte meinen Vater – und fast zugleich berührte ein zarter Finger mein Kinn und hob mein gesenktes Gesicht empor. Nun sah ich auf, und keine steinfunkelnde Krone blendete meine scheuen Augen – ich sah wundervolle, dicke, braune Locken ein zartrosiges Gesicht umwogen, und ein Paar glänzende Augen, so blau wie meine Lieblinge, die Haideschmetterlinge, lächelten auf mich nieder. Ich wußte, daß die Prinzessin nicht mehr jung sein konnte, sie war ja die Tante des regierenden Herzogs und eine Jugendgenossin meiner Mutter, und deshalb meinte ich, die hohe, schlanke Dame mit dem sammtenen Teint und den jugendlich weichen Linien des Profils sei gar nicht die Prinzessin Margarethe. Mein Vater belehrte mich eines Anderen.

„Hoheit überzeugen sich nun selbst, wie recht ich hatte, unumschränkte Nachsicht zu erbitten,“ sagte er – ein verhaltenes Lachen klang in seiner Stimme mit; „mein schüchternes Gänseblümchen hängt rathlos den Kopf –“

„Das wollen wir bald ändern,“ versetzte die Prinzessin lächelnd. „Ich verstehe mich auf den Verkehr mit solch kleinen, ängstlichen Mädchen. … Gehen Sie jetzt, lieber Doctor, der Herzog erwartet Sie. Auf Wiedersehen beim Thee.“

Mein Vater verließ das Zimmer, und ich stand nun, auf mich selbst angewiesen, inmitten der verfänglichen Atmosphäre des Hofes, auf seinem heißen Boden. Jetzt sah ich auch, daß die Prinzessin nicht allein war. Um einige Schritte hinter ihr stand ein hübsches, junges Mädchen – die Prinzessin nannte vorstellend unsere Namen, und so erfuhr ich, daß die Dame ein Hoffräulein sei und Constanze v. Wildenspring heiße. Ehe ich mich dessen versah, hatten mir die flinken Hände des Hoffräuleins Hut und Mantille abgenommen, und ich saß der Prinzessin gegenüber, während sich die junge Dame in der Nähe, hinter einem Fenstervorhang niederließ und eine Stickerei aufnahm.

Wie prächtig verstand es die fürstliche Frau, die Seele „des kleinen ängstlichen Mädchens“ aus dem Bann der Verzagtheit zu erlösen! Sie erzählte mir von dem öfteren Zusammensein mit meiner Mutter an dem engbefreundeten L.’schen Hofe, was das für eine glückliche, lustige Zeit gewesen sei, wie viel Talent und Wissen meine Mutter besessen, und was für wunderhübsche Verse sie gemacht habe. Dabei zeigte sie mir ein in rothen Maroquin gebundenes, dickes Buch – es enthielt Gedichte und ein Drama der Verstorbenen und war kurz vor ihrem Tode erschienen. Manchem anderen jungen Mädchen in meiner Lage würde es vielleicht als ein großes Glück gegolten haben, bei seinem ersten Auftreten am Hofe solch einen günstigen Hintergrund zu finden – ich empfind nichts dergleichen – mit einer Art von schmerzlicher Scheu sah ich auf das Buch; die Gebilde da drin waren ja schuld, daß meiner ersten Kindheit das Sonnenlicht der mütterlichen Liebe gefehlt hatte. Während die Dichterin in den lichten, luftigen Vorderzimmern die Gestalten ihrer Phantasie liebevoll gehegt und gepflegt, hatte die Seele ihres Kindes zwischen vier dumpfen Wänden hungern und darben müssen.

Vielleicht kam der Prinzessin eine Ahnung von diesem Vorgang in meinem Innern – ich hatte ihr ja gesagt, daß ich mich mit dem besten Willen auf das Gesicht meiner Mutter nicht besinnen könne. Unbemerkt lenkte sie das Gespräch auf meinen eigenen Lebensgang – da vergaß ich den letzten Rest von Befangenheit. Ich erzählte und ließ Heinz und Ilse und Mieke und die lustig schreienden Elstern im Eichenwipfel wohlgemuth durch das gefeite Prinzessinnenzimmer spazieren; auch die alte, einsame Föhre rasselte mit ihren Nadeln darein, und aus dem Torfsumpf stiegen die Wassergeister und schleppten die weißen Gewänder mit schwernassem Saum über die nachtstille Haide. Ich ließ auch den Schneesturm um das ächzende Dach des Dierkhofs brausen und saß neben Heinz auf der Ofenbank, während die bratenden Aepfel in der heißen Röhre zischten und spritzten. …

Manchmal fuhr das hübsche Hoffräuleingesicht wie erschrocken unter der Gardine hervor und starrte mich mit spöttischem Erstaunen an; allein das beirrte mich nicht – die großen Augen der Prinzessin strahlten ja immer heller auf und ruhten voll Innigkeit auf mir, sie hörte genau so aufmerksam, ich möchte sagen, athemlos zu, wie Heinz und Ilse, wenn ich auf dem Fleet die Märchenwunder vorlas.

Und von den Eidechsen, den Bienen und Ameisen erzählte ich – sie waren ja meine Spielgefährten gewesen, und ich kannte ihren Haushalt, ihr ganzes Thun und Treiben so vollkommen, wie die Hausordnung auf dem Dierkhof. Ich gestand, daß ich alle Thiere, selbst die kleinsten und häßlichsten, lieb gehabt, weil ja Odem in ihnen gewesen und mit dem schwachen Geräusch ihrer Stimmen und Bewegungen ein Hauch von Leben durch die tiefe Haideeinsamkeit gegangem sei. … Ich weiß nicht mehr, wie es kam, aber plötzlich reihte sich auch das große Hünenbett meiner Schilderung an – ich saß auf seinem Rücken, zwischen den gelben Ginsterblüthen, und sang, die Arme um die Kniee gelegt, in die unermeßliche Weite hinaus.

Die Prinzessin griff auf einmal nach meinen Händen, zog mich zu sich hinüber und küßte mich auf die Stirn.

„Ich möchte wohl wissen, wie die einsame Mädchenstimme in der Haide geklungen hat,“ sagte sie.

Wohl schauerte ich in mich zusammen vor Schreck und Scheu bei dem Gedanken, daß meine Stimme an diese vier Wände schlagen sollte; aber es war auch eine Art von Verzauberung über mich gekommen – hatte ich mich doch schon überwunden und einen Theil meines Kinderlebens ausgekramt. Ich nahm all’ meinen Muth zusammen und sang ein kleines Lied.

Einmal, mitten im Singen, fuhr ich zusammen – die grauen Hoffräuleinaugen glommen und schillerten so wunderlich unter dem Seidenbehang hervor; ich mußte unwillkürlich an die Hauskatze des Dierkhofs denken, wie sie den armen zwitschernden Vogel auf dem Ebereschenbaum grünfunkelnden Auges anstierte – ei, was lag mir denn an dem Mißfallen der kleinen Dame! Ich sang ja nicht für sie, deshalb sollte meine Stimme ganz gewiß nicht zittern – ich ließ sie voller anschwellen und sang muthig zu Ende.

[729] Schon während meiner Mittheilungen hatten zwei Lakaien geräuschlos einen vollständig arrangirten Theetisch in das Zimmer getragen, und eben, als mein letzter Ton verhallt war, trat ein Herr in schwarzem Frack ein. Er verbeugte sich tief, dann schnellte er empor und schlug mit unleugbarer Grazie applaudirend in die lederbekleideten Hände.

„Wundervoll, Hoheit! Bei Gott, magnifique!“ rief er mit Ekstase, indem er stürmisch, wenn auch mit völlig lautlosen Schritten auf die Prinzessin zukam. „Aber welche Grausamkeit gegen uns Alle, Hoheit!“ fügte er in vorwurfsvollem Tone hinzu und ließ die graciös geschwungenen Arme sinken – die ganze ältliche Erscheinung nahm die kindischen Mienen und Manieren eines schmollenden jungen Mädchens an. – „Seit Jahren bitten wir auf den Knieen um einen einzigen Ton aus dieser Nachtigallenkehle – vergebens! … Wie ein Dieb, ein unglückseliger Verbannter muß man draußen auf der Schwelle stehen, wenn man einmal wieder den langentbehrten Genuß haben will. … Wie, eine kranke, eine ruinirte Stimme soll das sein? Dieser Schmelz, diese Glockenfülle – Hoheit!“

Er schlug die Augen gen Himmel und berührte Daumen und Zeigefinger küssend mit den Lippen. … Ich war ganz bestürzt. Diese Menschenspecies war mir so völlig neu wie ein Bewohner von Otaheiti. Nur die ziemlich tiefe Stimme und zwei am Kinn sorgfältig gescheitelte Bartstreifen erregten mein Bedenken, sonst hätte ich d’rauf geschworen, es sei eine Hofdame im Frack.

„Mein bester Herr von Wismar,“ sagte die Prinzessin mit unterdrücktem Lachen, „in früheren Zeiten habe ich mich allerdings zuweilen der Sünde schuldig gemacht, mit einer sehr schwachen und sehr mittelmäßigen Singstimme meine Umgebung zu langweilen – daran sollten Sie mich doch ja nicht erinnern, ich habe es ja zu sühnen gesucht, indem ich bei Zeiten aufgehört. … Uebrigens sehe ich mit großer Befriedigung, daß meine musikalischen Missethaten glücklich vergessen sind, denn unser edler Kammerherr läßt meinen tiefen Alt frischweg zum glockenhellen Sopran, den armen Hänfling zur Nachtigall avanciren – Sidonie hat schön gesungen – ich niemals!“

Der „edle Kammerherr“ stand sehr verdutzt da. Das lange Gesicht war mir zu ergötzlich – ich kicherte in mich hinein, wie ich ja auch immer gethan hatte, wenn Heinz verblüfft vor einer ungeahnten Wendung stand.

Fräulein von Wildenspring hatte sich bei den letzten Worten der Prinzessin rasch erhoben. Sie warf einen bitterbösen Blick auf mein vergnügtes Gesicht und huschte hinter den Theetisch.

„Aber Hoheit, der Vergleich hinkt denn doch gar zu sehr!“ schmollte sie herüber, während sie sich mit der silbernen Theekanne zu schaffen machte. „Mag auch Herr von Wismar hinsichtlich der Stimmlage irren, wundervoll gesungen haben Hoheit doch – die Gräfin Fernau wird noch Feuer und Flamme, wenn sie darauf zu reden kommt!“

„O weh, ist das Ihr einziger Gewährsmann, Constanze?“ lachte die Prinzessin. „Die gute Fernau ist seit fünfundzwanzig Jahren stocktaub!“

„Aber Papa und Mama schwärmen ja auch noch,“ versetzte das Hoffräulein beharrlich, schlug aber doch die Augen nieder vor dem sarkastischen Gesichtsausdruck, mit welchem sie von ihrer Gebieterin gemustert wurde.

„Bitte, wenden Sie Ihre Augen und Complimente rechts, Herr von Wismar,“ sagte die Prinzessin und winkte mit der Hand nach mir hin – „da sitzt die Nachtigall.“

Der Herr fuhr herum. Er hatte mich bis dahin nicht gesehen, weil eine Gruppe riesiger Blattpflanzen meine kleine Person fast ganz verdeckte. Die Prinzessin nannte meinen Namen – ich erhob mich bei dem tiefen Bückling des Hofherrn, lachte ihm in’s Gesicht und machte einen Knix, so tief und gelungen, daß Charlotten das Herz im Leibe gelacht haben würde. Der Kobold des Muthwillens, der seit dem Tode meiner Großmutter in meiner Seele fest geschlafen hatte, regte sich wieder und gab mir die Leichtigkeit der Bewegungen zurück.

Herr von Wismar sagte mir flugs verschiedene Complimente, in denen das simple Gänseblümchen meines Vaters zur Rosenknospe, zum Elfenwesen erhoben wurde, und schalt auf „den lieben Doctor“, daß er bisher dem Hofe meine beglückende Gegenwart entzogen und mich allzu lange im Pensionat gelassen habe.

„In welchem Institut sind Sie denn erzogen, meine Gnädigste?“ fragte er schließlich.

„In einem Haidedorfe, Herr von Wismar!“ rief Fräulein von Wildenspring mit einem kinderunschuldigen Lächeln herüber.

Der Kammerherr stutzte; allein ein Blick auf das nach mir hinlächelnde Gesicht der Prinzessin gab ihm sein inneres Gleichgewicht zurück. „Ach, daher die köstliche Maifrische in dieser Stimme. … Die Landluft, ja, die Landluft! … Hoheit, das wäre eine Acquisition für unsere Hofconcerte! … So keusch, so völlig unberührt –“

[730] „Welche Idee, Herr von Wismar!“ unterbrach ihn das Hoffräulein. „Fräulein von Sassen kann doch unmöglich mit unsrer ausgezeichneten Primadonna vom Hoftheater rivalisiren wollen – da sollte sie mir leid thun!“

„Sehen Sie nach Ihrem Thee, Constanze, ich fürchte, er wird bitter!“ sagte die Prinzessin. „Uebrigens mögen Sie sich beruhigen, ich acceptire den Vorschlag durchaus nicht, seltene Gäste behütet man wie seinen Augapfel, und den erquickenden Haideduft, der auf einmal aus dem fernen ‚Haidedorfe‘ in unsere schwülen Kreise dringt, will ich für mich allein behalten.“

Fräulein von Wildenspring schwieg. Sie schwenkte ihre Theekanne und schüttete den ersten unbrauchbaren Aufguß so jäh und stürmisch in den albernen Spülnapf, daß die braunen Tropfen auf das weiße Damasttuch sprühten.

„Und Sie wohnen nun mit dem Papa im Claudius’schen Hause?“ fragte mich der Kammerherr hastig, indem er den stolz zurechtweisenden Blick auffing, mit welchem die Prinzessin ihre ungeschickte Hofdame maß – Herr von Wismar schien eine Art Blitzableiter am Hofe zu sein.

„Wir wohnen in der Karolinenlust,“ antwortete ich.

„Ah, in den Räumen des armen Lothar!“ rief er in bedauerlichem Ton nach der Prinzessin hin.

„Ei bewahre,“ corrigirte ich eifrig, „da drin doch nicht! Die sind ja versiegelt.“

„Ich sah, wie ein helles Roth bis unter das lockige Stirnhaar der Prinzessin lief. Sie hatte mit beiden Händen die überhängende Blüthendolde einer Hortensie erfangen, die neben ihr im Blumentisch stand, und drückte tiefathmend den unteren Theil des Gesichts hinein.

„Noch immer versiegelt? Aus welchem Grunde?“ fragte sie nach einer augenblicklichen Pause den Kammerherrn. „Ist nicht sein Bruder der einzige Erbe?“

Herr von Wismar zuckte die Achseln. Er versicherte, durchaus nichts Näheres zu wissen; das seien verschollene Dinge, und der Name Claudius werde ja erst hie und da am Hofe wieder genannt, seit Herr von Sassen den Antikenfund in dem alten Kaufmannshause gemacht habe.

„Die Siegel sollen an den Thüren bleiben bis in alle Ewigkeit,“ sagte ich schüchtern – ich war meiner Lauschersünden sehr wohl eingedenk und schämte mich; aber trotz alledem wollte ich die Prinzessin nicht ohne Auskunft lassen. „Der Todte hat es so gewollt; Herr Claudius leidet deshalb nie, daß solch ein Siegel angerührt wird, er ist ja so streng, so furchtbar streng!“

„Ei, das klingt ja fast, als ob Sie sich vor ihm fürchteten, meine kleine Gnädige!“ lachte der Kammerherr.

„Ich mich fürchten? Nein – nein!“ protestirte ich voll Aerger. „Ich fürchte mich gar nicht, nicht im Geringsten mehr. Aber ich kann ihn nicht leiden!“ fuhr es mir heraus.

„O, den Mann hat Niemand lieb, Niemand in der ganzen Welt, und das versteht sich von selbst!“ rief ich lebhaft. „Er liebt ja auch nur zwei Dinge, die Arbeit – sagt Charlotte – und sein großes, dickes Zahlenbuch. … Blumen hat er, so unermeßlich viel Blumen, daß er sich und sein häßliches Haus in der Mauerstraße drin vergraben könnte, aber in dem Zimmer, wo er von früh bis spät steckt und arbeitet, duldet er nicht ein grünes Blättchen neben sich. … Mit der Uhr in der Hand schilt er seine Leute, wenn sie einen Augenblick zu spät in das abscheuliche Unkennest kommen, und Nachts betrachtet er sich die Sterne am Himmel nur, weil er sie auch so zählen kann, wie die Thaler auf seinem Tische. Er ist geizig und giebt nie einem Armen ein Almosen –“

„Halt, mein Kind,“ unterbrach mich die Prinzessin, „das muß ich widerlegen! Die Armen unserer Stadt haben keinen besseren Freund, wenn er auch vielleicht in etwas bizarrer Weise giebt und wirkt, und consequent seine Unterschrift auf Collectenlisten und dergleichen verweigert.“

Ich schwieg einen Augenblick betroffen. „Aber er ist hartherzig und kalt wie ein Eiszapfen gegen – gegen Charlotte,“ sagte ich dann rasch, „und Alles will er besser wissen als Andere.“

„Ein hübsches Sündenregister!“ lachte der Kammerherr. „Uebrigens hat der Mann vor Kurzem gezeigt, daß er wirklich manchmal Etwas besser versteht, als Andere,“ wandte er sich an die Prinzessin. „Unser schlauer Graf Zell ist endlich auch einmal zu unser Aller Genugthuung gründlich düpirt worden; sein Darling, den er von der letzten Reise mitgebracht hat, ist ein Prachtstück an Schönheit und Eleganz, aber eine heimtückische Bestie! Manche behaupten, es sei ein Circuspferd, es hat so absonderliche Gewohnheiten. Zell mochte es gar zu gern wieder los sein; in unserem Kreise hat natürlicherweise Keiner angebissen, aber man war in Rücksicht auf Zell discret, um Andere nicht kopfscheu zu machen. … Der junge Lieutenant Claudius war denn auch Feuer und Flamme, einige gute Freunde Zell’s hatten ihm die Acquisition sehr plausibel gemacht, der Herr Onkel aber hat Darling angesehen und – gedankt, sehr zum Besten des jungen Mannes, denn vor einer Stunde hat das Thier den Sohn des Banquier Tressel, der es gekauft und ein ganz respectabler Reiter sein soll, abgeworfen und ihn obendrein mit seinen Hufen übel zugerichtet.“

„Das muß ich sagen, Herr von Wismar, diese sogenannte Discretion in Ihrem Kreise verdrießt mich sehr, und Graf Zell mag sich in Acht nehmen bei seinem nächsten Erscheinen am Hofe!“ rief die Prinzessin, aus ihren großen glänzenden Augen schlug eine Flamme der Entrüstung. „Wird der Sturz schlimme Folgen haben?“

„Ich glaube kaum,“ stotterte der Kammerherr. „Hoheit mögen sich aber beruhigen und bedenken, wer der Reiter war,“ fügte er nach einem leichten Husten lächelnd hinzu, „das ist robustes Blut und eine ganz andere Knochenmasse, das ist nicht leicht umzubringen; mit ein paar Schrammen und blauen Flecken wird die Sache abgemacht sein.“

Sie sprachen vorhin von einer Charlotte im Claudius-Hause,“ sagte Herr v. Wismar, der wohl fühlen mochte, daß er zu weit gegangen sei, dann zu mir. „Ist sie das imposant schöne, junge Mädchen –“

„Nicht wahr, Charlotte ist schön?“ unterbrach ich ihn glückselig – ich verzieh ihm sofort sein ganzes kindisches Thun und Wesen um dieser einen Bezeichnung willen.

„Für meinen Geschmack ein wenig zu kolossal, zu emancipirt und herausfordernd, ich bin ihr einigemal im Frauenverein begegnet,“ sagte die Prinzessin mehr nach dem Kammerherrn hin. Die Bedeutung des „emancipirt“ verstand ich nicht, ich hörte den Tadel mehr aus dem Ton der Dame, und er schmerzte und kränkte mich tief. „Ein seltsames Verhältniß in dem Hause!“ fuhr sie fort. „Wie mag Claudius dazu gekommen sein, die Kinder eines Franzosen zu adoptiren?“

Herr von Wismar zog, abermals auskunftslos, die Schultern in die Höhe.

„Und dabei sind die Betreffenden nichts weniger als dankbar für diese Adoption,“ rief Fräulein von Wildenspring herüber. „Diese Charlotte wehrte sich stets zornig gegen den Namen Claudius, auf ihren Schulheften stand Mericourt, und die Pensionairinnen waren boshaft genug, sie so oft wie möglich mit jenem verhaßten Namen zu nennen, nur um ihre funkelnden Augen zu sehen.“

„Ah, Sie kennen das junge Mädchen näher, Constanze?“ fragte die Prinzessin.

„So weit sich eben zusammengewürfelte Pensionairinnen verschiedenen Standes kennen, Hoheit,“ entgegnete das Hoffräulein mit einem gleichgültigen Achselzucken, das mir das Blut wallen machte. „Wir waren zwei Jahre lang in ein und demselben Dresdener Institut. … Sie hat bei ihrer Hierherkunft diese nothgedrungene Bekanntschaft zu erneuern gesucht und mir sofort einen Besuch gemacht –“

„Nun?“ forschte die Prinzessin, als die junge Dame einen Augenblick zögerte.

„Papa wünschte den Umgang durchaus nicht für mich, ich bin deshalb einfach vorgefahren und habe eine Karte abgegeben –“

Sie verstummte plötzlich, wandte sich seitwärts und machte eine tiefe, sehr graziöse Verbeugung. Ein hübscher junger Herr mit einem sehr ernsten Gesicht trat in Begleitung meines Vaters und zweier anderer Herren durch die Seitenthür, es war der Herzog.

Die Prinzessin begrüßte ihn warm und herzlich wie eine Mutter; dann stellte sie mich ihm vor. Ich bedurfte keines besonderen Aufwandes von Muth mehr, um zu Serenissimus aufzusehen und seine freundlichen Fragen ruhig zu beantworten, ich war rasch sicherer geworden auf dem heiklen Boden, und „das Gänseblümchen“ mochte wohl um Vieles zuversichtlicher den Kopf heben; denn mein Vater sah mich ganz erstaunt an und fuhr mir plötzlich liebkosend mit der Hand über das Haar.

[731] Er hatte wieder ein sehr echauffirtes Gesicht. Mit einem förmlichen Haß sah ich nach den Goldmünzen, von denen nun auch der Herzog einige vor seine Tante hinlegte. Er sagte ihr, daß ihm dieser Münzenschatz eine bedeutende Summe koste; nun sei aber auch das altberühmte herzoglich K.’sche Medaillencabinet eines der vollständigsten, denn es habe durch den heutigen Ankauf Exemplare erhalten, die für manchen Liebhaber so sagenhaft seien, wie der Nibelungenhort. …

Ich sah, wie fast unausgesetzt ein nervöses Zucken durch die Züge meines Vaters lief, er dauerte mich unbeschreiblich. Ich konnte mir recht gut denken, welche Qual es ihm verursachen müsse, zu sehen, wie die heißgewünschten Schätze unter allgemeiner Bewunderung von Hand zu Hand gingen, als das rechtmäßig erworbene Eigenthum eines Anderen. … Die Bitterkeit gegen Den, der ihn in seiner „Krämerweisheit“ zu dieser Entsagung verurtheilt, machte abermals meine ganze Seele rebellisch und ließ mich alle Zurückhaltung vergessen.

„Sehen Sie,“ sagte ich halblaut zu der Prinzessin, welche eben die prächtige Kaisermünze entzückt betrachtete, „das hat Herr Claudius auch besser wissen wollen, er behauptet, das Medaillon da sei unecht!“

Der Herzog fuhr herum, und sein durchbohrender Blick heftete sich zu meinem Schrecken halb überrascht, halb zürnend auf mein Gesicht.

Mein Vater aber lachte und strich mir mit der Hand wiederholt das Haar von der Stirn zurück. „Sieh da, mein kleiner Diplomat!“ rief er. „Ein Glück, daß der Papa sattelfest ist, der schöne Plaudermund da könnte ihm sonst schwer zu schaffen machen! Lächerlich!“ sagte er achselzuckend zu Herrn von Wismar – der Einzige, der sein Gesicht in bedenkliche Falten zu legen suchte, obgleich dieser geckenhafte Mensch sicher nicht das mindeste Verständniß für die Sache hatte – „der Mann versteht von Numismatik ohngefähr so viel, wie ich von seiner Tulpenzucht. … Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen aber sagen, daß der Verkäufer der Münzen heute noch, mit verschiedenen Empfehlungsbriefen von mir in der Tasche, K. verläßt; er geht an Höfe und Universitäten unter der Aegide meines Namens; genügt Ihnen diese Bürgschaft für die von mir befürwortete neueste Acquisition Seiner Hoheit?“

Herr von Wismar lächelte verlegen und versicherte, daß ihm ein Zweifel auch nicht mit dem leisesten Gedanken gekommen sei.

Ein wahrer Sturm gegen den Dilettantismus erhob sich nun unter den Anwesenden, und Niemand war erboster als Fräulein von Wildenspring, die kaum noch mit der zuversichtlichsten Miene gelehrte Brocken in das Gespräch eingestreut hatte.

„Die Dilettanten sind und bleiben die Plage des Fachmannes,“ sagte mein Vater. „Ueber Claudius, den älteren, habe ich mich zwar bisher durchaus nicht zu beklagen gehabt – er ist streng zurückhaltend, vermeidet meine Begegnung auf seinem eigenen Grund und Boden geflissentlich und läßt mich mit seinen Kunstschätzen schalten und walten, wie ich Lust habe – dagegen macht mir häufig mein sogenannter Famulus das Leben recht schwer.“

„Ah, der schmucke Lieutenant?“ lachte einer der Herren.

„Er benippt die Wissenschaft wie der Schmetterling einen Blumenkelch,“ fuhr mein Vater mit einem bestätigenden Kopfnicken fort. „Appellirt man nur im Entferntesten an sein Nachdenken, husch, ist er auf und davon! … Für ihn ist die vom Hofe ausgehende Vorliebe für die Alterthumskunde gleichbedeutend mit jenen rasch wechselnden Modethorheiten, die ihn heute einen kleinen goldenen Sattel, morgen einen Maikäfer als Berloques tragen lassen. … Vor kurzer Zeit begleitete er seinen Onkel auf einer Geschäftsreise im Norden. Auf seine dringenden Bitten gab ich ihm eine Empfehlung an Professor Hart in Hannover, der denn auch so freundlich gewesen ist, die Herren nach einer Gruppe von Hünengräbern in der Haide zu begleiten und eines derselben öffnen zu lassen. … Gott, wie sahen die Fundstücke aus, die der Herr Lieutenant in meine Hände niederlegte! Verbogen und in Stücken zerbrochen, ‚weil er sie in ein und dieselbe Kiste mit Mineralien zusammengesteckt habe, die ihm Professor Hart für einen Collegen mitgegeben,‘ entschuldigte er sich – das Herz hat sich mir umgewendet!“

Wie wenig ahnte mein Vater, daß sich in diesem Moment auch mir das Herz umwendete, daß ich einen unbeschreiblichen Groll empfand gegen Die, unter denen ich saß! … Man lachte und spöttelte, und Niemandem fiel es ein, den Abwesenden in Schutz zu nehmen. Herrn Claudius hatte die Prinzessin sofort vertheidigt, als ich in meiner Beschuldigung zu weit gegangen war; selbst Herr von Wismar hatte zu seinen Gunsten gesprochen – nur für Charlotte und Dagobert fiel kein freundliches Wort – die armen Geschwister!

Die Prinzessin unterbrach das allgemeine Gespräch plötzlich mit der an meinen Vater gerichteten Frage, bis zu welchem Zeitpunkte die Aufstellung der Antiken in der Karolinenlust beendet sein werde, sie interessire sich lebhaft für die an’s Tageslicht gezogenen Kunstschätze und habe sich vorgenommen, den Herzog bei seinem ersten Besuche zu begleiten.

„Ich habe dabei auch noch einen stillen Nebengedanken,“ sagte sie. „Ich möchte mir einmal gar zu gern das Claudius’sche Etablissement ansehen – die Glashäuser mit ihren Palmen sind ja weit berühmt. … Direct hinzugehen habe ich Anstand genommen – der Mann hat einen unerträglichen Bürgerstolz; da ist, wie ich fürchte, das Terrain sehr schwierig –“

„Und die entschieden pietistische Färbung, welche das Etablissement seit einiger Zeit an der Stirn trägt und die Eurer Hoheit so unsäglich zuwider ist?“ fragte Fräulein von Wildenspring lauernd – man sah, das fürstliche Vorhaben, jenes Haus zu betreten, war ihr sehr fatal.

„Ebendeshalb soll die Besichtigung der Kunstschätze Hauptzweck sein – ich werde im Vorübergehen den Garten besehen und brauche dabei weder den Hochmuth, noch die pietistische Tendenz des Besitzers in den Kauf zu nehmen.“

Das Hoffräulein reichte ihrer Gebieterin schweigend eine Tasse Thee und nahm dann scheinbar unterwürfig ihre Stickerei wieder auf. Den übrigen Theil des Abends füllte eine lebhafte Debatte über die Kunst der Alten aus, und die Hofherren, die über den Dilettantismus so grausam den Stab gebrochen, sprachen so sicher und zuversichtlich, so enthusiastisch mit, als seien sie sämmtlich solch berühmte Gelehrte wie mein Vater und als sei das Studium der Archäologie dasjenige, was einzig und allein ihre Zeit und Seelenkräfte in Anspruch nehme. Ich hätte ihnen auch unbedingt geglaubt, wären nicht die sarkastischen Blicke gewesen, die der Herzog häufig mit meinem Vater wechselte.

Bei unserm Weggange ließ die Prinzessin einen Foulard kommen und legte ihn mir um den Hals. Es sei kühl geworden, sagte sie, und ihre liebe, kleine Haidelerche dürfe nicht heiser werden. Meinem Vater versicherte sie, daß sie mich sehr oft bei sich sehen und unter ihren ganz besondern Schutz nehmen werde, dann küßte sie mich auf die Stirn, und wir verließen das Schloß.




21.

Ein Gewitter war inzwischen über die Stadt hingezogen. Kühl umfloß die Luft meine Schläfen, und der durchfeuchtete Kies des Schloßplatzes glänzte und funkelte im Lichte der Gaskronen. Eine Hofequipage brachte uns nach Hause; sie fuhr donnernd in den Claudius’schen Geschäftshof ein, und ein Gefühl von kindischem Hochmuth machte mir das Herz schwellen, als ich neben dem demüthig am geöffneten Schlage verharrenden fürstlichen Lakaien auf das Pflaster herabsprang, das mir vor wenigen Tagen ein halb und halb verweigerter Weg gewesen war. Meine Augen suchten Charlottens Zimmer, ich wünschte lebhaft, von dort aus gesehen zu werden, aber das ganze Vorderhaus war dunkel, mit Ausnahme der Treppenhausfenster. Eine prächtige, aber uraltmodische Lampenglocke hing hoch droben inmitten der Hausflur und beleuchtete in nächster Nähe die grauen, kräftig geschwungenen Steinbogen der Decke, welche am Tage dem Blicke unerreichbar erschienen.

In einem der ungeheuren Glashäuser, von denen auch die Prinzessin heute Abend gesprochen, brannte Licht – zwei große Kugellampen glühten purpurn in die Nacht hinein. Während wir den Hauptweg entlang schritten, hörte ich hastige Tritte vom Glashaus herkommen – es flatterte hell durch das nächste Rosengebüsch, und plötzlich stand Charlotte vor uns.

„Ich habe Sie kommen hören,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme und fliegendem Athem. „Bitte, überlassen Sie mir das Prinzeßchen noch für eine halbe Stunde, Herr von Sassen – es ist eine so köstliche Nacht – ich bringe Ihnen die Kleine unversehrt nach der Karolinenlust.“

[732] Mein Vater sagte mir gute Nacht und versprach, Ilse von meinem Verbleiben zu unterrichten. Er ging, während Charlotte den Arm um meine Schultern legte und mich fest an sich drückte.

„Es hilft Ihnen nichts, Kindchen, Sie müssen ein wenig Blitzableiter sein,“ sagte sie halblaut und hastig zu mir. „Dort drüben,“ sie zeigte nach dem Glashaus, „sind zwei harte Köpfe aneinander gerathen. … Onkel Erich bringt so wunderselten den Abend mit uns zu, daß der gute Eckhof sich allmählich daran gewöhnt hat, die erste Geige an unserem Theetisch zu spielen. Heute nun präsidirt der Onkel selbst zu unser Aller Erstaunen; aber kaum sind wir vor den ersten fallenden Regentropfen aus der Laube in das Glashaus geflüchtet, als auch Eckhof in unbegreiflicher Albernheit und Tactlosigkeit anfängt, dem Onkel bittere Vorwürfe über Helldorf’s Anwesenheit beim heutigen Diner zu machen – er hat in ein furchtbares Wespennest gestochen!“ …

Sie verstummte und blieb horchend einen Augenblick stehen; Eckhof’s starke Stimme dröhnte herüber.

„Schaden kann es dem Alten freilich nicht, wenn seinen Muckerumtrieben im Geschäft und Haus ein wenig gesteuert wird,“ sagte sie, man hörte ihr den Aerger an; „er ist zu sicher geworden und treibt es arg, das ist ganz richtig! Nur vor Onkel Erich’s Forum durfte die Sache nicht kommen – er mordet den alten Mann mit seinen unerbittlichen Augen, mit seiner Kälte und Gelassenheit, die jedes Wort zu einem schneidenden Messer machen.“ Etwas beschleunigt schritt sie weiter. „Gott mag wissen, was den eigentlichen Anstoß zu diesem plötzlichen Aufeinanderplatzen gegeben hat! Jahrelang ist Onkel Erich wie mit verbundenen Augen neben dem Muckergeist im Hause hingegangen – Eckhof hat sich gehütet, ihm gegenüber je in sein unausstehliches biblisches Pathos zu verfallen; in diesem Augenblick aber, in seiner grimmigen Aufregung strömt ihm unwillkürlich die Salbung von den Lippen – es ist kaum zum Anhören! Mich widert es an, aus einem Männermunde solch unmündiges Gewäsch zu hören; andererseits bin ich doch auch dem Alten Dank schuldig; er hält zu Dagobert und mir, und das verpflichtet mich, das Strafgericht möglichst schnell abzukürzen. Kommen Sie, Ihr Erscheinen wird der Scene sofort ein Ende machen!“

Je mehr ich mich dem Glashause näherte – es war nicht das von Darling verwüstete – desto traumhafter wurde mir zu Sinne; ich hörte kaum noch, was Charlotte flüsterte, und ließ mich mechanisch von ihr weiterschieben. … Das Warmhaus lag weit abseits vom Hauptweg – ich hatte bisher nur die ungeheuren Glaswände herüberfunkeln sehen und war nie in seine Nähe gekommen. Damals lagen mir selbstverständlich Geographie und Botanik weltenfern – ich verstand nicht, daß die fremdartigen Gebilde dort ein zwischen Glas eingefangenes Stück Tropenwelt inmitten deutscher Vegetation seien, und hatte für beide nur die Bezeichnung: Wunder und Wirklichkeit. …

Da standen aber auch weder Kübel, noch Blumentöpfe, wie im vorderen Treibhause. Unmittelbar aus dem Boden stiegen Palmen so hoch und kräftig hinauf, als wollten sie den schützenden Glashimmel sprengen. Ueber braunes Felsgestein herab sprangen Wasser – sie zerstäubten an den Zacken in sprühende Funken und machten die riesigen, in die feinsten Federchen zerschnittenen Wedel prächtiger Farrnkräuter unaufhörlich erzittern. Cacteen krochen über das Gestein und streckten ihre abenteuerlichen Formen plump unbehülflich von sich; aber aus ihrem grünen Fleisch tropften spannenlange Purpurglocken und selbst drin, im fernsten Dämmerdunkel der wunderlich gezackten und verschränkten Pflanzenarme leuchtete es gelb und weiß auf, wie hingestreute, matte Lichtreflexe.

Ich sah zu Charlotte empor und meinte, sie müsse in demselben Rausch befangen sein und weiterwandeln, wie das aufgeregte, unerfahrene Menschenkind in ihrem Arm – ich bedachte nicht, daß das Alles ja auch zu „der Krambude“ gehörte, die sie und Dagobert so gründlich haßten und verachteten. … Sie hatte ihr funkelndes Auge unverwandt auf einen Punkt gerichtet, auf das Gesicht des Herrn Claudius. Er stand im vollen Lampenlicht neben einer Palme – genau so schlank und hochaufgerichtet, wie ihr feingepanzerter Stamm. … Es war nicht wahr – er hatte in diesem Moment keine tödtliche Kälte in den „unerbittlichen Augen“. Sein Gesicht war belebt und geröthet vor innerer Erregung, wenn auch die über der Brust ineinandergeschlungenen Arme ihm den Anschein von Ruhe und Unbeweglichkeit gaben.

Seltsam genug erschien der eilig hereingeschobene Theetisch inmitten der fremdartigen Umgebung. Dagobert saß daran – er war noch in Uniform; all’ das Blitzen und Leuchten auf Brust und Schultern harmonirte ganz anders mit der farbenglänzenden Pracht der tropischen Blüthen, als die ungeschmückte Gestalt des Onkels. … Mit dem Rücken nach Herrn Claudius gewendet, und in sichtlicher Verlegenheit einen Theelöffel auf dem Zeigefinger balancirend, sah er aus, als ob er sich vor einem über ihn hinrollenden Gewitter unwillkürlich niederducke. Er schien sich mit keinem Wort an den unliebsamen Erörterungen zu betheiligen, so wenig, wie Fräulein Fliedner, die so fieberhaft schnell strickte, als wenn es gelte, eine ganze Kinderbewahranstalt mit neuen Strümpfen schleunigst zu versorgen.

„Damit richten Sie bei mir nichts aus, Herr Eckhof,“ sagte Herr Claudius zu dem Buchhalter, der sich, beide Hände auf eine Stuhllehne gestützt, in ziemlich weiter Entfernung von seinem zürnenden Chef hielt, trotz alledem aber doch den Kopf herausfordernd in den Nacken warf – er hatte ja eben gesprochen, gesprochen mit seiner tönenden Stimme, in dem breit markirenden Tone, der schlagen mußte. – „Gotteslästerung, Unglaube, Gottesleugner – diese Lieblingsschlagwörter Ihrer Partei darf man allerdings in ihrer Wirkung nicht unterschätzen,“ fuhr Herr Claudius fort. „Mit ihnen hauptsächlich vollziehen Sie die unglaubliche Thatsache im neunzehnten Jahrhundert, daß sich ein großer Theil der aufgeklärten Menschheit einer Schaar engherziger Fanatiker äußerlich unterwirft – Viele, selbst Leute von Geist, scheuen immer noch einen gewissen Einfluß dieses, wenn auch sehr abgenutzten Anathemas auf die großen Massen und schweigen lieber, gegen ihre bessere Ueberzeugung – und das giebt dem Thronsessel Ihrer Partei noch für eine Spanne Zeit thönerne Füße.“ …

Der Stuhl unter den Händen des Buchhalters schütterte und schwankte, Herr Claudius ließ sich jedoch durch das Geräusch nicht beirren.

„Ich hin ein Verehrer des Christenthums – verstehen Sie mich recht – nicht der Kirche,“ fuhr er fort. „Ich habe auf Grund meiner eigenen Ueberzeugung deshalb auch an der Verfügung aller meiner Vorgänger festgehalten, nach welcher ein frommer Sinn unter den Arbeitern der Firma gepflegt werden soll – nie aber werde ich dulden, daß mein Haus zu einem Brutnest religiöser Verirrungen gemacht wird! … Ein Handlungshaus, das die Fäden seiner Beziehungen über die Meere hinüberwirft und sie im türkischen, im chinesischen, in jedwedem Boden wurzeln läßt, und die finstere Orthodoxie, die Unfehlbarkeit im Glauben, die sich in ihr fest zugekittetes Schneckenhaus verkriecht – eine widersinnigere Verschmelzung giebt es nicht! … Müssen unsere jungen Handlungsreisenden, die Sie so beflissen sind orthodox zu erziehen, nicht entsetzlich heucheln, wenn sie mit Denen, die sie als von Gott verworfene Andersgläubige verachten, in freundlichen Geschäftsverkehr treten sollen? … Ich kann es mir selbst nicht verzeihen, daß der finstere Geist unbemerkt so lange neben mir herwandeln durfte, daß meine Leute leiden mußten –“

„Ich habe Niemand gezwungen!“ fuhr der Buchhalter auf.

„Allerdings nicht mit der Knute in der Hand, Herr Eckhof – wohl aber mittels Ihrer Stellung zu den Leuten. Ich weiß, daß zum Beispiel unser jüngster Commis, ein mittelloser Mensch, der von seinem Gehalt eine verwittwete Mutter zu unterstützen hat, weit über seine Kräfte zu Ihrer Missionscasse beisteuert, von deren Existenz ich bisher keine Ahnung hatte. Unsere sämmtlichen Arbeiter und Arbeiterinnen lassen sich geduldig allwöchentlich einen Beitrag zu der genannten Casse von Ihnen abziehen, weil sie – nicht anders dürfen, weil sie der Meinung sind, daß Sie Alles bei mir vermögen, und ihnen schaden könnten. … Bedenken Sie denn nicht, daß diese Leute ihren Glauben ohnehin theuer genug bezahlen müssen? Tritt nicht die Geistlichkeit bei jedem ihrer wichtigeren Lebensmomente mit der offenen Hand an sie heran? Ihre Taufe, die Schließung der Ehe, die Feier ihrer Versöhnung mit Gott, selbst den letzten Schritt, den sie aus der Welt thun, das Alles versteuern sie der Kirche mit ihrer Hände Erwerb – und deshalb fort mit der Missionscasse aus meinem Hause! Fort mit den Tractätchen, die ich gestern massenhaft in den Tischkästen der Arbeitsstuben gefunden habe, und die [734] mit ihrem blödsinnigen Kinderlallen unsere würdige Sprache verderben und lediglich an eine mittelalterlich rohe Anschauungsweise appelliren!“

Diese ganze zerschmetternde Verurtheilung wurde in nichts weniger als leidenschaftlichem Ton gesprochen – kaum, daß eine erhöhte Röthe in die Wangen des Sprechenden trat und er hie und da einmal ruhig zurückweisend die Hand gegen seinen Buchhalter ausstreckte.

Charlotte war wie festgewurzelt stehen geblieben – sie schien vergessen zu haben, daß sie mich geholt, um der Sache sofort ein Ende zu machen. „Er spricht gut,“ murmelte sie. „Ich hätte ihm das nicht zugetraut – er ist sonst so indolent und kargt mit jedem Worte. … Wahrhaftig, Eckhof ist einfältig genug, den Handschuh abermals aufzunehmen und sich eine neue Schlappe zu holen!“ stieß sie zornig heraus und heftete ihre flammenden Augen so durchbohrend auf den Buchhalter, als wolle sie die Glaswand sprengen. Er hatte seinen bisherigen Platz verlassen und war Herrn Claudius um einige Schritte näher getreten.

„Verachten Sie immerhin das blödsinnige Kinderlallen, Herr Claudius,“ sagte er – die volltönende Stimme konnte Messerschärfe annehmen – „mich und tausend andere echt christliche Gemüther erquickt und stärkt es. … Der Herr will ja, daß wir in Einfalt wandeln sollen, in kindlicher Einfalt, und deshalb finden wird doch wohl eher Gnade vor seinen Augen, als wenn wir die Werke der ‚unsterblichen‘ Herren Schiller und Goethe lesen, die die würdige Sprache natürlicherweise nicht verderben. … Wenn Sie meine redlichen Bestrebungen zur Ehre meines Herrn und Gottes in Ihrem Hause nicht dulden wollen, so muß ich mich selbstverständlich in Demuth fügen. … Ich habe nur gemeint, es könne dem Hause in der Mauerstraße nicht schaden, wenn recht, recht viel in ihm gebetet würde – es ist so Manches geschehen, was zu Gott im Himmel schreit und gesühnt sein will –“

„Sie machen mir diesen indirecten Vorwurf in Zeit von wenig Tagen bereits zum zweiten Male,“ unterbrach ihn Herr Claudius ruhig. „Ich respectire Ihre Jahre und Ihre Verdienste um das Geschäft und will deshalb eine Handlungsweise nicht näher bezeichnen, die es nicht verschmäht, alte Wunden aufzureißen und sie im Kampfe um die entschwindende Macht als Verbündete heraufzubeschwören – ich überlasse das Ihrem eigenen Urtheil, ob das edel ist. … Was ich in meiner Jugendthorheit und Leidenschaft verübt, nehme ich allein auf meine Schultern – ich habe leider eine neue Schuld dazu gelegt, sofern ich Sie in dem Bedürfniß, Ihnen einigermaßen den Sohn zu ersetzen, allzu unumschränkt in Haus und Geschäft und mit mir selbst habe schalten und walten lassen. … Es wäre ein schreiendes Unrecht, wollte ich alle die Menschen, die von mir abhängig sind, auch nur um einen Tag länger mein Vergehen mitbüßen lassen – ich will ihre Gebete nicht, die doch nur erpreßte, völlig wirkungslose sind!“

„Was hat er denn gethan?“ flüsterte ich Charlotte zu.

„Er hat den einzigen Sohn Eckhof’s erschossen.“

Ich riß mich entsetzt von ihr los und unterdrückte mit Mühe einen Aufschrei.

[745] „Gott, seien Sie doch nicht gar zu kindisch!“ fuhr Charlotte mich ungeduldig an, und zog mich mit einer einzigen kräftigen Bewegung wieder in ihr Bereich. „Es war ein ehrliches Duell, in welchem Eckhof’s Sohn fiel, und sicher der interessanteste Moment in Onkel Erich’s ganzer spießbürgerlicher Eristenz. … Aber gehen wir hinein! Die Verhandlungen haben den Siedepunkt erreicht.“

Ohne Weiteres schritt sie mit mir die Glasfront entlang und schob mich über die Schwelle der Seitenthür. Ich trat auf feinen Kies; Schlangenwege wanden sich durch dunkelndes Gebüsch, zwischen Felsengruppen hin und durchschnitten hie und da den zartesten Sammetrasen. Je mehr sich das Gitter der Zweige und Blätter verdünnte, das uns von dem Lampenschein und der Scene trennte, desto bänglicher wurde mir zu Muthe. … So stand ich doch noch ganz und gar nicht zu den Bewohnern des Vorderhauses, daß ich zur späten Nachtzeit mitten in Erörterungen hineinplatzte, die nicht für fremde Ohren geeignet waren. … Wie, wenn der Herr des Hauses darüber ergrimmte? … Ich wußte nicht, wie es kam, aber ich konnte auf einmal nicht mehr so obenhin denken: „Ei, es ist ja nur Herr Claudius!“ – Ich zitterte vor ihm.

Charlotte hatte ihren Arm um mich gelegt, und als ich im ersten Impuls, schleunigst das Weite zu suchen, zurückwich, da wurde meine Taille unbarmherzig zusammengepreßt – es ging im Sturmschritt vorwärts, und plötzlich standen wir, wie vom Himmel gefallen, vor der erstaunten Gesellschaft.

„Ich habe das Prinzeßchen im Garten aufgelesen,“ sagte Charlotte rasch und schnitt dem Buchhalter einen Redesatz von den Lippen, „Liebste Fliedner, sehen Sie sich das Kind an, ob es nicht ganz anders aussieht? Es hat Hofthee getrunken und ist im Hofwagen heimgefahren, ganz à la Aschenbrödel – zeigen Sie her, Kind, ob nicht eines Ihrer Atlasstiefelchen auf der Schloßtreppe sitzen geblieben ist!“ …

Bei aller Beklommenheit lachte ich doch und setzte mich auf den Stuhl, den mir Dagobert brachte. … Charlotte hatte Recht gehabt: verstummt, abgeschnitten war der Streit, als habe er nie stattgefunden, und als ich die Augen hob, da sah ich den Buchhalter in dem Dunkel verschwinden, durch das wir eben gekommen. … Herr Claudius stand noch neben der Palme – scheu forschend streifte ihn mein Blick – hatte er nicht ein Maal auf der Stirn? Er hatte ja einen Menschen getödtet! – Ich sah nur die ernsten, blauen Augen auf mich niederleuchten und zog erschrocken den Kopf zwischen die Schultern.

Fräulein Fliedner athmete auf; sie war sichtlich froh über mein Kommen und drückte mir zärtlich die Hand.

„Erzählen, Kindchen!“ drängte sie mich, während sie mir den Hut abnahm und die zerdrückten Aermelpuffen zurechtzupfte. „Wie war’s bei Hofe?“

Ich schmiegte mich tief in den Korbsessel – einer der riesigen Farrenkrautwedel, im Lampenlicht smaragdgrün schimmernd, schwankte nahe über meiner Stirn, und andere kamen seitwärts herüber und berührten kühl und schmeichelnd meine nackten Schultern. Ich saß da, wie unter einem schützenden Baldachin und fühlte mich geborgen. Zudem zog sich Herr Claudius zurück; aber er verließ das Glashaus nicht – man hörte ihn leise und unablässig hinter den Felsen- und Pflanzengruppen auf- und abgehen.

Mein Muth wuchs wieder, und ich erzählte, anfangs stockend, dann mich selbst darüber amüsirend, von meinem glorreichen Debüt – wie mir die so wohl vorbereitete Verbeugung in den Gliedern stecken geblieben sei; von dem Vortrag des Kinderliedchens und meinem Stück Lebensgeschichte, das ich der Prinzessin treuherzig mitgetheilt.

Charlotte unterbrach mich alle Augenblicke mit einem schallenden Gelächter; auch Fräulein Fliedner kicherte in sich hinein und klopfte mir schmeichelnd die Wangen; nur Dagobert lachte nicht mit; er sah mich genau mit demselben staunenden Schrecken an, wie die grauen Hoffräuleinaugen, und als ich schließlich, weil mir zu heiß wurde, den Foulard auf den Tisch warf und dabei sagte, daß er der Prinzessin gehöre, da nahm er das Tuch in unverkennbarer Ehrfurcht auf und hing es mit vorsichtigen Händen über seine Stuhllehne, und das ärgerte und verdroß mich über die Maßen.

„Halt!“ rief Charlotte auf einmal und streckte die Hand gegen mich aus, als ich in meinen Mittheilungen fortfahren wollte. „Nun sagen Sie selbst, Fräulein Fliedner, ob das Prinzeßchen, trotz seiner dunkelblauen Augen, nicht weit eher eine jener interessanten Töchter Israels sein könnte, wie sie die Bibel schildert, als der Sproß eines alten, echt deutschen Adelsgeschlechts! … So wie der wildlockige Kopf da unter dem Farrenkraut auftaucht, – bitte, Prinzeßchen, lassen Sie Ihre Hand noch einen Augenblick beschattend über der Stirn schweben – erinnert er mich lebhaft an Paul Delarroche’s junge Jüdin, wie sie im Uferschilf den ausgesetzten kleinen Moses verstohlen bewacht.“

[746] „Meine Großmutter war ja auch eine Jüdin,“ sagte ich unbefangen.

Die regelmäßigen Schritte im Hintergrund des Glashauses stockten plötzlich, und auch am Theetisch blieb es einen Augenblick todtenstill. Ich saß so, daß ich durch die Glasscheiben einen Theil des Gartens übersehen konnte. Der Mond war heraufgekommen; aber er stand noch hinter einem Wolkengebirge, dessen zackige Ausläufer er silbern besäumte. Ueber den weiten Plan webte ein falbes, unbestimmtes Licht, das die Linien der Gegenstände gespenstig verzerrte – das weiße Lilienfeld, wenn auch tief im Hintergrunde und zum Theil unter den Flußuferbäumen liegend, schien den spärlichen Mondenglanz in sich allein aufzufangen – es leuchtete hell zu mir herüber, und ich mußte wieder, gleich vorhin unter kalten Schauern und Herzweh, an meine arme Großmutter denken, wie sie unter den Eichen hingestreckt lag. … Es wurde Alles wieder wach in mir, was ich in jenen grauenhaften Nachtstunden erfahren und gelitten. Die wenigen, stets furchterregenden Berührungspunkte zwischen der geistesgestörten Frau und mir, lange Jahre hindurch, dann das plötzliche Hervorbrechen der großmütterlichen Liebe in der Sterbestunde, meine Angst bei der Wahrnehmung, daß der Tod wirklich an das ebengewonnene Herz herantrete, das Alles stieg überwältigend vor mir auf, und so, wie es kam, sprach ich’s aus. Ich berührte auch den furchtbaren Auftritt zwischen meiner Großmutter und dem alten Pfarrer – wie sie den geistlichen Beistand zurückgewiesen und als Jüdin gestorben sei, und wie mild versöhnlich der Pfarrer dabei gewesen. – Da plötzlich, während Alle in tiefer Stille zuhörten, kreischte der Kies unter heftigen, starken Schritten, und der Buchhalter, den ich längst daheim in der Karolinenlust wähnte, stand vor mir.

„Der Mann war ein Schwachkopf!“ schalt er mit förmlich donnernder Stimme. „Er durfte nicht von dem Bett weichen, bis er die widerspenstige Seele wieder in seiner Hand hatte. Er mußte sie zwingen, umzukehren – der Priester hat Mittel genug, die Abtrünnigen aufzurütteln, wenn sie frechen Muthes der Hölle zutaumeln wollen –“

Ich sprang auf. Der Gedanke, daß eine Stimme, wie diese, rücksichtslos in den Todeskampf eines Menschen hineinstürmen und die Qualen der ringenden Seele verlängern dürfte, regte mich furchtbar auf.

„O, das hätte er nicht wagen dürfen! Wir hätten es nicht geduldet, Ilse und ich – ganz gewiß nicht! … Ich leide es auch jetzt nicht, daß Sie nur noch ein Wort über meine arme Großmutter sagen!“ rief ich.

Fräulein Fliedner hatte sich rasch erhoben – sie legte beschwichtigend beide Arme um mich und sah ängstlich nach der Felsengruppe hinüber; dort klangen die Schritte wieder – sie näherten sich rasch dem Theetisch.

„Haben Sie das Alles auch der Prinzessin erzählt, Fräulein v. Sassen?“ fragte Dagobert schnell – er schob mit dieser Frage weiteren Erörterungen einen Riegel vor und bewirkte, daß die Schritte augenblicklich verstummten.

Ich schüttelte schweigend den Kopf.

„Nun dann – wenn ich Ihnen rathen darf – schweigen Sie auch künftig darüber.“

„Aber aus welchem Grunde denn?“ fragte Fräulein Fliedner.

„Das können Sie sich doch denken, liebste Fliedner,“ versetzte er achselzuckend, fast unwillig. „Es ist bekannt genug, daß der Herzog den Juden nicht hold ist, weil ihn sein ehemaliger Hofagent, Hirschfeld, fabelhaft beschwindelt hat und schließlich durchgebrannt ist. Weiter – und das ist die Hauptsache – gilt der Name v. Sassen am Hofe als ein seit Jahrhunderten völlig unbefleckter. Für Seine Hoheit giebt allerdings die Gelehrsamkeit des Herrn v. Sassen den Ausschlag – anders dagegen ist’s mit der Umgebung – ihr imponirt sicher nur das hohe Alter und die Reinheit des Stammbaumes; solch eine kleine Ausplauderei seitens der jungen Dame könnte mithin der brillanten Aufnahme des Herrn Doctors, wie auch ihrer eigenen, einen empfindlichen Stoß versetzen, und das wird sie sicher nicht wollen.“

Ich schwieg, weil mir die ganze Rede nicht klar war; ich begriff durchaus nicht, wie es meinem Vater schaden könne, daß seine Mutter eine Jüdin gewesen, denn mir fehlte ja der Begriff von jener sogenannten Weltordnung beinahe vollständig. Es war aber auch gar nicht der geeignete Moment, darüber nachzudenken – noch zitterte ich in der Nachwirkung des Schreckens, den mir das plötzliche Hervortreten des fürchterlichen alten Mannes verursacht hatte. Und er stand ja noch mit verschränkten Armen mir gegenüber, und seine Augen glühten unter den weißen Brauen hervor, als wollten sie mich verbrennen. Ich empfand zum ersten Mal in meinem Leben, daß ich gehaßt wurde – eine Erfahrung, die eine junge Seele so schwer begreift –; die Luft, die ich mit meinem Feinde zugleich athmete, drohte mich zu ersticken; der Aufenthalt im Glashause wurde mir unerträglich.

„Ich will heimgehen – Ilse wartet,“ sagte ich – mit einer energischen Bewegung befreite ich mich aus Fräulein Fliedner’s Armen und griff nach meinem Hute, während meine Augen mit fieberndem Verlangen in den kühlen, weiten Garten hinausstrebten.

„Na, da kommen Sie,“ meinte Charlotte aufstehend. „Ei, der Tausend, ich sehe an Ihrem Blick, daß wir Sie nicht halten dürfen! – Sie wären im Stande und zerschlügen uns die Scheiben wie der wilde Darling –“

„Darling hat heute Abend seinen Herrn abgeworfen und mit den Hufen zerschlagen,“ sagte ich.

Dagobert fuhr empor. „Wie, Arthur Tressel? Den famosen Reiter? Unmöglich!“ rief er.

„Ah bah, ein schöner Reiter das! Der Mensch hätte auch weiser gethan, daheim auf seinem Comptoirstuhle sitzen zu bleiben,“ warf Charlotte mit scheinbarem Phlegma hin; aber unter ihren verächtlich zugekniffenen Lidern hervor flammte ein Blick voll Aerger – er glitt verstohlen durch den Hintergrund des Glashauses. „Hat er sich sehr wehe gethan, der arme Junge?“

„Herr von Wismar sagte zu der Prinzessin, das sei robustes Blut und eine ganz andere Knochenmasse – das sei nicht leicht umzubringen.“

Vom Felsen herüber klang ein leises Auflachen – ich glaube, der plötzliche unterirdische Stoß eines Erdbebens hätte keine größere Wirkung auf die Geschwister üben können als meine achtlos gegebene Antwort und jenes schnell verklingende, kaum hörbare Auflachen. Was hatte ich armes, erschrockenes Geschöpf denn verbrochen, daß Dagobert’s Augen mich so zornig ansprühten? … Es sah aus, als wolle Charlotte im ersten jähen Aufbrausen einen Zornruf hinter die Felsengruppe schleudern, aber sie überwand sich und schwieg, während sie den Kopf stolz zurückwarf.

„Kommen Sie, Kleine – geben Sie Fräulein Fliedner ein Patschhändchen und sagen ihr gute Nacht – es wird Zeit, daß man Sie zu Bett bringt!“ sagte sie zu mir.

In jedem andern Moment würde diese Aufforderung meine siebenzehnjährige Würde tief gekränkt haben – diesmal jedoch verzieh ich Charlotten sofort; denn der Mund, der sich zum Humor zwang, erschien völlig farblos – das stolze Mädchen war tief verletzt worden, das sah ich wohl, wenn ich auch nicht begriff, durch was.

Sie durchschritt anscheinend ruhig und schweigsam an meiner Seite das Glashaus und den vordern Theil des Gartens; kaum aber hatten wir die Brücke hinter uns, als sie stehen blieb und unter einem tiefen, schweren Aufathmen beide Hände auf die Brust preßte.

„Haben Sie gehört, wie er lachte?“ fragte sie mit ausbrechendem Grimm.

„Es war Herr Claudius?“

„Ja, Kind. … Wenn Sie erst länger mit uns zusammengelebt haben, dann werden Sie wissen, daß dieser große, überlegene Geist nie laut lacht, es sei denn über die Schwächen der Menschheit wie vor wenig Augenblicken. … Kleine, mit dem Auskramen Dessen, was Sie bei Hofe hören und erleben, müssen Sie in Anwesenheit des Onkels künftig vorsichtiger sein.“

Ich war empört. Man hatte mich gezwungen, zu erzählen, und ich war in der That, für meine wenig geschulte, offene Natur, sehr vorsichtig gewesen; nicht ein Wort von Dem, was man bei Hofe über Dagobert gesprochen, war über meine Lippen gekommen.

„Warum zanken Sie denn?“ fragte ich trotzig. „Soll ich nicht einmal sagen, daß man den gestürzten Reiter am Hofe für stark und kräftig hält?“

O sancta simplicitas!“ rief Charlotte spöttisch auflachend. „Arthur Tressel ist zart und zierlich – ein Bürschchen von Marzipan. … Die Bezeichnung des geistvollen Herrn von Wismar gilt dem gesammten biderben Bürgerstand. Ein Cavalier hätte [747] seine feinen, ganz besonders construirten Rippen bei dem Sturz jedenfalls zerbrochen und seine edle Seele in den Himmel zurückgehaucht, das robuste Bürgerblut aber hat viel zu viel von der groben, derben Erde in sich, es bleibt an ihr kleben und thut sich nicht so leicht weh.“

Sie lachte abermals auf, ging hastigen Schrittes weiter und trat mit mir heraus auf das Parterre der Karolinenlust.

Der Mond stand jetzt vollständig entschleiert über dem Schlößchen. Auf der verschwiegenen, dem Waldesdunkel abgerungenen Oase wirkte das hereinfallende weiße Licht ebenso berauschend auf meine Nerven wie der starke Blumenduft im Vordergarten. Es ließ die steinerne Diana drüben unter der Blutbuchengruppe so erschreckend lebendig hervortreten, daß man meinte, der lauernde Pfeil auf dem gespannten Bogen müsse plötzlich die Lüfte durchschwirren – es floß um die Blumen- und Fruchtfestons der Mauern, über die starren Augen und festgeschlossenen Lippen der lasttragenden Karyatiden und schwamm auf dem Spiegel des Teiches, auf den ungeheuren Glasflächen der Fenster. Ich konnte jede einzelne Falte der verblichenen Seidendraperien hinter den Balconglasthüren erkennen – jetzt lief der Mond mit silbernen Sohlen durch die geheimnißvollen Zimmer; – da schwankte die Ampel drunten an der Decke des grimmigen Fanatikers freilich nicht.

„Der da oben hätte mich und meinen Bruder verstanden,“ sagte Charlotte und zeigte nach der Beletage. „Er hat den Staub und Schmutz der Krämersippe mit starker Hand abgeworfen und ist keck hinaufgestiegen in die Sphäre, die ihm einzig und allein den Lebensathem geben konnte.“ Sie sah unverwandt auf die glitzernden Scheiben und zuckte die Achseln. „Er ist freilich mit zerschmettertem Kopf herabgestürzt – aber was thut’s? Er hat doch die hochmüthige Kaste gezwungen, ihn anzuerkennen, er ist Ihresgleichen geworden und hat seinen glänzenden Weg über den Boden gemacht, den sie mit rasender Eifersucht als den ihrigen reclamiren. Es ist schließlich völlig gleichbedeutend, ob dieser Weg durch zehn oder fünfzig Jahre hindurchgelaufen ist. Ich stürbe gern jung, wenn ich nur zwölf Monate Leben auf der Höhe damit erkaufen könnte! … Ich habe es durchgekostet, was es heißt, seine halbe Jugend mit stolz ehrgeizigem Herzen und einem verpönten, plebejischen Namen unter naserümpfenden, adeligen Pensionairinnen zu verbringen – ich will nicht immer unten stehen – ich will nicht!“

Sie fuhr mit der geballten Hand energisch durch die Luft und schritt unter fliegenden Athemzügen rasch auf und ab.

„Onkel Erich kennt diese verborgene Gluth in meinem Herzen – Dagobert denkt und fühlt und leidet genau so wie ich“ – sagte sie stehenbleibend weiter – „und mit dem ganzen Spießbürgerhochmuth seines Standes sucht er sie zu ersticken. … Wir sollen die Stütze unserer Würde in uns selbst suchen, nicht in äußeren Zufälligkeiten, sagt der große Philosoph – lächerlich! Das stachelt mich erst recht auf; ich fühle mich an einen Marterpfahl gebunden, ich knirsche in den Zaum und verwünsche die Bosheit des Schicksals, die junge Adler in ein Krähennest getragen hat! … Woher diese unbesiegbaren Empfindungen?“ frug sie langsam weiterschreitend. „Sie sind da, so lange ich athme, sie müssen in dem Blut begründet sein, das mich durchströmt. … Es ist keine Chimäre, das Wort von dem aristokratischen Bewußtsein – es mögen sich wohl Fäden fortspinnen von Geschlecht zu Geschlecht, die uns unbewußt mit vergangener Größe zusammenknüpfen, wenn sie auch äußerlich nicht mehr wahrnehmbar sind, wie bei uns Geschwistern zum Beispiel, über deren eigentlicher Abkunft tödtliches Schweigen, undurchdringliches Dunkel liegen –“

Diese leidenschaftlich herausgestoßenen Klagen erloschen plötzlich mit den letzten Worten in einer Art von Stammeln – in der Mündung des einen Bosquetweges, an der wir eben vorüberkamen, stand Herr Claudius und sah das aufgeregte Mädchen mit ruhigen, ernsten Augen an.

„Einmal soll dieses Dunkel gelüftet werden, Charlotte, ich verspreche es Dir,“ sagte er so gelassen, als sei der heftige Ausbruch an ihn direct gerichtet gewesen, und er antworte einfach darauf. „Aber dann erst sollst Du die Wahrheit erfahren, wenn Du sie ertragen kannst, wenn das Leben und ich –“ er zeigte gebieterisch auf sich selbst – „Dich vernünftiger gemacht haben werden. … Jetzt gehe vor in das Haus, Dörte mag Dir ein Glas Zuckerwasser einrühren. … Und noch Eines: Ich verbiete Dir hiermit streng für die Zukunft derartige Mondscheinpromenaden in Fräulein von Sassen’s Gesellschaft, der Größenwahn ist ansteckend, Du wirst mich verstehen.“

Seltsam, das Mädchen mit dem starken Geist fand nicht ein Wort der Erwiderung; die Ueberraschung mochte sie wohl für einen Augenblick gelähmt und widerstandslos gemacht haben. Den Kopf trotzig zurückwerfend, preßte sie meine Hand so heftig, daß ich hätte aufschreien mögen, schleuderte sie dann ungestüm von sich und rauschte in das Bosquet hinein.

Ich war mit ihm allein – Angst und Beklommenheit überschlichen mein Herz; aber ich wollte ihm nicht zeigen, daß ich mich fürchte – nun gerade nicht! Der starke Goliath hatte einen Augenblick den Kopf verloren und sich in die Flucht schlagen lassen – da hielt sich der kleine David tapferer. … Ich schritt, für meine flinken Füße viel zu langsam, nach der Karolinenlust, und er ging schweigend neben mir her. … Die Halle war stark beleuchtet; auch in dem Corridor, der hinter meinem Zimmer hinlief, brannten auf Herrn Claudius’ Befehl allabendlich zwei Lampen. Vor diesem Corridor, auf dessen Stufen ich schon meinen Fuß setzte, blieb er stehen.

„Sie sind heute Nachmittag im Groll von mir gegangen,“ sagte er. „Geben Sie mir eine Hand, ich möchte doch lieber nicht so schlimme Erfahrungen machen, wie Heinz mit dem bösen Raben.“

Er streckte mir die Hand hin. Durch ein rubinrothes Glas in der Corridorthür warf das Lampenlicht einen rothflüssigen Schein über die weißen Finger, und von dem Brillantring zuckten grelle Blitze auf – ich schauderte.

„Sie ist voll Blut!“ schrie ich entsetzt auf und stieß nach der Hand.

Er wich zurück und sah mich an – bis an mein Ende werde ich den vergehenden Blick nicht vergessen, der den meinen traf – noch nie hatte mich ein Menschenauge so angesehen, nie! … Er wandte sich und verließ, ohne daß auch nur ein Laut über seine Lippen gekommen wäre, das Haus.

Ich fuhr unwillkürlich mit der Hand nach dem Herzen, als hätte ich den Dolchstich zurückempfangen – wie das schmerzte! Es war Reue, tiefe Reue! … Ich stürmte die Stufen hinab, in’s Freie hinaus – ich wollte ihm die Hand geben, die er verlangt hatte, und ihn bitten, nicht böse zu sein. Aber der Kiesplatz war leer, ich hörte auch keine Schritte sich entfernen – Herr Claudius mußte den weichen Waldboden betreten haben.

Tief niedergeschlagen trat ich endlich bei Ilse ein. Ihre stets wachen und hellen Augen bemerkten sofort, daß Tropfen an meinen Wimpern hingen, und ich sagte ihr, daran sei nur das abscheuliche, blutrote Glas der Corridorthür schuld, für die es auch besser gewesen sei, wenn Darling sie zertreten, statt der Scheiben im Glashause.



22.

Auf diesen Abend folgten mehrere Tage voll Sorge, die ich zum ersten Mal in meinem Leben durchmachen mußte – die Sorge um einen kranken Vater. Er litt an so entsetzlichen Kopfschmerzen, daß er drei Tage lang nicht in seine geliebte Bibliothek hinaufsteigen konnte. … Die wilde Hummel, die bei sonnigem Wetter nicht eine halbe Stunde lang in der Dierkhofstube ausgehalten hatte, saß jetzt von früh bis spät im verdunkelten Zimmer, lautlos zu Füßen des Leidenden und lauschte ängstlich auf jede Bewegung, jeden Laut seines Mundes. Die Sehnsucht nach dem glänzenden Augusthimmel draußen trat auch nicht einmal an mich heran – es flogen ja auch Sonnenblicke durch das dunkle Zimmer, und das war, wenn ich mich auf den Bettrand setzen und abwechselnd eine meiner kühlen Hände auf die glühende Stirn des Kranken legen durfte, wenn er schwachlächelnd Ilse zuflüsterte, er habe es gar nicht geahnt, welch ein Segen es sei, ein Kind zu haben, seit dem Tode meiner Mutter sei er bei der jedesmaligen Wiederkehr seines alten Uebels – er litt periodisch an diesen Gehirnschmerzen – stets doppelt verlassen und krank gewesen, weil er keine pflegende Hand, kein Auge voll zärtlicher Besorgniß um sich gehabt habe; er beklage nunmehr jedes Jahr der Trennung zwischen Vater und Tochter in bitterer Reue als einen großen Verlust.

Der Leibarzt des Herzogs besuchte meinen Vater sehr oft. Vom Hofe kam täglich zweimal ein Lakai, um sich nach dem Befinden [748] des Kranken zu erkundigen und Erfrischungen zu bringen, und Ilse hatte „alle Hände voll zu thun“, um die besorgten Nachfragen aus allen Theilen der Residenz zu beantworten. Auch im Vorderhaus zeigte man große Theilnahme. Fräulein Fliedner kam jeden Morgen selbst, um nachzusehen, und stellte alle dienstbaren Geister des Hauses zu unsrer Verfügung. … Charlotte war auch einmal Abends auf eine halbe Stunde bei mir, um „die Kleine“ in ihrer Trübseligkeit ein wenig zu trösten. Mir schien es aber, als bedürfe sie der Erheiterung von außen her weit mehr als ich. Es lag etwas wie ein finsteres Brüten über den starken, dunklen Brauen, und die stolznachlässige Sicherheit in ihren Geberden hatten einer nervösen Beweglichkeit Platz gemacht. Das Zusammentreffen mit ihrem Onkel am Bosquet erwähnte sie mit keinem Wort; dagegen erzählte sie mir, daß es augenblicklich gewitterhaft schwül im Vorderhaus sei. Herr Claudius führe seinen Entschluß, Haus und Geschäft von dem eingeschlichenen Muckerthum zu säubern, mit äußerster Consequenz durch. Er habe die bereits eingezahlten Missionsbeiträge der Arbeiter großmüthig in den Händen des Buchhalters belassen, die gleiche Summe aus eigenen Mitteln aber als Fond in eine von ihm neugestiftete Casse niedergelegt, welche den Zweck habe, die Realschulbildung für die Arbeitersöhne zu ermöglichen und die Ausstattungskosten für die Töchter der Aermeren zu erleichtern. Die Tractätchen seien korbweise fortgeschafft worden, und dem jungen Commis, der aus Liebedienerei weit über seine Kräfte zu der Missionscasse beigesteuert und sich mit großem Erfolg der Augenverdrehung beflissen habe, sei eine eclatante Rüge und die Androhung zu Theil geworden, daß ein Rückfall in die widerwärtige Heuchelei seine sofortige Entlassung zur Folge haben werde, der Buchhalter gehe natürlich mit einem in Grimm erstarrten Gesicht herum – das wußte ich bereits, durch den Spalt einer Jalousie hatte ich ihn mehrmals in Begleitung der Geschwister den Teich umschreiten sehen. Das Band zwischen diesen drei Menschen schien durch die neuen Ereignisse ein noch engeres geworden zu sein, – dafür sprachen die gemeinsamen Spaziergänge im Walde.

So oft Charlotte Herrn Claudias erwähnte, fühlte ich zwar noch einen leisen Stich durch mein Inneres gehen; allein die Qual der Reue und des Selbstvorwurfs hatte bedeutend nachgelassen, seit ich mir entrüstet sagte, daß die Krankheit meines Vaters ihren Grund in der Aufregung wegen des vereitelten Münzenankaufs habe – die ausgezeichnete haarscharfe Logik meines siehenzehnjährigen Mädchenkopfes erkannte schließlich dem hartherzigen Verweigerer der Mittel die ganze Schuld zu, und – da waren wir ja quitt! –

Nun aber waren die schlimmen Tage vorüber. Die Fenster des Krankenzimmers standen weit offen, Luft und Sonne zogen wieder ein, und Ilse fegte und stäubte ab, als sei die ganze Streubüchse der Wüste drin ausgeschüttet worden. Ich hatte meinen Vater zum ersten Male wieder in die Bibliothek begleitet, ihm droben den Nachmittagskaffee auf der Maschine gekocht, die grünen Wollvorhänge halb zugezogen, wie er’s liebte, und um seine Füße eine wattirte Decke geschlagen. Ich wußte ihn versorgt und stillglücklich in der Wiederaufnahme seiner Arbeiten, und flog nun wie ein Pfeil hinaus in den Garten. Jetzt wußte ich den köstlichen Waldodem, das labende Düster unter den tausendfach verschlungenen Aesten bereits besser zu schätzen. Die Sonne hing als greller Gluthball über dem Garten – es sah aus, als wolle sie gierig das ganze blaue Wasser des Teiches austrinken – matt und träge lag dieses in seinem Steinring.

Ich schlug den Weg ein, den ich seit Sonntag nicht wieder betreten hatte, und drang in das Dickicht – richtig, da stand Gretchens Korbwagen noch mit den halb zerschmolzenen, halb verdorrten Erdbeeren – Niemand hatte ihn zurückverlangt – möglich, daß der alte Gärtner Schäfer ihn gesucht und nicht gefunden hatte. … Wie dauerte mich das arme Kind, das jedenfalls nach seinem verlorenen Spielzeug jammerte! Die Eltern waren ja arm, so arm, daß die Mutter das Blut der Arbeit an den Händen hatte – sie konnten der Kleinen den Verlust vielleicht nicht ersetzen.

Obgleich mir Herr Claudius neulich, wenn auch ohne ein Wort der Zurechtweisung, so doch sehr ausdrucksvoll für alle Zeit den Ausgang verlegt, indem er vor meinen Augen den Schlüssel abgezogen und in die Tasche gesteckt hatte, lief ich doch nach der Gartenthür – siehe da, ein neues Schloß blinkte mir entgegen, ein festes starkes Schloß ohne Schlüssel, auch die Bänder und Riegel waren neu – tausend noch einmal, man mußte gehörigen Respect vor der gewaltthätigen Mädchenhand haben, daß man die Thür dergestalt in Eisen gelegt hatte!

Ich kletterte auf die Ulme, das war heute ein ziemlich saures Stück Arbeit. Ich hatte die sogenannten Spitzen an den Füßen und war damit in die Haideschuhe geschlüpft – um eine ganze Welt waren sie mir zu weit und machten alle Augenblicke Anstalt, mich treulos zu verlassen und hinunter in’s Dickicht zu fliegen. –

Endlich saß ich glücklich droben im Wipfel der Ulme. Auf dem Balcon des Schweizerhäuschens, von dem wilden Wein kühl beschattet, stand ein Kinderwagen – Hermännchen lag drin auf weißem Kissen, sehr faul und jedenfalls sehr satt. Neben ihm stand Gretchen und biß herzhaft in ein großes Butterbrod, dazwischen hinein mit dem Brüderlein plaudernd; drin im Zimmer aber sah ich die Mama, wie sie bügelte und alle Augenblicke mit erhitztem Gesicht in die Thür trat, um nach den Kinderchen zu sehen.

Wer hätte gedacht, daß durch das liebliche sanfte Frauenantlitz dort solch ein Sturm gehen könne, wie ich ihn am Sonntagmorgen gesehen! In diesem Moment war davon auch nicht die geringste Spur mehr in den lächelnden Zügen zu finden, so wenig, wie Gretchen über ihren verlorenen Wagen jammerte. Aber das Kind sollte ihn wieder haben, und zwar sofort, ich wollte ihn mit frischgepflückten Erdbeeren und Waldblumen füllen und den alten Gärtner Schäfer bitten, ihn nach Hause zu tragen. Ich verließ den Wipfel und glitt von Ast zu Ast hinab – da kamen Menschen von der Karolinenlust her; sie mußten mir schon sehr nahe sein – erschrocken fuhr ich zusammen vor der Stimme des Buchhalters, die zu mir heraufscholl, als stehe er bereits unten zu Füßen der Ulme. Den höchsten Wipfel erreichte ich nicht mehr, ohne daß das Geräusch des erschwerten Kletterns hinabgedrungen wäre. Still hoffend, daß das Ungewitter rasch vorüberziehen werde, schlang ich meine Arme um den Baumstamm, denn ich saß auf einem sehr dünnen schwanken Ast, und lauschte mit klopfendem Herzen hinab.

Was ich zuerst durch das Blättergewebe sah, war Charlottens purpurfarbene Sammetschleife, die sie meist über der Stirn trug – wo Charlotte, da war auch Dagobert; die Geschwister flüchteten wieder einmal aus dem gewitterschwülen Vorderhause in den Wald; sie waren unglücklich und bedurften des Trostes; aber es berührte mich trotzdem peinlich, daß sie in ihrer Bedrängniß zu dem unheimlichen alten Manne hielten.

Die Wandelnden bogen in den Weg ein, der sehr nahe an meinem Versteck hinlief. Eckhof dämpfte seine Stimme auffallend; seine breit betonende Redeweise ließ mich jedoch jedes seiner Worte klar und deutlich verstehen. Er hielt den Hut in der Hand; sein blüthenweißer Scheitel leuchtete hell auf, sonst aber erschien der schöne, alte Kopf gleichsam verdunkelt. – Der grimmige, verbissene Ausdruck zeichnete zahllose Falten und Fältchen in das sonst so blanke, man möchte sagen, auch von innen heraus eitel gepflegte Gesicht.

„Schweigen Sie um Gotteswillen mit ihren Tröstungen!“ rief er stehenbleibend nichts weniger als höflich. „Die Folgen sind unberechenbar! Das können Sie beide nicht beurtheilen, die Sie nicht wissen, welch einen ungeheuren Schritt vorwärts wir dadurch gethan hatten, daß das Haus Claudius mit seinen vielen Seelen in unsere Reihen eingetreten war – das hat imponirt und der Kirche manchen Schwachen und Schwankenden wieder zugeführt. … Und nun wird der mühsame Aufbau mit einem solchen Eclat, einer solchen Rücksichtslosigkeit niedergerissen. … Welche unselige Verblendung, den Götzen der Neuzeit, die unselige sogenannte Bildung an die Stelle zu setzen, da der Herr bereits wieder geherrscht hat in seiner alten Macht und Strenge!“

„Der Onkel schlägt sich selbst in’s Gesicht mit seiner Marotte,“ sagte Dagobert kalt. „Die Mächtigen und Besitzenden haben keinen besseren Verbündeten als die Kirche gegen den Schwall Derer, die frech an dem Bestehenden rütteln. … Hätte ich Macht und Geld in den Händen, dann wäre Ihre Partei um einen eifrigen Förderer reicher – ich begreife meine Zeit und gehöre zu denen, die dem tollen Kreisel, den sie Fortschritt nennen, ein Bein stellen.“

„In Bezug auf die Kirche denkt Fräulein Charlotte anders,“ sagte Eckhof, und sein glühendes Auge heftete sich durchdringend und streng auf das junge Mädchen.

[750] „Ja, darin gehen unsere Ansichten auseinander,“ versetzte sie aufrichtig. „Hätte ich Geld in den Händen, dann würde es mir vor Allem das Mittel sein, das beschämende, erniedrigende Dunkel zu lüften, das die Vergangenheit unserer Familie deckt – ich will die Brosamen nicht länger essen, die mir zugeworfen werden, weil ich deutlich weiß und fühle, daß es meiner unwürdig ist, daß ich mich ihrer vielleicht später einmal schämen muß! … Ich werde von nun an zusammenraffen und sparen –“

„Fräulein Charlotte sparen?“ warf Eckhof sarkastisch ungläubig ein.

„Ich sage Ihnen,“ fuhr sie heftig auf, „ich werde in Sack und Asche gehen, um nur die Mittel zu einer Forschungsreise nach Paris zu erzwingen –“

„Wie, wenn Sie nun nicht so weit zu gehen hätten, um das Dunkel zu lüften?“

Jedes dieser Worte fiel schwer wie tönendes Erz in mein Ohr, auf meine Nerven. Der Mann, der sie langsam und gewichtig ausgesprochen, stand plötzlich da, als habe er sich mit einem einzigen, entscheidenden Schlag von einem schweren, inneren Zerwürfniß losgerungen. „Kommen Sie,“ sagte er kurz und gebieterisch zu der jungen Dame, die ihm sprachlos und mechanisch folgte. Er setzte sich auf die Bank, auf der ich am Sonntag gesessen und gesungen hatte, und die meinem Versteck schräg gegenüberstand.

O weh, in welche entsetzliche Lage war ich gerathen! In Todesangst hielt ich halb schwebend den Ulmenstamm umschlungen – ich fürchtete, durch meine Schwere den dünnen Ast unter mir abzuknicken; dazu machten sich die unseligen Schuhe das Vergnügen, an meinen baumelnden Füßen allmählich, aber mit unerschütterlicher Consequenz hinabzurutschen, und ich hatte keine Gewalt über sie – Gott im Himmel, wenn solch ein kleines Ungethüm hinabpolterte, welches Gaudium für Dagobert, und welche prächtige Gelegenheit für meinen Feind, mir eine donnernde Strafpredigt zu halten!

„Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen,“ sagte der Buchhalter zu den Geschwistern, die sich neben ihn gesetzt hatten. „Aber hören Sie vorerst eine unumwundene Erklärung. … Das, was ich Ihnen mittheilen werde, erfahren Sie nicht auf Grund meiner Anhänglichkeit für Sie – es wäre eine Lüge, wollte ich das sagen. … Ich spreche auch nicht aus Rachsucht –‚Ich will vergelten, spricht der Herr!‘ … Sie sehen in diesem Augenblick nicht den Menschen Eckhof in mir, sondern den Streiter des Herrn, dem keine Wahl bleibt, wenn er zwischen die irdischen Interessen der Menschen – und sei es der eigenen Familie, des eigenen Fleisches und Blutes – und das Heil der Kirche gestellt wird!“

[761] Und dieser blinde Fanatismus war es in der That, der Eckhof beseelte – es war ihm fürchterlich Ernst mit dem, was er sagte. Man mußte dieses düstere Glimmen in den Augen sehen, die sich einen Moment hoben, um über dem Laubdach den Himmel zu suchen.

„Sie haben mir wiederholt versichert, daß Sie im Besitz von Vermögen und einem klingenden Namen sofort einer der Unsrigen sein würden“ – sagte er zu Dagobert.

„Ich wiederhole das hiermit feierlich – ich könnte ja Beides unter keinen besseren Schutz stellen – Tausende sollten mir nicht zu viel sein –“

Eckhof neigte das Haupt. „Der Herr wird sie als Sühne ansehen für so viel verborgene Sünden und endlich seine strafende Hand nehmen von den armen Seelen, die noch ruhelos wandern müssen,“ sagte er pathetisch. „Es war aller Laster Anfang, daß der Kaufmannssohn den Standpunkt verachtete, auf den ihn der Herr durch die Geburt gestellt hatte, und nach dem Degen griff. … Er war schön von Gestalt und verstand sich auf die feinen Künste, die der Menschen Herzen verlocken, und da gab ihm der Herzog den Adel und ließ ihn nicht mehr von seiner Seite. … Es wurde damals ein lockeres Leben geführt, da droben, von wo Zucht und Ehrbarkeit und Gottesfurcht als eine Leuchte über die Länder ausgehen sollten. Der Herzog war lustig und die Frau Herzogin, seine Gemahlin auch, und seine jungen Schwestern, die Prinzessinnen Sidonie und Margarethe, waren zu vergleichen der Tochter des Herodes. Sie hatten viel Willen, denn der Herzog liebte sie zärtlich – sie konnten Alles von ihm erbitten, nur nicht die Einwilligung zu einer Mißheirath, denn er war stolz auf sein fürstliches Blut. … Die schönen Schwestern verreisten und kamen zurück, wie es ihnen gefiel – Prinzessin Margarethe war mehr am Hofe zu L., als daheim; ihre ältere Schwester aber hatte eine große Vorliebe für die Schweiz und für Paris. … Sie verreiste oft auf zwei, drei Monate und noch länger – natürlicherweise im strengsten Incognito und unter dem Schutz ihrer alten, sehr respectablen Hofdame und eines ebenso bejahrten Cavaliers – die guten Leute sind längst todt.“

Er schwieg einen Augenblick und strich sich mit der Hand über das Kinn, und ich saß in stiller Verzweiflung auf meinem Ast; meine Fußsohlen krampften sich zusammen, um die Schuhe festzuhalten, und das Blut trat mir heftig klopfend in die Schläfe, denn ich wagte nicht einmal tief Athem zu schöpfen. Und dieser Mann erzählte so breit wie möglich – es war kein Ende abzusehen.

„Seltsam aber war’s,“ fuhr er endlich fort, „daß stets, so oft die Prinzessin Sidonie nach der Schweiz abreiste, eine schöne, junge Dame in der Karolinenlust erschien. Sie hatte genau so schwarze Locken, genau den schlanken Wuchs wie die Prinzessin, und sah ihr überhaupt zum Verwechseln ähnlich. … In solchen Zeiten war dann die Brücke nach dem Vordergarten womöglich noch fester verschlossen als sonst, und am Flußufer hin, auf Seiten der Karolinenlust, lief ein festes Stacket, das natürlicherweise nach Lothar’s Tode sofort hat fallen müssen. … Nur eine Seele des Vorderhauses genoß die Gnade, die Brücke ungehindert passiren zu dürfen, Fräulein Fliedner. Sie hatte sogar einen eigenen Schlüssel dazu, den sie meist zur Abendzeit, selbst in der späten Nacht benutzte. … Wenn Sie mich fragen, woher ich das Alles weiß, so kann ich Ihnen weiter nichts sagen, als meine selige Frau hat mir’s erzählt. Sie war zwar nie und nimmer bei dieser dunkeln Geschichte betheiligt – zu ihrer Ehre sei es gesagt –, aber Frauenohren und –Augen sind fein und scharf, und wenn die weibliche Wißbegierde einmal angeregt ist, dann fragt sie nicht viel nach nassen Füßen, die der Fluß macht, und findet wohl auch eine Stelle zum Durchschlüpfen –“

„Schau, schau, die gute Frau hat auch gelauscht!“ dachte ich zu meiner großen Befriedigung und vergaß sogar für einen Moment meine gefährliche Situation.

„Das ist ein Leben gewesen wie in einem Turteltaubennest. Eine herrliche Frauenstimme hat die schönsten Lieder gesungen, und im Mondenschein, in später, stiller Nacht hat man droben auf der Waldwiese die Epauletten des Herrn Officiers blitzen sehen und die schlanke, weiße Frau hat an seinem Arm gehangen. … Einmal Abends aber ist Fräulein Fliedner hastig, ohne alle Vorsicht über die Brücke gelaufen – in der Karolinenlust sind die Lichter hinter den Fenster hin- und wiedergehuscht – und um Mitternacht hat man Kindergeschrei gehört.“

Charlotte fuhr in die Höhe, mit geöffneten Lippen, als ränge sie nach Athem – ihre funkelnden Augen ruhten verzehrend auf dem Gesicht des Sprechenden.

„Mehrere Jahre hinter einander hat man die Anwesenheit der Dame in der Karolinenlust von Zeit zu Zeit beobachtet – die Scene, die ich zuletzt erzählt, hat sich später noch einmal [762] wiederholt“ – sagte Eckhof weiter – „dann starb die lustige, leichtlebige Prinzessin Sidonie plötzlich im Bade am Schlagfluß, und der schöne Lothar jagte sich drei Tage darauf in Wien, wo er sich gerade mit dem Herzog befand, eine Kugel durch den Kopf. … Herr Claudius kam einige Tage nach dem schrecklichen Vorfall hierher; er hatte auf seinen Reisen Wien besucht und Lothar dort getroffen. Die beiden Brüder, die sich so selten gesehen, waren sich während dieses Zusammenseins sehr nahe getreten – ich habe das aus Erich’s eigenem Munde. … Als ich zum ersten Mal eingehend mit ihm sprechen durfte, da konnte ich nicht umhin, die Vorgänge in der Karolinenlust zu berühren. Er sah mich stolz und finster an und sagte, auf die Brieftasche Lothar’s zeigend: ‚Da drin sind die Documente; mein Bruder hat mit seiner Frau in rechtmäßiger Ehe gelebt!‘ … Tags darauf ließ er auf Wunsch des Verstorbenen die Herren vom Gericht kommen. Ich stand mit ihnen draußen im Corridor, während er noch einmal hineinging in die Räume, die sein Bruder bewohnt hatte. Ich sah, wie er die Brieftasche in einen Schreibtisch des großen Saales niederlegte und einschloß – dann machte er noch einmal die Runde durch alle Zimmer, in die wir nicht eintreten durften, schloß die Thüren und rüttelte an den Fenstern, und drei Minuten später lagen die Gerichtssiegel auf den Thüren. … Die beiden Kinder, die in der Karolinenlust geboren wurden, sind –“

„Still, still – kein Wort weiter! Sprechen Sie es nicht aus!“ schrie Charlotte emporspringend auf. „Wissen Sie denn nicht, daß ich wahnsinnig werde, daß ich sterben muß, wenn ich diese Wundergeschichte – und sei es auch nur für eine Stunde – glaubte und mir dann sagen lassen müßte: ‚Es ist nicht wahr – es ist eitel Hirngespinnst einer längst verstorbenen Frau!‘“

Sie preßte beide Hände an die Schläfen und rannte auf und ab.

„Ruhig Blut und den Kopf oben behalten!“ ermahnte Eckhof, indem er aufstand und den Arm des jungen Mädchens ergriff. „Ich frage nur das Eine: wenn nicht Lothar’s und der Prinzessin Kinder, wer sind Sie dann?“ …

O Himmel, Charlotte die Tochter einer Prinzessin! Um ein Haar wäre ich von meinem Sitz herabgefallen. … Nun war ja Alles gut, Alles! … Wie untrüglich hatte das fürstliche Blut in ihren Adern gesprochen! … Ich hätte laut aufjubeln mögen, wäre nur nicht die entsetzliche Tortur an meinen Füßen gewesen, und hätte ich nicht gerade jetzt den letzten Rest meiner Muskelkraft aufbieten müssen, um mich athemlos still zu verhalten – wie wäre es mir ergangen, wenn der grimmige Alte mich nun, nach seinen Geständnissen, auf meinem unfreiwilligen Lauscherposten entdeckt hätte!

„Wie sollte Herr Claudius dazu kommen, die Kinder wildfremder Leute, einer fremden Nationalität, erziehen zu lassen und sie sogar zu adoptiren?“ fuhr er fort. „Sehen Sie, das Erbtheil seines Bruders, Ihren rechtmäßigen Besitz, will er Ihnen nicht entziehen – dazu ist er zu gerecht – ja, er geht noch weiter, er sichert Ihnen auch sein Vermögen, indem er nicht heirathet. Pecuniär glänzend versorgen wird er Sie – wenn auch erst nach seinem Tode, bis dahin lenkt er Sie am Gängelband – aber Ihren wahren Namen wird er Ihnen vorenthalten für immer, weil er nicht will, daß das aufgepfropfte adelige Reis fortleben soll – ich kenne ihn genau – er hat den unbeugsamen stolzen Bürgerkopf der Claudius! Doch jetzt beruhigen Sie sich endlich einmal,“ schloß Eckhof ungeduldig, „und suchen Sie Ihre frühesten Erinnerungen zusammen.“

„Ich weiß nichts – nichts!“ stammelte Charlotte und legte die Hand auf die Stirn – die starke Mädchenseele brach zusammen unter der Wucht des Glückes.

„Charlotte, nimm Dich zusammen!“ rief Dagobert nun auch – er war anscheinend viel ruhiger als seine Schwester, aber es kam mir plötzlich vor, als sei er noch gewachsen, so stolz hatte er sich aufgerichtet, und aus seinem dunkelgerötheten Gesicht lag ein Ausdruck, der mich einschüchterte. „Sie mag allerdings nur sehr wenige, unklare Erinnerungen haben, denn sie war ja sehr klein, als unsere Lebenslage sich änderte – weiß ich doch auch nicht viel mehr,“ sagte er zu dem Buchhalter. „Wir haben unsere erste Kindheit nicht in Paris selbst, sondern auf einer kleinen Besitzung in der Nähe der Stadt, bei Madame Godin, verlebt – das das wissen Sie bereits. … Ich erinnere mich wohl, daß mein Papa mich auf seinen Knieen hat reiten lassen, aber, und wenn man mich tödtete, ich könnte nicht sagen, wie er ausgesehen hat. Ich weiß nur, daß seine Erscheinung blitzend, funkelnd war – es ist uns so gesagt worden, er sei Officier gewesen. … Die Mama habe ich sehr selten gesehen – am deutlichsten haftet ein Nachmittag in meiner Erinnerung. Mama kam mit Onkel Erich und noch einem Herrn herausgefahren; es wurde Kaffee im Gartensalon getrunken, und Onkel Erich jagte mich über den Rasen, warf mich hoch in die Luft und trug Charlotte stundenlang auf dem Arm. … Er war ganz anders, als jetzt, er hatte ein frisches, schöngeröthetes Gesicht und sehr rasche, muntere Bewegungen – älter als zwanzig Jahre kann er wohl damals nicht gewesen sein?“

„Er war einundzwanzig Jahre alt,“ bestätigte der Buchhalter mit einem verfinsterten Gesicht, „als er Paris für immer verließ.“

„Die Mama setzte sich an den Flügel,“ fuhr Dagobert fort, „und Alle riefen bittend: ‚Die Tarantella, die Tarantella!‘ und da sang sie, daß die Wände zitterten, und Alles war wie toll, und ich mit. Madame Godin mußte mir nachher das Lied mit ihrem schwachen, alten Stimmchen oft vorsingen, wenn sie mich artig und folgsam haben wollte, und nie werde ich das ‚Già la luna è in mezzo al mare, mamma mia si salterà!‘ vergessen! … Auf das Gesicht der Mama kann ich mich mit dem besten Willen nicht mehr besinnen – für mich spielte, den Gesang ausgenommen, Onkel Erich an jenem Nachmittage die Hauptrolle. Sie könnten mir alle möglichen Frauenportraits zeigen, ich fände meine Mutter nicht heraus. … Ich weiß nur noch, daß sie sehr groß und schlank war, und daß lange, schwarze Locken über ihre Brust herabfielen – vielleicht hätte ich auch das vergessen, wäre ich nicht gerade dieser Locken wegen von Mama gescholten worden, ich hatte sie bei meiner ungestümen Liebkosung sehr derangirt. … Nach diesem Besuch kam Onkel Erich sehr oft allein; er verwöhnte und verzog uns – ganz das Gegentheil von heute – dann blieb er lange weg, bis er eines Tages kam und mich von Charlotte und Madame Godin trennte. … Das ist Alles, was ich Ihnen sagen kann.“

„Es genügt vollkommen,“ sagte Eckhof. „Herr Claudius mag schon früher in das Geheimniß eingeweiht gewesen sein und seine Frau Schwägerin zu Neffen und Nichte begleitet haben. … Die Prinzessin ging ja fast immer nach Paris, wenn der Herzog mit seinem Adjutanten verreiste.“ …

Er schob seinen Arm unter den des jungen Officiers. „Jetzt heißt es vorsichtig forschen und handeln, wenn wir unser gemeinsames Ziel erreichen wollen,“ sagte er, langsam mit Dagobert in den Wald hineinwandelnd. „Von der Fliedner, die allein um Alles weiß, erfahren Sie natürlicherweise niemals ein Sterbenswort – eher ließe sie wohl Holz auf sich spalten! … Nicht wahr, wie unschuldig und harmlos sie thun kann, die – alte Katze? … Die Hofdame, der Reisemarschall und der Leibarzt der Prinzessin, der damals auch in der Karolinenlust aus- und einging, Alle sind sie todt –“

„Und Madame Godin auch – seit langen Jahren,“ setzte Dagobert tonlos hinzu.

„Nur Muth, die brauchen wir nicht! Wir werden schon Mittel und Wege finden,“ sagte Eckhof resolut – der Mann war während seiner Mittheilungen völlig aus seinem biblischen Redeton gefallen. – „Aber wie gesagt, alle Hast muß streng vermieden werden, und sollten Jahre darüber hingehen.“

Sie schritten weiter – Charlotte folgte ihnen nicht. Als sie sich allein sah, warf sie plötzlich die Arme hoch in die Luft und stieß mit zitternder Brust ein eigenthümliches Lachen oder auch Schluchzen aus. Ich wußte nicht, waren es die unarticulirten Laute einer ausbrechenden, unbeschreiblichen Glückseligkeit, oder – des Wahnsinns. Genau so hatte ich meine Großmutter am Brunnen stehen sehen. … Erschrocken bog ich mich hinab – patsch, lag einer meiner Schuhe drunten im Dickicht – das kleine benagelte Ungeheuer rasselte mit einer Vehemenz durch die Büsche, als sei es von einer Pistole abgeschossen. Charlotte stieß einen halberstickten Schrei aus.

„Still, um Gotteswillen!“ flüsterte ich vom Stamm niedergleitend und lief auf sie zu.

„Unglückskind, Sie haben gehorcht?“ stießen ihre Lippen [763] unter meiner Hand hervor – sie schüttelte diese Hand mit einer zornigen Geberde von sich und maß mich mit entrüsteten Blicken.

„Gehorcht?“ wiederholte ich tief beleidigt. „Kann ich’s denn ändern, wenn ich auf dem Baum sitze, und Sie gehen drunten spazieren? … Kann ich denn schreien: ‚kommen Sie ja nicht hier vorüber, wenn Sie sich ein Geheimniß zu sagen haben, denn ich sitze da und will mich um keinen Preis vor dem alten Mann sehen lassen, der mich stets so zornig anschnaubt‘? … und warum soll ich denn durchaus ein Unglückskind sein? Glücklich bin ich, so glücklich und vergnügt, daß ich’s nicht aussprechen kann, Fräulein Charlotte! … Nun ist ja Alles gut! Nun dürfen Sie stolz sein! Denken Sie doch nur, die Prinzessin Margarethe ist ja Ihre Tante!“

„Gott im Himmel, wollen Sie mich denn zu Tode martern?“ schrie sie auf und schüttelte mich so gewaltig an der Schulter, daß ich wie eine Flaumfeder hin- und herflog. Dann ließ sie mich plötzlich los und ging wie vorhin mit starken Schritten auf und ab.

„Glauben Sie nichts – ich glaube auch kein Wort!“ sagte sie nach einer langen Weile scheinbar ruhiger, wenn auch ihre Brust wogte und der Athem flog. „Der Alte dort ist kindisch geworden – sein Muckergehirn hat vor Zeiten schwer geträumt, und nun meint er, eine längst verstorbene Frau habe ihm das Märchen erzählt. … Einen leisen Anflug von Wahrscheinlichkeit erhält die Sache nur durch unsere Adoption von Seiten des Onkels – Niemand hat bisher begriffen, weshalb er sich unser angenommen, und ich füge in meinem Herzen stets nachdrücklich hinzu: ‚Aus Barmherzigkeit ganz gewiß nicht!‘ … Mich könnte nur eine Wanderung durch die Beletage der Karolinenlust überzeugen, in wie weit die Erzählung des Alten auf Thatsachen beruht. Es ist mir unmöglich, zu denken, daß die stolze Prinzessin – einen stark ausgeprägten Fürstenstolz hat unser ganzes herzogliches Haus – heimlich vermählt in der Karolinenlust gelebt haben soll. … Ich will drauf schwören, wenn man heute die Siegel von den Thüren lösen dürfte, man fände Nichts, nichts, als eine elegante Junggesellenwirthschaft, das Heim eines alleinlebenden jungen Herrn!“ –

„Schwören Sie nicht, Fräulein Charlotte!“ unterbrach ich sie flüsternd – mir war zu Muthe, als sei ich berauscht, als wirble mir das Gehirn durcheinander. – „In den Zimmern hängt ein seidener Frauenmantel, und auf dem Schreibtisch liegen Briefbogen, und ‚Sidonie, Prinzessin von K.‘ steht drauf – das muß sie selbst geschrieben haben, so fein schreibt mein Vater nicht, und Herr Claudius auch nicht – ich glaube, so schreibt nur eine Frau.“ –

Sie starrte mich an. „Sie sind drin gewesen? … Hinter den Siegeln?“

„Ja, ich hin drin gewesen,“ versetzte ich rasch, wenn auch mit niedergeschlagenen Augen. „Ich weiß einen Weg, und ich will Sie hinaufführen in die Zimmer, aber erst – wenn Ilse fort ist.“

In dem Augenblick, wo ich den Namen Ilse aussprach, überkam mich ein unaussprechliches Angstgefühl. Mir war, als stünde sie neben mir mit warnend gehobenem Zeigefinger, und als hätte ich Böses gethan, das nie, nie wieder auszulöschen sei. … Es tröstete und beruhigte mich auch durchaus nicht, daß Charlotte mich plötzlich mit ausbrechendem Jubel leidenschaftlich in ihre Arme schloß und an ihr Herz drückte – hatte ich nicht meine gute, alte Ilse für sie hingegeben? …




23.

Ilse’s Thätigkeit war in den folgenden Tagen mehr als je in Anspruch genommen. Sie hatte unter den Effecten meines Vaters noch zwei festverschlossene Kisten voll Hauswäsche gefunden, die auch seit dem Tode meiner Mutter nicht wieder an das Tageslicht gekommen war. Da fielen scharfe Worte über den wunderlichen Mann droben, der den zerbrochenen Kram wie Zuckerzeug auspacke und die schönsten Tisch- und Betttücher vermodern lasse. Ihre Züge wurden allerdings wieder hell, als sich unter ihren rührigen Händen und mit Hülfe der bleichenden Sonne das tiefe Gelb der langen Haft in fleckenlose Weiße verwandelte; aber gerade deshalb achtete sie auch weniger auf mich, es fiel ihr nicht auf, daß ich mich oft in ausbrechender Zärtlichkeit an ihren Hals warf, um durch Liebkosungen das verrätherische „Wenn Ilse fort ist“ wieder gut zu machen.

Aber auch noch andere Scrupel beunruhigten mich. Ich dachte selbstverständlich nicht daran, daß es gefährlich für mich selbst werden könne, in dieser geheimnißvollen Geschichte mitzuwirken – dazu war ich bei weitem nicht weltklug genug, ich hatte nur plötzlich ein dunkles Gefühl von Schuld dem Mann im Vorderhause gegenüber, der ahnungslos an seinem Schreibtisch saß, während Alle insgeheim Front gegen ihn machten. Er war schuldig, das unterlag auch nicht dem leisesten Zweifel – er betrog die zwei hochstrebenden Geschwister um ihren edlen Namen; ich wünschte glühend, daß ihnen so schnell wie möglich zu ihrem Recht verholfen werde; aber daß unter dem Deckmantel des tiefsten Schweigens auf seinem eigenen Grund und Boden gegen ihn gearbeitet wurde, daß der verrätherische Buchhalter und die Geschwister nach wie vor Auge in Auge mit ihm verkehrten und an seinem Tische aßen, daß mein Vater in der Karolinenlust wie in seinem eigenen Heim fort und fort schaltete und waltete, während sein Kind feindselig gegen den Besitzer wirkte, dies Alles war mir peinlich bis in die tiefste Seele hinein.

„Sie haben uns gestern belauscht,“ sagte Dagobert am andern Morgen mit finster gerunzelten Brauen zu mir, als ich, erschreckt durch seine unvermuthete Anwesenheit in der Halle, rasch an ihm vorüberlaufen wollte. Er schien auf mich gewartet zu haben. Ueber Nacht war aus dem geschmeidigen Famulus ein gebietender Herr geworden, er sah genau wieder so hochmüthig und überlegen aus, wie am Hügel in der Haide – und das verdroß mich, allein diese braunen, stolzblickenden Augen hatten so viel Gewalt über mich, daß auch nicht eines der gereizten Worte, die ich ihm sagen wollte, über meine Lippen kam.

„Charlottens Mittheilung hat mir einen tödtlichen Schrecken eingejagt,“ fuhr er fort; „ich bin überzeugt, heute noch erzählen sich die Spatzen auf den Dächern unser kostbares Geheimniß, denn Sie sind viel zu jung, viel zu unerfahren, um begreifen zu können, um was es sich hier handelt. Ein einziges unbesonnenes Wort aus Ihrem Munde wird unsern schlauen Feind stutzig machen und alle unsere Bemühungen für immer vereiteln.“

„Ich werde aber das Wort nicht sagen,“ stieß ich zornig heraus. „Wir werden ja sehen, wer am besten schweigen kann.“

Damit lief ich die Treppe hinauf und flüchtete in das Bibliothekzimmer! Nun lag auch auf meinen Lippen ein Siegel – ich wollte eher sterben, als mir auch nur einen Laut entreißen lassen.

Dagobert’s barscher Kürze gegenüber war ich trotzig, Charlotte dagegen flößte mir Scheu und Bangen ein. Stundenlang stand sie, die Arme untergeschlagen, bewegungslos drüben im Bosquet und starrte mit verzehrenden Blicken nach den verhüllten Fenstern der Beletage. Sie erschien mir viel blässer als sonst, und wenn sie meiner habhaft werden konnte, dann preßte sie mich in ihre Arme und flüsterte mit heißem Athem: „Wann endlich geht Frau Ilse? Ich esse und schlafe nicht – ich gehe an dieser Marter zu Grunde!“

Aus diesen Bedrängnissen rettete ich mich meist zu meinem Vater. Er legte eben die letzte Hand an die Aufstellung der Antiken, denn die Prinzessin hatte nunmehr ihren Besuch für die allernächste Zeit in Aussicht gestellt. Ich mußte ihm behülflich sein, und wenn ich jetzt anfing, die unscheinbarsten Thon- oder Marmorfragmente genau so subtil und zärtlich, wie er selbst, anzufassen, so hatte das seinen Grund in den Mittheilungen, die er während der gemeinsamen Arbeit einstreute. Ich sah, wenn auch immer noch mit blödem Blick, über dem „zerbrochenen Kram“ den unsterblichen Geist schweben, der vor Jahrtausenden im Menschengehirn gekreist, und nun mit jeder Form, mit jedem Farbenrest den Ring bezeichnete, den der gewaltige Stamm der Menschenentwicklung in jeder neuen Phase angesetzt.

So kam ein schwerer, ein entsetzlich gefürchteter Tag heran – er streute das brennende Gold der unverschleierten Sonne über die Waldwipfel und sah mit wunderblauem Auge aus dem See. Wie haßte ich von Neuem diesen See, die leuchtenden, höhnisch zu mir herüberstarrenden Statuen, die Baummassen, denen der nahende Herbst bereits zartgelbe Lichter aufsetzte! Ich starrte mit pochendem Herzen hinaus – die Farbenpracht brach sich in meinen funkelnden Thränen.

„Geweint wird nicht, absolut nicht, Kind,“ sagte Ilse und [764] strich mir mit ihrer harten Hand über die Augen. Sie hatte den Reise-Ueberrock an; auf dem Tische lag der Kirchenhut, und nicht weit von mir stand das Kistchen mit ihren wenigen Effecten, in welches sie eben den letzten Nagel eingeschlagen hatte. Sie war bereits droben bei meinem Vater gewesen, um sich zu verabschieden; ich durfte sie nicht begleiten; aber drunten auf dem Treppenabsatz hörte ich, wie sie in beschwörenden Tönen nochmals ihr sorgenschweres Herz ausschüttete. Sie kam mit dunkelglühenden Backen wieder heraus; die Erregung hielt sie jedoch nicht ab, den Rückweg mit dem Staubtuch in der Hand anzutreten – mit jedem Schritt abwärts polirte sie eine der Marmorstufen; denn die Prinzessin sollte ja binnen einer Stunde kommen, und da mußte doch Alles „blitzblank“ sein.

Nun brachte sie die Schachtel mit den Perlen, die mir meine Großmutter geschenkt hatte.

„Da, Kind,“ sagte sie, während sie mir die Schnur um den entblößten Nacken legte, „die Prinzessin kann’s wissen, daß Du nicht gar so arm zu Deinem Vater gekommen bist – ich weiß, was für ein Heidengeld in solchen Dingern steckt, hab’s manchmal mit ansehen müssen, wenn meine arme Frau Stück für Stück aus der Jakobsohn’schen Erbschaft verkauft hat.“

Der Hut wurde hastig aufgesetzt, das große Wolltuch von der Schulter herab verhüllend über das Kistchen gezogen, das sie unter den linken Arm genommen hatte – dann schritt sie mit mir, ohne sich noch einmal umzusehen, nach dem Vorderhause. Ich hielt ihre Rechte und drückte sie an meine Brust und ging willenlos nebenher. Nur in der Hausflur fuhr ich zurück; denn Ilse ging nicht in Fräulein Fliedner’s Zimmer – auf ihr Befragen zeigte ihr der alte Erdmann die sogenannte „neue Schreibstube des Herrn“.

„Bist Du kindisch bis zum letzten Augenblick?“ schalt sie barsch, während sie ihre Kiste niederstellte und dann ohne Weiteres die bezeichnete Thür öffnete.

Grollend trat ich auf die Schwelle des gründämmernden Eckzimmers. Ich hatte Herrn Claudius nicht wieder gesehen seit jenem Abend, wo ich ihn gekränkt – ich wäre ihm ja auch am liebsten für immer aus dem Wege gegangen; nun aber wurde ich gezwungen, ihm gegenüberzutreten, und da that ich’s denn auch so herausfordernd wie möglich – er hatte ja viel Schuld auf dem Gewissen, nicht ich, nein, ich ganz gewiß nicht!

Er saß an einem der südlichen Fenster und schrieb. Als er uns unter die Thür treten sah, zog er an einer Schnur; die grünen Vorhänge neben ihm flogen auseinander, und durch das duftige Gitter draußen stehender Büsche leuchteten die bunten Felder des Blumengartens herein. Er stand auf und reichte Ilse die Hand. Ich hatte gemeint, nach dem Blick, den er mir neulich zugeworfen, müßten seine Augen ganz anders aussehen, aber sie richteten sich so groß und ernst auf mein Gesicht, wie bei unserer ersten Begegnung an seinem Schreibtische – sie schüchterten mich ein.

„Herr Claudius, nun wird’s Ernst,“ sagte Ilse, und das Trennungsweh, das sie bisher standhaft unterdrückt, brach aus allen Tönen. „Ich muß endlich heim, wenn mir nicht der Dierkhof aus den Fugen gehen soll. … Gott weiß, wie schwer mir das Herz ist; aber Sie sind mein Trost, Sie wissen, was Sie mir versprochen haben, und – da ist Lenore!“

Ehe ich mich dessen versah, hatte sie meine Hand gefaßt und wollte sie in seine Rechte legen. Er wandte das Gesicht weg und griff nach einem Buche, das er in der Hand behielt – ich verstand ihn sofort – ich hatte ja neulich vor seiner Berührung geschaudert.

„Wachen will ich unermüdlich, Frau Ilse,“ sagte er mit der gewohnten Gelassenheit; „aber ob ich mir schließlich die Macht erkämpfen werde, auch zu leiten und selbst einzuwirken, das müssen wir einstweilen dahingestellt sein lassen –“

„Herr Claudius, Sie meinen doch nicht, daß es dem Kinde an dem nöthigen Respect fehlen wird?“ unterbrach ihn Ilse. „Lenore weiß nun schon, daß der Herr Doctor bei seinen Geschäften nicht viel an sie denken kann, daß ein Anderer da sein muß, der wie ein Vater für sie sorgt“ – ich sah, wie eine zarte Röthe sein ganzes Gesicht selbst über die Stirn hinauf überfloß –, „bis sie wieder heim kann auf den Dierkhof. … Ich sag’s ja, Sie sind mein Trost in der schweren Stunde, und wenn Sie auch Lenoren die Hand nicht gegeben haben – je nun, Sie sind ein ernsthafter strenger Mann, und sie ist ja noch das pure Kind im Thun und Wesen –“

„Das liegt doch wohl anders, als Sie denken,“ fiel er ihr in das Wort … welche Qual! Nun griff auch noch Ilse ahnungslos mit harter Hand in die Wunde, die ich ihm zugefügt. Das ganze Reuegefühl überkam mich wieder – noch in diesem Augenblick konnte ich wieder gutmachen, was ich verbrochen – nein, ich durfte nicht mehr, ich wäre dann ebenso falsch gewesen, wie der verabscheute alte Buchhalter, der seinen Herrn verrathen hatte und doch scheinbar auf gutem Fuße mit ihm blieb.

„Trost braucht wohl vor allen Dingen Ihre Schutzbefohlene, Frau Ilse,“ fuhr er fort – seine Augen hingen, mir zur Pein, unverwandt an meinem Gesicht. „Sie ist so blaß, ich fürchte, Abscheu und Angst vor dem engen Baumkreis, der ihre Stirn bedroht, werden nun doppelt über sie kommen.“ Er nahm einen neuen Schlüssel von der Wand und legte ihn auf den Schreibtisch vor mich hin. „Ich weiß, wo Sie das Trennungsweh am ersten überwinden werden, Fräulein von Sassen,“ sagte er. „Ich habe das Schloß an der Gartenthür neu herrichten lassen – der Schlüssel gehört Ihnen; Sie können nun ungestört die Familie Helldorf besuchen und mit Ihrem kleinen Liebling verkehren, so oft Sie wollen.“

Ilse sah sehr verwundert drein; allein es blieb keine Zeit zu näheren Erörterungen. Draußen über das Pflaster des Hofes rasselte ein Wagen.

„Frau Ilse, Sie müssen fort,“ sagte Herr Claudius, indem er nach einem Fenster schritt und die Vorhänge auseinanderzog. Vor der Hofthür stand seine Equipage, der alte Erdmann hob eben Ilse’s Kiste hinein.

„I was, in dem Wagen soll ich doch nicht fahren?“ rief sie erschrocken.

„Warum nicht? … Ich meine, der Abschied vollzieht sich rascher, als wenn Sie zu Fuße das Haus verlassen.“

„Na, denn in Gottes Namen. … Da, Kind, vergiß den Schlüssel nicht“ – sie schob ihn mir in die Tasche –; „ich weiß zwar nicht, was es für ein Bewenden damit hat; aber Herr Claudius giebt ihn Dir, und da lasse ich ihn unbesehen in Deinen Händen.“

Sie schüttelte ihm herzhaft die Hand und ging. Draußen in der Hausflur standen wartend Fräulein Fliedner und Charlotte. Ich konnte den funkelnden Blick, das strahlende Lächeln des jungen Mädchens nicht ertragen und lehnte schluchzend das Gesicht an Ilse’s Brust. Die Starke rang heftig mit dem Weinen, ich hörte ihren mühsamen Athem; einen Augenblick umschlossen mich ihre Arme krampfhaft. Wie durch einen Schleier sah ich drüben zwischen den grünen Vorhängen Herrn Claudius stehen; er winkte Ilse verstohlen zu, die Qual abzukürzen; sie brauchte es nicht – ich that es selbst. Die Hände auf die Schläfen gepreßt, floh ich durch den Hof in den Garten hinein, und erst, als ich über die Brücke lief, hörte ich fern den Wagen durch den Thorweg brausen.

Ich schlug die Läden vor meine Fenster, verriegelte die Thüren und warf mich in die Sophaecke, wo Ilse zuletzt gesessen. So lag ich stundenlang in dumpfem Schmerz. …

Die Prinzessin Margarethe kam; mein Vater begrüßte sie in der Halle – ich hörte, wie Herr von Wismar und das Hoffräulein den Kranich scheltend fortjagten, der jedenfalls der Durchlauchtigsten Dame mit seinen Reverenzen zu nahe gekommen war. … In der Beletage verstummten die Schritte der Hinaufsteigenden, die Prinzessin verharrte wahrscheinlich vor den geheimnißvollen Siegeln – eine entsetzliche Beklemmung schnürte mir die Brust zusammen, Ilse war ja nun fort und der Augenblick nahe, mit welchem ich mich anheischig gemacht hatte, die untrüglichen Beweise zu den Mittheilungen des Buchhalters zu bringen – ich griff in die Tasche und schleuderte den Schlüssel, als senge er mir die Finger, weit in das Zimmer hinein. … Man vertraute mir, wo ich hinterging. Seltsam, der Mann im Vorderhause stand an meiner Seite, wohin ich mich auch wenden mochte, zartvorsorglich, ernst und still, aber unabweisbar. … Und ich wollte doch keine Gemeinschaft mit ihm, ich hielt zu den Anderen, unverbrüchlich zu den Anderen; eines Tages mußte er das erfahren – zu seinem Schaden. Ich wühlte das Gesicht noch tiefer in die Polster, in diesem Augenblick that mir selbst der feine Streifen Sonnenlicht wehe, der durch den Laden drang.

[766] Die Prinzessin kam wieder herab, und mein Vater klopfte an meine Thür, er wollte mich holen. Ich rührte mich nicht und war froh, als ich Alle das Haus verlassen hörte; aber nicht lange nachher kam Charlotte durch den Corridor gelaufen; sie rüttelte ungestüm an dem Thürschloß und rief gebieterisch meinen Namen. Schöner und herrischer als je und in der brillantesten Toilette stand sie draußen, als ich die Thür öffnete.

[777] „Schnell, schnell, Kind, die Prinzessin will Sie sehen!“ rief Charlotte ungeduldig. „Sie sind nicht bei Trost, sich einzuschließen und in eine wahrhaft ägyptische Finsterniß zu vergraben, und das Alles, weil Sie eine hausbackene Moralpredigerin losgeworden sind! … Gehen Sie doch mit Ihrer Sentimentalität!“

Sie fuhr mit den Fingern durch das Haar und zupfte mein arg gedrücktes Kleid zurecht, und der Arm, der sich um meine Taille legte, dirigirte so kräftig, daß ich mich sehr rasch auf dem Weg nach dem Vorderhause befand.

„Ich war mit Dagobert zufällig im Garten, als die Prinzessin nach den Treibhäusern ging,“ erzählte sie in fast nachlässiger Weise – bei all meiner Naivetät und meinem unbedingten Glauben an Alles, was sie sagte, sah ich doch ein wenig zweifelhaft an der ausgesuchten Eleganz nieder, in welche sie sich „zufällig“ gehüllt hatte – „und was sagen Sie dazu, Ihr zerstreuter Papa, der mich sonst schlechterdings nicht vom alten Erdmann zu unterscheiden vermag, hat es unternommen, uns vorzustellen, und denken Sie sich, es ging – es ging wirklich ganz vortrefflich, er hat mich nicht einmal mit Dagobert verwechselt!“

Das war wieder der alte, übermüthige Ton, der mich durch seine überlegene Sicherheit stets einschüchterte.

„Onkel Erich ist auch zwischen die Hofgesellschaft gerathen – natürlicherweise sehr gegen seine Absicht,“ fuhr sie fort; „er ließ gerade an der Felsenpartie im großen Warmhause etwas ändern, als die Prinzessin mit uns eintrat. Ich bin überzeugt, er verwünscht bereits in tiefster Seele die Localblätter unserer guten Residenz, die morgen den Besuch Ihrer Hoheit im Claudius’schen Etablissement des Langen und Breiten bringen werden – aber davon merkt man selbstverständlich Nichts; er hat sich mit aller Ruhe und Gelassenheit seiner Bürgertugenden umgürtet und sieht aus, als beehre er die hohe Gesellschaft. … Lächerlich, ich glaube gar, das imponirt der Prinzessin – sie hat womöglich an jedem Blümchen gerochen und ist nun nach dem Vorderhause gegangen, um das gesammte Etablissement pflichtschuldigst und gründlichst zu begucken – die gräßliche Hinterstube zum Beispiel. … Brr – na, das ist Geschmackssache!“

Wir betraten gerade die Hausflur, als die Prinzessin die Hinterstube verließ. Sie ging an Herrn Claudius’ Seite und hielt ein prachtvolles Bouquet in der Hand.

„Wo hat Haideprinzeßchen gesteckt?“ fragte sie und drohte mir lächelnd mit dem Finger. … Ach, Charlotte hatte bereits Gelegenheit gefunden, sie mit dem mir octroyirten Titel bekannt zu machen!

„In einem stockfinsteren Zimmer, Hoheit,“ antwortete die junge Dame an meiner Stelle. „Die Kleine ist traurig, weil sie sich heute von ihrer alten Magd trennen mußte.“

„Ich möchte Dich doch bitten, Frau Ilse anders zu bezeichnen, Charlotte,“ sagte Herr Claudius. „Sie hat Fräulein von Sassen an Liebe und treuer Sorge jahrelang die Mutter zu ersetzen gesucht.“

„Nun, dann verdient sie auch, daß Sie sich die Augen so roth geweint haben,“ sagte die Prinzessin liebreich zu mir und küßte mich auf die Stirn.

Fräulein Fliedner kam in diesem Augenblick mit einem rasselnden Schlüsselbund feierlich die Treppe herunter und meldete unter einer tiefen Verbeugung, daß Alles aufgeschlossen sei. Das alterthümliche Kaufmannshaus interessirte die Prinzessin lebhaft, sie wünschte, auch die obere Etage zu sehen, nachdem ihr Herr Claudius gesagt hatte, daß die Einrichtung zum größten Theil seit langen Jahren unangetastet geblieben sei. … Und jetzt trat auch mein Vater mit Herrn von Wismar und der Hofdame lachend aus Fräulein Fliedner’s Zimmer; sie hatten sich den mit Raritäten vollgestopften Glasschrank angesehen.

Meine Augen folgten unwillkürlich Herrn Claudius, als er neben der fürstlichen Frau langsam die Treppe hinaufstieg. Charlotte hatte Recht – in seiner stolzen Zurückhaltung und Würde sah „der Krämer“ aus, als beehre er die hohen Gäste, und mir war es plötzlich, wie wenn dieser Nimbus ungesuchter Hoheit auch über das alte finstere Haus seiner Väter flösse, über die gewaltigen Steinwölbungen, von denen jedes Wort, jeder Schritt majestätisch widerhallte, und die breite, massive Treppe mit dem wuchtigen, und doch so feingeschwungenen und gemeißelten Geländer.

Es waren freilich altbürgerlicher Geschmack und kaufmännisch praktischer Sinn gewesen, welche die Einrichtung der oberen Zimmer ausgewählt und „für alle Zeiten“ angeschafft hatten. Himmelweit entfernt von der sinnlich heiteren Pracht, welche die Karolinenlust charakterisirte, strotzten sie von innerem Reichthum. Da sah man keine hochaufspringenden Polster unter gleißenden, üppig weichen Atlasbezügen; aus den kostbarsten Holzarten geschnitzt, aber ungraciös, eckig und geradlinig, wie der starre Nacken Derer, die einst hier gehaust, standen die Geräthschaften umher, und von den Wänden blickten statt der Schelmenaugen nackter, [778] blumenwerfender Genien höchstens hie und da ein tief nachgedunkeltes Christusbild, oder eine sittige deutsche Frau von Holbein, mit gesenktem Blick und wundervoll gemaltem klaren Stirnschleier; aber es leuchteten auch die unvertilgbaren Farben echter Gobelins und das unverfälschte Gold gepreßter Ledertapeten, und die Fenster umstarrte Brokat in steifer, düsterer Pracht.

Der strenge Geist echt deutschen Bürgerthums, den die Wände hier gleichsam gefangen hielten, mochte die Prinzessin wohl wunderlich genug anmuthen. Sie trat durch die offene Thür des ersten Salons und ergriff mit beiden Händen einen silbernen Humpen, ein riesiges, monströses Gebild, das auf einem Eichentisch inmitten des Zimmers funkelte. Lachend versuchte sie ihn an die Lippen zu führen, – in diesem Augenblick stand Herr Claudius mit einem raschen Schritt neben ihr und erfing das schwere Gefäß – es war ihren Händen entglitten; sie aber starrte, zu Wachs erblichen, auf das Bild des schönen Lothar.

„Mein Gott, mein Gott!“ stammelte sie und legte die Hand über die Augen.

Wenn Etwas uns rasch die Besonnenheit in peinlichen Momenten zurückgiebt, so ist es der plumpe Ausdruck geheuchelter Besorgniß Anderer. … Fräulein von Wildenspring stürzte auf ihre Herrin zu und machte Anstalten, sie zu unterstützen. Die Prinzessin raffte sich auf und wies sie mit einer stolzen Bewegung zurück.

„Was fällt Ihnen ein, Constanze?“ fragte sie mit leise zitternder Stimme. „Bin ich denn so nervenschwach, daß Sie mir eine Ohnmacht zutrauen? Und darf man nicht bewegt sein, wenn man eine längst abgeschiedene Gestalt plötzlich in erschreckender Lebendigkeit vor sich sieht? … Im Glashaus muß mein Flacon liegen geblieben sein, es wäre mir lieb, wenn Sie es holen wollten.“

Das Hoffräulein und Herr von Wismar verschwanden sofort im Corridor. Dagobert und Charlotte zogen sich in eine Fensternische hinter die undurchdringlichen Vorhänge zurück, und mein Vater stand bereits im Nebenzimmer und betrachtete ein geschnitztes Crucifix. Das Zimmer war für einen Moment scheinbar leer geworden. Tief aufathmend trat die Prinzessin vor das Bild – nach einer Pause des lautlosesten Schweigens winkte sie Herrn Claudius neben sich.

„Hat Claudius das Bild für Sie malen lassen?“ fragte sie mit fliegendem Athem.

„Nein, Hoheit.“

„Dann wissen Sie auch nicht, wer es einst besessen hat?“

„Es ist der einzige Gegenstand, den ich aus der ehemaligen Wohnung meines Bruders an mich genommen habe.“

„Ah, die Wohnung in der Karolinenlust,“ athmete sie erleichtert auf; „also aus seinen eigenen Zimmern. … Wer mag es gemalt haben? Das ist nicht der Pinsel unseres alten, pedantischen Hofmalers Krause – der war niemals fähig, so überwältigend die Seele in das Auge zu legen.“ …

Sie schwieg einen Moment und preßte das Taschentuch an die Lippen.

„Es kann nicht lange vor seinem – Heimgang gemalt sein,“ fuhr sie in vibrirenden Tönen fort. „Dies Silbersternchen, das da zwischen seinen anderen Orden hervorsteht, hat meine Schwester Sidonie zwei Jahre vor ihrem Tode auf einer Landpartie in übermüthiger Laune gestiftet – es trug die Devise ‚Treu und verschwiegen‘ und hatte selbstverständlich für die Decorirten keinen anderen Werth, als die Erinnerung an einen froh verlebten Augenblick.“ …

Abermals Todtenstille, die nur ein schwaches Rauschen der Seidenvorhänge unterbrach.

„Seltsam,“ fuhr die Prinzessin plötzlich empor, „Claudius trug nie Ringe, man sagte ihm nach, aus Eitelkeit, damit die unvergleichlich schöne Form seiner Hand nicht beeinträchtigt werde, und da – da sehen Sie doch den Streifen am Goldfinger der linken Hand … ich habe diese Hand genau gekannt, ich habe sie oft gesehen, aber bis zu jenem unseligen Augenblick stets ohne diesen eigenthümlichen – einfachen Reifen – was soll er hier? Er sieht aus wie – ein Trauring.“

Herr Claudius antwortete mit keinem Laut – seine feinen Lippen, die sich stets fest aneinanderschlossen, wie man dies häufig bei tief nachdenkenden Naturen findet, bildeten eine noch schärfere Linie als sonst; ob er wohl, gleich mir, Charlottens Augen bemerkte, die förmlich glühend an seinem Gesicht hingen?

„Mein Gott, wohin versteigt sich meine Phantasie!“ sagte die Prinzessin nach einer kurzen Pause mit einem melancholischen Lächeln. „Er war ja nicht einmal verlobt – nein, nie, die ganze Welt weiß das. … Gleichwohl, sagen Sie mir aufrichtig, hat wirklich Niemand das Bild nach seinem Tode reclamirt?“

„Hoheit, es existirt Niemand außer mir, der irgend welchen Anspruch auf Lothar’s Nachlaß hätte.“

Was war das? … Die Antwort war so vollkommen unbefangen und trug so unverkennbar das Gepräge strenger Wahrhaftigkeit, daß ein Zweifel undenkbar schien. Charlotte fuhr mit bleichem Gesicht und allen Zeichen eines tödtlichen Schreckens unter der Gardine hervor – sie hatte offenbar denselben Eindruck empfangen wie ich. Nur Dagobert maß seinen Onkel mit einem langen verächtlichen Blick, und ein höhnisches Lächeln kräuselte seine Lippen – er war seiner Sache gewiß, er war der unumstößlichen Ueberzeugung, daß der Mann dort gelogen. … Welcher von Beiden war im Unrecht? Noch wünschte ich den Geschwistern den Sieg; aber ich meinte auch, nie in meinem Leben einem Menschen wieder glauben zu können, wenn es sich bestätigte, daß ein Mann wie Herr Claudius sich zu einer gemeinen Lüge herabgelassen habe.

Die zwei Abgesandten kamen achselzuckend und unverrichteter Sache aus dem Glashause zurück, und das Flacon fand sich schließlich in der Tasche der Prinzessin, die plötzlich ihre ganze imponirende Ruhe wiedergefunden hatte. Nur auf ihren Wangen, die sonst wie von einem zartrosigen Flaum überhaucht schienen, war ein tiefer Purpur liegen geblieben.

Fräulein von Wildenspring versicherte ängstlich, der Himmel hänge voll schwarzer Gewitterwolken, eine Aussage, die auch durch die sich auffallend verdichtenden Schatten in den Zimmern bestätigt wurde. Gleichwohl setzte sich die Prinzessin und nahm von den köstlichen Früchten, die ihr Fräulein Fliedner in einer silbernen Schale bot. Die Anwesenden gruppirten sich um sie her, nur mein Vater fehlte; weit drüben in einem der letzten Zimmer wanderte er forschend und betastend von Möbel zu Möbel – er schien total vergessen zu haben, mit wem er hierher gekommen, und man ließ ihn lächelnd gewähren.

Mir war so benommen und unheimlich zu Muthe, als müsse der ganze Plafond mit seinem schweren Stuck in den schwülen Salon hereinbrechen, oder auch, als könne sich jeden Augenblick das Unglaubliche ereignen, daß der schöne Lothar aus seinem Rahmen mitten in die Gesellschaft herabsteige. Wie furchtbar sprechend seine Augen niedersahen, und wie warm und lebendurchströmt „die unvergleichlich schöne Hand“, die den schmucklosen, verhängnißvollen Reif trug, sich von dem dunklen Sammet des Hintergrundes hob!

Vielleicht las die Prinzessin diese beängstigenden Gedanken auf meinem Gesicht; sie winkte mir.

„Mein Kind, Sie dürfen nicht so traurig sein,“ sagte sie mild und weich, während ich, eingeschüchtert durch die auf mich gerichteten Augen Aller, rasch und unwillkürlich vor ihr hinknieete – ich hatte das ja auch oft bei Ilse gethan. Sie legte die Hand auf meinen Scheitel und bog mir den Kopf in den Nacken „Haideprinzeßchen! Wie hübsch das klingt! … Aber Sie sind doch eigentlich kein Kind der nordischen Haide mit Ihrem braunen Gesichtchen und der kleinen, orientalisch gebogenen Nase, mit den dunklen, widerspenstig wilden Locken und dem scheuen Trotz in Ihren Zügen und Bewegungen – weit eher solch eine kleine Prinzessin der ungarischen Steppe, der am Abend die geraubten Schätze vor die Füßchen geschüttet werden, die sich mit köstlichen Perlen aus dem Orient behängt – ach, sehen Sie, wie Recht ich habe?“ lächelte sie und erfaßte die Perlenschnur, die mir tief über die Brust herabgefallen war; einen Augenblick ließ sie dieselbe überrascht durch ihre Finger rollen. „Aber das sind ja wirklich und wahrhaftig die schönsten Perlen die Sie da tragen!“ rief sie bewundernd. „Sind sie Ihr Eigenthum, und von wem haben Sie diese Schnur auserlesener Stücke?“

„Von meiner Großmutter.“

„Von der Mutter Ihres Vaters? … Ach ja, wenn ich nicht irre, war sie eine Geborene von Olderode, aus dem uralten, reichen Freiherrngeschlecht – nicht wahr, mein Kind?“

Eine Bewegung über dem Haupte der Prinzessin machte mich rasch aufblicken – da stand Dagobert mit gehobenem Zeigefinger und sein Blick traf magnetisch und durchbohrend den meinen. …

[779] „Nichts sagen!“ warnte mich die ganze ausdrucksvolle Geberde. Wie ein Traum flog es in meiner Seele auf, daß er mich schon einmal gewarnt hatte, aber ich fand in diesem häßlichsten Moment meines Lebens weder Zeit noch Klarheit, an das „Warum“ zu denken. Einzig und allein von dem Blick beherrscht und in eine unbeschreibliche Verwirrung versetzt, stammelte ich: „Ich weiß es nicht!“

Was hatte ich gethan? Mit dem letzten herausgestoßenen Worte wich der Zauber, und ich entsetzte mich vor meiner eigenen lügenhaften Stimme. … Wie, ich hatte eben vor all diesen Ohren erklärt, ich wisse nicht, ob meine Großmutter aus dem uralten, reichen Freiherrngeschlecht der Olderode stamme? Lüge, Lüge! Ich wußte es so genau wie die zehn Gebote Gottes, daß sie eine geborene Jakobsohn gewesen war – ich hatte sie als Jüdin sterben sehen und war ihr letzter Trost gewesen. … Zu welchem Zwecke diese entschiedene Verleugnung der Wahrheit? Noch heute muß ich sagen, „ich wußte es nicht.“ Ich hatte fast mechanisch unter fremdem Einflusse gesprochen und fühlte nur unter tiefem Jammer, daß ich mich Zeitlebens dieses Augenblicks schämen müsse. … Und wenn auch Alle, so wie eben Dagobert, mir Beifall zugenickt hätten – was half es? Einer richtete mich doch streng – er sah mich mit unverhohlener Bestürzung an, wandte sich ab und ging hinaus, und das war Herr Claudius.

Ich rang mit mir, aber ich fand nicht den Muth, durch sofortige Offenheit den Fehler zu sühnen. Scham und die Furcht, mich lächerlich zu machen, verschlossen mir die Lippen; auch wurde das momentane Schweigen, das meiner Antwort folgte, bald abgeschnitten – der erste Stoß des Gewittersturmes fuhr jäh durch die Straße und warf in erstickendem Wirbel dürre Halme und Blätter und die graue Staubschicht des sonnenheißen Pflasters gegen die Fenster. Noch einmal zerschlug er die schwarze Wetterwand droben, ein intensiv gelber Strahl brach herein – er funkelte blendend auf den Glasscheiben der gegenüberliegenden Häuser und warf fahle Reflexe schwankend über die dunklen Geräthschaften und Wände des dämmernden Salons.

Die Prinzessin erhob sich, während alle Anderen erschreckt an die Fenster eilten; auch mein Vater fuhr aus seinen interessanten Untersuchungen empor und kam schleunigst herüber. In meiner stillen Verzweiflung sah und hörte ich Alles, was um mich her vorging, wie im Traume. Ich sah Herrn Claudius wieder eintreten, hoch und fest und völlig unbewegt in den Linien seines Gesichts; aber ich wußte gerade in diesem Augenblick erst, weshalb ihn die Prinzessin so unverwandt ansah, wenn er zu ihr sprach – er hatte dann genau das Licht in seinen Augen, wie das Bild dort, das Licht, welches sie „die Seele“ nannte und das der alte pedantische Hofmaler nicht zu malen vermochte. … Sie legte die Hand auf seinen Arm und ließ sich die Treppe hinabführen; mechanisch nachfolgend, kam ich an Fräulein Fliedner vorüber, ihr milder Blick hatte etwas Kühles, Fremdes, als er mich traf – ach ja, sie hatte ja auch neulich im Glashause Dagobert’s Warnung mit angehört und sah nun das schwarze Siegel der Lüge auf meiner Stirn – ich biß die Zähne auf die Unterlippe und schritt über die Schwelle. … Die seidenen Schleppen der Damen rauschten die Treppen hinab, und dazwischen hinein klang die lieblich schmeichelnde Stimme der Prinzessin – mir schien es, als habe sie noch nie in so weichen, herzlichen Tönen gesprochen. … Sie wolle noch einmal in „das interessante Patricierhaus“ kommen, versicherte sie Herrn Claudius – Fräulein von Wildenspring und der Kammerherr steckten die Köpfe zusammen und dann nahm die impertinente Hofdame ihre Schleppe auf und warf mißtrauische Blicke auf die Treppenstufen, und Herr von Wismar fuhr fächelnd mit seinem Taschentuch durch die Luft, genau so wie Dagobert am Hügel gethan hatte – eine Demonstration gegen den fürstlichen Beschluß, wie sie sich drastischer nicht denken ließ. Charlotte ging hinter ihnen; ich sah von der Seite, wie ihr Gesicht aufglühte und die scharfgeschwungene Linie ihres Mundes sich in sprachloser Erbitterung verzerrte – auch das berührte mich augenblicklich nicht; aber jetzt fuhr ich empor aus der Betäubung, die mich gefangen hielt.

„Bravo!“ flüsterte es neben mir. „Haideprinzeßchen hat sich tapfer gehalten – nun bin ich ruhig in Betreff des Geheimnisses!“ Und Dagobert neigte sich so nahe und vertraulich zu mir, daß ich den Hauch seines Mundes fühlte. … Wäre mir plötzlich ein heimtückischer, schmerzlicher Schlag versetzt worden, es hätte mich nicht mehr aufbringen können als dieses Flüstern. Ich fühlte Groll gegen die braunen Augensterne, die mich anlachten – sie hatten mich zu der unbesonnenen Handlung hingerissen, und das Wehen des Athems, das lau meine Wange berührte, reizte und beleidigte mich – das war der Mann nicht mehr, für den ich jeder Anfeindung gegenüber muthig in die Schranken treten wollte – er war falsch, der schöne Tancred, und seine bewunderten kastanienfarbenen Locken waren Schlangen, die sich von der Stirn niederringelten – meiner nicht mächtig, stieß ich mit der Hand nach ihm, dann lief ich wie toll die Treppe hinab und hing mich an den Arm meines Vaters, der neben der Prinzessin eben die letzte Stufe verließ.

„Nun, nun, mein Kind, wir sind nicht in der Haide!“ verwies er mir lächelnd den Ungestüm. Das Höflingspaar war entsetzt zur Seite geprallt, als ich vorüberbrauste, und auch die Prinzessin wandte erstaunt den Kopf nach dem auffallenden Geräusch.

„Schelten Sie mir die kleine wilde Hummel nicht, Doctor,“ wehrte sie gütig. „Seien wir froh, daß ihr heiteres Naturell so rasch wieder durchbricht und den Abschiedsschmerz überwindet.“

Es war zum Verzweifeln – nun galt meine Empörung auch noch für kindischen Uebermuth, und Herr Claudius meinte es auch – er sah über meine kleine Person hinweg, sie schien für ihn nicht mehr zu existiren – recht so, die Strafe hatte ich ja verdient. …



24.

Ein heißer Brodem schlug von draußen herein in die Hausflur – es war, als habe sich der Blumenathem der Gärten zu einer trägen unbeweglichen Masse verdichtet. Noch war kein Schlag gefallen, kein erlösender Regentropfen netzte die lechzende Erde, aber auf den Steinplatten des Hofes kräuselten sich kleine Spähne und verstreute Papierschnitzel in verhängnißvollem Reigen, und die Pappeln drüben am Fluß sträubten ihre glatten Wipfel – der Sturm holte lief aus, um von Neuem hervorzustürzen.

Die Prinzessin bestieg eiligst ihren aus der Seitenstraße hereinrollenden Wagen, und mein Vater, der zum Herzog beordert war, begleitete sie. Herrn Claudius reichte sie noch einmal die Hand heraus, Charlotte und Dagobert dagegen wurde ein freundlich vornehmes Kopfnicken zu Theil, für welches sie sich dankend tief zur Erde neigten. Meine kleine Person wurde in der Hast und Eile übersehen, – und es war ganz gut so, ich wandte Allen den Rücken, schritt über den Hof und öffnete die Gartenthür. Ich hatte Mühe mich auf den Füßen zu halten – der Sturm brach los und raste über den weiten Plan. Grimmig fiel er mich an und riß mir die Thür aus der Hand; alle meine Kraft aufbietend erfing ich sie wieder und warf sie hinter mir krachend in das Schloß – sie durfte ja nie offen bleiben nach den streng gehandhabten Hausregeln.

Nun vorwärts. Ich taumelte, nach Athem ringend, einige Schritte weiter und hatte das Gefühl, als sei ich plötzlich mitten in wogende Wasser geschleudert. … Wie es lebendig fließend über die Erde hinlief, das bunte Meer der Blumen, wie es zerwühlt zusammensank und auf Momente das fahle Grün der Stengel und Unterblätter zeigte, um dann wieder aufzuschwellen in farbenfunkelnder Pracht! Und wie sie toll und wild wurden, die schlanken, vornehmen italienischen Pappeln, wie sie sich bogen und wanden in rasendem Tanz mit dem Sturm und tosend einstimmten in sein Gebrüll!

Ich hatte plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen – zunächst flog ich mitten in das Heliotropenbeet, dann prallte ich gegen die Hofmauer zurück. Mit hochgehobenen Armen an die unebenen Steine mich anklammernd, drückte ich meinen Kopf gegen sie und ließ nun ausathmend die Wucht des Unwetters über mich ergehen. Scheu sah ich unter den Haarmassen hervor, die mir um das Gesicht flogen, denn die Thür nicht weit von mir fuhr rasselnd auf, und Herr Claudius trat heraus – er wandte suchend den Kopf nach allen Richtungen – da sah er mich.

„Ah, hierher hat Sie der Sturm verschlagen?“ rief er. Sofort stand er schützend vor mir – nicht eines meiner Haare hob sich mehr im Winde.

„Wahrhaftig, wie ein unglückliches Schwälbchen, das der [780] Sturm aus dem Neste gestoßen hat!“ lachte Dagobert, der ihm folgte und sich wankend am Thürpfosten festhielt.

Ich ließ rasch meine Arme von der Wand niedersinken und wandte das Gesicht weg – das war das Lachen, das mich in der Haide unter das Dach des Dierkhofes gejagt hatte.

„Kommen Sie in das Vorderhaus zurück; Sie erreichen die Karolinenlust nicht mehr,“ sagte Herr Claudius sanft zu mir.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nun, dann will ich mit Ihnen gehen – unbeschützt können Sie sich unmöglich auf Ihren kleinen Füßen erhalten.“

„Mit meinem Mantel vor dem Sturm – beschützt’ ich Dich!“ klang es durch meine aufgeregte Mädchenseele – nein, ich wollte nicht! mochten sie doch Beide gehen; den dort mit der Falschheit hinter der Stirne verabscheute ich, und vor Dem, der so geduldig und sanft zu mir sprach, fühlte ich tiefe Scham und Furcht.

„Ich brauche keinen Mantel, der mich beschützt – ich will mich allein durchkämpfen,“ sagte ich gepreßt und sah zu ihm auf – aber durch funkelnde, zitternde Thränen, die sich bei aller Anstrengung nicht niederschlucken ließen. Meine Zähne schlugen wie im Frost zusammen.

Herr Claudius sah mich an, während Dagobert abermals auflachte; eine unerklärliche Bewegung ging durch seine Züge. „Sie sind krank,“ sagte er, sich zu mir herabbückend, leiser. „Ich darf Sie nun erst recht nicht allein lassen. Seien Sie gut und gehen Sie mit mir.“

Diese nicht zu erschöpfende Geduld und Nachsicht mit dem kleinen unwürdigen Geschöpf, das er verachten mußte, und das bei alledem sich auch noch trotzig verhielt, brachen meinen Widerstand; zudem mäßigte sich das Toben in den Lüften für einen Moment, ich konnte mich recht gut allein auf den Füßen halten und verließ meinen Platz.

Noch stand Dagobert an der Thür. Jedenfalls hatten die wenigen Worte, die Herr Claudius leise zu mir gesprochen, und meine plötzliche Bereitwilligkeit, mitzugehen, sein Mißtrauen erweckt – er legte bedeutsam den Finger auf den Mund und hob in finsterer Drohung schüttelnd die Rechte. Dann trat er in den Hof zurück und schlug die Thüre zu. … Unnöthige Mahnung! Ueber meine Lippen kam kein Wort – erst gelogen und dann verrathen – Herr Claudius hätte mich selbst verabscheuen müssen, und wenn ihm auch meine Mittheilungen unberechenbar nützten. … Aber ich mußte zugleich tief niedergeschlagen an Heinzens schauerliche Erzählungen von verkauften Seelen denken – ich war auch so eine arme Seele, die ängstlich hin- und herflatterte und doch nicht weiter konnte.

Das vordere Glashaus erreichten wir im Sturmschritt, nicht einmal war ich genöthigt, mich unter den unmittelbaren Schutz meines Begleiters zu flüchten – mit hochaufgeblähten Kleidern, aber immer mit den Fußspitzen auf dem Boden flog ich neben ihm her. … Da fuhr schauerlich lang anhaltend, und als suche es unruhig einen Ausweg, ein glänzend rosenfarbenes Licht über die rauschende Pappelwand hin, beinahe zugleich krachte ein betäubender Schlag durch die Lüfte, und klatschend und trommelnd flogen die ersten Regentropfen gegen die Glaswände des Hauses. … Wir traten schleunigst in die Thüre, mitten unter die hochstrebenden, fremdartigen Pflanzengebilde hinein, die, für den tobenden Kampf unerreichbar, still und unbewegt dreinsahen. Ich blickte seitwärts an meinem schweigenden Begleiter empor – so isolirt stand auch er inmitten des Menschentumultes – geschah das wirklich, weil er düstere Geheimnisse in der Brust verschließen mußte? …

Er hatte meinen Blick aufgefangen und sah mir prüfend in das Gesicht. „Die rasche Bewegung hat Ihre Lippen wieder gefärbt – ist Ihnen besser?“ fragte er.

„Ich bin nicht krank,“ erwiderte ich seitwärts blickend.

„Aber tief erregt und in den Nerven erschüttert,“ ergänzte er. „Kein Wunder, es ist das Klimafieber – die junge Seele tritt nie ungestraft aus der stillen, versuchungslosen Einsamkeit in die laute Welt.“

Ich verstand ihn recht gut – wie mild beurtheilte er mein Vergehen! Gestern noch hätte ich denken müssen! „Weil er selbst die Welt belügt“ – jetzt konnte ich das nicht mehr!

„Ich möchte Ihnen so gern diesen Uebergang erleichtern,“ fuhr er fort. „Vorhin, droben im Salon, habe ich mir selbst sagen müssen, daß ich das nur kann, wenn ich Sie schleunigst fortbringe aus meinem Hause, aber ich bin ja nicht unfehlbar in meinem Urtheil, ich kann auch schwer irren bezüglich der Hände, in die ich Ihr Wohl und Wehe lege –“

„Ich gehe auch nicht,“ unterbrach ich ihn. „Glauben Sie denn, ich hätte auch nur eine Stunde nach der Abschiedsqual hier ausgehalten? Zu Fuße wäre ich Ilse nachgelaufen, bis in die Haide, wenn ich nicht – bei meinem Vater bleiben müßte. … Aber ich weiß recht gut, daß das Kind zum Vater gehört; und er braucht mich – so kindisch und unwissend ich auch bin, er hat sich doch schon an mich gewöhnt.“

Er sah mich überrascht an. „Sie haben mehr Kraft des Willens, als ich glaubte – es gehört schon viel dazu, ein in freier Ungebundenheit entwickeltes Naturell unter die Pflicht zu zwingen. … Gut denn, auch ich finde den Gedanken unausführbar; er kam mir ja auch nur in einem bösen Augenblick voll niederschlagender Eindrücke, in dem Augenblick, wo ich Sie straucheln sah. …“

Bei diesen Worten wandte er seine Augen weg und brachte eine fest gegen die Scheiben gedrückte prächtige exotische Blüthenglocke so vorsichtig in eine andere Lage, als fülle diese Beschäftigung seine ganze Seele aus. Er schien nicht sehen zu wollen, wie ich die Hände vor das Gesicht schlug, um die Gluth der Beschämung zu verbergen.

„Sie haben kein Vertrauen zu mir, das heißt, es ist systematisch in Ihnen zerstört worden, denn Ihr Gemüth hat sicher auch nicht das geringste Mißtrauen gegen Welt und Menschen mit hierhergebracht,“ sagte er mit tiefem Ernst weiter. „Ich habe es schwer, Ihnen gegenüber – die sehr undankbare Rolle des getreuen Eckhardt ist mir zugefallen, der die Menschen unermüdlich vor der schönen Sünde warnt und dafür schwerlich – geliebt wird. … Aber das soll mich nicht abhalten, mit dieser Stunde mein Amt anzutreten. Vielleicht, wenn sich Ihr Ausblick in das Weltgetriebe erweitert hat, vielleicht dann werden Sie einsehen, daß meine Hand eine treumeinende, so eine Art Elternhand gewesen ist, die sich schützend um die Tischecken legt, damit sich das Kind die Stirn nicht wund stoße – und diese Erkenntniß soll mir genügen. … Zählen Sie doch nicht gar so emsig die Sandkörner da zu Ihren Füßen!“ unterbrach er sich plötzlich selbst. „Wollen Sie nicht einmal aufsehen? Ich möchte wissen, was Sie denken.“

„Ich denke, Sie werden mir den Verkehr mit Charlotte verbieten,“ versetzte ich rasch und hob den Kopf.

„Nicht ganz – unter meinen Augen, oder in Fräulein Fliedner’s Gegenwart sollen Sie mit ihr verkehren, so oft Sie wollen. Aber ich bitte Sie ernstlich, das Alleinsein mit ihr zu vermeiden. Sie hat, wie ich Ihnen schon gesagt habe, den Kopf voll ungesunder Anschauungen, und ich darf es nicht leiden, daß Sie durch derartige Hirngespinste angesteckt werden. … Wie rasch gerade die unbefangene reine Menschenseele einem solchen Einflusse verfällt, das habe ich heute mit ansehen müssen. … Geben Sie mir das Versprechen, daß Sie mir folgen wollen!“ Er vergaß sich und streckte mir die Hand hin.

„Ich kann das nicht!“ stieß ich heraus, während er erbleichend und in jähem Schrecken die Hand zurückzog. „Mir wird heiß und angst hier in der schwülen eingeschlossenen Blumenlust“ – und wirklich schlug mir das Herz zum Zerspringen. „Sehen Sie, der Regen läßt nach – ich habe ja Baumschutz bis zur Karolinenlust – erlauben Sie, daß ich hinausgehe!“

Mit diesen Worten stand ich schon draußen und stürmte am Flusse hin; das Unwetter raste stärker als je, im Nu war ich von Wasserströmen überschüttet. Ich hielt schützend die Hand über die Augen, sonst wäre ich blindlings gegen die Bäume oder in den Fluß gerannt, und lief, bis ich athemlos die Halle der Karolinenlust erreichte. … Gott sei Dank, daß ich diese gelassene Stimme nicht mehr hörte, die mich trotz alledem berührte, als klopfe ein warmes bewegtes Herz hindurch.

Ich warf meine durchnäßte Muslinhülle ab, schlüpfte in mein verhöhntes schwarzes Kleid und stieß die Läden auf. Ich war mutterseelenallein in dem weiten Hause, nur draußen schrie und krakelte das Geflügel durcheinander, das vor dem rasch hereinbrechenden Gewitter in die Halle retirirt war. … In einer Fensternische kauernd, löste ich mit scheuen Fingern die Perlen von meinem Halse. Entsetzlich lebendig tauchten die halbgebrochenen [782] Augen meiner Großmutter vor mir auf, und ich hörte ihre schwachröchelnde Stimme wieder sagen: „Ilse, lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort,“ und dann zu mir: „sie gehört zu Deinem Gesicht, mein Kind, Du hast die Augen Deiner Mutter, aber die Jakobsohn’schen Züge“ – der Name, den ich angeblich heute nicht gewußt hatte, er war mir sogar in das Gesicht geschrieben – ein verlogeneres treuloseres Geschöpf als mich gab es wohl nicht in der ganzen weiten Welt! … Auf welchem Wege war ich! Wie oft schon in den wenigen Wochen hatte ich mich hinreißen lassen, unrecht und kopflos zu handeln! Aber nun wollte ich gut werden – voll Inbrunst drückte ich die Perlen an meine Lippen – wollte nie wieder blind in den Tag hinein handeln, ohne zu fragen: wem thust du wehe damit? …

Draußen tobten Sturm und Regen ungeschwächt weiter – es schien, als kämpften zwei Gewitter zugleich in den Lüften. … Da sah ich auf einmal zu meinem Schrecken Gestalten drüben aus dem Bosquet treten und auf das Haus zulaufen – es waren die beiden Geschwister.

„Da, Kind, so muß man sich durchkämpfen, wenn man die Spuren seines Glückes sucht!“ sagte Charlotte athemlos im Eintreten. Sie schleuderte einen in Stücke zerbrochenen Schirm in eine der Zimmerecken, und auf das Sopha ihren wassertriefenden Shawl, darauf fuhr sie sich mit dem Taschentuch abtrocknend über Gesicht und Scheitel.

„Endlich!“ rief sie. „Wie haben wir auf der Folter gestanden, so lange Onkel Erich im Garten war und wir nicht vorüberkonnten! … Jetzt sitzt er in seiner Schreibstube und Eckhof auch, dem wir, auf Ihren Wunsch hin, nicht gesagt haben, daß Sie unsere Vertraute sind – Ihr Papa ist im Schloß, glücklicher konnte sich’s nicht fügen – wir sind Herren des Terrains. Vorwärts denn!“

„Jetzt?“ rief ich, mich schüttelnd. „Es muß zum Fürchten schrecklich droben sein!“

Dagobert brach in ein lautes Gelächter aus; Charlotte aber wurde dunkelroth im Gesicht und stampfte zornig mit dem Fuße auf.

„Gott im Himmel, seien Sie doch nicht solch ein Hasenfuß!“ schalt sie in ausbrechender Heftigkeit. „Ich sterbe vor Ungeduld, und Sie kommen mir mit solchen Faseleien! … Bilden Sie sich denn wirklich ein, ich ginge noch einmal fügsam und geduldig zu Bette, nachdem ich auf den Fortgang Ihrer fatalen, nicht fortzubringenden Ilse gehofft und geharrt habe, wie die Juden auf den Erlöser? Ja, ich ließe auch nur den Abend herankommen, ohne daß ich mich von den furchtbaren Zweifeln befreit hätte, die der Onkel heute mit seiner Erklärung in meine Seele geschleudert hat? – An meinem eigenen Herzschlag müßte ich ersticken! … Dazu geht Dagobert übermorgen in seine Garnison zurück – er muß sich erst noch überzeugen. Nicht eine Minute Frist geben wir Ihnen. Halten Sie Ihr Versprechen! Vorwärts, vorwärts, Kind!“

Sie ergriff mich an den Schultern und schüttelte mich. Bis dahin hatte ich dieses urkräftige energische Mädchen scheu geliebt und bewundert, jetzt fürchtete ich mich vor ihr, und die Art und Weise, wie sie von Ilse sprach, empörte mich; aber ich war still, ich hatte ja selbst den Kopf in diese Schlinge gesteckt und konnte nicht mehr zurück. Schweigend öffnete ich die Thür meines Schlafzimmers und zeigte nach dem Schranke.

„Wegrücken?“ fragte Charlotte, mich sofort verstehend.

Ich bejahte, und in demselben Augenblick schon hatten die Geschwister das Möbel erfaßt und seitwärts geschoben – die Tapetenthür wurde sichtbar … Charlotte schloß auf und trat auf die Treppe. Einen Moment blieb sie stehen und preßte tieferbleichend beide Hände auf das Herz, als müsse sie in der That an den heißen Blutströmen ersticken, die es pochen machten – dann flog sie hinauf, Dagobert und ich folgten.

Ich hatte Recht gehabt – es war schauerlich hier oben. Gerade um diese Ecke tobte der Sturm, als wolle er sie wegstoßen und die hier eingeschlossenen Erinnerungen und Ueberbleibsel geheimnißvoller Begebenheiten in alle Lüfte verstreuen. Hinter den schattenhaften Rosenumrissen der Rouleaux klirrten die Scheiben[WS 1] und schossen unermüdlich die brausenden und verdunkelnden Wasserströme nieder; selbst der verklärende Schein der rosenfarbenen Gazedraperie wurde von dem hereinbrechenden Dunkel aufgesogen.

Die Thür öffnen, eintreten und den über der Fuge hängenden Frauenmantel ergreifen, war für Charlotte Eins; sie nahm ihn vom Nagel und breitete ihn aus. –

„Es ist ein Domino, den ebenso gut ein Herr, wie eine Dame getragen haben kann,“ sagte sie tonlos und ließ das Kleidungsstück auf den Teppich fallen. … Achselzuckend trat sie an den Ankleidetisch und überflog in ängstlicher Musterung das Silbergeräth. „Pomade und Poudre de Riz, und hier verschiedene Flacons mit Schönheitswässern!“ warf sie hin, den dicken Staub wegblasend. „Wie es auf der Toilette eines schönen, jungen, von der Damenwelt angebeteten Officiers aussieht, wissen wir, gelt Dagobert? Der schöne Lothar war eitel trotz einer Dame – wenn Sie keine besseren Beweise bringen, Kind, dann steht es schlimm!“ sagte sie über die Schulter zurück in anscheinender Ruhe zu mir; aber ich sah etwas in ihren Augen glimmen, was mich doch wieder mit einer Art von Mitleiden erfüllte – es war Todesangst und die tiefste Entmuthigung.

Da stieß sie plötzlich einen zitternden Schrei aus, einen jubelnden Aufschrei, der mir durch Mark und Bein ging. Sie breitete die Arme aus, stürmte durch die offene Thür des Nebenzimmers und warf sich über die Korbwanne, die neben dem einen Bett unter dem violetten Baldachin stand.

„Unsere Wiege, Dagobert, unsere Wiege – o mein Gott, mein Gott!“ stammelte sie, während ihr Bruder an eines der Fenster sprang und die dunkeln Vorhänge zurückschlug. Fahl und ungewiß fiel das Tageslicht auf die kleinen vergilbten Polster, in die Charlotte ihr Gesicht vergraben hatte.

„Es ist wahr, Alles wahr, bis auf’s Jota!“ murmelte sie sich erhebend. „Ich segne die Frau im Grabe, die gelauscht hat! … Dagobert, hier hat unsere fürstliche Mutter unseren ersten Schrei gehört! Unsere fürstliche Mutter, die stolze Tochter der Herzöge von K., wie das berauschend klingt, und wie sie in den Staub sinken, die Aristokratentöchter, die über das Adoptivkind des Kaufmanns die Nase rümpften! … Gott im Himmel, mich erdrückt das Glück!“ unterbrach sie sich aufschreiend und preßte die Stirn zwischen die Hände. „Er hat Recht gehabt, unser grausamer Feind, der im Krämerhause, als er mir neulich sagte, ich müsse die Wahrheit erst ertragen lernen! – Ich bin geblendet!“

„Meinetwegen denn,“ sagte Dagobert trocken und ärgerlich, indem er den Vorhang wieder über das Fenster fallen ließ. „Tobe Dich aus! … Aber dann möchte ich doch ein wenig an Deine Vernunft appelliren, diese Ueberschwenglichkeit ist mir geradezu unverständlich. … Für mich bedurfte es solcher Beweise nicht mehr, Eckhof’s Mittheilung hat mir vollkommen genügt, und auch sie war nur der Sonnenstrahl, der das näher beleuchtete, was wir bereits in unserer Brust, in unserem Blut besaßen.“

Charlotte breitete zärtlich den grünen Schleier wieder über das kleine Bett.

„Danke Gott für diese Seelenruhe!“ sagte sie gefaßter. „Mein skeptischer Kopf hat mir schwer zu schaffen gemacht während der letzten Tage. … O, Sie liebe Unschuld,“ lachte sie mich spöttisch an, „Sie faseln mir von Schriftproben einer Damenhand und von Frauenmänteln, die sich als sehr zweifelhafter Gattung erweisen, und dieses Zimmer mit seinen Details entgeht Ihrem blöden Auge! … Sind Sie denn wirklich so entsetzlich – harmlos? … Mit einem einzigen Wort konnten Sie mir die Marter der letzten Zeit ersparen!“

Ich hörte kaum auf diese sarkastisch höhnende Stimme. Beklommen mußte ich an Eckhof’s pathetisch hingeschleuderte Worte von dem Lebendigwerden in den versiegelten Sälen denken. In diesem Augenblick wurde Alles aufgerüttelt und unter dem deckenden Staube hervorgezogen, was an dem Geheimniß zweier längst erloschener Menschenleben theilgenommen hatte. … Wie ängstlich war dieses Geheimniß gehütet worden! Selbst die Schwester der Prinzessin war ahnungslos daneben hingegangen – wer wußte denn, ob die Zwei nicht heiß gewünscht hatten, auch über den Tod hinaus den Schleier festzuhalten? … Nun lagen sie im Grabe, das schöne Prinzessinnengesicht und der Mann mit dem blutigen Maal auf der Stirn, und konnten fremden Augen und Händen nicht wehren – oder durften sie zurückkehren und warnen, wie der finstere Fanatiker gemeint hatte? Schauerlich lebendig war es ja geworden, da, wo ich nur den lautlosen Sonnenstrahl hatte spielen und weben sehen. Ja, draußen schmetterte freilich der Gewittersturm gegen die Mauern; aber hier zog es in leisem [783] Stöhnen verhauchend droben an der Decke hin. Langsam blähten sich die losen Gardinen auf und rieselten wie weitgebauschte Frauenkleider über die Dielen, hie und da einen bleichen Lichtflecken hindurchlassend, der unruhig die violetten Bettvorhänge betupfte und gespenstig durch die grauen Schatten der tiefen Ecken fuhr – gespenstig wie die arme Seele, die zwischen Himmel und Erde wandeln muß. …

[793] Es war vermessen, inmitten dieses Aufruhrs den sorgfältig gehüteten Nachlaß todter Menschen verstohlenerweise aufzuwühlen – ich dachte es zitternd und mit angstvoll klopfendem Herzen; aber ich schwieg – was vermochte meine schwache Stimme gegen die Leidenschaft und – jetzt fand ich das rechte Wort für Charlottens rasendes Gebahren – gegen diese Gier nach hoher Lebensstellung und Auszeichnung?

Die Beiden standen vor dem Schreibtisch, den ich neulich so streng respectirt, daß ich kaum den Athem darüber hatte hinstreifen lassen – jetzt waren mit Gedankenschnelle alle darauf befindlichen Gegenstände durcheinander geworfen.

„Hier Mama’s Wappen auf Petschaft, Schreibzeug und Briefbogen!“ sagte Charlotte – noch zitterte ihre Stimme; aber in ihre Haltung war die stolze Ruhe und Sicherheit zurückgekehrt. „Und da verschiedene alte Briefhülsen.“ – Sie zog die Couverts unter einem Briefbeschwerer hervor. – „An Ihre Hoheit die Prinzessin Sidonie von K. Luzern,“ las sie. „Da sieh, Dagobert, diese Briefe sind sämmtlich in der Schweiz gewesen, sie tragen alle Postzeichen. Jedenfalls war eine Vertraute an Mama’s Stelle stets auf der Reise, hat die Briefe in Empfang genommen und in die geheimnißvolle Karolinenlust geschickt.“

Dagobert antwortete nicht. Er rüttelte an dem Schloß des Tisches – der Schlüssel fehlte; nach Eckhof’s Aussage aber enthielt ja dieser Kasten, der förmlich festgemauert in seinen Fugen saß, Lothar’s Brieftasche mit den Documenten. Achselzuckend, mit finsterer Stirn wandte sich Dagobert ab, trat, den Vorhang zurückschiebend, in eine der Glasthüren und sah hinaus in das Wetter, während Charlotte die Couverts achtlos auf den Tisch warf und an das entgegengesetzte Ende des Saales schritt. Da stand ein Flügel – ich hatte ihn neulich bei meiner eiligen Flucht nicht bemerkt. Charlotte schloß ihn sofort auf und griff ohne Weiteres in die Tasten, die vielleicht nie wieder hatten berührt werden sollen – sie wenigstens wehrten sich, sie hatten ja Stimmen, in entsetzlicher Dissonanz; von dem Klirren gesprungener Saiten begleitet, schrillten die Töne so nervenerschütternd gegen die Wände, daß selbst die starke Charlotte zurückfuhr und entsetzt den Deckel zuschlug. Sie war erschrocken; aber von jener herzbeklemmenden Scheu, jenem Gefühl ängstlicher Pietät, mit denen ich allen diesen leblosen Gegenständen eine Art von empfindlicher Seele andichtete, schien nicht eine Spur in ihr zu leben. Sie griff nach den Notenheften, die auf dem Flügel lagen, und wühlte zwischen ihnen, bis sie abermals aufschrie und plötzlich mit halb unterdrückter, aber dennoch jubelnder Stimme „Già la luna in mezzo al mare“ in den Saal hineinsang.

„Dagobert, da ist’s, was Mama in Madame Godin’s Salon gesungen hat, da ist’s – hier, hier!“ unterbrach sie sich und schwenkte das Notenheft in der Luft. Ich hörte nicht, daß ihr Bruder antwortete, und wandte mich um. Er stand mit dem Rücken gegen uns und bückte sich über den Schreibtisch. Mit einigen raschen Schritten stand ich an seiner Seite.

„Das dürfen Sie nicht!“ sagte ich – ich erschrak vor meiner eigenen Stimme, so tonlos und bebend klang sie; trotzdem sah ich ihm muthig in das Gesicht.

„Ei, was darf ich denn nicht?“ fragte er spöttisch, ließ aber doch die Hand sinken, in welcher er irgend ein Instrument hielt.

„Das Schloß erbrechen,“ versetzte ich fester. „Ich bin schuld, daß Sie hier sind hinter den Siegeln, ich habe Sie dazu verleitet; es ist ein großes Unrecht, ich sehe das sehr wohl ein. … Mehr aber darf nun auch nicht geschehen, ich leide es nicht!“ brauste ich auf, als ich sah, daß er trotzdem die Hand wieder hob.

„Wirklich?“ lachte er. Das war seltsam – seine Augen irrten über mich hin und entzündeten sich in einem Feuer, wie ich sie nie gesehen. „Wie wollen Sie denn das anfangen, Sie zerbrechliches, quecksilbernes Geschöpfchen?“ fragte er spottend und steckte rasch das Instrument in das Schloß – ich hörte es drinnen knistern und knacken. Angstvoll, aber auch zornig ergriff ich mit beiden Händen seinen Arm und suchte ihn zurückzuziehen – da fühlte ich in demselben Augenblick meine Taille umschlungen und heftig gepreßt, und Dagobert flüsterte mir in das Ohr: „Kleine wilde Katze, berühren Sie mich nicht und sehen Sie mich nicht so an – es ist gefährlich für Sie! Ihre berauschenden Augen haben mir’s schon in der ersten Stunde angethan! Gerade Ihre wilde Bosheit reizt mich, und wenn Sie wieder nach mir schlagen, wie heute auf der Treppe, dann ist’s erst recht um Sie geschehen – reizende, geschmeidige Eidechse!“

Ich schrie auf, und er ließ mich los.

„Was treibst Du denn für Possen, Dagobert!“ schalt Charlotte herbeieilend. „Das Kind lässest Du mir in Ruhe – ich bitte mir’s aus! Das ist nichts für Eure Lieutenantslaunen. … Lenore steht unter meinem Schutz und damit basta! … Uebrigens hat sie Recht, die kleine Unschuld! Was wir hier verschlossen finden, dürfen wir nicht gewaltsam öffnen. … Was nützen uns [794] auch die Papiere, wenn wir dabei sagen müßten, daß wir sie nach Spitzbubenart unter den Gerichtssiegeln hervorgeholt haben? … Sie liegen einstweilen gut aufgehoben, bis sie eines Tages mit Eclat an das Licht treten werden. Selbst für Onkel Erich sind sie unerreichbar geworden durch die Siegel, die er auf die Thüren hat klecksen lassen. Und wir brauchen nicht mehr hineinzusehen – so gewiß ich athme, so gewiß weiß ich nun, daß wir hier geboren sind, daß wir in dem Hause unserer Eltern, auf unserm eigenen, ererbten Grund und Boden stehen!“ sagte sie feierlich. Hörst Du? Der Sturm sagt Amen dazu!“

Ja, das war ein Stoß, der den Boden unter unsern Füßen zittern machte, der die Glastür, die ich neulich im Schrecken nur zugeworfen und nicht geschlossen hatte, schmetternd aufstieß und im Nu den Schreibtisch mit Wasserfluthen überschüttete.

„Ha, ha, er sagt Amen dazu und will uns zeigen, wie wir’s machen müssen!“ lachte Dagobert und schloß die Thür wieder. „Er faßt diesen inhaltsvollen Schreibtisch nicht mit Handschuhen an, wie Du siehst – da heißt es ‚Gewalt wider Gewalt!‘ … Wenn es nach Deinem und Eckhof’s Sinn gehen soll, dann muß ich bei Onkel Erich um jeden Groschen betteln und Vorwürfe über meine Schulden hören, bis ich graue Haare habe, und Du wirst in der verhaßten Abhängigkeit eine alte Jungfer!“ –

„Die werde ich so wie so,“ sagte sie, während eine leichte Blässe ihr Gesicht überlief. „Ich würde mich nie anders als standesgemäß verheiraten – diese Hofgecken sind mir aber in den Tod zuwider. … Ich will auch nicht lieben, ich will nicht! … Ich habe ein ganz anderes Ziel – Aebtissin in einem Damenstift will ich werden – da kömmt Manche unter mein Scepter, die mich getreten hat … sie mögen sich hüten! … Uebrigens begreife ich Dich nicht, Dagobert,“ sagte sie nach einem tiefen Athemholen weiter. „Wir haben doch längst ausgemacht, daß die Sache erst im Januar, wenn Du hierher versetzt bist, zum Austrag kommen darf, daß wir unterdeß schweigen und so viel wie möglich Material sammeln wollen. Es wird mir schwer genug werden, allein hier auszuharren – kostet es mich doch jetzt schon die größte Ueberwindung, dem Onkel in die Augen zu sehen und nicht sagen zu dürfen: ‚Betrüger, der Du bist!‘ – mit der Fliedner verkehren zu müssen, die das friedfertigste und harmloseste Gesicht macht und uns systematisch bestehlen hilft – die boshafte Katze! Und ich habe sie wirklich gern gehabt! … Es geht fast über meine Kräfte, aber es hilft nichts, es muß sein! Eckhof hat Recht, wenn er uns unausgesetzt die möglichste Ruhe und Vorsicht predigt.“

Sie wischte mit ihrem Taschentuch die Nässe vom Tisch und drückte den aufgerüttelten Kasten wieder fest in seine Fugen.

Was sie nun trieben und erforschten, ich betheiligte mich nicht mehr daran. Ich hatte mich zwischen die Glasthür und den Schreibtisch geflüchtet und stand da als Schildwache. … Ich meinte, das Zittern des Bodens unter mir daure fort, aber es war in meinen Füßen. Nie in meinem ganzen Leben war mir so entsetzlich zu Muthe gewesen, als in dem Augenblick, wo es sich urplötzlich wie lebendige Klammern um mich gelegt hatte. Wäre ich in einen dunklen Abgrund gestoßen worden, ich hätte mich nicht mehr fürchten können, als vor diesem heißen Flüstern einer halberstickten Stimme, das ich zum Theil gar nicht verstand, und das mir doch das Blut in Wangen und Schläfen trieb. … Am liebsten hätte ich Alles hinter mir gelassen und wäre gelaufen, so weit mich meine Füße tragen konnten; allein die Furcht, daß der Schreibtisch schließlich doch noch erbrochen werden könne, hielt mich fest.

„Das ist unser Wappen, Kleine, sehen Sie sich’s an,“ sagte Charlotte endlich wieder heraustretend zu mir. Sie hielt mir einen Siegelring mit einem geschnittenen Stein hin. „Papa hat zwar nie Ringe getragen, wie heute Ihre Hoheit versicherte, trotzalledem existirt dieser und ist augenscheinlich oft als Petschaft benutzt worden – er lag auf Papas Schreibzeug; ich nehme ihn mit, als das Einzige, was ich mir vorläufig aneigne.“ Sie ließ den Ring in ihre Tasche gleiten.

Ich war erlöst. Wir gingen hinab, und der Schrank wurde wieder an seine Stelle gerückt.

Als die wohlberechtigten Erben des Freiherrn Lothar von Claudius, als die Seitensprossen des herzoglichen Hauses waren die Geschwister wieder aus dem dunklen Treppenschacht hervorgegangen, den Charlotte noch unter den Qualen banger Zweifel betreten hatte. Sonnenklar lag die Lösung des Räthsels da – auch für mich – wie war es Herrn Claudius möglich gewesen, mit reiner Stirn und so fester Stimme die Wahrheit zu verleugnen? Und trotzdem, mochte die Sache liegen, wie sie wollte – er hatte doch nicht gelogen! …



25.

Charlotte griff nach ihrem Shawl, aber sie ließ ihn erschreckt wieder sinken, lief an das Fenster und riß es auf.

„Was giebt’s, Herr Eckhof?“ rief sie hinaus.

Der alte Buchhalter rannte quer über den Kiesplatz nach dem Hause. Er war ohne Hut und sein sonst so beherrschtes Gesicht sah verstört aus – er war augenscheinlich tief alterirt.

„In Dorotheenthal ist ein Wolkenbruch niedergefallen!“ rief er athemlos herüber. „Mindestens vierzigtausend Thaler Verlust für die Firma Claudius! Alles ersäuft und verwüstet, was wir seit Jahren draußen mühsam angelegt und gepflegt haben! … Hören Sie den Nothschuß? … Auch Menschen sind in Gefahr!“

Dorotheenthal war eine Besitzung der Claudius, ein alterthümliches, einst adeliges Herrenhaus, das, sammt einem Dorf, sehr tief auf ziemlich enger Thalsohle lag. Die Firma stützte ihren Betrieb weit mehr noch auf die Ländereien in Dorotheenthal, als auf die Gärten zu K. Die Holzsämereien waren ganz auf diesen District verwiesen und besonders hatten kostbare Coniferen-Exemplare Dorotheenthal eine Art Ruf verschafft. Die einzelnen Blumengattungen waren hier ackerweise vertreten, und Ananas-, Orchideen- und Cactushäuser umkreisten in bedeutender Anzahl das Schlößchen. Einige kleine Seen und ein ziemlich reißender Fluß, der das Thal durchschnitt, erleichterten den kolossalen Betrieb ungemein; aber in diesem Augenblick war das hülfreiche Element zum teuflischen Feind geworden – die Seen waren übergetreten, und der Fluß hatte sich, einen Damm durchsprengend, mit ihnen vereint, wie Eckhof noch herüberrief, ehe er in der Halle verschwand.

„Welch ein Unglück!“ rief Charlotte mit todtenblassem Gesicht und schlug die Hände zusammen.

„Ah bah – was brauchst Du da zu erschrecken?“ sagte Dagobert achselzuckend. „Was sind vierzigtausend Thaler für Onkel Erich? Er kann’s verschmerzen – und schließlich, was geht’s uns an? Das ist seine Sache – unser Erbtheil schmälert es um keinen Pfennig! … Er wird freilich saure Gesichter machen, und die Wegzehrung, die er mir übermorgen mitgeben wird, mag schmal genug ausfallen. … Na meinetwegen – ich habe mir’s ja auch gefallen lassen müssen, wenn der Kram in Ordnung war.“

Die letzten Worte hörten wir kaum noch. Charlotte lief hinaus, und ich mit ihr. … Menschen waren in Gefahr? Wie das beängstigend klang! Ich wollte mehr wissen; ich hielt es nicht aus allein in der Karolinenlust. Chalotte hatte mir ihren Arm gereicht, und so rannten wir, unausgesetzt bestäubt vom Regen, über den schäumenden Fluß, durch die schwimmenden und triefenden Gärten nach dem Vorderhause.

Hie und da lief uns ein Gärtnergehilfe mit erschrecktem Gesicht über den Weg, und schon von ferne hörten wir über die Hofmauer her den Lärm durcheinander rufender und klagender Stimmen. Beinahe das ganze Arbeiterpersonal war im Hofe versammelt, als wir eintraten, und vor der Hausthür hielt Herrn Claudius’ Equipage. … Er selbst trat eben, in einen Regenmantel gehüllt und den Hut in der Hand, heraus auf die Thürschwelle. … Es war, als gehe von seinem vollkommen ruhigen Gesicht eine beschwichtigende Kraft aus – das Lärmen verstummte sofort. Er ertheilte einige Befehle; nicht die mindeste Hast oder Ueberstürzung beeinträchtigte seine langsam edlen Bewegungen – man sah, der blonde Kopf dort mit dem ernsten Ausdruck behauptete die Herrschaft in allen Lagen des Lebens.

Bei unserem Erscheinen traten die Leute zurück und ließen uns vorüber; ich hing noch an Charlottens Arm. Da sah uns Herr Claudius über den Hof kommen – schien es doch fast, als erschrecke er; wie ein Blitz fuhr ein Ausdruck des Zorns über seine unbedeckte Stirn; er zog die Brauen zusammen, und unter ihnen hervor traf mich ein langer, finster strafender Blick. … Ich schlug die Augen nieder und zog meinen Arm aus dem meiner Begleiterin.

[795] „Onkel Erich, das ist ein schwerer Schlag!“ rief Charlotte, während sie zu ihm auf die Schwelle trat.

„Ja,“ sagte er einfach ohne jede weitere Bemerkung. Dann wandte er sich in die Hausflur zurück, wo Fräulein Fliedner stand.

„Liebe Fliedner, sorgen Sie dafür, daß Fräulein von Sassen sofort in trockene Kleider kommt – ich mache Sie verantwortlich dafür!“ befahl er in seiner gewohnten gelassenen Weise und zeigte auf meine beschmutzten, kläglich geweichten Atlasstiefelchen und mein regennasses Kleid. … In das Gesicht sah er mir nicht mehr.

Er bestieg rasch den Wagen und ergriff die Zügel.

„Nimm mich mit nach Dorotheenthal, Onkel!“ rief Dagobert, der eben in Begleitung des nunmehr mit Hut und Mantel versehenen Buchhalters aus dem Garten trat.

„Es ist kein Platz, wie Du siehst,“ versetzte Herr Claudius kurz und deutete auf mehrere Arbeiter zurück, die mit angsterfüllten Mienen nach Eckhof einstiegen – sie waren aus Dorotheenthal.

Der Wagen brauste hinaus, und Fräulein Fliedner ergriff meine Hand und führte mich in ihr Zimmer. Charlotte kam nach.

„Sie sind aber auch naß wie ein gebadetes Kätzchen!“ sagte sie zu mir, während Fräulein Fliedner trockene Kleider herbeitrug.

„Merkwürdig, daß der Onkel in diesem Moment, wo seine Schacherseele Tausende verliert, Augen dafür hatte!“

„Daran können Sie eben sehen, daß er keine Schacherseele ist,“ versetzte Fräulein Fliedner. Ihr mildes Gesicht war noch blaß vom Schrecken, und jetzt glitt auch ein bitterer, herber Zug um ihren Mund. „Ich habe Sie schon oft gebeten, Charlotte, dergleichen harte und ungerechte Bezeichnungen vor meinen Ohren nicht laut werden zu lassen – ich kann das wirklich nicht ertragen.“

„So – aber Sie schweigen und finden es ganz in der Ordnung, wenn der Onkel mir in Ihrem Beisein den Text liest und in seiner grausam kalten Ruhe durchaus nicht glimpflich mit mir verfährt!“ rief sie heftig. „Wenn er noch ein ehrwürdig alter Mann wäre, dann ertrüge sich’s leichter – aber mein Stolz bäumt sich auf gegen diesen Mann mit den Feueraugen, der vor meinem Bruder und mir weniger die Erfahrungen der Jahre, als die äußere Macht voraus hat. Er mißhandelt uns!“

„Das ist nicht wahr,“ sagte Fräulein Fliedner entschieden.

„Er wehrt nur den Neigungen, die er nicht dulden darf. … Wenn Sie freilich eigenmächtig und rücksichtslos handeln, dann müssen Sie sich auch eine Zurechtweisung gefallen lassen, Charlotte. … Es hat heute wieder Etwas gegeben, was Sie vermeiden konnten. Während Herr Claudius mit der Prinzessin im Glashause war, hat unser Haustischler an sämmtlichen Fenstern Ihrer Wohnung Maß genommen – Sie hätten Jalousien bestellt, sagte er –“

„Nun ja – ich habe lange genug die Sonne geduldig auf meine unglückliche Haut scheinen lassen,“ unterbrach sie Charlotte trotzig. „An die Sonnenseite gehören Läden –“

„Ganz recht; aber es war nicht mehr als billig, daß Sie Herrn Claudius darum befragten – es ist sein Haus und sein Geld, über welches Sie dabei verfügen.“

„Gott im Himmel, einmal wird noch die Zeit kommen, wo ich diese Ketten nicht mehr werde klirren hören!“ rief Charlotte in ausbrechender Leidenschaft.

„Wer weiß, ob sie Ihnen dann nicht eines Tages wieder wünschenswerth erscheinen,“ sagte Fräulein Fliedner sehr gelassen.

„Meinen Sie, liebe, gute Fliedner?“ – Der lächelnde Hohn in der Stimme der jungen Dame klang mir geradezu fürchterlich. „Eine niederschlagende Prophezeiung! … Trotzdem bin ich so kühn, zu hoffen, ja ganz gewiß zu erwarten, daß es die Vorsehung denn doch ein klein wenig besser mit mir im Sinne hat.“

Sie schritt nach der Thür.

„Wollen Sie nicht den Thee bei mir trinken?“ fragte Fräulein Fliedner so freundlich und friedfertig, als sei nicht ein bitteres Wort gefallen. „Ich werde ihn sogleich besorgen – ich bin ja für Fräulein von Sassen’s Gesundheit verantwortlich gemacht und muß der möglichen Erkältung vorbeugen.“

„Ich danke!“ sagte Charlotte in der offenen Thür mit kaltem Tone über die Schulter zurück. „Ich will mit meinem Bruder allein sein. … Schicken Sie mir die Theemaschine hinauf, aber die kleine silberne, wenn ich bitten darf – ich mag nicht mehr aus Messing trinken, und wenn es Dörte auch noch so ‚goldblank‘ putzt … Adieu, Prinzeßchen!“

Sie ließ die Thür in’s Schloß fallen und eilte mit dröhnenden Schritten die Treppe hinauf. Fast unmittelbar darauf rauschten grelle Clavieraccorde durch das stillgewordene Haus.

Die alte Dame schrak sichtlich zusammen. „Mein Gott, wie rücksichtslos!“ murmelte sie vor sich hin. „Mir fällt jeder Ton wie ein Schlag auf mein geängstigtes Herz.“

„Ich will gehen und sie bitten, aufzuhören!“ sagte ich, nach der Thür springend.

„Nein, nein, das thun Sie nicht!“ hielt sie mich ängstlich zurück. „Das ist nun einmal so ihre Gewohnheit, wenn sie sich im Groll zurückzieht, und wir lassen sie darin auch stets gewähren. Aber heute, gerade in diesen Stunden voll Angst und Sorgenqual – was mögen die Leute im Hause davon denken! Sie gilt ohnehin für viel herzloser, als sie ist,“ setzte sie bekümmert hinzu.

Sie drückte mich in die Federkissen des Sophas und begann den Theetisch herzurichten. Zu jeder andern Zeit wäre es sicher urgemüthlich in dem altfränkischen Zimmer der alten Dame gewesen. Die Theemaschine sang; draußen durch die menschenleere Straße strich seufzend der Wind, und der Regen schlug in gleichmäßigem Tempo gegen die Scheiben. Befriedigt nickte das stilllächelnde Gesicht des Pagoden hinter dem Glas in das leise dämmernde Zimmer herein, und der kleine, jähzornige Pinscher lag faul, in sichtlichem Wohlbehagen des Geborgenseins, auf dem Polster. … Aber Fräulein Fliedner strich die Butterbrödchen mit zitternden Händen – ich sah es wohl – und Dörte, die alte Köchin, die einen Teller voll Gebäck hereinbrachte, fragte unter beklommenem Aufseufzen: „Wie mag’s denn draußen stehen, Fräulein Fliedner?“

Mir schlug das Herz in einer unerklärlichen Angst. Ich empfand einen brennenden Schmerz, wenn ich daran dachte, daß Herr Claudius gerade jetzt zürnend von mir gegangen war – und ich mußte, zu meiner Qual, unausgesetzt daran denken. … Wie kindisch eigensinnig und widerspruchsvoll mußte ich ihm erschienen sein, als ich an Charlottens Arm dahergekommen war! …

Trotzdem hatte er Besorgniß um mich gezeigt – Besorgniß für mich kleines, unbedeutendes Wesen in einem Moment, wo ein schweres Mißgeschick über ihn hereinbrach! … Leise schlugen mir die Zähne zusammen, und unter Nervenschauern drückte ich mich tiefer in die weiche Sophaecke. … Auf Fräulein Fliedner’s dringende Bitten schluckte ich eine Tasse heißen Thees hinunter – die alte Dame selbst genoß nichts – still saß sie neben mir.

„Ist Herr Claudius auch in Gefahr da draußen?“ rang es sich endlich von meinen Lippen.

Sie zuckte die Achseln. „Ich fürchte es – gefährlich mag’s schon sein – Wassersnoth ist fast schlimmer, als Feuersgefahr, und Herr Claudius ist nicht der Mann, der in solchen Augenblicken an sich selbst denkt – aber er steht in Gottes Hand, mein Kind!“

Das erleichterte mein Herz gar nicht. … Wie oft hatte ich von Menschen gelesen, die ertrunken waren – unschuldige Menschen, die nichts verbrochen hatten und er sollte ja einen Mord auf dem Gewissen haben! … stand der Mörder auch in Gottes Hand? Das Angstgefühl, unter welchem ich litt, trieb mich unwillkürlich, das auszusprechen.

„Er ist ja schuld an dem Tode eines Menschen,“ sagte ich gepreßt, ohne aufzusehen.

Die alte Dame fuhr zurück, und zum erstenmal sah ich ihre sanften Augen im Ausdruck tiefster Empörung auflodern.

„Abscheulich – wer hat Ihnen das schon gesagt? Und in einer solchen schonungslosen Weise?“ rief sie erregt. Sie stand auf und trat für einige Secunden in eines der Fenster; dann setzte sie sich wieder zu mir und nahm meine beiden Hände in die ihrigen.

„Wissen Sie auch Näheres darüber?“ fragte sie ruhiger.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nun, dann mag sich Ihre junge, in Welt und Leben so unerfahrene Seele allerdings ein grauenhaftes Bild machen – ich kann mir das lebhaft deuten – armer Erich! … Es ist freilich die dunkelste Stelle in seinem Leben; aber, mein Kind, er war damals ein junger Mann von kaum einundzwanzig Jahren, ein leidenschaftlich und enthusiastisch empfindender Mann. … Er hat [796] eine Frau lieb gehabt, so lieb – nun das mag ich Ihnen nicht des Breiteren schildern. Weiter besaß er einen Freund, dem er sein ganzes Vertrauen geschenkt, und für welchen er sich vielfach aufgeopfert hatte. … Eines Tages nun muß sich der Ahnungslose überzeugen, daß die Frau und der Freund ihn betrügen, daß sie beide treulos sind. … Es ist zu einer heftigen Scene gekommen, und es sind Worte gefallen, die, wie es die abscheuliche Sitte unter Männern verlangt, nur durch Blut gesühnt werden konnten. – Sie haben sich duellirt, der verrätherischen Frau wegen; der Freund –“

„Der junge Eckhof?“ warf ich hastig dazwischen.

„Ja, der Sohn des Buchhalters – er hat einen Schuß in die Schulter bekommen, und Herr Claudius ist ziemlich schwer am Kopfe verletzt worden – seine Augenschwäche stammt aus jener Zeit. … Die Wunde Eckhof’s ist an sich nicht gefährlich gewesen, aber seine bereits sehr zerrüttete und geschwächte Constitution hat ihn im Stiche gelassen – nach mehrwöchentlichem Krankenlager hat er sterben müssen, trotz aller Bemühungen der ausgezeichnetsten Aerzte –“

„Und die Frau, die Frau?“ unterbrach ich sie.

„Ja, die Frau, mein liebes Kind, die hatte Paris längst verlassen, als Herr Claudius von seinem Schmerzenslager aufstand, sie war mit einem Engländer abgereist.“

„Sie war schuld an seinen Leiden und ist nicht gekommen, abzubitten und ihn zu pflegen?“

„Mein kleines Mädchen, sie war eine Dame vom Theater – sie hat dieses Blutopfer als eine Huldigung ihrer gefährlichen Schönheit hingenommen und sich durchaus nicht verpflichtet gefühlt, abzubitten, noch weniger aber die Wunde mit ihren verwöhnten Händen zu heilen. … Damals, kurze Zeit nach seiner Genesung, kam Herr Claudius hierher – sein Bruder war – gestorben und hatte so manche Anordnung in die Hände seines Erben niedergelegt. … Nach langer Trennung sah ich ihn zum ersten Mal wieder – ich habe nie in meinem ganzen Leben einen Menschen so furchtbar leiden sehen, als diese junge, aus allen Fugen gerissene Männerseele.“

„Er hatte Gewissensbisse?“ –

„Das weniger – er konnte die Frau nicht vergessen. … Wie wahnsinnig lief er stundenlang durch die Gärten, oder raste mit den Händen über die Tasten –“

„Der ernsthafte, ruhige Herr Claudius?“ fragte ich athemlos vor Ueberraschung.

„Das war er eben damals nicht. … Er suchte Ruhe und Beschwichtigung in der Musik, und wie spielte er! Ich begreife sehr wohl, daß ihm Charlottens Trommeln oft geradezu zur Qual wird. … Er hielt nicht lange hier aus. Ein Jahr noch reiste er ziellos durch die Welt, dann kam er zurück, völlig umgewandelt, und nahm als der ernste, strenge, schweigsame Mann, als den Sie ihn kennen, das Geschäft in die Hand. … Ich habe ihn nie wieder eine Taste berühren sehen, ich habe nie wieder ein leidenschaftliches Wort von ihm gehört, eine heftige Bewegung an ihm bemerkt. Er hatte anders überwunden, als sein Bruder, der an seinem Seelenschmerz zu Grunde gegangen war – sein starker Geist hat ihn das richtige Beschwichtigungsmittel, die Arbeit, finden lassen. Und so ist er das geworden, was er heute noch ist, ein Arbeiter im strengsten Sinn des Wortes, ein stahlharter Charakter, der in Ordnung und Thätigkeit den Gesundbrunnen für die Menschenseele sieht, und sie überall angewendet wissen will.“

Fräulein Fliedner hatte mit einer Lebhaftigkeit gesprochen, wie ich sie an der zwar immer anmuthig liebenswürdigen, aber auch stets sehr zurückhaltenden alten Dame noch nicht gesehen – sie hatte sich offenbar hinreißen lassen. Und ich saß an ihrer Seite und sah mit zurückgebaltenem Athem in eine ungekannte Welt – ein Wunder war sie für mich, die leidenschaftliche Liebe des Mannes zum Weibe! Meine geliebtesten Zaubergeschichten erblaßten und verloren ihren Glanz und Reiz neben dieser Erzählung aus der Wirklichkeit. … Und der Mann, der die treulose Frau nicht vergessen konnte, den der Schmerz um ihren Verlust wie wahnsinnig durch die Gärten gejagt hatte, es war Herr Claudius gewesen – er konnte sich wirklich Etwas so tief zu Herzen nehmen? …

„Liebt er wohl die Frau noch immer?“ unterbrach ich mit leiser Stimme das plötzlich eingetretene tiefe Schweigen.

„Mein Kind, darauf kann ich Ihnen nicht antworten,“ sagte lächelnd die alte Dame. „Meinen Sie wirklich, es wisse irgend ein Mensch, was in Herrn Claudius’ Innerstem vorgeht? … Sie kennen ja sein Gesicht und Wesen und nennen es selbst ernsthaft und ruhig – seine Seele ist für Alle ein zugeschlagenes Buch. … Uebrigens kann ich mir kaum die Möglichkeit denken; er muß ja die Frau verachten.“

Es war dunkel geworden. Fräulein Fliedner hatte vorhin ein Fenster geöffnet, weil es schwül im Zimmer war, der plätschernde Regen hatte aufgehört. In der abgelegenen Mauerstraße war es still, aber fern, von den frequenten Plätzen, dem Knotenpunkt der Stadt her, drang in an- und abschwellendem Summen das Getöse des lebendigsten Menschenverkehrs. An der gegenüberliegenden Straßenseite hüpften die Gaslichter eines nach dem anderen auf – sie spiegelten sich in den trüben Regenlachen des Pflasters und zeigten, wie schwarz und dräuend der Himmel noch über der Stadt hänge. … Auch in das Zimmer herein, wo wir lautlos schweigend nebeneinander saßen, fiel ihr schwacher Schein, und ich bat Fräulein Fliedner, keine Lampe anzuzünden, es sei hell genug – ich fürchtete mich, in das Gesicht der alten Dame zu sehen, weil ich wußte, daß es angstvoll und tiefbesorgt aussehen müsse.

Da kamen schallende Schritte das Trottoir entlang, und im Vorübergehen, unter dem offenen Fenster, sagte eine hastig erzählende Stimme: „Eine gelähmte Frau, die sich nicht hat retten können, ist ertrunken! … Es soll schrecklich draußen sein!“

Wir fuhren empor, und Fräulein Fliedner begann rastlos im Zimmer auf- und abzugehen. … Nun erscholl auch lebhaftes Sprechen in der Hausflur. „Noch keine Nachricht aus Dorotheenthal?“ hörten wir Charlotte über das Treppengeländer herabrufen, als Fräulein Fliedner die Thür öffnete.

„Von unseren Leuten ist noch keiner zurück,“ antwortete der alte Erdmann. Er stand inmitten der dienstbaren Geister des Hauses und seine rauhe Stimme zitterte. „Aber Andere erzählen, es sei zu schlimm draußen,“ fuhr er fort, „und unser Herr ist der erste Mann beim Retten – daß Gott erbarm, er fragt viel danach, ob solch eine Nußschale umkippt! … Dafür sind doch auch andere Leute da! … Der Herzog soll auch draußen sein.“

„Wie, Seine Hoheit selbst?“ rief Dagobert herab.

Erdmann bejahte. Die Thür droben wurde zugeschlagen, aber gleich darauf kam der Herr Lieutenant die Treppe herab – er ließ sich sein Pferd vorführen und jagte davon – der schöne Tancred – wie erbärmlich erschien er mir jetzt!

Ich kauerte mich wieder in die Sophaecke, während Fräulein Fliedner tief aufseufzend in die Fensternische trat. … Ich mußte an das Wasser denken, wie es wüthend über die Erde hin tobte und die Menschen erstickte, die sich nicht retten konnten! Es mußte schrecklich sein, in den trüben tosenden Wassern umzukommen! Aber „Herr Claudius fragte viel danach, ob die Nußschale umkippte“, wie der alte Erdmann sagte, er hatte die Welt und die Menschen und das eigene Leben wohl nicht mehr lieb, und er hatte auch Recht. Die Frau, die er nicht vergessen konnte, war falsch gewesen, und die Geschwister und der alte Buchhalter waren es auch, und ich, für die er so viel Güte zeigte, ich hatte vor wenig Stunden erdrückende Beweise gegen ihn und sein Handeln an das Tageslicht gebracht. … Nur Fräulein Fliedner hielt zu ihm – ich sah mit einer Art von Neid nach der kleinen zierlichen Gestalt hinüber, die regungslos im Fenster verharrte; sie hatte ein gutes Gewissen, sie hatte ihm nie etwas zu Leide gethan, sie brauchte sich mit keinem Vorwurf zu quälen, wenn – die Wasser über den edeln blonden Kopf hinweggingen. Fast hätte ich aufgeschrieen bei dieser Vorstellung, aber ich biß die Zähne zusammen, und begann von Neuem angstvoll auf jeden Schritt, jedes ferne Räderrollen zu horchen.

So verrann Stunde um Stunde. Mein Vater war auch noch nicht heimgekommen – auf Fräulein Fliedner’s Befehl hatte Erdmann in der Karolinenlust nachsehen müssen. … Ganz beschwichtigt hatte sich der Lärm der aufgeregten Stadt noch nicht, aber es war stiller geworden – Mitternacht kam heran. … Da bog ein Wagen in die Mauerstraße ein – mit einem leisen Aufschreien, einem Gemisch von Angst und Freude, fuhr die alte Dame empor, und ich flog durch die Hausflur und riß die Hofthür auf. Ein fast greifbares Dunkel lag über der Erde, aber ich lief blindlings hinein, dem daherbrausenden Wagen entgegen.

„Sind Sie es selbst, Herr Claudius?“ rief ich mit bebender Stimme über das Rädergerassel hinweg.

[797] „Ja,“ scholl es vom Kutschersitz herab.

Gott sei Dank! … Ich drückte die Hände auf die Brust – ich glaubte, mein angsterlöstes Herz müsse sie im Aufathmen zersprengen.

Nun kamen auch von allen Seiten die Leute des Hauses gestürzt und umringten den Wagen. Herr Claudius stieg herab.

„Steht’s wirklich so schlimm, Herr Claudius?“ fragte der alte Erdmann. „Wirklich vierzigtausend Thaler Verlust, wie Schäfer sagt?“

„Der Schaden ist größer – es ist Alles verwüstet; wir müssen in Dorotheenthal ganz von vorn anfangen. Mich schmerzen nur meine jungen Coniferen – nicht eine steht mehr,“ sagte er bewegt. „Nun, das läßt sich wohl Alles mit der Zeit ersetzen; aber hier“ – er brach ab und öffnete den Wagenschlag.

[798] Er half Jemand sorglich über den Tritt herab. Das Licht mehrerer herbeigebrachter Lampen quoll jetzt durch die Hofthür und fiel auf ein junges Mädchen, das, halb in Herrn Claudius’ Armen hängend, auf das Pflaster glitt. Ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte die zarte, tief vornübergebeugte Gestalt, und das unbedeckte Haar hing unordentlich und aufgelöst um ein schönes, aber in verzweifeltem Schmerz verzogenes Gesicht.

„Ihre Mutter ist ertrunken,“ flüsterten die Leute, die mitgekommen waren.

Herr Claudius schlang seinen Arm fester um ihre Taille und führte sie die Stufen hinauf. Er strich im Dunkeln dicht an mir vorüber – seine Kleider waren schwernaß.

Auf der obersten Stufe stand Fräulein Fliedner und streckte ihm die Hände entgegen; was er ihr sagte, konnte ich nicht verstehen – eine plötzliche Scheu und ein unerklärliches Wehegefühl hatten mich von den Menschen fort, tiefer in den Hof hinein gescheucht aber ich sah, wie die alte Dame sanft den Arm der Weinenden in den ihren legte und sie hinwegführte. Herr Claudius verweilte noch einen Augenblick droben in der Flur und sprach mit Charlotte. Es entging mir nicht, daß er dabei suchend umherblickte – hatte er doch vorhin meine Stimme erkannt und wollte sich nun überzeugen, ob ich, der er zürnte, es wirklich gewesen sei? … Was für thörichte Gedanken! Er hatte jetzt Wichtigeres zu denken – wie viel Unglück hatte er heute mit ansehen müssen, und was für schwere Aufgaben lagen nun auf seinen Schultern! … Und hatte er nicht eben ein tiefgebeugtes, verwaistes Mädchen in sein Haus eingeführt – eingeführt mit zärtlicher Sorgfalt und tiefem Mitgefühl? Sie war nicht so undankbar wie ich; sie stieß die Hand nicht zurück, die sie stützen wollte – vertrauensvoll hatte sie sich dem Arm hingegeben, der sie umschlang. … Und da sollte er sich noch des tolltrotzigen Menschenkindes aus der Haide erinnern? … Ganz gewiß nicht.

Er kam die Stufen wieder herab, blieb in der Hofthür stehen und sah angestrengt in das Dunkel hinaus. Unterdeß war auch ein Herr aus dem Wagen gestiegen, der zu ihm trat – ich erkannte meinen Vater. Verwundert sah ich, wie er Herrn Claudius, dem mißachteten „Krämer“, in herzlichster Weise die Hand bot und sich unter warmen Dankesworten von ihm verabschiedete. Im Garten schlüpfte ich neben ihm hin und hing mich an seinen Arm. Er war sehr überrascht und konnte sich nur schwer in die Thatsache finden, „sein kleines Mädchen zu so später Nachtzeit noch im Freien auflesen zu müssen“. Er hatte den Herzog nach Dorotheenthal begleitet und dann, der Kürze wegen, die Rückfahrt in Herrn Claudius’ Wagen angenommen. Während wir nach der Karolinenlust schritten, erzählte er und sprach auch von Herrn Claudius.

„Was für ein Mann!“ rief er stehenbleibend. „Der Herzog ist entzückt von dieser Ruhe und Kaltblütigkeit, von der stillen Würde, mit der er sein Mißgeschick hinnimmt. … Ich habe den Mann für ein lebendiges Rechenexempel gehalten – das muß ich ihm abbitten! … “

Ja, was für ein Mann! … „Nun, das läßt sich wohl Alles mit der Zeit ersetzen, aber hier“ – mit diesen wenigen einfachen Worten hatte er seine enormen pecuniären Verluste dem Unglück des jungen Mädchens gegenüber abgewogen und das war der Zahlenonkel, der eiskalte Geldmensch? … Nein, „der Arbeiter im strengsten Sinne des Wortes“, der aber nicht lediglich um des Erwerbs willen wirkte, sondern weil er „in Ordnung und Thätigkeit den Gesundbrunnen seiner Seele sah“ … Ach, jetzt verstand ich ihn schon besser! …

In dieser Nacht ging ich nicht mehr zu Bett. Ich setzte mich in die Fensterecke und wartete auf das Morgenlicht. – Mit dem Tage, der so blaß hinter den Bäumen aufglomm, wollte ich ein neues Leben anfangen.

[809]
26.

Am Nachmittag nahm ich den mir anvertrauten Gartenschlüssel und ging hinüber in das Schweizerhäuschen. Ich wußte, daß Gretchens Vater Lehrer an der höheren Töchterschule zu K. war – er sollte mir helfen, ein anderes Menschenkind zu werden. Es bedurfte keiner langen Vorstellung in der Familie. Frau Helldorf erkannte mich sofort wieder – wie ich später erfuhr, hatte auch der Gärtner Schäfer bereits viel von dem wilden, sonderbaren, so plötzlich hereingeschneiten Kind des „gelehrten Herrn“ erzählt – und Gretchen flog mir um den Hals. Der Vorfall im Garten, den ich verschuldet, wurde mit keiner Silbe erwähnt.

„Wollen Sie mir Unterricht geben?“ fragte ich den Oberlehrer Helldorf, der vor einem ungeheuren Paket Schulheften corrigirend saß. „Ich will lernen, so viel lernen, wie nur in meinen Kopf hineinzubringen ist! Ich bin schon ein so sehr altes Mädchen und kann nicht einmal ordentlich schreiben.“ Er lächelte, und seine reizende kleine Frau auch, und wir machten einen festen Contract, nach welchem ich wie ein Kind der Familie im Schweizerhäuschen aus– und eingehen und täglich mindestens drei feste Unterrichtsstunden erhalten sollte. Diesen Contract theilte ich Fräulein Fliedner mit; sie erklärte sich damit vollkommen einverstanden und übernahm es auf meine Bitten, die Geldangelegenheit dabei zu besorgen – so brauchte ich doch nicht in Herrn Claudius’ Schreibzimmer zu gehen.

Ich lernte von da ab unermüdlich. Freilich flog die Feder anfangs oft genug unter den Tisch, und ich rannte mit heißem Kopf und thränengefüllten Augen in den Wald hinein – aber ich kehrte auch aufseufzend wieder um, nahm den kleinen, stählernen Tyrannen langsam vom Boden auf und malte weiter, bis das Nachmalen allmählich aufhörte, und die festen hübschen Züge, flink über das Papier hinlaufend, der Ausdruck lebendiger Gedanken wurden – da fiel es mir wie Schuppen von den Augen! … Ich kam zur Freude meines Lehrers unglaublich rasch vorwärts, und nun dehnte sich der anfangs auf wenige Fächer beschränkte Unterricht auch auf die Musik aus. Hier kam mir meine natürliche Begabung sehr zu statten, und bald stand ich am Klavier neben dem jungen Helldorf und sang Duetten mit ihm.

Dieser Verkehr im Schweizerhäuschen, den mein Vater billigte und welchen Herr Claudius und Fräulein Fliedner offen protegirten, wurde von anderer Seite mit grimmigen und scheelen Augen angesehen. Eckhof war wüthend, und Charlotte in einer mir unbegreiflichen Weise indignirt und hämisch. Ich erfuhr nun auch Näheres über den Conflict zwischen dem alten Buchhalter und seiner Tochter. Helldorf hatte Theologie studirt und sich schon als Student mit Anna Eckhof verlobt. Der alte Mystiker war damit einverstanden gewesen, hatte aber die Bedingung gestellt, daß der junge Mann nach vollendeten Studien als Missionär – und zwar als ein auf sämmtliche lutherische Bekenntnißschriften streng verpflichteter Missionär – mit seiner Frau nach Ostindien gehen solle. Diese Clausel war dem Bräutigam allmählich drückend geworden, er verwahrte sich schließlich energisch dagegen und demaskirte sich als entschiedener Feind alles pietistischen Wesens und der frommen Phrase. Zudem erklärte der Arzt die Constitution des jungen Mädchens für viel zu zart, als daß ihr das aufregende, an Entbehrungen reiche Leben einer Missionärfrau zugemuthet werden dürfe. Den Alten hatte das völlig ungerührt gelassen – fanatisch genug hatte er gemeint, der Herr werde ihr schon die Kraft durch seine Gnade geben, und wenn nicht, dann gehe sie ja ein zu ihm als echte, rechte Streiterin der heiligen Kirche. … Er hatte sie verstoßen, als Helldorf fest bei seiner Weigerung geblieben war, und sie nicht von dem Manne ihres Herzens lassen wollte. …

Den Groll des alten Mannes über die plötzlich durchbrochene Scheidewand zwischen dem verfehmten Nachbarhaus und dem bisher von ihm beherrschten Grund und Boden begriff ich deßhalb vollkommen; was aber bewog Charlotte, meinen Umgang mit der Lehrerfamilie anzufeinden? … Zornig sagte sie mir wiederholt in’s Gesicht, sie begriffe nicht, wie Herr Claudius in meine achtlosen Kinderhände den Schlüssel zu einer Thür legen könne, an welcher der öffentliche Fahrweg vorüberliefe – eines schönen Tages werde ja wohl alles Bettelvolk den Garten überschwemmen. Sie behauptete, ich sei unleidlich hochmüthig geworden, seit mir die Gelehrsamkeit mit dem Nürnberger Trichter beigebracht werde; von dem „reizend natürlichen Haideprinzeßchen“ finde sich keine Spur mehr, und meine Locken ordne ich plötzlich mit einem Chic, der auf eine bedeutende Portion Koketterie schließen lasse. Noch grimmiger und verbissener aber wurde sie, als der Musikunterricht begann. Ich traf sie oft hinter der Gartenmauer, wenn ich nach dem Schluß der Stunde rasch eintrat, mit sprühenden Augen, aber dennoch in fast verletzend nachlässiger Weise meinte sie stets, [810] der kleine Vogel erfreue sich ja einer recht lauten Kehle – sie habe so im Vorübergehen einige Töne aufgefangen; als mich aber eines Sonntags Nachmittag mein Mitsänger, der junge Helldorf, bis an die Gartenthür begleitet hatte, da fuhr sie drinnen aus dem Gebüsch auf mich zu und stieß ein unauslöschliches Gelächter aus, das sie dann und wann mit einem höhnischen „Darf man gratuliren, Fräulein von Sassen?“ unterbrach.

Ich ließ sie gewähren, weil ich in Wirklichkeit ihr Wesen nicht verstand. Im Uebrigen beherrschte sie sich hinsichtlich des schwebenden Geheimnisses weit mehr, als ich erwartet hatte. Nur in zwei Dingen trat der erhöhte Stolz schärfer zu Tage – in dem Umstand, daß sie zu Fräulein Fliedner’s Verdruß bei Tische nie anders mehr als in starrer Seide erschien, und in ihrer Verachtung des bürgerlichen Elementes. Am meisten mußte das der junge Helldorf fühlen, den Herr Claudius immer mehr in sein Haus zog. Sie behandelte ihn mit einer Kälte und Schroffheit, die mich oft erbitterte, um so mehr, als sich allmählich ein schönes, rein geschwisterliches Verhältniß zwischen ihm und mir feststellte. Zu meiner Genugthuung bot er der verletzenden Behandlung stolz die Stirn – er ignorirte die hochmüthige Dame völlig … Ich konnte das sehr oft beobachten, weil auch ich an den kleinen Theecirkeln im Hause Claudius theilnahm, und zwar stets in Begleitung meines Vaters. Zwischen ihm und Herrn Claudius bestand ein ziemlich lebhafter Verkehr. Herr Claudius kam sehr viel, was er früher nie gethan, in die Bibliothek, und mein Vater ging oft Abends hinüber in das zur Sternwarte eingerichtete Zimmer. An den Theeabenden saßen sie stets zusammen – sie schienen sich sehr gut zu verstehen; nur berührten sie nie, so oft ich auch hinlauschen mochte, die Münzangelegenheit. … Meine Stellung zu Herrn Claudius aber wurde trotz dieses Verkehrs keine andere. Ich zog mich im Gegentheil strenger und ängstlicher als je von ihm zurück – das Geheimniß, um welches ich wußte, stand zwischen uns. Im Januar, mit Dagobert’s Rückkehr, sollte ja die Angelegenheit zum Austrag kommen – war ich bis dahin freundlich oder auch nur scheinbar harmlos ihm gegenüber, wie falsch stand ich dann da, wenn ihm die Augen aufgingen! … Und noch etwas scheuchte mich aus seiner Nähe. Oft, wenn ich im Gespräch mit Anderen plötzlich aufsah, da überraschte ich seinen Blick, wie er in einer Art von schmerzlicher Versunkenheit an mir hing; ich wußte wohl, warum – er sah immer wieder die Lüge, die meine junge Stirn befleckte. Das jagte mir das Blut in das Gesicht und stachelte auf’s Neue den häßlichen Trotz des Unrechts in mir auf … Er nahm mein abweisendes Verhalten hin als etwas, das er nie anders erwartet habe. Mit keinem Wort betonte er die Vormundschaftsrechte, die ihm Ilse eingeräumt, obgleich ich wußte, daß er nach wie vor über meinem Thun und Treiben wachte und sich insgeheim sogar mit meinem selbstgewählten Lehrer in Verbindung gesetzt hatte – er hielt das Versprechen, das er Ilse gegeben, unverbrüchlich, so drückend und lästig es ihm auch mit der Zeit werden mochte. Mich überkam oft eine jähe Angst, wenn ich ihn mit seinem milden Ernst, in so unantastbarer Haltung unter seinen Gästen sitzen und das in der Luft schwebende Geheimniß über seinem Haupte drohen sah – wie würde er wohl hervorgehen aus all den Enthüllungen?

So waren drei Monate vergangen. Mit Stolz sah ich auf die festen, schlanken Züge meiner Handschrift, denen ich nun auch Seele einzuhauchen wußte. Stand ich doch bereits in Briefwechsel, und zwar in einem geheimen, mit meiner Tante Christine. Sie hatte mir für die Uebersendung des Geldes in fast überschwenglicher Weise gedankt und mir angezeigt, daß sie sich nach Dresden in ärztliche Behandlung begeben und die sichere Hoffnung habe, ihre Stimme wieder zu bekommen. Ihren Versicherungen nach war ich ihre Retterin, ihr Schutzengel und das einzige Wesen, das noch Mitleid mit einer armen, schwergeprüften Frau habe – sie sprach wiederholt den heißen Wunsch aus, mich nur einmal in ihre Arme schließen zu dürfen. Diese Correspondenz erschütterte mich dergestalt, daß ich eines Tages meinem Vater gegenüber schüchtern die unglückliche Tante erwähnte. Er fuhr empor und verbat sich das für alle Zeiten, wobei er entrüstet sagte, er begreife Ilse nicht, daß sie dieses dunkle Stück Familiengeschichte vor meinen Ohren habe laut werden lassen. … Ihre immer häufiger werdenden Briefe ängstigten mich darauf hin nicht wenig, allein ich konnte es doch nicht über das Herz bringen, sie zu ignoriren.

Aber auch noch andere Sorgen brachen in mein Leben herein. Ich, die ich bis vor wenigen Monaten nicht gewußt hatte, was Geld war, ich rechnete jetzt ängstlich mit jedem Groschen, denn – er fehlte häufig. Ich hatte freudig und nicht ohne Geschick unser kleines Hauswesen übernommen; ich richtete jeden Abend einen hübschen, kleinen Theetisch in der Bibliothek her, eine Annehmlichkeit, die mein Vater längst nicht mehr gekannt hatte; aber daß dies schließlich auch bezahlt werden müsse, begriff ich nicht eher, als bis mir das Stubenmädchen einen langen Zettel voll Auslagen vorlegte.

„Geld?“ schreckte mein Vater aus seinen Papieren auf, als ich ihm ahnungslos den Zettel brachte. „Mein Kind, ich begreife nicht – wofür denn?“ Er fuhr suchend in die Westentasche und in die Seitentaschen des Rockes. – „Ich habe keines, Lorchen!“ erklärte er achselzuckend mit einer hülflosen Angstgeberde. „Wie ist mir denn – habe ich nicht das Abonnement im Hotel erst vor Kurzem gezahlt?“

„Ja, Vater. Aber das sind Auslagen für Abendbrod“ – stotterte ich betroffen.

„Ach so!“ Er zerwühlte mit beiden Händen das Haar. „Ja, mein Kind, das ist mir etwas ganz Neues – ich habe das nie gebraucht … Da, da“ – sagte er und stieß nach einem aus grauem Papier hervorguckenden Stückchen Zucker, das auf seinem Schreibtisch lag – „das ist außerordentlich nahrhaft und sehr gesund.“ –

Ach wie erschrak ich, und wie gingen mir plötzlich die Augen weit auf!

Mein Vater hatte eine bedeutende Einnahme; aber er versagte sich das Nöthigste um seiner Sammlungen willen. Daher dieses zum Entsetzen abgemagerte Gesicht, das bereits unter meiner und Ilse’s kurzer Pflege ein auffallend gesünderes Aussehen bekommen hatte. Wenn ich auch wollte, um seiner selbst willen durfte ich auf diese seltsame Zuckerdiät nicht eingehen. Aber mir fehlte aller Muth, ihm gegenüber aufzutreten, nicht einmal zu bitten wagte ich, wenn ich nun sehen mußte, daß er Hunderte von Thalern für vergilbte Handschriften oder eine alte Majolikavase hingab und nicht einen Pfennig in der Tasche behielt. Sein sanftes, liebreiches Wesen, seine fast kindliche Glückseligkeit, mit der er mir die acquirirten Schätze zeigte, und mein eigener hoher Respect vor seinem Beruf und Wissen verschlossen mir den Mund.

Ich suchte den kleinen Geldbeutel hervor, den mir Ilse „für den Nothfall“ im Koffer zurückgelassen, und den ich bis dahin mißachtet hatte. Sein Inhalt reichte für einige Zeit, aber nun, mit dem letzten Groschen kam die quälende Sorge. Ilse durfte ich nicht mit einer derartigen Bitte kommen, und Herrn Claudius auch nicht; ich mußte ihm ja stets mittheilen, in welcher Weise ich das meinem Vermögen entnommene Geld verwenden wollte. Jetzt, wo ich anfing, Menschen und Verhältnisse klarer zu beurtheilen, jetzt erinnerte ich mich auch, daß er das Sammeln, sobald es zur Leidenschaft wurde, streng verwarf – ich verstand seinen Ausspruch, solch ein Sammler nehme die Mittel vom Altar, nunmehr vollkommen und durfte nicht erwarten, daß er auf mein Verlangen einging. Aber über das, was ich selbst verdiente, hatte er kein Recht; ich brauchte ihm nicht einmal zu sagen, zu welchem Zweck ich den Erlös vergeudete – wie ein Blitzstrahl kam mir der rettende Gedanke. …

Schon am zweiten Tage nach dem Unglück in Dorotheenthal hatte ich das junge Mädchen, dessen Mutter ertrunken war, am Fenster eines der Hinterzimmer sitzen sehen – das schöne, bleiche Gesicht tief vornüber gebückt, hatte sie so emsig gearbeitet, daß es mir unmöglich gewesen war, auch nur einen Blick von ihr zu erhaschen.

„Was thut sie denn?“ hatte ich Fräulein Fliedner gefragt.

„Sie hat um Beschäftigung gebeten, weil sie meint, nur auf diese Weise Herr ihrer Schmerzen zu werden. Sie schreibt die Blumennamen auf die Samendüten – ihr Vater war Lehrer in Dorotheenthal – sie schreibt sehr schön.“

Das fiel mir wieder ein, als Emma, das Stubenmädchen, mir eines Tages abermals ein Papier voller Zahlen vorlegte – ich hatte nicht über einen Pfennig mehr zu verfügen und bat sie stockend um einige Tage Frist. Sichtlich erstaunt und betroffen verließ sie das Zimmer, und ich ging Abends um die sechste Stunde mit klopfendem Herzen in das Vorderhaus. … Es war Theeabend bei Herrn Claudius – mein Vater war auch eingeladen, aber vorläufig verweilte er noch im Schloß, um die Prinzessin [811] Margarethe zu begrüßen, die heute nach fast dreimonatlicher Abwesenheit in die Residenz zurückkehrte.

In Fräulein Fliedner’s Zimmer legte ich Mantel und Capuze ab.

„Kindchen,“ sagte die alte Dame ein klein wenig verlegen und zog meinen Kopf an ihre Brust, „wenn es einmal in Ihrer Casse nicht stimmen sollte – nicht wahr, dann kommen Sie zu mir?“

Ich erschrak – Emma hatte geplaudert; aber nun wollte ich erst recht nicht meine Verlegenheit eingestehen – ich schämte mich im Namen meines Vaters. Was half es mir auch, wenn sie mir das Geld lieh? Es mußte doch zurückgezahlt werden. … Ich dankte ihr herzlich und ging ziemlich festen Schrittes nach dem Comptoir – zum ersten Mal seit Ilse fort war.

Schon draußen hörte ich Herrn Claudius auf- und abgehen. Als ich die Thür öffnete, wandte er sich nach dem Geräusch um und blieb mit auf den Rücken gelegten Händen stehen. Nur über seinem Schreibtisch brannte eine mit grünem Schirm versehene Lampe, alle anderen Tische waren dunkel – die Herren hatten bereits die Schreibstube verlassen.

Ein Schauer durchfuhr mich – der hohe, schlanke Mann da hatte eben noch auffallend hastigen Schrittes das einsame, halbdunkle Zimmer durchmessen – mehr als je mußte ich der Zeit denken, wo ihn ein leidenschaftlicher Schmerz ruhelos durch die Gärten gehetzt hatte. Mein Erscheinen im Comptoir schien ihn sehr zu befremden – wie unwillkürlich griff er nach dem Lampenschirm und hob ihn, so daß der volle Lichtschein auf meine schüchtern an der Thür verharrende kleine Person fiel. Mir war so peinlich zu Muthe, als sei ich plötzlich an den Pranger gestellt; aber ich nahm alle Energie zusammen, schritt auf ihn zu und legte unter einer ziemlich mißglückten, leichten Verbeugung ein Papier vor ihn auf den Schreibtisch.

„Wollen Sie die Güte haben und diese Handschrift prüfen?“ sagte ich mit niedergeschlagenen Augen.

Er nahm das Papier auf.

„Hübsche, charaktervolle Züge – sie stehen fest und trotzig, ich möchte sagen, geharnischt da und entbehren dennoch nicht der Grazie,“ sagte er – mit einem halben Lächeln wandte er mir das Gesicht zu. „Man sollte meinen, der Schreiber habe einen eisernen Handschuh angezogen, um eine zärtlich weiche, kleine Hand zu maskiren.“

„Also hübsch sind sie – ob aber auch brauchbar? – Ich wäre froh!“ sagte ich gepreßt.

„Ach so, es geht Sie näher an, als ich dachte – Sie haben das selbst geschrieben?“

„Ja.“

„Und was verstehen Sie unter brauchbar? – Genügt es Ihnen nicht, daß Sie plötzlich so hübsch und – man sieht es der Schrift an – so flink und fließend zu schreiben vermögen?“

„O nein, noch lange nicht!“ versetzte ich hastig. „Ich will so schreiben können, daß – daß man mir Arbeit anvertraut.“ – Jetzt war es heraus, und ich wurde muthig. „Ich weiß, Sie lassen auch durch Frauenhände die Blumennamen auf die Samendüten schreiben – wollen Sie es einmal mit mir versuchen? … Ich werde mir die größte Mühe geben und genau nach Vorschrift arbeiten.“ – Ich sah zu ihm auf, senkte aber auch den Blick sofort wieder – seine blauen Augen hingen so feurig und doch wieder in einer Art von Mitleid schmelzend an meinem Gesicht – sie waren so gluthvoll beredt, als gehörten sie gar nicht zu der übrigen ruhig würdevollen Erscheinung.

„Sie wollen für Geld arbeiten?“ fragte er dennoch sehr gelassen, fast geschäftsmäßig. „Ist Ihnen denn nicht eingefallen, daß Sie das nicht brauchen? Sie haben ja Vermögen. … Sagen Sie mir, wie viel Sie wünschen, und zu welchem Zweck.“ – Er legte die Hand auf die eiserne Kiste, die neben ihm stand.

„Nein, das will ich nicht!“ rief ich heftig. „Lassen Sie das Geld nur liegen für spätere Zeiten. Meine liebe Großmutter sagte, es genüge, um die Noth abzuwehren, und in Noth bin ich noch nicht – Gott bewahre!“

Er ließ seine Hand von dem Kasten niedersinken – ich weiß nicht, weshalb mir bei seinem eigenthümlichen Lächeln der Gedanke kam, er wisse auch bereits um Emma’s Plauderei. Das schlug mich sehr nieder, aber es bestärkte mich auch zugleich in meinem Entschluß.

„Sie haben offenbar eine falsche Vorstellung von der Arbeit, der Sie sich unterziehen wollen,“ versetzte er. „Ich weiß es, nach fünf Minuten werden die Wangen heiß werden, werden die Gedanken hinter der Stirn und die Füße unter dem Tisch gegen das verhaßte Schreiben rebelliren –“

„Das ist jetzt anders,“ unterbrach ich ihn kleinlaut und beschämt – er citirte meine eigenen kindischen Worte, mit denen ich ihm ehemals meinen Abscheu gegen das Schreiben geschildert hatte. „Schwer genug ist mir’s geworden, das ist wahr, ich leugne es gar nicht, aber ich habe mich überwunden.“

„Wirklich?“ – Das fatale Lächeln flog wieder um seine Lippen. „Sie haben also die Haidegewohnheiten vollständig abgeworfen? Sie verabscheuen das Baumklettern und begreifen nicht mehr, wie Sie einst durch den Fluß laufen konnten?“

„O nein, so gebildet bin ich noch lange nicht!“ fuhr es mir wider Willen heraus. „Ich kann mir überhaupt nicht denken, daß je eine Zeit käme, wo ich ohne Sehnsucht das Rauschen der Bäume und das lustige Wasserrieseln hören könnte – aber ich werde die Sehnsucht so beherrschen lernen, wie ich mit zusammengebissenen Zähnen diese Züge“ – ich zeigte auf das Papier – „gegen meine Neigung erzwungen habe.“

Er wandte sich ab und sah an dem grünen Fenstervorhang empor, als wolle er die Webefäden zählen. Dann nahm er eine kleine Papierhülse und hielt sie mir hin. In schöngeschwungenen kräftigen Linien stand darauf: „Rosa Damascena“.

„Denken Sie sich, Sie müßten diese Aufschrift vierhundert Mal wiederholen,“ sagte er nachdrücklich.

„Gut, Sie sollen sehen, daß ich’s kann! … Es ist ja ein Blumenname, und wenn ich das Wort ‚Rose‘ tausend Mal schreiben müßte, ich würde mir immer ihren köstlichen Duft dabei einbilden – ein Rosenkelch ist für mich ein Wunder, ich hab’ ihn immer für das Königsschlößchen der Käfer gehalten – das ist auch noch so eine von meinen ‚Haidegewohnheiten‘ – wollen Sie mir nun die Arbeit anvertrauen?“

Er schwieg, und jetzt fiel es mir schwer auf das Herz, daß er alle diese Schwierigkeit nur erhebe, um mir nicht direct sagen zu müssen, daß er mein Geschreibsel nicht brauchen könne. Tief gedemüthigt dachte ich an Luise, die Lehrerswaise – sie war ja noch im Hause, und ihre fleißigen, geschickten Hände wurden sehr gerühmt; sie machte die Sache jedenfalls ungleich besser, und es war vermessen von mir, mich ihr gleichzustellen. Ach, wie bitter bereute ich, in die Schreibstube gegangen zu sein! … Nicht ohne eine heftige Aufwallung des alten Trotzes nahm ich meine Probeschrift und steckte sie in die Tasche.

„Ich fühle, daß ich unbescheiden gewesen bin und eine zu hohe Meinung von meinen Leistungen gehabt habe,“ sagte ich mit fliegendem Athem. „Jetzt, wo ich diese schöne, graziöse Schrift sehe“ – ich deutete nach der Papierhülse – „jetzt bin ich beschämt.“

Hastig schritt ich nach der Thür, aber da stand er auch schon neben mir.

„Gehen Sie nicht so von mir,“ sagte er in seinen weichsten Tönen. „Ich handle thöricht! Sie geben mir den ersten Beweis eines schwach aufkeimenden Vertrauens, und ich widerspreche Ihnen. – Aber ich kann nicht zugeben, daß Sie sich einer Marter unterziehen, die Ihrer ganzen Natur zuwiderläuft – Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie das rein Mechanische ‚mit zusammengebissenen Zähnen‘ vollbringen. … Ich will ferner nicht, daß Ihre reine Hand, die bis jetzt das Geld mit seinem anklebenden Fluch kaum berührt, sich um den Groschen müht – das siebenzehnjährige Menschenwunder, das noch nie Geld gesehen, glauben Sie, es wäre damals so flüchtig an mir vorübergegangen, wie vielleicht eine neue Gegend, eine fremdartige Nationaltracht, oder dergleichen? … Ich habe Ihnen gleich zu Anfang erklärt, daß das überwuchernde wildtrotzige Element in Ihrer Natur gezügelt werden müsse – das Ungeberdige entstellt in meinen Augen das Weib, und mögen es Tausende als wilde Grazie preisen – aber Ihre Individualität darf dabei nicht angetastet werden.“

„Nun, das Zügeln übernehme ich ja, indem ich arbeiten, fest und angestrengt arbeiten will,“ versetzte ich hartnäckig. „Ich weiß es, Andere suchen die Heilung auch in der Arbeit – Sie selbst sind ja thätig von früh bis spät und verlangen von Ihrer Umgebung streng das Gleiche.“

Er lächelte.

[812] „Ich verlange von Jedem mit Recht die angestrengte Thätigkeit in seinem Beruf. … Aber meinen Sie denn, ich sei ein so eingefleischter Arbeiter, daß ich urtheilslos Alles in eine und dieselbe Form knete? … Einen, der mit grober Säge die überflüssigen Aeste vom Baume schneidet, lasse ich ruhig schalten und walten; allein ich kann sehr schelten, wenn er mir mit rohem Finger eine feine Blüthe berührt und den keuschen Sammet von den Blättern streift. … Ich möchte wohl das widerspenstige Zurückwerfen dieses kleinen Lockenkopfes gemildert sehen; aber nur durch die errungene geistige Ueberlegenheit, niemals unter dem lähmenden Joch der mechanischen Arbeit.“

Ich stand auf dem Punkt, die Aussicht auf den einzig möglichen Erwerb zu verlieren, weil ich es nicht über mich gewinnen konnte, den geschäftsmäßigen Ton wieder anzuschlagen, der ihn selbst treulos verlassen hatte. Alles, was er sagte, klang so verhalten und gedämpft, als fürchte er, jede lautere Hebung der Stimme könne eine innere Gluth zum Brand schüren, ihn zur Heftigkeit fortreißen. – War denn ein Wort gefallen, das die Erinnerung an die treulose Frau geweckt hatte? … Bewegt durch ein unerklärlich heftiges Weh- und Mitgefühl für den einst so schwer Gekränkten, griff ich zu dem einzigen Mittel, das mir blieb – zu der Bitte. Ich sprach und bat in warmen Tönen, vor denen ich selbst erschrak.

Ein Aufstrahlen flog wie Sonnenschein über sein Gesicht.

„Nun denn, Sie sollen haben, was Sie wünschen!“ sagte er wie nach kurzem Ueberlegen mit vibrirender Stimme. „Ich begreife jetzt, weshalb selbst die strenge, rauhe Frau Ilse so wenig mit dem ‚Haideprinzeßchen‘ auszurichten vermocht hat! … Nein, nein, so rasch sind wir nicht fertig!“ rief er, als ich nach einigen Dankesworten das Zimmer verlassen wollte. – „Es ist nicht mehr als billig, daß auch ich mir nun Etwas erbitten darf, nicht wahr? … Erschrecken Sie nicht, Sie sollen mir keine Hand geben“ – wie bitter und beschämend klang diese Beschwichtigung für mich! – „Ich will Sie nur bitten, eine Frage aufrichtig zu beantworten.“

Ich kehrte zurück und sah zu ihm auf.

„Habe ich mich nicht getäuscht – war es wirklich Ihre Stimme, die mich anrief, als ich in der Unglücksnacht von Dorotheenthal zurückkehrte?“

Ich fühlte, wie mir ein brennendes Roth über das Gesicht lief; aber ohne Zögern versetzte ich: „Ja, ich bin es gewesen – ich hatte Angst“ – ich verstummte, denn die Thür ging auf, und der alte Erdmann trat ein. … Mit dem Ausdrucke des tiefsten Verdrusses zeigte Herr Claudius auf ein Paket Briefe, die nach der Post getragen werden sollten. Der alte Mann hatte bereits ein Schreiben in der Hand, das er auf den Tisch legte, während er seine Umhängetasche mit den Geschäftsbriefen füllte.

„Von Fräulein Charlotte,“ sagte er, als er bemerkte, daß der Blick seines Herrn mit sichtlichem Befremden an dem kleinen Siegel des mitgebrachten Schreibens haftete.

„Der Brief wird erst morgen früh abgehen, Erdmann,“ sagte Herr Claudius kurz und nahm ihn an sich.

Währenddem hatte ich die Thür erreicht, und ehe er mich noch einmal anrufen konnte, stand ich mit heftig klopfenden Pulsen in der Hausflur. Ich athmete tief auf – der bärbeißige Alte war im glücklichen Moment eingetreten; um ein Haar hätte ich mich hinreißen lassen, Herrn Claudius zu bekennen, was ich an jenem Abend um ihn gelitten. … Was war das nur? Ich verlor allen Boden unter den Füßen; der alte Herr mit der blauen Brille – wie ein Phantom war diese anfängliche Vorstellung in alle Lüfte verflogen; und von Allem, was mir beim Eintritt in die neue Welt einen tiefen Eindruck gemacht, kam nichts mehr auf neben der imponirenden Erscheinung des „Krämers“.




27.

Ich huschte die Treppe hinauf nach den Gesellschaftsräumen. Drei aneinanderstoßende Zimmer – das Charlottens mit inbegriffen – waren stets behaglich erwärmt und beleuchtet. Die Thüren standen weit offen, und Herr Claudius liebte es, im Gespräch dann und wann langsamen Schrittes die Räume zu durchmessen. Der Kreis, der sich um den Theetisch versammelte, war ein sehr enger. Einige bejahrte Herren, sogenannte Respectpersonen, und Freunde aus alten Zeiten kamen ab und zu; mein Vater aber – sein „Gänseblümchen“ selbstverständlich auch – und der junge Helldorf waren stehende Gäste; auch Luise, die junge Waise und schweigsame Stickerin, fand sich ein. Dagegen hatte sich der Buchhalter ein für allemal dispensiren lassen mit der Entschuldigung, daß er alt werde und an kalten und nebligen Abenden den Weg durch die Gärten scheue; in Wirklichkeit aber hatte er unverhohlen ausgesprochen, die Physiognomie des Hauses Claudius sei eine so bedenkliche geworden, daß er wenigstens „seine Hände wasche“ und keinen Theil haben wolle an Dem, was der gegenwärtige Chef der Firma seinen Vorgängern gegenüber dereinst verantworten müsse.

Heute standen die Zimmer noch leer. Es war ein kalter Novemberabend; in den feinen Regen, der sich der Erde nahe in widrige Dunst- und Nebelwolken auflöste, mischten sich die ersten vereinzelten Schneeflocken, und rauhe Windstöße pfiffen durch die Gassen.

Bei meinem Eintreten in den Salon hantirte Fräulein Fliedner unter den klirrenden Tassen des Theetisches. Sie war erregt, die alte Dame, denn das Porcellan fuhr unter ihren Händen ein wenig confus durcheinander. … Charlotte beobachtete sie mit einem malitiösen Lächeln. Sie hatte sich in die Sophaecke geworfen, halb versunken in die metallisch glitzernden Wogen einer mit Bauschen und Volants überladenen grünen Seidenrobe. Ihre imposante Schönheit interessirte mich auf’s Neue – die prächtigen Formen dehnten sich so behaglich in den warmen, elastischen Polstern; dennoch fröstelte ich unwillkürlich unter der Einwirkung des Contrastes zwischen dem draußen vorüberfegenben rauhen Novemberwinde und den entblößten Schultern und Armen des üppigen Mädchens, die nur eine Fluth außerordentlich klarer Spitzen überrieselte.

„Ich bitte Sie um’s Himmelswillen, liebste Fliedner, seien Sie vorsichtig!“ rief sie mit affectirter Aengstlichkeit, ohne ihre nachlässig bequeme Stellung auch nur im Mindesten zu verändern. „Die selige Frau Claudius müßte sich ja in der Erde umdrehen, wenn sie wüßte, wie Sie mit ihren porcellanenen Erinnerungen an frohe Wiegenfeste, Familienjubiläen, und was alle diese kostbaren Inschriften sonst noch verherrlichen mögen – in diesem Augenblicke umgehen. … Die Sache ist nicht der Rede werth – zu was alteriren Sie sich denn? … Kann ich etwas dafür, daß mir diese Luise antipathisch ist? Und bin ich schuld, daß dieses Thränenweidengesicht stets aussieht, als wolle es Gott und alle Welt um Verzeihung bitten, daß es sich die Freiheit nimmt, überhaupt zu existiren? … Das Mädchen fühlt instinctmäßig, was ich ungezwungen ausspreche – sie gehört nicht in den Salon mit ihren Schulmeistermanieren. Es ist eine viel zu weit getriebene Humanitätsanwandlung des Onkels, ihr eine Stellung einzuräumen, zu der sie in keiner Weise berechtigt ist. … Du lieber Gott, ich bin auch kein Unmensch – aber was recht ist! – Guten Abend, Prinzeßchen!“

Sie reichte mir die Hand und zog mich neben sich auf das Sopha. „Da bleiben Sie hübsch sitzen, Kind, und fahren nicht immer wie ein Irrwisch durch die Zimmer!“ sagte sie gebieterisch. „Sonst setzt mir der Onkel abermals eine Nachbarin zur Seite, die mich mit ihrer ewigen Battiststickerei und dem groben Stahlfingerhut an ihrer Hand zur Verzweiflung bringt.“

„Einem dieser unerträglichen Uebel können Sie sehr leicht abhelfen,“ meinte Fräulein Fliedner gelassen. „Geben Sie Luise einen Ihrer silbernen Fingerhüte – Sie benutzen Sie ja doch nie –“

„Wenigstens sehr selten,“ lachte Charlotte auf und ließ ihre schlanken, weißen Finger vor den Augen spielen. „Ich weiß auch warum. … Sehen Sie, beste Fliedner, diese Nägel? … Sie sind nicht besonders klein, aber hübsch rosig und tadellos gebildet – auf jedem sitzt ein Adelsdiplom – glauben Sie nicht?“ Sie zog in geistreich ausdrucksvoller Weise die Oberlippe scharf zurück und zeigte impertinent lächelnd die ganze Reihe ihrer schönen Zähne.

„Nein, das glaube ich ganz entschieden nicht,“ versetzte Fräulein Fliedner erregt – das Roth des Aergers trat ihr in die Wangen „Die Natur giebt kein solches Diplom mit, das gegen die Arbeit feit, und auch jenes geschriebene Fürstenwort, dem eine wahnwitzige Vorstellung eine ähnliche Wandlungskraft wie die des Abendmahls verleiht, und in Folge deren ehrlich gesundes rothes Blut sich plötzlich in ein verkünsteltes blaues verändern soll – auch dieses Fürstenwort hat nicht die Macht, irgend [813] ein Individuum von der Arbeit zu entbinden, zu der das Menschengeschlecht berufen ist. Es wäre schlimm und ein Widerspruch in Gottes Schaffen und Walten selbst, wenn den Herrschern in Wahrheit das Recht verliehen wäre, die Faulenzer zu sanctioniren. … An Eines aber muß ich Sie bei dieser Gelegenheit erinnern, Charlotte – es ist bis jetzt nie über meine Lippen gekommen, aber Ihr Uebermuth kennt keine Grenzen mehr, er wird von Stunde zu Stunde unerträglicher, und so sage ich Ihnen denn: Vergessen Sie nicht, daß Sie ein Adoptivkind sind!“

„Ach ja, solch ein armes Geschöpf, das das Gnadenbrod ißt, nicht wahr, meine liebe gute Fliedner?“ rief Charlotte – ihre funkelnden Augen fixirten höhnisch das Gesicht der alten Dame. „Ja denken Sie sich nur, darüber mache ich mir auch nicht so viel Kummer“ – sie stippte Daumen und Zeigefinger gegen einander – „es schmeckt mir ganz vortrefflich, weil ich mich durchaus nicht losmachen kann von dem Gedanken, daß es mir von Gott und Rechtswegen gehört. … Uebrigens war es ein wahres Wort, als ich heute Dagobert schrieb, daß Sie die erste Geige am Theetisch spielen, seit Eckhof in Ungnade gefallen ist – Sie werden impertinent, meine Gute!“

Sie verstummte und sah über die alte Dame hinweg nach der offenen Thür, auf deren Schwelle Herr Claudius geräuschlos erschien. Nicht im Mindesten verlegen, erhob sie sich und begrüßte ihn. … Er trat, ihren Gruß kurz erwidernd, an den Tisch und hielt das Siegel des Briefes, den er im Schreibzimmer confiscirt hatte, nahe an das Lampenlicht.

„Wie kommst Du zu diesem Wappen, Charlotte?“ fragte er ruhig, wenn auch mit bedeutender Schärfe im Ton.

Sie erschrak – ich sah es an dem Zucken ihrer halbgeschlossenen Lider, unter denen hervor sie mit gutgespieltem Gleichmuth auf das Wappen hinblinzelte.

„Wie ich dazu komme, Onkel?“ wiederholte sie und zuckte [814] in fast scherzhafter Weise die Achseln. – „Es tut mir leid – darüber kann ich Dir keine Auskunft geben.“

„Was soll das heißen?“

„War ich nicht deutlich genug, Onkel Erich? – Nun denn, ich bin augenblicklich außer Stande, Dir zu sagen, wie dieses hübsche Petschaft in meine Hände kommt. … Ich habe auch so meine kleinen Geheimnisse, wie ja deren genug im alten Claudiushause herumliegen. … Gestohlen habe ich’s nicht; ebenso wenig gekauft; es ist mir auch nicht geschenkt worden.“ – Sie ging in ihrer Kühnheit so weit, vor diesem tiefernsten Gesicht das verhängnißvolle Räthsel wie einen Spielball in die Hand zu nehmen.

„Die geistreiche Lösung ist, daß Du es gefunden hast, wenn ich mir auch nicht denken kann, wo,“ sagte er augenscheinlich widrig berührt durch ihre kecke Art und Weise, mit ihm zu scherzen. „Es fällt mir nicht ein, weiter in Dich zu dringen – behalte Dein Geheimniß. Dagegen frage ich Dich ernstlich: Wie kommst Du dazu dieses Wappen zu führen?“

„Weil – nun, weil es mir gefällt!“

„Ach so – das ist ja ein wunderbarer Begriff von Mein und Dein! … Freilich, dieses Wappen ist herrenloses Gut, auch fehlt mir persönlich der Respect vor dem angedichteten Nimbus solch eines kleinen Schildes – ich könnte Dir schließlich die kindische Freude lassen, ferner Deine Briefe mit diesem gekrönten Adlerflügel zu siegeln, wenn – Du nicht Charlotte wärst – einem notorischen Spieler aber, den man heilen will, giebt man keine Karten in die Hände. … Ich verbiete Dir hiermit ein- für allemal, das gefundene Petschaft ferner in Gebrauch zu nehmen!“

„Onkel, ich frage Dich, ob Du in Wirklichkeit das Recht dazu hast!“ rief Charlotte in unaufhaltsam hervorbrechender Leidenschaft. Ich zitterte vor Angst und Aufregung – sie stand auf dem Punkte, mit einem einzigen Hiebe den Knoten zu durchhauen.

Herr Claudius trat um einen Schritt zurück und maß sie mit einem stolz erstaunten Blick.

„Du wagst, es anzuzweifeln?“ – Er zürnte, und doch blieb er vollkommen beherrscht in seiner äußern Haltung. „In der Stunde, wo Ihr – Du und Dein Bruder – an meiner Hand Madame Godin’s Haus verlassen habt, ist mir dieses Recht zugefallen. Ich habe Dir den Namen Claudius gegeben, und kein Gericht der Welt kann es mir verwehren, wenn ich darauf bestehe, daß Du ihn ohne alle Verballhornisirung trägst. … Sollte wirklich der Augenblick gekommen sein, wo ich bereuen müßte, dieses hochgehaltene Kleinod meiner Väter als Schild über Dein und Dagoberts Haupt gedeckt zu haben? … Mein Bruder hat es geschädigt, indem er dieses Unding“ – er zeigte auf das Siegel – „daran knüpfen ließ! mit meinem Willen soll es nie wieder aufleben!“ Ein spöttisch überlegenes Lächeln huschte durch Charlottens Züge, er sah es und runzelte finster die Brauen.

„Kindisch schwache und angekränkelte Seele in einem so kräftigen gesunden Körper!“ sagte er und ließ seinen Blick über die imposante Gestalt des jungen Mädchens hinstreichen. „Du klagst und schiltst über den unnahbaren Hochmuth des Adels, und stärkst ihn doch, wie tausend andere schwachsinnige Geister auch, durch die Gier, in seinen Kreisen zu verkehren, durch knechtische Unterwerfung, wenn man Dich nur duldet. … Ich gehöre nicht zu jenen fanatischen Gegnern des Adels, die ihn von seinem Piedestal stoßen wollen – mag er doch da bleiben – ich behaupte auch den Platz, auf dem ich stehe. … Die Bedeutung seiner Weltstellung ist ohnehin eine andere geworden – wenn ich mich ihm nicht unterthänig mache, dann bin ich’s auch nicht. Seine eingebildete Stärke wurzelt nur noch in Eurer Schwäche – wo keine Anbetung, da ist auch kein Götze.“

Charlotte warf sich wieder in die Sophaecke – ihre Wangen glühten; es kostete ihr offenbar einen schweren Kampf, die Zunge zu zähmen.

„Mein Gott, was kann ich für meine Natur?“ rief sie nicht ohne Hohn. „Sei es drum – ich kann mir eben nicht helfen, ich gehöre nun einmal zu jenen schwachsinnigen Geistern! Warum soll ich’s leugnen – hinge dieser reizende, gekrönte Adlerflügel mit meinem wirklichen Familiennamen zusammen, ich wäre stolz – stolz über die – Maßen!“

„Nun, es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. … Wehe denen, die mit Dir verkehren müßten, wenn Dir wirklich dieser sogenannte Vorzug der Geburt zufiele! Glücklicherweise berechtigt Dich weder Dein Adoptivname, noch der Deiner eigentlichen Familie –“

„Der meiner Familie? – Und wie lautet er, Onkel Erich?“ Sie erhob sich unwillkürlich und heftete fest und durchdringend ihre glühenden Augen auf sein Gesicht.

„Hättest Du ihn in der That vergessen, ihn, der Dir ‚tausendfach süßer und vornehmer klingt, als der grobe, deutsche, bärenhafte Name Claudius‘? … Er lautet – Mericourt“ … Er sprach den Namen augenscheinlich mit Ueberwindung aus.

Charlotte sank wieder in die Polster zurück und drückte das Taschentuch gegen ihre Lippen.

„Ist Ihr Thee fertig, liebe Fliedner?“ wandte sich Herr Claudius an die alte Dame, die gleich mir in athemloser Spannung dem gefährlichen Gespräch gefolgt war.

Während er sich einen Fauteuil an den Tisch schob, goß sie schleunigst Thee ein, ihre kleinen, feinen Hände waren ein wenig unsicher, als sie ihm die Tasse hinreichte, und ein besorgter Blick streifte scheu seine verfinsterte Stirn – die alte Frau sollte ja seine Mitschuldige sein, diese sanfte, liebreiche, gütige alte Frau, die Mitwisserin einer fortgesetzten schwarzen Schuld – nimmermehr! Herr Claudius hatte durch seinen letzten fest und sicher gegebenen Bescheid die Angelegenheit wieder in das tiefste Dunkel gezogen – ihm glaubte ich. Anders dachte Charlotte, ich sah es an ihrem Gesicht, ihre Ueberzeugung war eine unumstößliche. Wie eine Fürstin saß sie neben mir und ließ sich von Fräulein Fliedner bedienen, und der spöttisch feine Zug, der ihre Mundwinkel abwärts bog, galt dem Namen Mericourt. … Welch ein Widerspruch in dieser hochmüthigen Seele selbst! Einst hatte sie mit dem französischen Namen die Voraussetzung, daß das deutsche, plebejische Blut der Claudius in ihren Adern fließe, zornig und energisch abgewehrt, und nun verwarf sie ihn verächtlich wie ein abgelegtes Kleid, auf die Enthüllung hin, daß sie in Wahrheit eine Claudius, die leibliche Nichte des mißachteten Krämers sei … Ach, ich harmloses Kind der Haide, ich begriff ja nicht, daß ein Machtwort des Fürsten, ein paar Federstriche seiner Hand den alten Stamm des Krämerhauses bis in die Wurzel gespalten und den abgetrennten Ast bis zur Unkenntlichkeit veredelt hatten!

Luise trat ein und gleich nach ihr Helldorf. Ich schöpfte tief Athem, als wehe mich ein erfrischendes Element an – diese Beiden hatten ja keine Ahnung von dem vulcanischen Boden, auf welchem der niedliche Theetisch stand, sie unterbrachen in zwangloser Weise das dumpfe Schweigen, das seit Herrn Claudius’ letztem Worte herrschte, auch hatte ich in Helldorf’s Nähe stets das Gefühl des Beschütztseins, einer trauten, heimischen Beziehung – war ich doch auch allmählich das zärtlich gehegte und gehätschelte Kind im Hause seines Bruders geworden.

Er reichte mir mit verständnißvollem Lächeln und vorsichtigen Fingern eine weiße Papierdüte hin – ich wußte, was sie enthielt – eine kaum aufgebrochene Theerose, die Frau Helldorf lange für mich gepflegt, und von welcher sie mir am Morgen gesagt hatte, sie werde sie mir noch an den Theetisch schicken, falls sie im Laufe des Tages den Kelch öffnen sollte. Ich stieß einen Freudenruf aus, als ich das Papier auseinanderschlug – mattweiß, tief im halberschlossenen, strotzenden Kelch blaßgelb angehaucht, schwankte die starkduftende Blüthe schwer am Stengel. …

„O weh, nehmen Sie doch ein wenig Rücksicht auf mein Kleid, Luise! Sie reißen mir ja die Spitzen von den Volants!“ rief Charlotte in diesem Augenblick heftig und zog die rauschenden Falten ihrer Robe an sich. Sie war sehr zornig, aber ich konnte unmöglich glauben, daß es dem Kleide gelte – ein Riß in dem kostbarsten Anzug war ihr stets sehr gleichgültig. Ich hatte gesehen, wie sie das Dreieck, das ihr ein Dornbusch in ein prächtiges Spitzentuch gerissen, eigenhändig erweiterte, weil „es gar so lächerlich aussehe“, und Fräulein Fliedner’s kleinen Pinscher hatte sie lachend an den Ohren gezupft dafür, daß er „so reizend boshaft“ den Besatz eines neuen Kleides zerfetzt hatte.

Luise fuhr erschrocken, mit todesängstlichen Augen empor und stammelte eine Entschuldigung um die andere, obgleich sich der prophezeite Schaden nirgends entdecken ließ – man sah dem scheuen, gedrückten Geschöpf die Furcht an, die ihr die herrische junge Dame einflößte. … Die Scene war peinlich und hätte sicher noch eine unangenehme Wendung für Charlotte genommen, [815] wäre nicht Fräulein Fliedner ablenkend eingeschritten. Mit einem Blick auf Herrn Claudius’ finster gefaltete Brauen ergriff sie die Rose und steckte sie mir in die Locken.

„Sie sehen prächtig aus, kleine Orientalin!“ sagte sie, mich freundlich auf die Wange klopfend.

Charlotte lehnte sich in ihre Ecke zurück – tief, als schlafe sie, lagen die breiten dunklen Wimpern auf ihren heißglühenden Wangen – sie würdigte den Schmuck in meinem Haar nicht eines Blickes.

Trotz des häßlichen Wetters fanden sich noch einige Gäste aus der Stadt ein. Ein lebhafter Wortwechsel entspann sich sofort, und Charlotte erwachte aus ihrer scheinbaren Apathie – der Lockung, mit ihrer Conversationsgabe zu brilliren, konnte sie nicht widerstehen. Heute sprühte ihr Geist förmlich Funken; ich hatte sie noch nie so hinreißend beredt gesehen. Freilich klang ihr Spottgelächter oft grell und unharmonisch dazwischen, und das fast bacchantisch wilde Zurückwerfen und Emporschnellen der üppigen Gestalt, das ungezwungene Spiel der weißen vollen Schultern in dem die Büste nur lose umschließenden Kleid löschten den letzten Anhauch des Mädchenhaften von dem strahlenden Frauenbild – es war, als prickele es ihr elektrisch in jeder Fiber, als flösse nicht Blut, sondern Feuer durch ihre Adern. …

Mit einem Gemisch von Grauen und Bewunderung hing mein Blick wie festgebannt an ihr – da glitt langsam eine Hand vor meinen Augen nieder, als wolle sie mir den Blick verwehren – es war Herr Claudius, der neben mir saß. Zugleich forderte er Helldorf auf, ein Lied zu singen. Seine unverkennbare Absicht, durch den Gesang des jungen Mannes den witzsprudelnden rothen Mund dort für einen Moment wenigstens zum Schweigen zu bringen, mißglückte; Charlotte sprach, wenn auch mit etwas moderirter Stimme, weiter, als habe sie keine Ahnung davon, daß drüben am Flügel „der Wanderer“ von Schubert in tiefergreifender Gewalt gesungen werde.

„Wenn Du selbst keine Achtung vor der Musik hast, Charlotte, dann störe wenigstens den Genuß Anderer nicht,“ unterbrach sie Herr Claudius plötzlich streng und winkte Schweigen gebietend mit der Hand hinüber.

Sie fuhr zusammen und verstummte. Mit einer gleichgültig stolzen Bewegung ließ sie den Kopf auf die Sophalehne sinken, nahm eine der beiden dicken Locken auf, die ihr über den Busen herabhingen, und ließ sie in nervös aufgeregtem Spiel über die zuckenden Finger rollen. Sie hob nicht einmal die Lider, als der junge Mann wieder in das Zimmer trat und den begeisterten Dank der Anwesenden empfing.

Einer der Herren bat sie dennoch, ein Duett mit Helldorf zu singen.

„Nein, heute nicht – ich bin nicht aufgelegt,“ sagte sie in nachlässigem Ton, ohne ihre Stellung zu verändern, ja, ohne auch nur die Augen aufzuschlagen.

Ich sah, wie Helldorf’s schönes Gesicht bis in die Lippen bleich wurde. Er that mir unsäglich leid – ich konnte es nicht ertragen, daß ein Glied der mir so liebgewordenen Familie beleidigt wurde. Muthig erhob ich mich.

„Ich will das Duett mit Ihnen singen, wenn Sie es wünschen,“ sagte ich zu ihm – meine Stimme bebte freilich, denn mir selbst schien es, als thäte ich etwas Ungeheuerliches, etwas ganz Uebermenschliches.

Und er wußte das – er kannte meine Scheu vor fremden Zuhörern. … Mit einer lebhaften Bewegung zog er meine Hand an seine Lippen; dann traten wir an den Flügel.

Ich glaube, ich habe nie in meinem Leben so gut und ausdrucksvoll gesungen, wie an jenem Abend. Eine mächtige, wenn auch noch unbegriffene Erregung ließ mich die Angst überwinden, die meine ersten Töne umschleierte. … Schon während des Gesanges waren die Anwesenden geräuschlos, Eines nach dem Anderen, herübergekommen, und nach dem Schluß überschütteten sie uns mit Beifall; ich ganz besonders wurde von den alten Herren als Lerche, Flöte und Gott weiß was Alles bis zum Himmel erhoben.

Da kam auch Charlotte herübergerauscht. Sie stürmte auf mich zu und legte ihren Arm um meine Taille. Ich erschrak vor ihr – sie bog sich tief genug über mich, daß ich die funkelnden Thränen in ihren Augen sehen konnte, aber es waren Thränen des Zornes, die sie mit festzusammengepreßten Lippen und schwerathmender Brust gewaltsam niederzuschlucken suchte. Hätte ich damals nur entfernt begriffen, welcher Art die Leidenschaft war, die sie so furchtbar aufregte, wie leicht wäre es mir geworden, sie zu beschwichtigen, und wie gern hätte ich’s gethan! So aber überschlich mich ein unbeschreibliches Angstgefühl, und unwillkürlich strebte ich, mich aus der Umschlingung loszuwinden.

„Nun sehe Einer die kleine Haidelerche an!“ lachte sie auf. „Mit einem einzigen Griff könnte man dieses Vogelkörperchen zerdrücken,“ sie schnürte ihren Arm so fest um meinen Leib, daß mir der Athem stockte, „und das schmettert, daß die Wände zittern!“

Ehe ich mich dessen versah, hatte sie mich scheinbar kosend und hätschelnd aus dem Kreise der Umstehenden mehr in das Dunkel hineingezogen, – sie fuhr mit der Hand heftig über den Scheitel, und plötzlich flog die Rose aus meinen Locken weit in den anstoßenden Salon hinein.

„Kleine, reizende Coquette, Sie haben Ihre Rolle glanzvoll durchgeführt – wer hätte gedacht, daß solch ein gefährliches Element in dem Barfüßchen stecke!“ raunte sie mir mit mühsam beherrschter Stimme zu. „Wissen Sie auch, wie man es mit den Gefeierten macht?“ rief sie lauter. „Man hebt sie hoch über den gemeinen Menschentroß. … Sehen Sie, so, so – Sie federleichtes Ding, Sie allerliebstes Nichtschen!“

Ich schwebte plötzlich hoch droben in der Luft und hätte den Stuck des Plafonds mit den Händen berühren können, denn das obere Stockwerk des Vorderhauses war ziemlich niedrig. Auf den riesenstarken Mädchenarmen war ich allerdings eine gen Himmel gewehte Flaumfeder, ein schwaches Geschöpf mit wehrlosen Kinderhänden, ein Nichts; selbst über meine Stimme hatte ich keine Macht, Scham und Schrecken schnürten mir die Kehle zu – ich wähnte mich in der Gewalt einer Wahnwitzigen.

Lachend flog sie mit mir durch die Zimmer, während ich unwillkürlich die Augen schloß. … Da durchfuhr jäh ein schmetternder Schlag meinen Kopf – wir waren gegen den tiefniederhängenden schweren Bronzekronleuchter im letzten Salon gerannt. Ich stieß einen zitternden Schrei aus – die Anwesenden stürzten auf uns zu, während meine Trägerin mich erschrocken niedergleiten ließ. Wie durch einen Schleier sah ich nur noch, daß Herrn Claudius’ Arme mich auffingen – dann legte sich ein rätselhaftes Dunkel über mich.

Wie lange diese Betäubung angedauert, weiß ich nicht – aber es kam mir vor, als erwache ich allmählich und zwar ganz in der Weise, wie ich als Kind so oft auf Ilse’s Schoß aufgewacht war. Ich fühlte mich sanft umschlungen, und an meinem Ohr hin strich dann und wann ein geflüsterter Hauch, den ich nicht verstand, und der mir doch genau so klang, wie Ilse’s scheu kosende Schmeichelnamen, die ich eigentlich auch nicht hören sollte. Aber das Herz, an welches mein Kopf gedrückt wurde, war ein heftig klopfendes – das war anders als bei Ilse. … Erschrocken schlug ich die Augen auf und sah in ein völlig entfärbtes Gesicht, dessen Ausdruck voll leidenschaftlicher Angst ich nie vergessen werde.

Ich begriff plötzlich die Situation, in der ich mich befand, und bog erglühend den Kopf weg, der bei der heftigen Bewegung zu schmerzen anfing. Sofort zog sich der Arm von meinen Schultern zurück, und Herr Claudius, der neben mir auf dem Sopha gesessen hatte, sprang auf.

„Ach, mein liebes, süßes Kindchen – Gott sei Dank, da sind ja Ihre großen Augen wieder!“ rief Fräulein Fliedner, die eben ein Leinenstück in einer Porcellanschüssel ausrang, mit bebender Stimme hinüber.

Ich griff nach meinem Kopf, er war verbunden, und an der linken Schläfe nieder sickerte das kühle Wasser des Umschlags. Schneller, als ich selbst gedacht hätte, war ich Herr über meine Nerven und die wunderbare, ungekannte Empfindung, die mich für einen Augenblick so unbeschreiblich süß und beseligend durchschauert hatte. … Voll Angst dachte ich an Charlotte und das Strafgericht, das über sie ergehen würde – ich mußte so schnell wie möglich wieder heil und gesund auf meinen Füßen stehen.

„Was habe ich denn für Streiche gemacht?“ fragte ich, mich energisch aufrichtend.

„Sie sind ein klein wenig in Ohnmacht gefallen, Herzchen,“ sagte Fräulein Fliedner sichtlich erfreut über meine Munterkeit.

„Wie, ein so schwaches Geschöpf bin ich? … Wenn das [816] Ilse wüßte! Sie kann die nervenschwachen Frauenzimmer nicht ausstehen. … Aber wir wollen das Tuch wieder abnehmen, Fräulein Fliedner – es ist wirklich nicht nöthig“ – ich griff danach. „Ach meine Rose!“ rief ich unwillkürlich.

„Sie sollen sie wieder haben,“ sagte Herr Claudius niedergeschlagen – ich sah, wie ein Seufzer seine Brust hob. Er ging in das anstoßende Zimmer, wo die Blume noch auf dem Boden lag, und nahm sie auf.

„Ich muß sie in Ehren halten, Frau Helldorf hat sie so lange für mich gepflegt – wir haben zusammen jedes Blättchen beobachtet und wachsen sehen,“ sagte ich zu ihm aufblickend, als er mir sie hinreichte.

Diese wenigen Worte hatten eine seltsame Wirkung – mit ihnen verflog das traurig finstere Gepräge auf Herrn Claudius’ Stirn bis auf die letzte Spur, und dort rauschte die Gardine, und Charlotte, die sich offenbar in der ersten Bestürzung in das schützende Dunkel der Fensternische geflüchtet hatte, trat rasch hervor, Sie kam auf mich zugeflogen und warf sich auf die Kniee nieder.

„Prinzeßchen“ – flehte sie in weichen, halbgebrochenen Tönen und streckte mir, um Verzeihung bittend, die Rechte hin.

Herr Claudius trat zwischen uns. Ich zitterte – ich hatte ja noch nie diese großen, blauen Augen im unbezähmbaren Zorn auflodern sehen.

„Du berührst sie mit keiner Fingerspitze! Nie wieder! Ich werde sie künftig vor Dir zu schützen wissen!“ rief er heftig und stieß ihre Hand zurück. … Wie sie unerbittlich hart und grausam klingen konnte, diese ruhige, gelassene Stimme!

Fräulein Fliedner fuhr entsetzt herum und sah angstvoll in sein Gesicht – zum ersten Mal seit langen Jahren wieder durchbrach die Leidenschaft, die bis auf den letzten Funken erloschen schien, den Damm einer streng geübten, beispiellosen Selbstbeherrschung … Geräuschlos drückte die alte Dame die Thüre zu – in Charlottens Zimmer waren ja noch die Herren anwesend.

„Ich bereue – bereue bitter jenen Moment, wo ich Dich auf meinem Arm in eine reinere Atmosphäre zu retten meinte!“ fuhr er in gleicher Heftigkeit fort. „Ich habe Wasser mit Sieben geschöpft – Art läßt nicht von Art, und das wilde Blut in Deinen Adern –“

„Sage lieber ‚das stolze‘, Onkel!“ unterbrach sie ihn, sich vom Boden erhebend – sie war bleich wie der Tod; dieser herausfordernd in den Nacken geworfene Kopf schien förmlich versteinert in seiner hohnvollen Ruhe.

„Stolz?“ wiederholte er mit einem bitteren Lächeln. „Sage mir, wie Du diese schöne Zierde des Weibes zu zeigen gewohnt bist, und warum! Vielleicht in dieser Stunde, wo Du, baar aller Weiblichkeit und Würde, eine zügellose Bacchantin warst?“

Sie fuhr zurück, als habe er sie in das Gesicht geschlagen.

„Und was nennst Du sonst stolz?“ fuhr er unerbittlich fort. „Dein ungerechtfertigtes Haschen nach Rang und Stellung? Deine Art und Weise, wie Du Menschen, die Deiner Meinung nach tief unter Dir stehen, wegwerfend und herzlos behandelst? … Mit dieser Handlungsweise erbitterst Du mich oft aufs Tiefste, und ohne es zu wissen, rüttelst Du bedenklich an dem morschen Boden unter Deinen Füßen … Hüte Dich.“ –

„Vor was, Onkel Erich?“ unterbrach sie ihn kalt mit spöttisch gesenkten Mundwinkeln. „Haben wir, mein Bruder und ich, nicht bereits alle Stadien der Unterdrückung durchlaufen? Giebt es wirklich noch eine Saite auf unseren allerdings hochgespannten Seelen, die Du nicht mit harter Hand angegriffen und als verkehrt, als unvereinbar mit dem praktischen – sage hausbackenen – Leben verworfen hättest? Suchst Du nicht unsere Ideale zu zertreten, wo du kannst?“ –

„Ja, als giftiges Gewürm, als Hirngespinnste, die mit Moral und einem wirklich erhabenen Aufflug des Menschengeistes nichts gemein haben … Ihr in tiefster Seele Unadeligen! Ihr habt nicht einmal Raum für Dankbarkeit!“

„Ich würde Dir danken für das Brod, das ich gegessen habe – wenn ich nicht mehr von Dir zu fordern hätte!“ – brauste sie auf.

„Um Gotteswillen schweigen Sie, Charlotte!“ rief Fräulein Fliedner mit völlig entfärbtem Gesicht und erfaßte ihren Arm. Zornig schüttelte sie die alte Dame ab.

Herr Claudius maß, starr vor Ueberraschung, die dräuend gehobene Mädchengestalt von Kopf bis zu Fußen. „Und was forderst Du?“ fragte er mit der alten, vollkommenen Gelassenheit.

„Vor Allem Licht über meine Abkunft!“

„Du willst die Wahrheit wissen? –“

„Ja – sage sie – ich brauche sie nicht zu fürchten!“ stieß sie mit einer Art von Triumph heraus.

Er wandte ihr den Rücken und ging einmal im Zimmer auf und ab – es war so todtenstill, daß ich meinte, man müsse, das Klopfen der stürmisch aufgeregten Pulse hören.

„Nein, jetzt nicht – jetzt nicht, wo Du mich so tief gekränkt und beleidigt hast – es wäre unedle Rache!“ sagte er endlich vor ihr stehen bleibend. Er hob den Arm und zeigte nach der Thür. „Gehe – nie warst Du weniger fähig, die Wahrheit zu ertragen, als in diesem Augenblicke!“

„Ich wußte es!“ lachte sie auf und rauschte hinaus in den Corridor.

Fräulein Fliedner legte mir schweigend mit zitternden Händen einen frischen Umschlag auf den Kopf, dann ging sie hinüber, „um nur einmal nach den Herren zu sehen.“

Mir schlug das Herz – ich war allein mit Herrn Claudius. Er setzte sich neben mich auf einen Stuhl.

„Das war eine wilde Scene, nicht geeignet für diese erschrockenen Augen, die ich doch um Alles gern vor schlimmen Eindrücken behüten möchte!“ sagte er mit unsicherer Stimme. „Sie haben mich heftig gesehen – wie mir das leid ist! … Das schwache Vertrauen zu mir, das Sie mir heute gezeigt haben, ist nun wieder spurlos verflogen – ich kann mir das denken.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nicht?“ fragte er aufathmend und sein verschleierter Blick leuchtete. – „Eine Flamme züngelte mir nach dem Gehirn – ich kenne sie und habe sie stets unter meinen Fuß gezwungen, nur heute nicht, wo ich Ihren Aufschrei hörte und das Blut über Ihr blasses Gesichtchen rieseln sah.“ Er stand auf und durchmaß das Zimmer, als überwältige ihn der Eindruck nochmals.

Seine Augen schweiften über die Zimmerdecke und den altmodischen Kronleuchter.

„Das böse alte Haus!“ sagte er stehen bleibend. „Es webt ein schlimmer Zauber um diese Wände und Geräthschaften. … Ich kann jetzt begreifen, weshalb die Karolinenlust entstehen mußte – ich verstehe den alten Eberhard Claudius. … Meine schöne Urgroßmutter ist in diesen Mauern vergangen wie eine Blume – jenen schlichten, ruhigen Herzens gewählten Hausfrauen, deren genug hier geschaltet und gewaltet haben, sind sie eine stille, friedliche Heimath gewesen – einem abgöttisch geliebten Frauenleben aber ist das alte Haus stets gefährlich geworden.“

Mir ging die aufgeregte Stimme durch Mark und Bein. In diesen Tönen hatte er gewiß auch zu jener Treulosen gesprochen – wie war es möglich gewesen, daß sie ihn dennoch verlassen konnte? …

„Ihr unschuldiges Kindergemüth hat Sie instinctmäßig vor dem kalten, dunklen Vorderhaus zurückschaudern lassen,“ fuhr er fort, sich wieder zu mir setzend.

„Ja, das war im Anfang,“ unterbrach ich ihn lebhaft, „wo ich aus der Haide kam und jede unbekannte Mauer für einen Kerker hielt – das war sehr kindisch. … Auf dem Dierkhof ist’s ja auch nicht hell – da giebt’s alte blinde Scheiben genug, durch die die Sonne nur blinzelt, und in der Tenne ist’s kühl und dämmerig, mag auch draußen die ganze flimmernde Sonnengluth über der Haide liegen. … Nein, ich habe es jetzt lieb, das alte Vorderhaus, ich betrachte es mit ganz anderen Augen, und seit ich über Augsburg und die Fugger gelesen habe, ist mir’s immer, als müßten die Frauen mit dem Stirnschleier aus ihrem Rahmen steigen und mir in den Gängen und auf der breiten Steintreppe begegnen.“

„Ach, das ist die Poesie, mit der sich das Haideprinzeßchen auch die öde arme Heimath verklärt hat! … Sie würden mit ihr aushalten im alten Kaufmannshause und sich nicht hinüber in die Karolinenlust retten lassen?“

„Nein – es ist mir trauter und heimischer hier. … War denn Niemand im Vorderhaus, den die schöne Urgroßmutter lieb hatte?“ …

Was hatte ich denn gesagt, daß er zurückfuhr und mich wie versteinert ansah? …

[817] Da ging die Thür auf und Fräulein Fliedner trat mit dem herbeigeholten Hausarzt ein, gleich darauf kam auch mein Vater. Er war anfänglich sehr betroffen über meinen Unfall; aber nach Aussage des Arztes war nicht der mindeste Grund zur Besorgniß vorhanden. Eine meiner Locken fiel unter der Scheere, dann wurde ein kleiner Verband angelegt, nur durfte ich nicht mehr in die Nachtluft hinaus. Zum ersten Male schlief ich, bewacht von Fräulein Fliedner, im Vorderhause; und durch meine leichten Fieberträume ging eine kleine Gestalt; sie trug den Stirnschleier, wie die Hausfrauen der alten Claudius, und schritt durch die hallenden Gänge und die breite Steintreppe hinab; aber ihre Füße berührten die kalten Fliesen nicht, die ganzen Blumen des Gartens waren ja da hingeschüttet worden, und das kleine Wesen – ich wußte es unter einem unbeschreiblichen Glücksgefühl – war ich. …

Fortsetzung

  1. Bienenzüchter


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schreiben