Textdaten
>>>
Autor: E. Marlitt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Goldelse
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 1–4
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Erster Roman E. Marlitt’s
Fortsetzungsroman in 18 Folgen // Hefte 1–4, 6–19 // Text auch als E-Book (EPUB, MobiPocket) erhältlich
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[1]

Goldelse.
Von E. Marlitt.


1.

Den ganzen Tag über hatte es geschneit, und zwar so recht mit Muße und Gemächlichkeit, so daß die Dächer und Fenstersimse dicke, fleckenlos weiße Polster angelegt hatten. Nun brach ein früher Abend herein und mit ihm ein wilder Sturm, der heimtückisch in die niedertaumelnden Schneeflocken fuhr, wie ein Raubthier zwischen eine friedliche Taubenschaar.

Mag auch das Wetter derart sein, daß der gemüthliche Kleinstädter nicht einmal seinen Hund, geschweige denn seine eigenen edlen Gliedmaßen außerhalb der vier Wände wissen will, in der großen Hauptstadt B. merkt man Abends zwischen sechs und sieben Uhr keinen auffallenden Unterschied hinsichtlich der Straßen-Frequenz. Die Gasflammen ersetzen die Himmelslichter, die nicht kommen wollen; um die Ecken jagen die Equipagen in so wüthender Eile, daß die Fußgänger nur durch einen kühnen Sprung an die Häuser Leben und Glieder retten; dafür folgt ein Schwall kräftiger Flüche dem pelzverbrämten Kutscher und dem eleganten Wagen, hinter dessen festgeschlossenen Scheiben reizende Damen ihr blumengeschmücktes Köpfchen mühsam über die ungeheuren Wogen des umfangreichen Gazekleides heben und keine Ahnung davon haben, daß in diesem Augenblick Feuer und Schwefel auf ihre duftenden Locken herabgewünscht werden. Wohlfrisirte Wachsköpfe, inmitten schauderhafter schwarzer und blonder Scalps, still und aufmerksam arbeitende Uhrmacher, süßlächelnde Commisgesichter hinter bauschenden Stoffen und verführerischen Mantillen, und alte verkümmerte Bouquet- und Kranzwinderinnen zwischen hold blühenden, frischen Blumen stehen und bewegen sich in beneidenswerther Sicherheit und wohl durchwärmter Atmosphäre hinter den Schaufenstern, die ein blendendes Licht auf die schlüpfrigen Trottoirs und den vorbeifluthenden Menschenstrom werfen, wobei blaurothe Nasenspitzen, thränende Augen und verzweifelte Kopf- und Armbewegungen an allen alten und jungen Vorübereilenden sichtbar werden.

Doch halt – nicht an allen! Da tritt eben aus einem Seitengäßchen in eine der Hauptstraßen mit leichtem, elastischem Schritt eine weibliche Gestalt. Das enge, verwachsene Mäntelchen schließt sich fest an die schlanken Glieder, und der alte, zerzauste Muff wird dicht an die Brust gedrückt, wo er die Enden eines herabhängenden Schleiers festhält; unter diesem alten schwarzen Gewebe lachen zwei Mädchenaugen im Sonnenglanz frischer Jugend; sie blicken fröhlich in das Schneegetümmel, haften innig an den halbgeöffneten Centifolien und den dunklen Veilchen hinter den Glasscheiben und verbergen sich nur dann unter den langen Wimpern, wenn sich heimtückische Eissplitter unter die Schneeflocken mischen.

Wer einmal gehört hat, wie kindliche Hände, oder auch Hände, die zu einem völlig ausgewachsenen Körper und Kopf gehören, auf dem Clavier eine wohlbekannte Melodie zuversichtlich beginnen, gleich darauf mittels einer Dissonanz den musikalischen Faden zerreißen, mit falschem Fingersatz in alle möglichen Tonarten, nur nicht in die angegebene, greifen, wobei der Lehrer den hochgehobenen, tacttretenden Fuß verzweiflungsvoll sinken läßt, bis endlich die Melodie langathmend und lebensmüde wieder anhebt, um im nächsten Augenblick durch einige leichte Tacte wie über eine weite Ebene dahinzurasen – wessen Ohrennerven einmal auf dieser Folter gelegen haben, der wird begreifen, daß das junge Mädchen, welches soeben zwei Unterrichtsstunden in einem Institut beendet hat, dem Sturmwind freudig die heiße Wange bietet, als einem wackeren Gesellen von System und consequenter Durchführung, dessen mächtiges Brausen ja in Orgel und Aeolsharfe zur wundersamen Melodie wird.

So eilt das junge Mädchen flüchtig und schwebend durch Schneefall und andringenden Menschenstrom, und ich zweifle keinen Augenblick, sie würde auf den schwimmenden Quadersteinen des Trottoirs, umbraust vom Sturm, nicht anders als auf dem Parquet eines Salons auch, dem Leser unter holdseligem Lächeln die graziöseste Verbeugung machen, wenn ich sie ihm vorstellen wollte als Fräulein Elisabeth Ferber. Diese Vorstellung kann nun freilich nicht stattfinden, und das ist mir insofern ganz erwünscht, als ich beabsichtige, den Leser mit der Vergangenheit des jungen Mädchens bekannt zu machen.

Herr Wolf von Gnadewitz war der letzte Abkömmling eines ruhmreichen Geschlechts, das seinen Ursprung zurückleiten konnte bis in ein zweifelhaftes Dämmerlicht noch vor jenem goldenen Zeitalter, allwo der vorüberziehende Kaufmann in irgend einem Hohlweg seine kostbaren Stoffe und Waaren zu adeligen Bannerfähnlein und glänzenden Turnierwämsern wie zu junkerlichen Gelagen unfreiwilliger Weise ablieferte. Aus jenen unvergeßlichen Zeiten datirte auch ein Rad in dem Wappen der Gnadewitze, auf welchem einer der Ahnherren seinen Heldengeist verhauchen mußte, weil er in Ausübung jenes ritterlichen Aneignungssystems allzuviel Krämerblut vergossen hatte.

Herr von Gnadewitz, der letzte seines Stammes, war Kammerherr in Fürstlich X.’schen Diensten, zudem Inhaber hoher Orden und verschiedener Rittergüter, wie auch Besitzer aller Charakter-Eigenschaften, die, seiner Ansicht nach, einem Hochgeborenen zukommen, und die er „vornehm“ nannte, weil dem gemeinen Mann bei der derben Hausmannskost der Moral und dem strengen Muß der Verhältnisse und Sitten jedwedes Verständniß für jene unnachahmliche Grazie und Eleganz des Lasters abgehe. [2] Herr Wolf von Gnadewitz war auch prachtliebend, wie sein Großvater, der das alte Schloß Gnadeck auf dem Berge in Thüringen, die Wiege seines Geschlechts, verließ, um sich drunten im Thal einen wahren Feensitz im italienischen Geschmack aufzubauen. Sein Enkel ließ das alte Haus droben noch mehr verfallen und erweiterte und verschönerte das neue Schloß um ein Beträchtliches. Herr Wolf von Gnadewitz hatte zwar einen Sohn, der schon mit zwanzig Jahren ein so vollendeter Gnadewitz war, daß selbst das glänzende Bild des Ahnherrn mit dem Rade vor ihm erbleichen mußte. Aber der junge Herr hatte eines Tages, bei Gelegenheit der ersten, großen Jagd im Herbst, einem Treiber mit der Hetzpeitsche einen furchtbaren Schlag über den Kopf versetzt, und zwar mit vollstem Rechte, wie alle eingeladenen Theilnehmer an der Jagd einmüthig versicherten, denn der Tölpel hatte den Lieblingshund des Herrn dermaßen auf die Pfote getreten, daß das Thier für den ganzen Tag untauglich geworden war. Und so kam es, daß kurze Zeit darauf Hans von Gnadewitz nicht allein auf dem Stammbaum in der großen Halle des neuen Schlosses, sondern auch wirklich und leibhaftig an einem Eichbaum des Waldes, und zwar mit einem Strick um den Hals, gefunden wurde. Der geschlagene Treiber büßte zwar, wenn auch nicht auf dem Rade, so doch unter dem Beil, diese Frevelthat; allein das machte den letzten der Gnadewitze nicht wieder lebendig, denn er war todt, unwiderruflich todt, wie die Aerzte versicherten, und so hatte das lange Lied von Raubritterthum, Trinkgelagen, Hetzjagden und Pferderennen ausgeklungen.

Nach dieser schrecklichen Katastrophe verließ Herr Wolf von Gnadewitz sofort das Schloß im Thal, wie überhaupt diese Gegend und zog nach Schlesien auf eines seiner vielen Güter. Er nahm eine entfernte Verwandte, die Letzte einer Seitenlinie seines Geschlechts, in sein Haus, damit sie ihn pflegen solle. Es zeigte sich aber, daß diese Verwandte ein engelschönes, junges Mädchen war, bei dessen Anblick der alte Herr den eigentlichen Zweck ihres Kommens rein vergaß und schließlich meinte, sein sechszigjähriger Rücken sei noch gerade genug, um in den Hochzeitsfrack schlüpfen zu können. Zu seiner tiefsten Indignation jedoch mußte er erfahren, daß auch eine Zeit kommen könne, wo selbst ein Gnadewitz nicht mehr begehrenswerth erscheine, und wüthend wurde er, als das Mädchen ihm gestand, daß sie, ihre hohe Abkunft schnöde vergessend, ihr Herz einem jungen, bürgerlichen Officier, dem Sohn eines seiner Förster, geschenkt habe.

Der junge Mann besaß Nichts als seinen Degen und seine männlich schöne Gestalt, aber er hatte sich eine tüchtige, wissenschaftliche Bildung angeeignet, war liebenswürdig im Umgang und von ausgezeichnetem Charakter. Als Herr von Gnadewitz die schöne Marie infolge ihrer Erklärung verstieß, da führte sie der junge Ferber glückselig als Gattin heim, und hätte in den ersten zehn Jahren seiner Ehe mit keinem König tauschen mögen. Im elften würde ihn zwar ein solches Gelüst noch viel weniger angefochten haben; denn das war das Jahr 1848 – aber es brachte auch für ihn schwere Kämpfe und einen völligen Umschwung seiner Verhältnisse… Er kam in den kritischen Fall, zwischen zwei Pflichten wählen zu sollen. Die eine, die ihm sein Vater schon an der Wiege vorgesungen, hieß: „Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst, vor Allem aber Deine deutschen Brüder“, die andere dagegen, die er sich, wenn auch viel später, selbst auferlegt, gebot ihm, das Schwert für das Interesse seines Herrn zu führen. In diesem Conflict nun siegte jenes Wiegenlied, das kräftige Wurzeln um sein Herz geschlagen hatte, vollständig – Ferber schoß nicht auf seine Brüder, aber dieser Sieg kostete ihm seinen Beruf, seine gesicherte Lebensstellung. Er nahm seinen Abschied und sank bald darauf infolge einer Erkältung gelähmt auf’s Krankenlager, das er erst nach jahrelangem Siechthum wieder verließ. Hierauf siedelte er mit seiner Familie nach B. über, wo er bald eine einträgliche Stelle als Buchhalter in einem bedeutenden Handlungshause erhielt. Es war die höchste Zeit, denn das kleine Vermögen seiner Frau war bei dem Sturz eines Bankgeschäftes verloren gegangen, und nur die mehrmaligen Geldunterstützungen, die Ferber’s älterer und einziger Bruder, ein Förster in Thüringen, der bedrängten Familie zukommen ließ, hatten bis jetzt den Mangel in seiner schlimmsten Gestalt fern gehalten.

Leider sollte dies Glück nicht von Dauer sein. Ferber’s Chef gehörte zu den Frommen im Lande und suchte alle seine Umgebungen mit seinem Bekehrungseifer heim. Auch Ferber wurden diese Bemühungen zugewandt, stießen aber hier auf einen zwar mit ruhigem Ernste geäußerten und durch eine Fülle von Wissen motivirten, aber so entschiedenen Widerstand, daß sich das fromme Gemüth Herrn Hagen’s – so hieß der Kaufmann – darüber schier zu Tode entsetzte. Einem solchen Freigeist Schutz und Brod zu geben und somit geflissentlich den Untergang des Reiches Gottes zu befördern – der Gedanke ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe, bis er mittels eines Entlassungsbriefes sich von dieser Last befreite und das räudige Schaf aus seiner Lämmerheerde stieß.

Um jene Zeit ging auch Herr Wolf von Gnadewitz heim zu seinen Ahnen, und da er während seiner irdischen Laufbahn an dem Grundsatz seines Geschlechtes, keine Beleidigung ungerächt zu lassen, streng festgehalten hatte, so konnte dies Leben wohl keinen würdigeren Abschluß und Endpunkt finden, als in dem Testament, das er eigenhändig niederschrieb, ehe er hinunterstieg in das enge Kämmerlein von Zinn, in welchem seine Gebeine der Nachwelt aufbewahrt bleiben sollten. Dies Actenstück männlicher Consequenz, das einen entfernten Verwandten seiner verstorbenen Gemahlin zum Universalerben ernannte, schloß mit folgender Verfügung:

„In Anbetracht des unabweislichen Anspruches, den sie an meinen Nachlaß hat, vermache ich der Anna Maria von Gnadewitz, verehelichten Ferber, das Schloß Gnadeck auf dem Berge in Thüringen. Anna Maria Ferber wird nicht verkennen, daß ich sie wohlmeinend bedenke, indem ich ihr ein Obdach anweise, das sie mit zahllosen Erinnerungen an das edle Geschlecht, dem sie einst angehörte, umgeben wird. Wohl wissend, daß über jenen alten Hallen stets Glück und Segen geschwebt hat, und diese unleugbare Thatsache genau erwägend, halte ich es dennoch für völlig überflüssig, diesem meinem Geschenk noch Etwas beizufügen ..… Sollte jedoch Anna Maria Ferber, den Werth meiner Gabe nicht einsehend, dieselbe verkaufen oder auf irgend welche Art veräußern wollen, so erlischt sofort ihr Anspruch an das Erbe, und das Waisenhaus in L. tritt an ihre Stelle.“

Herr Wolf von Gnadewitz hatte sich sonach mit Hinterlassung einer beißenden Satire auf sein schwarzbehangenes Paradebett gelegt. Ferber und seine Frau hatten zwar nie das alte Schloß gesehen, allein es war weltbekannt als ein zusammensinkender Trümmerhaufen, den seit wenigstens fünfzig Jahren keine ausbessernde Hand berührt hatte und der bei der Einrichtung des neuen Schlosses im Thal sämmtlicher Hausgeräthe, Wandbekleidungen, ja sogar des Kupferdaches auf dem Hauptgebäude beraubt worden war. Seitdem lagen die schweren Riegel und Vorlegeschlösser eingestäubt und eingerostet vor dem mächtigen eichenen Hauptthor. Die ungeheuren Waldbäume, die sich dicht um den grauen Bau schaarten, woben ungestört ihre breiten Aeste in das üppige Gestrüpp zu ihren Füßen, und bald lag das verlassene Schloß hinter der grünen, undurchdringlichen Wand, wie eine eingesargte Mumie.

Der glückliche Universalerbe, dem der fremde Besitz inmitten seines Waldes sehr lästig war, hätte gern für eine ansehnliche Summe das alte Haus zurückgekauft, allein die vorsichtig ausgedachte Clausel am Schluß des Vermächtnisses schnitt jede Unterhandlung ohne Weiteres ab.

Frau Ferber legte die ihr zugesandte Abschrift des Testamentes, auf die einige schwere Thränen fielen, stillschweigend auf den Schreibtisch ihres Mannes und nahm dann mit doppeltem, beinahe fieberhaftem Eifer ihre Arbeit, eine Stickerei, wieder auf. Ferber hatte trotz aller Bemühungen keine Anstellung wieder erhalten und sah sich nun genöthigt, durch schlecht bezahlte Uebersetzungen, und wenn es an diesen mangelte, mittels Acten- und Notenschreiben sein und seiner Familie Leben zu fristen, wobei ihn seine Frau durch den Erlös für Handarbeiten nach Kräften unterstützte.

So trüb nun auch Ferber’s Lebenshimmel umzogen war, ein Stern tauchte allmählich auf unter den Wolkenmassen und schien die fehlenden äußeren Gnadenbezeigungen des wetterwendischen Glückes ersetzen zu wollen. Eine Ahnung von diesem milden Strahl, welcher dereinst in ein dunkles Leben, fallen sollte, überkam Ferber schon, als er zum ersten Mal an der Wiege seines erstgeborenen Töchterchens stand und in die prächtigen Augen sah, die aus dem feinen Kinderköpfchen ihn anlachten. Sämmtliche Freundinnen der Frau Ferber waren einstimmig der Ansicht, der kleine Ankömmling sei ein reizendes Wesen, ein eigenthümlich bevorzugtes Kind, ja, es sähe so ganz und gar nicht aus, wie das gewöhnliche Menschenkind, wenn es krebsroth zum ersten Mal die Welt anschreie, [3] es sei wirklich, als habe hier die geheimnißvolle Macht irgend einer gütigen Fee obgewaltet.

Sie hielten in corpore das kleine Weltwunder über die Taufe, stritten sich dabei, welche wohl die meiste Zärtlichkeit für das Pathchen hege, und schwuren, dieser Tag werde ihnen unvergeßlich bleiben – ohne Zweifel eine zu hohe und voreilige Anforderung an ihr Erinnerungsvermögen, denn als Ferbers in mißliche Verhältnisse geriethen, da wischte der Egoismus mit hartem Finger über die Denkschrift und siehe da, es blieb keine Spur zurück, daß sie je gewesen.

Diese alte Erfahrung, welche die kleine Elisabeth schon in ihrem neunten Lebensjahre machen mußte, beunruhigte sie übrigens sehr wenig. Die vermeintliche Fee hatte ihr zu den anderen reichen Gaben auch einen unzerstörbaren Frohsinn und sehr viel Willenskraft in die Wiege gelegt; deshalb nahm sie fortan das dürftige Vesperbrod ebenso dankbar und fröhlich aus der mütterlichen Hand, wie ehemals die unerschöpflichen Leckerbissen der zärtlichen Pathen, und als am Weihnachtsabend ein lichterarmer Baum nur einige Aepfel und vergoldete Nüsse bot, da schien ihr gar nicht einzufallen, daß sich früher stets eine ehrenwerthe, stattliche Gesellschaft aller möglichen guten und wünschenswerthen Dinge auf seinen Zweigen eingefunden hatte.

Ferber unterrichtete seine Tochter selbst. Nie hatte sie eine Schule oder ein Institut besucht, ein Mangel, den man leider heut zu Tage in vielen Fällen einen Vorzug nennen möchte, wenn man bedenkt, daß manche junge Mädchen bei weitem erfahrener die Schule verlassen, als der sorgsamen Mutter lieb sein dürfte, die daheim die Reinheit der jungen Seele streng gehütet und nicht ahnt, daß sie durch die täglich sich mehrenden räudigen Schafe im Schulzimmer Eindrücke empfängt, deren nachtheilige Folgen sich in allen Phasen des späteren Lebens geltend machen.

Elisabeth’s bildsamer Geist entfaltete sich herrlich unter der Leitung der selbst so reich begabten Eltern. Sie trieb die ihr auferlegten Studien mit tiefem Ernst und dem rastlosen Drang, Alles, was sie in sich aufnahm, gründlich zu wissen, damit es ein unveräußerliches, lückenloses Eigenthum ihrer Seele bleibe; das war ihr strenge Gewissenssache und gehörte in das Reich der Pflichten. Der Musik aber gab sie sich mit einer Inbrunst hin, mit welcher der menschliche Geist das umfaßt, was er als seine specielle Sendung auf der Welt erkennt. Bald hatte sie ihre Mutter, die ihre Lehrerin war, weit überflügelt, und wie sie als kleines Kind ihr Spielwinkelchen verließ, wenn sie Wolken auf des Vaters Stirn bemerkte, sich auf seinen Schooß setzte und ihm selbsterfundene goldglänzende Märchen erzählte, so beschwichtigte sie später mit wundervollen Melodieen, die wie klare Perlen in ihrer Seele aufstiegen und die vorher noch nie ein menschliches Ohr berührt hatten, den Dämon finsteren Grames, der oft Ferber’s Gemüth umnachtete. Aber nicht allein dieser Segen erwuchs aus dem seltenen Talent des jungen Mädchens. Das ausgezeichnete Clavierspiel in der Mansarde hatte die Aufmerksamkeit einiger Hausbewohner erregt. Elisabeth bekam auf diese Weise nach und nach mehrere Schülerinnen und später den Clavierunterricht in einem Institut übertragen, wodurch es ihr möglich wurde, die Nahrungssorgen der Eltern bedeutend zu mildern.

Hier nehmen wir den Gang der Erzählung wieder auf und wollen uns die Mühe nicht verdrießen lassen, dem jungen Mädchen zu folgen, das an dem stürmischen Winterabend der elterlichen Wohnung zueilte.


2.

Während des endlosen Weges durch krumme und gerade, dunkle und helle Straßen genoß Elisabeth schon im Geiste das Behagen, das sie beim Eintritt in das heimische Stübchen stets überkam. Da saß, von der kleinen Schirmlampe mild beleuchtet, der Vater am Schreibtisch, lächelnd das blasse Gesicht erhebend, wenn er Elisabeth’s Schritt hörte. Er nahm die Feder, die den ganzen Nachmittag unermüdlich über das Papier geflogen war, in die linke Hand und zog mit der rechten seine heimkehrende Tochter zu sich nieder, um einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken. Die Mutter, die, den Nähkorb zu ihren Füßen, gewöhnlich neben ihm saß, um den schwachen Lampenschimmer möglichst nahe zu haben, begrüßte sie mit einem zärtlichen Lächeln und zeigte auf Elisabeth’s Hausschuhe, welche sie vorsorglich in das warme Zimmer getragen hatte. Auf der heißen Ofenplatte zischten einige Aepfel und drüben in der dunklen, behaglichen Ecke neben dem Ofen summte die kleine Theemaschine auf dem Sophatisch, welche nebenbei mit ihrer schwachen, blauen Flamme eine ganze Compagnie Bleisoldaten zu beleuchten hatte, die der sechsjährige Ernst, Elisabeth’s einziges Brüderlein exerciren ließ.

Vier Stockwerke mußte Elisabeth ersteigen, ehe sie den schmalen, dunklen Corridor erreichte, der zu der elterlichen Wohnung führte. Hier nahm sie eiligst den Hut ab, zog eine neue, mit Pelz verbrämte Knabenmütze unter dem Mantel hervor und drückte sie auf ihr blondes Haar. So trat sie in das Zimmer, wo der kleine Ernst alsbald mit einem Freudenschrei auf sie zulief.

Heute aber war die dunkle Ecke am Ofen hell beleuchtet und der Schreibtisch stand verlassen im Dunkel, der Vater saß auf dem Sopha und hielt die Mutter umschlungen; auf den Gesichtern Beider aber lag ein eigenthümlicher Glanz, und wenn auch die Mutter verweint aussah, so erkannte Elisabeth doch auf den ersten Blick, daß die Thränen aus Freude geflossen waren. Erstaunt blieb sie an der Thür stehen und mochte mit diesem Gesichtsausdruck unter der schief aufgedrückten Mütze wohl sehr komisch aussehen, denn beide Eltern lachten laut. Elisabeth stimmte fröhlich ein in das Gelächter und setzte die Pelzkappe auf den dunklen Lockenkopf des kleinen Bruders.

„Da, Herzensjunge,“ sagte sie, indem sie zärtlich sein blühendes Gesichtchen zwischen ihre beiden Hände nahm und küßte, „die gehört Dir. Und auch dem Mütterchen bringe ich Etwas mit in die Wirthschaft,“ fuhr sie glückselig lächelnd fort und legte der Mutter vier blanke Thaler in die Hand, „ich habe heute meine ersten fünf Thaler Honorar im Institut erhalten.“

„Aber Elsbeth,“ sagte die Mutter mit feuchtem Auge, indem sie das Töchterlein zu sich niederzog, „Ernst’s vorjährige Wintermütze sieht noch ganz anständig aus, und Du hättest viel nöthiger ein Paar warme Handschuhe gebraucht.“

„Ich, Mutter? Fühle doch meine Hände an, ich komme eben von der Straße und sie sind so warm, als hätten sie im Ofen gesteckt … nein, das wäre geradezu Luxus. Unser Junge ist größer und stärker geworden, die Mütze aber nicht, drum war diese Ausgabe im Augenblick die nöthigste.“

„Ach, Du liebe, gute Elsbeth!“ rief entzückt der Kleine, „eine so schöne Mütze hat ja nicht einmal der kleine Baronsjunge unten im ersten Stock! … Die wird aufgesetzt, wenn ich auf die Jagd gehe, gelt, Papa?“

„Auf die Jagd?“ lachte Elisabeth, „Du willst wohl auf die unglücklichen Spatzen im Thiergarten schießen?“

„Falsch gerathen, Jungfer Else!“ jubelte der Kleine. „Ja, im Thiergarten,“ fügte er ernsthaft hinzu, „da würde ich schön ankommen … nein, im Wald, im wirklichen Wald, wo es von Hirschen und Hasen wimmelt, so daß man gar nicht erst zu zielen braucht, wenn man einen schießen will.“

„Nun, ich bin sehr neugierig, was der Onkel zu dieser Ansicht vom edlen Waidwerk meint,“ sagte lächelnd der Vater, dann nahm er einen Brief vom Tisch und gab ihn dem jungen Mädchen.

„Lies dies Schreiben, mein Kind,“ sagte er, „es ist vom Försteronkel, wie Du ihn nennst, aus Thüringen.“

Elisabeth überflog die ersten Zeilen, dann aber las sie laut:

… „Der Fürst, dem ein Teller Sauerkraut mit Rauchfleisch bei mir besser zu schmecken scheint, als die Pasteten seines französischen Kochs im Schlosse zu L., blieb vorgestern mehrere Stunden bei mir im Forsthause. Er war sehr leutselig und sagte mir, er wolle mir noch eine Art Forstschreiber beigeben, denn er sähe ein, daß zu viel auf meinen Schultern läge. Da nahm ich die Gelegenheit beim Schopfe, das Wild stand schußrecht und wenn es entwischte, so riskirte ich höchstens ein paar Rehposten in’s Blaue hinein, was ich mir freilich sonst nicht passiren lasse.

Ich erzählte ihm also, daß Dich das Schicksal seit einer Reihe von Jahren verteufelt auf’s Korn genommen habe und Dich zwänge, bei Deinen schönen Kenntnissen und Talenten am Hungertuche zu nagen.“ Der alte Herr wußte gleich, wo ich hinaus wollte, denn ich sprach gut Deutsch wie immer, und bis jetzt hat mich auch noch Keiner falsch verstanden, – es müßten denn die vornehmen Bisambüchsen und Katzenbuckel sein, die um den Herrn scharwenzeln und ihm am liebsten weismachen möchten, das ehrliche Deutsch sei zu grob für fürstliche Ohren und man könne nur auf französische Art mit ihm reden … Nun, der alte Herr meinte also, er sei geneigt, Dich als Forstschreiber anzustellen, weil er mich – nun, [4] hier hat er mir einige Dinge gesagt, die Du nicht zu wissen brauchst, über die ich alter Kerl mich aber ebenso gefreut habe, wie dazumal, als unser alter Schulmeister nach dem Examen zu mir sagte: ‚Karl, Du hast Deine Sache wacker gemacht.‘ .… Nun hat mir der Durchlauchtigste aufgetragen, Dir darüber zu schreiben, und er will auch die nöthigen Befehle geben – dreihundert und fünfzig Thaler Gehalt, Holzbedarf frei. Ueberlege Dir’s, das Ding ist so übel nicht, und der grüne Wald ist mir doch tausend Mal lieber, als Eure vermaledeiten Dachkammern, wo Nachbars Katzen miauen und wo der Rauch aus Millionen Kaminschlünden Euch in die Augen beißt.

Daß Du mir nun aber nicht etwa denkst, ich sei auch so einer von den Fuchsschwänzen, welche die Gnade ihres Herrn benützen, um ihre Angehörigen in’s Aemtchen zu bringen. Siehst Du, wenn Du nicht wärst, was Du bist, d. h. wenn Du Deine Sache nicht gelernt hättest, da bisse ich mir eher die Zunge ab, als daß ich meinen Herrn mit Dir betrügen möchte; hinwiederum würde ich jeden wildfremden Menschen mit Deinen Kenntnissen und Gesinnungen ebenso warm empfehlen, wie Dich … Nichts für ungut, aber Du weißt es ja, daß ich niemalen ein Freund von unklaren Begriffen gewesen bin.

Da kömmt nun aber noch ein Casus, der besprochen sein will. Eigentlich müßtest Du bei mir wohnen, und das ginge auch, wenn Du ein Junggeselle wärst, der nur vier Wände für sein Ich und einen Kommodenkasten für seine Vatermörder und dergleichen Zeugs brauchte. Für eine ganze Familie habe ich jedoch schlechterdings keinen Platz in meinem einsamen, alten Rattennest von Forsthaus, das längst eine eingreifende Cur nöthig hätte; aber die gestrengen Herrn von droben denken nicht eher dran, als bis die einbrechenden Balken den Streusand über die einhundertundfünfzigste Eingabe schütten. Das nächste Dorf ist über eine halbe, die nächste Stadt eine ganze Stunde entfernt vom Forsthaus – läßt sich durchaus nicht einrichten; denn Du kannst bei dem Hundewetter, wie wir’s zum Oefteren hier erleben, nicht so weit laufen.

Da hatte aber die alte Sabine, meine Haushälterin, die hier im nächsten Dorfe geboren ist, einen pudelnärrischen Einfall. Das alte Schloß Gnadeck – der brillante Nachlaß des hochseligen Herrn von Gnadewitz – liegt, wie ich Dir schon schrieb, ohngefähr einen Büchsenschuß weit vom Forsthaus. Nun meinte Sabine, als sie noch eine rüstige Dirne gewesen sei – das ist, nebenbei gesagt, weit über ein Vierteljahrhundert her – da habe sie als Stubenmädel bei den Gnadewitzens gedient. Damals sei das neue Schloß noch nicht vollständig eingerichtet gewesen und habe nicht ausgereicht für die vielen Gäste, die jedes Jahr die großen Jagden mitgemacht hätten. Da sei nun der sogenannte Zwischenbau auf Schloß Gnadeck – wahrscheinlich ein Verbindungsgebäude zwischen zwei Hauptflügeln des Schlosses – ein wenig aufgefrischt und hergerichtet worden. Sie selbst hat droben die Betten machen und lüften müssen, wobei sie sich immer sehr gefürchtet haben will. Na, ich glaub’s gerne; es steckt ja ohnehin unter der alten Bandmütze ein ganzer Wust von Teufelsspuk und Hexengeschichten, sonst ist sie aber eine ganz respectable Person, die meinen Haushalt am Schnürchen hat.

Sie behauptet nun steif und fest, der Bau könne noch nicht so arg zerfallen sein; denn er habe damals sehr fest ausgesehen und gäbe doch vielleicht für Dich und die Deinen noch eine ganz hübsche Wohnung. Möglich wär’s schon; aber ob Deine Kinder sich nicht vor dem Hans Ruprecht und dergleichen fürchten, wenn sie in dem alten Mauerwerk hausen sollen?

Du weißt, daß ich mich schwer geärgert habe über das nichtsnutzige Vermächtniß des ‚hochseligen Herrn von Gnadewitz‘ und es deshalb nicht über mich gewinnen konnte, das alte Nest, seit meiner Versetzung hierher, auch nur ein einziges Mal anzusehen. Auf Sabine’s Aussage hin hat mir jedoch einer meiner Burschen gestern Nachmittag auf einen Baum klettern müssen an der einzigen Stelle, wo man in das Kukuksnest sehen kann; er sagt aber, es läge da drin Alles durcheinander wie Kraut und Rüben. Da war ich nun heute Morgen drin in der Stadt bei den Herren vom Gericht: aber sie gaben mir die Schlüssel nicht heraus ohne eine Vollmacht Deiner Frau und thaten überhaupt so ängstlich, als lägen die Schätze von Golkonda in den alten Rumpelkammern. Keiner von denen, die damals versiegelt haben, konnte mir sagen, wie’s drin aussieht; denn sie waren wohlweislich draußen geblieben in der Meinung, es möchten einige Zimmerdecken die Freundlichkeit haben, auf ihre weisen Köpfe zu fallen, und haben sich begnügt, das Hauptthor mit einem Dutzend handgroßer Amtssiegel zu beklecksen. Wäre mir nun am allerliebsten, wenn wir die Dinge in Gemeinschaft besehen und überlegen könnten; deshalb entscheide Dich möglichst rasch und mache Dich dann mit den Deinen auf den Weg –“

Hier ließ Elisabeth das Blatt sinken und richtete die leuchtenden Augen in athemloser Spannung auf Ferber.

„Nun, und was hast Du beschlossen, lieber Vater?“ fragte sie hastig.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 2, S. 17–20
Fortsetzungsroman – Teil 2


[17] „Je nun,“ erwiderte der Vater mit ernstem Gesicht, „es wird mir einigermaßen schwer, Elisabeth, Dir meinen Entschluß mitzutheilen, denn ich sehe deutlich an Deinem Gesicht, daß Du das schöne, volksbelebte B. nicht um Alles in der Welt mit der Waldeinsamkeit vertauschen möchtest. Indeß, erfahren mußt Du trotzdem, daß dort auf dem Schreibtisch meine Bitte um die Stelle an den Fürsten von L. bereits couvertirt und gesiegelt liegt. … Es ist aber nicht mehr als billig, daß wir auch Deine Wünsche dabei in Erwägung ziehen, und deshalb sind wir durchaus nicht abgeneigt, Dich hier zu lassen, falls –“

„Ach nein, wenn Elsbeth nicht mitgeht, dann will ich lieber auch hier bleiben!“ unterbrach ihn der kleine Ernst, indem er sich angstvoll an die Schwester schmiegte.

„Sei Du nur ruhig, mein Herzchen,“ sagte Elisabeth lachend, „ich finde schon meinen Platz auf dem Wagen, und wenn nicht, nun, so weißt Du, ich bin muthig wie ein Soldat und kann laufen wie ein Hase. Als Compaß habe ich die Sehnsucht nach dem grünen Wald bei mir, die schon, als ich noch ein ganz, ganz kleines Kind war, einen großen Winkel in meiner Seele eingenommen hat. So geht es tapfer und bescheidentlich vorwärts auf meinen zwei eigenen Füßen, und was will dann Papa machen, wenn eines Abends ein armer, müder Wanderer mit zerrissenen Schuhen und leerer Tasche vor dem alten Schloßthor erscheint und Einlaß begehrt?“

„Freilich müßten wir aufmachen,“ rief lächelnd der Vater, „wenn wir nicht die Rache aller guten Geister, die ein muthiges Herz beschützen, auf unser morsches Dach herabbeschwören wollten! … Uebrigens wirst Du wohl an dem alten Schloß vorüberziehen und an irgend eine einsame Bauernhütte im Walde anklopfen müssen, wenn Du uns finden willst; denn in dem Trümmerhaufen wird sich schwerlich ein Asyl für uns einrichten lassen.“

„Das fürchte ich auch,“ meinte die Mutter. „Wir arbeiten uns mühsam durch Hecken und Gestrüpp, wie ehemals Dornröschens unglückliche Befreier, und finden endlich –“

„Die Poesie!“ rief Elisabeth. „Ach, dann wäre ja schon der erste Duft von unserem Waldleben abgestreift, wenn wir nicht im alten Schloß wohnen könnten! Vier feste Mauern und eine gut erhaltene Zimmerdecke werden doch wahrhaftig noch in einem Thurm oder dergleichen zu finden sein, und das Uebrige läßt sich mit Nachdenken und willigen, rüstigen Händen leicht beschaffen … Wir stopfen Moos in etwaige Mauerritzen, nageln Breter über unbequeme Thürbogen, die keinen Flügel mehr haben, und tapezieren unsere vier Wände selbst. Auf den zerbröckelten Estrichfußboden legen wir eigenhändig geflochtene Strohmatten, erklären den kleinen vierfüßigen Leckermäulern im grauen Sammetröckchen, die unseren Speiseschrank attakiren, ernstlich den Krieg und gehen mit dem Kehrbesen tapfer auf die großen Spinnen los, die, über unseren Köpfen hängend, in aller Ruhe überlegen, ob sie sich nicht häuslich darauf niederlassen sollen.“

Mit verklärten Augen, ganz versunken in ihre Träumereien von dem demnächstigen Leben im frischen, grünen Walde, trat sie dann an’s Clavier und schlug den Deckel zurück. Es war ein altes, ausgespieltes Instrument, dessen schwache, heisere Töne vollkommen harmonirten mit dem herabgekommenen Aeußeren; allein das Mendelssohn’sche Lied: „Durch den Wald, den dunkeln, geht etc.“ klang trotzdem hinreißend unter Elisabeth’s Fingern.

Die Eltern saßen lauschend auf dem Sopha. Der kleine Ernst war eingeschlafen. Draußen hatte das Toben des Sturmes aufgehört; aber an den unverhüllten Fenstern vorüber sank in wirbelnden Flocken massenhaft und lautlos der Schnee. Die gegenüberliegenden Schornsteine, die nicht mehr dampften, setzten langsam eine dicke, weiße Nachtmütze auf und blickten steif und kalt, wie das verdrießliche Alter, hinüber in die kleine Mansardenstube, die mitten im Schneegestöber hellen Frühlingsjubel in sich schloß, – denn alle ihre Insassen blickten voller Hoffnung der ihnen winkenden Zukunft entgegen.


3.

Pfingsten! Ein Wort, das seinen Zauber auf das menschliche Gemüth üben wird, so lange noch ein Baum blüht, eine Lerche schmetternd in die Lüfte steigt und ein klarer Frühlingshimmel über uns lacht. Ein Wort, dessen Klang selbst unter der härtesten Eiskruste des Egoismus, unter dem Schnee des Alters und in dem Herzen, das in Leid und Kummer erstarrt ist, noch ein Echo von Lenzeslust erwecken kann.

Pfingsten ist vor der Thür. Ein weiches Lüftchen flattert über die Thüringer Berge und streift von ihrem Scheitel die letzten Schneereste. Sie wirbeln dampfend empor und verlassen als leuchtende Frühlingswölkchen die alte Lagerstätte, die es sich angelegen sein läßt, ihre gefurchte Stirne mit einem Geflecht von jungen Brombeerranken und röthlich blühendem Heidelbeerkraut zu schmücken. Drunten braust jauchzend der kühle Forellenbach aus dem Waldesdunkel quer über die buntgesprenkelten Thalwiesen. Die einsame Schneidemühle klappert wieder lustig, und auf ihr niedriges, graues, geflicktes Schindeldach streuen die Obstbäume ihre Blüthenflocken.

[18] Auf der Chaussee, die durch einen reizenden Thalgrund des Thüringer Waldes führt, rollte in einer bepackten Postchaise die Familie Ferber ihrer neuen Heimath zu. Es war früh am Morgen, eben verkündete das dünne, scharfe Stimmchen einer kleinen Thurmglocke in der Nähe die dritte Stunde. Deshalb hatten auch nur der alte, verdrießliche Wegweiser an der Chaussee und ein Rudel stattlicher Hirsche, das am Saum des Waldes erschien, den köstlichen Anblick eines jungen, glückselig lächelnden Menschenangesichts.

Elisabeth hatte sich weit aus dem dumpfen Wagen gebogen und sog mit tiefen Athemzügen die kräftige Waldluft ein, die, wie sie behauptete, auf der Stelle Lungen und Augen von dem Staub der verlassenen Hauptstadt reingewaschen habe. Ferber saß ihr sinnend gegenüber. Auch er erquickte sich an der Lieblichkeit und Anmuth der Gegend; noch mehr aber bewegten ihn die leuchtenden Augen seines Kindes, das den Zauber einer schönen Natur so tief empfand und das so unaussprechlich dankbar war für die neue Gestaltung der Verhältnisse … Wie hatte sie fleißig die kleinen Hände gerührt, als endlich das heißersehnte Ernennungsdecret des Fürsten von L. erschienen war! Da gab es tüchtig zu schaffen. Alle Umzugssorgen der Eltern hatte sie treulich mit auf ihre Schultern genommen. Der Fürst hatte zwar dem neuen Diener ein anständiges Reisegeld bewilligt und auch vom Försteronkel war eine Geldbeisteuer eingelaufen, allein das wollte trotz der ängstlichsten Berechnung bei weitem nicht reichen, und, deshalb beutete Elisabeth auch noch die wenigen Tagesstunden, die für ihre Erholung bestimmt waren, insofern aus, als sie Arbeiten für ein Weißwaarengeschäft übernahm; ja manche Nacht, während die Eltern arglos schon daneben im Alcoven schliefen, durchwachte sie bei der Nadel.

In all dies rege Streben und Schaffen war nur ein einziger bitterer Tropfen gefallen, der dem jungen Mädchen aber auch einige schwere Thränen entlockte; das war, als zwei Männer kamen und ihr liebes Clavier auf die Schultern luden, um es dem neuen Besitzer zu bringen. Es hatte für wenige Thaler verkauft werden müssen, weil es alt und gebrechlich war und voraussichtlich einen so weiten Transport nicht mehr aushalten konnte. Ach, das war ja immer ein so guter, alter Freund der Familie gewesen! Sein dünnes, zitterndes Stimmchen hatte Elisabeth so traut und lieb geklungen, wie die Stimme der Mutter! … Und nun fuhren vielleicht muthwillige Kinderhände gefühllos über die ehrwürdigen Tasten und quälten das alte Instrument, die schwache Stimme zu verstärken, bis es für immer schwieg. … Doch der Schmerz war jetzt auch überwunden und lag hinter ihr wie so Manches, was sie schweigend entbehrt und geleistet hatte, und wie sie so dasaß, mit den fröhlich glänzenden Augen in die Morgendämmerung hineinblickend, als steige vor ihr aus dem grauen Schleier eine Prophezeiung voll künftigen Glückes, wer hätte da an der jugendlichen Gestalt voll Lebensfrische und Elasticität auch nur eine Spur der mühevollen letzten Wochen, entdecken können?

Noch ungefähr eine halbe Stunde fuhren die Reisenden die glatte, ebene Chaussee entlang, dann bogen sie seitwärts ab in den dunkeln Wald durch den ein gutgehaltener Fahrweg lief. Die Sonne zeigte sich bereits in voller Pracht am Himmel und blickte verwundert lächelnd auf die Erde, die ohne Vorwissen ihrer hohen, leuchtenden Protectorin sich über Nacht einen prächtigen Brillantschmuck angeschafft hatte. Nach Mitternacht war ein starkes Gewitter über die Gegend gezogen; es hatte viel geregnet, noch hingen schwere Tropfen an Bäumen und Gesträuchen und fielen rauschend auf das Wagenverdeck, wenn der Postillon mit der Peitsche einen niederhängenden Ast berührte … Welch’ ein prächtiger Wald! Aus dichtem Unterholz stiegen die mächtigen Baumkolosse himmelan und verschlangen droben brüderlich ihre breiten, vollen Aeste, als gälte es, Licht und Luft wie zwei tödtliche Feinde von der stillen verschwiegenen Heimath abzuwehren. Nur manchmal schmuggelte sich ein feiner grüngefärbter Sonnenstrahl von Ast zu Ast hinab auf die gefiederten Gräser und die kleinen Erdbeerblüthen, die massenhaft, wie hingestreute Schneeflocken, den Boden bedeckten und ihre weißen Köpfchen vorwitzig an die Landstraße legten.

Nach kurzer Fahrt lichteten sich die Bäume, und bald darauf zeigte sich das mitten auf einer Waldwiese gelegene alte Jagdhaus. Der Postillon stieß in sein Horn; zugleich erhob sich wüthendes Hundegekläff und eine große Schaar Tauben verließ erschrocken und unter lautem Geräusch den gezackten Giebel des Hauses.

In der offenen Thür stand ein Mann in Jagduniform, eine wahre Hünengestalt mit einem ungeheuren Barte, der fast bis auf die Brust reichte. Er hielt die Hand über die Augen und blickte angestrengt nach dem kommenden Wagen; dann aber sprang er mit einem lauten Ausruf die Stufen herab, riß den Wagenschlag auf und zog den herausspringenden Ferber an seine Brust. … Beide Brüder hielten sich einen Augenblick schweigend in den Armen bis der Oberförster den Angekommenen leise von sich schob und, ihn an den Schultern haltend, die ganze schmale, blasse Gestalt prüfend musterte.

„Armer Adolph!“ sagte er endlich, und die tiefe Stimme klang bewegt. „So hat Dich das Schicksal zugerichtet? Na, warte nur, Du sollst mir hier gesund werden, wie ein Fisch im Wasser … noch ist Alles wieder gut zu machen. … Sei mir tausendmal willkommen! Und nun wollen wir auch zusammenhalten, bis das große Hallali geblasen wird, wo wir freilich nicht gefragt werden, ob wir beieinander bleiben wollen oder nicht.“

Er suchte seine Rührung zu beherrschen und half seiner, Schwägerin und dem kleinen Ernst, den er herzte und küßte, aus dem Wagen.

„Nun,“ sprach er, „Ihr seid früh. aufgebrochen, das muß ich sagen – passirt sonst nicht, wenn Weibsleute dabei sind.“

„Was denkst Du denn von uns, Onkel?“ rief Elisabeth. „Wir sind keine Schlafmützen und wissen recht gut, wie die Sonne aussieht, wenn sie der Erde ihren ersten Morgenbesuch macht.“

„Heisa!“ rief überrascht und laut lachend der Oberförster, „was raisonnirt denn da hinten in der Wagenecke? … Na, komm heraus, kleine Krabbe!“

„Ich klein? … Nun, Onkelchen, Du wirst Dich schön wundern, wenn ich erst aussteige, was für ein großes Mädchen ich bin!“ Mit diesen Worten sprang Elisabeth auf den Boden und stellte sich, alle Glieder möglichst streckend, auf die Zehen neben ihn. Allein, obgleich ihre schlanke, leicht aufgebaute Gestalt die Mittelgröße überschritt, so sah es dennoch in diesem Augenblicke aus, als wolle sich die zierliche Bachstelze mit dem gewaltigen Adler messen.

„Siehst Du,“ sagte sie ein wenig kleinlaut, „ich reiche doch beinahe bis an Deine Schulter und das ist für ein respectables Mädchen mehr als genug.“

Der Onkel sah, sich kerzengerade haltend, mit schalkhaftem Blick und vergnügt in sich hineinlachend, einen Augenblick seitwärts auf sie nieder; dann aber hob er sie plötzlich wie eine Feder vom Boden auf und trug sie unter dem Gelächter der Anderen auf einem Arm in das Haus, wo er mit wahrer Donnerstimme schrie:

„Sabine, Sabine, komm hierher, ich will Dir zeigen, wie in B. die Zaunkönige aussehen!“

Im Hausflur setzte er die Erschrockene sacht und vorsichtig wie ein zerbrechliches Spielzeug nieder, nahm ihren Kopf sanft zwischen seine beiden großen Hände, küßte sie wiederholt auf die Stirn und rief: „Solch’ ein Liliput, solch’ eine Mondscheinprinzessin meint so groß zu sein, wie ihr großer Onkel … Kleine Waldhexe, Du kannst freilich wissen, wie die Sonne aussieht, hast ja selbst den Kopf voll Sonnenstrahlen!“

Dem jungen Mädchen war in Folge des Sturmschrittes, den der Onkel bei der Entführung angenommen, der Hut vom Kopfe gefallen, wobei eine außergewöhnliche Fülle blonden Haares sichtbar wurde, dessen klarer Goldglanz um so mehr auffallen mußte, als ihre sehr schön gezeichneten Augenbrauen und die langen Wimpern tiefschwarz waren.

Aus einer Seitenthür war indessen eine alte Frau getreten, und oben am Treppengeländer des ersten Stockwerkes zeigten sich einige Männergesichter, die jedoch schnell wieder verschwanden, als der Oberförster hinaufblickte. „Na, lauft nur nicht davon, gesehen habe ich Euch nun schon einmal!“ rief er lachend. „Es sind meine Burschen,“ wendete er sich zu seinem Bruder, „die Kerls sind neugierig wie die Spatzen; nun, heute mag ich’s ihnen gerade nicht verdenken!“ meinte er schelmisch lächelnd mit einem heimlichen Seitenblick auf Elisabeth, die abgewendet ihre gelösten Flechten wieder um den Kopf schlang. Dann nahm er die alte Frau bei der Hand und führte sie in feierlich komischer Weise folgendermaßen vor:

„Jungfer Sabina Holzin, Minister der inneren Angelegenheiten des Hauses, hohe Polizei für Alles, was in Hof und Stall des Forsthauses sich des Lebens freut, und endlich unumschränkte [19] Herrscherin im Küchendepartement. … Bringt sie das Essen auf den Tisch, so folgt getrost ihrem Wink, denn Ihr geht einen guten Weg; läßt sie sich aber bedrohlicher Weise an, ihre Sagen und Geistergeschichten auszukramen, so lauft, was Ihr laufen könnt, denn da giebt’s kein Ende. … Und nun,“ wandte er sich zu der lachenden Alten, die eigentlich grundhäßlich war, trotzdem aber durch einen Zug von Schelmerei und Humor um Mund und Augen, durch ihren treuherzigen Blick und mittels der fleckenlosen Sauberkeit ihres Anzugs sofort Alle für sich einnahm, „bringe schnell, was Küche und Keller vermögen. Hast ja deshalb die Pfingstkuchen frühe gebacken, damit die Reisenden gleich was Frisches einzubrocken hätten.“

Damit zeigte er nach der Küche und öffnete zugleich die Thür einer geräumigen, hellen Eckstube. Alle traten ein, nur Elisabeth konnte nicht unterlassen, noch einen Blick durch die große Thür zu werfen, die nach dem Hofe führte; denn durch das weiße Staket, das den weiten, von Geflügel aller Art bevölkerten Raum auf zwei Seiten umschloß, leuchteten farbige Blumenbeete und einige spätblühende Aepfelbäume streckten ihre rosenfarbenen Zweige weit in den Hof herein. Der Garten war groß, stieg terrassenartig den Berg hinauf und nahm noch einige Vortruppen des Waldes, eine schöne Gruppe alter Buchen, mit in sein Bereich. Während Elisabeth, wie angefesselt, sinnend im Hausflur lehnte, wurde die Thür eines Seitenflügels geöffnet, und ein junges Mädchen trat heraus. Es war auffallend hübsch, wenn auch fast zu klein von Gestalt, was, wie es schien, die Natur wieder auszugleichen gesucht hatte durch die weitgeöffneten großen Augen, die wie prächtige, schwarze Sonnen flammten. Das üppige, dunkle Haar war mit unverkennbarer Koketterie aufgenestelt und ließ einige zartgekräuselte Löckchen auf die plastisch geformte, bleiche Stirn fallen. Auch der Anzug, obschon sehr einfach im Stoff, zeigte eine fast peinliche Sorgfalt im Arrangement, und der aufmerksame Beobachter konnte mit dem besten Willen nicht annehmen, daß man das Oberkleid lediglich aus Schonung des Saumes in so zierlichen Falten aufgesteckt habe; denn zwei reizend geformte Füßchen hatten eine auffallend feine Toilette gemacht, die sicher nicht bestimmt war, unter dem langen Wollkleid zu verkümmern.

Das junge Mädchen hielt eine Mulde voll Getreidekörner im Arm und warf davon eine Hand voll auf das Pflaster. Alsbald entstand ein großer Lärm; von den Dächern stürzten sich die Tauben, die Hühner verließen unter lautem Gekacker Stangen und Nester, und der Hofhund glaubte bei dem allgemeinen Aufstand sich auch mit einem lauten Gebell betheiligen zu müssen.

Elisabeth war überrascht. Der Onkel war zwar verheirathet gewesen, hatte aber nie Kinder gehabt, das wußte sie genau; wer war also das junge Mädchen, das er nie in einem seiner Briefe erwähnt hatte? … Sie ging die Stufen hinab, die nach dem Hofraum führten, und trat der jungen Fremden einige Schritte näher. „Gehören Sie auch in’s Forsthaus?“ fragte sie freundlich.

Die schwarzen Augen hefteten sich fast stechend auf die Fragerin und drückten einen Augenblick unverkennbar große Ueberraschung aus; dann erschien ein Zug von Hochmuth um die feinen Lippen, die sich noch fester aneinander zu schließen schienen als vorher; die Augenlider fielen halb über die glänzenden Augen, welche sich abwendeten, und ruhig und schweigsam, als wisse sie gar nicht, daß Jemand neben ihr stehe, fuhr sie fort, die Körner in den Hof zu werfen.

In dem Augenblick ging Sabine, das Kaffeebret auf dem Arme, an der Hofthür vorüber. Sie winkte zutraulich der tiefbetroffenen Elisabeth, und als diese näher kam, faßte sie ihre Hand und zog sie in das Haus, indem sie sagte: „Kommen Sie, Kindchen, das ist nichts für Sie.“

In dem Wohnzimmer fand Elisabeth Alle schon so gemüthlich und vertraut zusammen, als hätte man tagtäglich beieinander gesessen. Die Mutter hatte in einem bequemen Lehnstuhl Platz genommen, den ihr der Oberförster an das Fenster gerückt und von wo aus sie einen lieblichen Fernblick durch den Wald genoß. Eine große, getigerte Katze war vertraulich auf ihren Schooß gesprungen und ließ sich mit sichtbarem Behagen das Streicheln der sanften Hand gefallen. Für den kleinen Ernst aber waren die vier Wände des Zimmers eine wahre Fundgrube aller möglichen interessanten Dinge. Er kletterte von Stuhl zu Stuhl und stand eben in wortloser Bewunderung vor einem großen Glaskasten, der eine prächtige Schmetterlingssammlung enthielt. Die zwei Männer saßen auf dem Sopha, eifrig über den künftigen Wohnsitz der Familie berathschlagend, und Elisabeth hörte, wie eben der Onkel sagte: „Nun, wenn sich auf dem Berge kein Quartier für Euch einrichten läßt, so bleibt Ihr einstweilen droben in meiner Stube. Ich richte meinen Schreibtisch und meine sonstigen Habseligkeiten unten ein, und dann bombardire ich die in der Stadt so lange, bis sie mir drüben auf den Seitenflügel ein neues Stockwerk setzen lassen.“

Elisabeth legte den Reisemantel ab und war der alten Sabine behülflich, den Kaffeetisch herzurichten. Auf die Glückseligkeit, die ihr ganzes Herz erfüllte, war soeben der erste Schatten gefallen. Mit Unfreundlichkeit war man ihr noch nie begegnet. Daß sie dies dem Liebreiz ihrer Gestalt, der Reinheit und Kindlichkeit ihres Wesens verdanke, deren Einfluß sich oft die rohesten Gemüther nicht zu entziehen vermögen, davon hatte sie freilich keine Ahnung. Sie hatte das so hingenommen als eine Sache, die sich ganz von selbst verstehe, da sie es ja mit allen Menschen wohlmeine und nie sich eine Unhöflichkeit gestatte. Ihre Ueberraschung und Freude, ein junges Mädchen von gleichem Alter hier zu finden, waren zu groß gewesen, als daß ihr nun die Zurückweisung nicht doppelt wehe thun sollte. Auch hatte das schöne Gesicht der Fremden ihr lebhaftes Interesse geweckt. Das Gemachte in der Erscheinung war ihr als solches durchaus nicht aufgefallen, da sie selbst das Verlangen gar nicht kannte, ihr Aeußeres durch besondere Hülfsmittel der Toilette zu heben. Die Eltern hatten ihr stets gesagt, sie möge ihren Geist bereichern, so viel sie könne, und sich bestreben, immer besser zu werden, dann würde auch ihre äußere Erscheinung nie abstoßend sein, gleichviel welche Form die Natur ihr verliehen habe.

Das Nachdenkliche in Elisabeth’s Zügen fiel der Mutter sogleich auf. Sie rief sie zu sich, und Elisabeth wollte ihr die Begegnung erzählen, aber schon bei den ersten Worten drehte sich der Oberförster nach ihr um. Eine tiefe Falte erschien zwischen den buschigen Augenbrauen und machte das Gesicht finster und grimmig.

„So,“ sagte er, „hast Du die schon gesehen? … Nun, dann will ich Euch auch erzählen, wer und was sie ist. Ich habe sie vor mehreren Jahren in mein Haus genommen, um eine Stütze für Sabine im Hauswesen zu haben. Sie ist eine Verwandte meiner verstorbenen Frau und hat weder Eltern, noch Geschwister. Ich wollte ein gutes Werk thun und habe mir damit eine Ruthe aufgebunden, die mich züchtigt, ohne daß ich gesündigt hätte … Schon in den ersten Wochen merkte ich, daß in dem Kopf auch nicht Ein gesunder Gedanke stecke … nichts als ein Wust von überspannten Ideen und ein unglaublicher Hochmuth. Ich hatte nicht übel Lust, sie wieder dahin zu schicken, wo sie hergekommen, aber da lamentirte die Sabine und bat vor, obgleich sie am allerwenigsten Ursache dazu hatte. Denn das junge Ding machte ihr schwer zu schaffen, war naseweis und kehrte bei jeder Gelegenheit die Verwandte des Herrn gegen die alte Dienerin heraus… Ich drückte ihr den Daumen auf’s Auge, so viel ich konnte, und ließ sie tüchtig schaffen und arbeiten, um ihr den Hochmuthsteufel auszutreiben, und da ging’s auch eine Zeit lang erträglich… Da lebt aber drüben auf Lindhof – das ist die ehemals Gnadewitz’sche Besitzung, die der Universalerbe an einen Herrn von Walde verkauft hat, – seit ungefähr einem Jahre eine Baronin Lessen. Der Besitzer selbst, der weder Frau noch Kinder hat, ist so eine Art Alterthumsforscher, reist viel und läßt deshalb seine einzige unverheirathete Schwester durch die genannte Dame beschützen – Gott sei’s geklagt! denn seitdem ist Alles dort auf den Kopf gestellt. … Wenn mir früher gesagt wurde, das ist ein Frommer, da hatte ich Respect und nahm meine Kappe ab; jetzt mache ich eine Faust und möchte am liebsten die Kappe über Augen und Ohren ziehen, denn die Welt hat sich verkehrt. … Die Baronin Lessen gehört auch zu den Frommen, die vor lauter gottseligen Wandels hart, grausam und engherzig werden, die Denjenigen, der nicht immer die Augen heuchlerisch am Boden hat, sondern sie aufschlägt nach oben, wo er seinen Gott sucht, hartnäckiger verfolgen, als eine Meute das Wild… In dies Gehege ist denn nun meine vortreffliche Nichte auch gerathen; ein besseres Feld für all’ das Unkraut in ihrem Kopfe konnte es nicht geben, und da haben wir denn nun auch die allerliebste Bescheerung. Sie hatte mit einer Kammerjungfer da drüben Bekanntschaft gemacht und brachte ihre ganze freie Zeit dort zu. Anfangs hatte ich kein Arges, bis sie auf einmal mit Bekehrungsversuchen anfing... Da sollte die Sabine nicht fromm sein, weil sie nicht [20] des Tages wenigstens zehnmal die dringende Arbeit stehen ließ, um zu beten … die arme Alte, die durch Wind und Wetter, oft schwer von Rheumatismus geplagt, jeden Sonntag nach Lindhof in die Kirche geht und ein arbeitsvolles, pflichtgetreues Leben hinter sich hat, ein Pfund, das eine lebenslängliche Knierutscherei bei Nichtsthun jedenfalls zehnmal aufwiegt… Auch an mich wagte sich die Moralpredigerin; aber da kam sie an den Rechten – sie hat es bei einem Versuch bewenden lassen. Ich verbot ihr nun den Umgang mit den Leuten auf Lindhof. Das hat mir freilich wenig geholfen; denn jeden unbewachten Moment hat sie benützt, um heimlicher Weise hinüber zu schlüpfen… Von einer Dankbarkeit gegen mich, der ich für sie sorge, ist nicht die Rede; es fehlt jedes innere Band zwischen ihr und mir, und da ist es für mich doppelt schwer, sie zu hüten. Gott mag nun wissen, welche fixe Idee sie in ihrem Kopfe ausgebrütet hat, genug, seit ungefähr zwei Monaten ist sie vollständig stumm, aber nicht allein hier im Hause, sondern gegen alle Menschen. Seit der Zeit ist auch nicht ein Laut über ihre Lippen gekommen. Weder Strenge, noch ruhiges Zureden richten etwas aus. Sie verrichtet ihre Geschäfte nach wie vor, ißt und trinkt wie jeder andere gesunde Mensch und ist auch nicht um ein Jota weniger eitel, als sonst. Weil sie aber ihre rothen Backen verlor und blaß aussah, so befragte ich einen Arzt, der sie schon früher behandelt hatte. Der sagte mir, sie sei körperlich ganz gesund, scheine ihm aber eine höchst exaltirte Person zu sein, und da schon in ihrer Familie Fälle von Geistesstörungen vorgekommen seien, so möchten wir sie ruhig gewähren lassen. Sie würde mit der Zeit des Schweigens selbst überdrüssig werden und eines schönen Tages sprechen wie eine Elster… Nun meinetwegen, ich will’s drauf ankommen lassen; daß ich aber damit ein schweres Opfer bringe, das ist gewiß. Ich habe mein Lebtag keine sauertöpfische Miene um mich leiden mögen und will lieber Salz und Brod essen inmitten fröhlicher Gesichter, als die köstlichsten Leckerbissen bei Duckmäusern. … Na, kleines Goldköpfchen,“ wandte er sich an Elisabeth, in dem er mit der Hand über die Stirn strich, als wolle er alle ärgerlichen Gedanken wegwischen, „schiebe Dein Mütterlein fein säuberlich im Lehnstuhl hierher an den Tisch, binde dem kleinen Kerl da, der sich blind guckt an meinem Gewehrschrank, eine Serviette um den Hals, und nun wollen wir zusammen frühstücken. Dann mögt Ihr Rast halten und die Glieder ein wenig ruhen lassen von der langen Reise. Nach Tische aber geht’s hinauf nach Schloß Gnadeck. Es wird gut thun, wenn Ihr die Augen durch etwas Schlaf vorher stärkt, denn sie möchten Schaden leiden unter all’ dem Glanz, den wir da droben vorfinden werden.“

Nach dem Frühstück, während Vater und Mutter schliefen und der kleine Ernst in einem großen Bett von den Wunderdingen in der Forsthausstube träumte, packte Elisabeth das Nöthigste in der Oberstube aus. Sie hätte um Alles in der Welt nicht schlafen können. Immer wieder trat sie an das Fenster und blickte hinüber nach dem waldigen Berge, der hinter dem Forsthaus emporstieg. Dort oben aus den Baumwipfeln erhob sich ein feiner schwarzer Strich und zeichnete sich scharf von dem tiefblauen Himmel ab. Das war, wie ihr die alte Sabine gesagt hatte, eine uralte Eisenstange auf dem Dach des Schlosses Gnadeck, von welcher in längst versunkenen Zeiten das stolze Banner der Gnadewitze geflattert hatte… Fand sich wohl hinter jenen Bäumen das seit Jahren heißersehnte Asyl, wo die Eltern ihre müden Füße ausruhen konnten vom mühsamen Wandern auf nicht heimischer Erde?

Auch in den Hof fielen ihre suchenden Blicke; aber das stumme Mädchen ließ sich nicht mehr sehen. Sie war auch nicht beim Frühstück erschienen und schien sich vorgenommen zu haben, jede Berührung mit den Gästen zu vermeiden. Das that Elisabeth leid. Die Schilderung des Onkels hatte zwar einen sehr unerquicklichen Eindruck auf sie gemacht, allein ein junges Gemüth giebt seine Illusionen nicht so leicht auf und läßt sich lieber durch das Zerspringen seiner bunten Seifenblasen enttäuschen, als durch die weisen Erfahrungen des Alters… Das schöne Mädchen, das sein Geheimniß so beharrlich hinter den Lippen verschloß, wurde ihr nun doppelt interessant, und sie erschöpfte sich in Vermuthungen über den Grund dieses Schweigens. –

Zur Mittagszeit sah Elisabeth den Onkel aus dem Walde kommen; sie lief ihm entgegen und begrüßte ihn vor der Hausthür. Schon als Kind hatte sie eine große Sympathie für den niegesehenen Försteronkel gehabt, der, als Freunde und Verwandte von den Eltern abfielen, sich als unveränderlich bewährt und nach Kräften sich bemüht hatte, die Thränen der unglücklichen Familie zu trocknen. Nun, als sie ihn vor sich sah, diesen stattlichen, kernfesten Mann, der nicht eine Linie breit abwich von dem Weg, welcher ihm als der rechte galt, und der doch bei all dieser Festigkeit ein zärtlich weiches Gemüth besaß, wenn er es auch unter einem etwas rauh klingenden Humor zu verbergen suchte – ja gewiß, nun empfand sie erst recht eine tiefe, kindliche Verehrung für ihn.

Die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens schien den Onkel sehr angenehm zu überraschen. Er strich liebkosend über ihren Scheitel und nannte sie sein Goldtöchterchen. Sie aber hing sich vergnügt an seinen Arm und brachte ihm drin in der Stube das Hauskäppchen, das er früh bei ihrem Empfang aufgehabt hatte.

Nach dem Essen, das in heiterster Weise verflossen war, holte Sabine eine gestopfte Pfeife vom Eckbret und brachte sie nebst einem brennenden Fidibus dem Oberförster. „Was fällt Dir ein Sabine?“ sagte er abwehrend und mit komischer Entrüstung: „Meinst Du, ich könne es über’s Herz bringen, in aller Ruhe eine Pfeife zu rauchen, während es der kleinen Else da in den Füßen kribbelt und krabbelt, den Berg hinauf zu laufen und die kleine Nase in das Zauberschloß zu stecken? Nein, jetzt meine ich, könnten wir unsere Entdeckungsreise antreten.“

Alles machte sich fertig. Der Oberförster reichte seiner Schwägerin den Arm, und fort ging es durch Hof und Garten. Draußen schloß sich ein Mann der Gesellschaft an; es war ein Maurer aus dem nächsten Dorfe, den der Oberförster bestellt hatte, um nöthigenfalls bei der Hand zu sein.

Es ging ziemlich steil bergauf durch den dichten Wald, auf einem wenig betretenen engen Wege, der sich jedoch allmählich etwas erweiterte und endlich in einen kleinen freien Platz auslief, hinter welchem sich, wie es schien, ein hoher, grauer Felsen erhob.

„Hier habe ich das Vergnügen,“ sagte der Oberförster sarkastisch lächelnd zu dem erstaunten Ferber, „Dir das Vermächtniß des hochseligen Herrn von Gnadewitz in seiner Herrlichkeit vorzustellen.“

Sie standen vor einer ungeheuren Mauer, die allerdings wie ein einziger Granitblock aussah. Von den Gebäuden, die hinter ihr lagen, konnte man schon deshalb keine Spur sehen, weil der Wald sich zu nahe herandrängte und dem Beschauer kein Zurücktreten gestattete. Der Oberförster schritt die Mauer entlang, deren Fuß dichtes Gestrüpp umwob, und machte endlich Halt vor einem mächtigen, eichenen Thor, dessen oberer Theil in ein eisernes Gitter auslief. Hier hatte er Tags zuvor das Gebüsch wegräumen lassen und zog nun einen Bund großer Schlüssel hervor, welche Frau Ferber gestern auf der Durchreise in L. in Empfang genommen hatte.

Es bedurfte bedeutender Anstrengung der drei Männer, ehe die verrosteten Schlösser und Riegel sich öffnen ließen. Endlich drehte sich das Thor krachend in den Angeln und wirbelte eine mächtige Staubwolke in die Höhe. Die Eintretenden befanden sich in einem auf drei Seiten von Gebäuden umschlossenen Hofraume. Ihnen gegenüber dehnte sich die imposante Fronte des Schlosses, zu dessen erstem Stock von außen eine breite Steintreppe mit schwerfälligem Eisengeländer führte. Längs der Seitenflügel liefen düstere Colonnaden, deren granitne Säulen und Bogen unüberwindlich der Zeit zu trotzen schienen. Inmitten des Hofes breiteten einige alte Kastanien ihre dürftigen Aeste über ein ungeheueres Becken, indessen Mitte vier steinerne Löwen mit aufgesperrten Rachen lagerten. Früher mochten hier vier starke Wasserstrahlen aus den Tiefen der Erde emporgestiegen sein und das Bassin gefüllt haben; jetzt aber floß nur noch ein schwaches Brünnlein durch die dräuenden Zähne des einen Ungeheuers, gerade stark genug, um die naseweisen Grashalme zwischen den Steinritzen des Beckens zu bespritzen und durch sein leises, melancholisches Rieseln einen schwachen Schein von Leben in die Wüstenei zu hauchen. Die äußeren Mauern der Gebäude und die Säulengänge waren das Einzige in diesem Raum, an welchem der Blick ohne Angst haften konnte. Die aller Glasscheiben beraubten Fensterhöhlen zeigten eine gräuliche Verwüstung im Innern. In einigen Zimmern waren die Decken bereits eingestürzt, in anderen bogen sich die Balken hernieder, als wollten sie bei der leisesten Berührung zusammenbrechen. Die äußere Treppe hing drohend halb in der Luft; einige schwere grünbemooste Steine hatten sich bereits gelöst und waren bis zur Mitte des Hofes gerollt.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 3, S. 33–38
Fortsetzungsroman – Teil 3


[33] Die Eintretenden sahen sich in dem wüsten Hofraume des alten Schlosses um.

„Hier ist nichts zu machen,“ sagte Ferber, „gehen wir weiter.“

Durch einen tiefen, finsteren Thorweg traten sie in einen zweiten Hof, der, obgleich bei weitem größer als der erste, doch einen noch viel unheimlicheren Eindruck machte und zwar durch seine Unregelmäßigkeit. Hier trat ein zusammensinkender, düsterer Bau weit in den Hof herein und bildete eine dunkle Ecke, in die kein Sonnenstrahl fiel; dort stieg ein stumpfer Thurm in die Höhe und warf einen tiefen Schatten auf den hinter ihm liegenden Flügel. Ein alter Hollunderbusch, der in einer Ecke kümmerlich sein Leben fristete und dessen Blätter mit herabgefallenem Mörtel bedeckt waren, sowie einzelne graue Gräser zwischen dem Pflaster, ließen die Oede noch trauriger erscheinen. Kein Laut unterbrach die Todtenstille, die hier waltete; selbst eine Dohlenschaar, die droben das heitere Blau des Himmels durchschnitt, flog lautlos vorüber, und deshalb klang den Eintretenden das Geräusch ihrer eigenen Schritte auf dem hallenden Steinpflaster fast gespenstisch.

„Da haben nun,“ sagte Ferber, ergriffen von dem Anblick des Verfalles ringsum, „die alten, gewaltigen Herren Steinmassen aufgehäuft und gemeint, die Wiege ihres Geschlechts werde, fest und unzerstörbar, durch alle Zeiten den Ruhm ihres Namens verkünden. Ein Jeder hat sich, wie der verschiedene Baustyl zeigt, das Erbe nach Geschmack und Bedürfniß eingerichtet, als ob da nie ein Ende kommen könne…“

„Und doch wohnte er nur ein kleines Weilchen zur Miethe,“ unterbrach ihn der Oberförster, „und mußte es sich zuletzt sogar gefallen lassen, daß der große Hausherr, die Erde, ihn selbst mit Haut und Haar als Miethzins einforderte … Doch gehen wir weiter … Brr, mich friert … hier ist Tod, nichts als Tod!“

„Nennst Du das Tod, Onkel?“ rief plötzlich Elisabeth, die bis dahin beklommen geschwiegen hatte, indem sie nach einem Thorbogen zeigte, der halb von einem vorspringenden Pfeiler bedeckt wurde. Dort hinter einer Gitterthür schimmerte sonnenbeschienenes Grün, und junge Heckenrosen schmiegten ihre Köpfchen an die Eisenstäbe.

Elisabeth war mit wenigen Sprüngen an der Thür, die sie mit einem kräftigen Ruck aufstieß. Dieser ziemlich große, freie Platz, vor dem sie stand, mochte wohl ehemals den Garten vorgestellt haben – jetzt konnte man die grüne Wildniß unmöglich noch so nennen, denn nicht ein Fuß breit Weges war zu entdecken, kaum, daß hier und da der verstümmelte Kopf einer Statue unter dem Gewirr von Stauden, Gesträuchen und Schmarotzerpflanzen erschien. Die wilde Weinrebe lief in dicken Strängen bis an das obere Stockwerk der Gebäude, rankte sich an den Fenstersimsen fest und fiel von dort wie ein grüner Regen wieder auf die blühenden wilden Rosen und Fliedersträuche hernieder. Es war ein Schwirren und Summen auf diesem abgeschiedenen, blühenden Fleckchen Erde, als ob der Frühling seine ganzen geflügelten Heerschaaren hier versammelt hielte. Zahllose Schmetterlinge flatterten durch die Luft, und über die riesigen Fächer der Farrenkräuter zu Elisabeth’s Füßen liefen geschäftig goldglänzende Käfer. Ueber all dies Blühen und Treiben erhoben einige Obstbäume und mehrere schöne Linden ihre Kronen, und auf einer kleinen Anhöhe lagen die Ueberreste eines Pavillons.

Der Garten war auf drei Seiten von zweistöckigen Gebäuden umgeben, und das Viereck des Raumes wurde durch eine Art hohen Dammes vervollständigt, über den die Wipfel der Waldbäume hereinsahen. Auch hier trugen die Baulichkeiten das Gepräge des Verfalles; abermals ziemlich gut erhaltene Mauern nach außen, doch vollständige Verwüstung im Innern. Nur ein zwischen zwei hohe Flügel eingeklemmter, einstockiger Bau fiel auf durch sein dunkles Aussehen. Er war nicht durchsichtig, wie die anderen decken- und thürenlosen Gebäude; das flache Dach, das an beiden freien Seiten schwere Steingeländer hatte, mußte Sturm und Wetter Trotz geboten haben, wie die grauen Fensterläden auch, die hie und da unter dem Wust von Schlingpflanzen hervorsahen. Der Oberförster meinte mit prüfendem Blick, dies sei höchst wahrscheinlich Sabinens berühmter Zwischenbau; möglicherweise sei er innen nicht so despectirlich zugerichtet wie die anderen Baulichkeiten; nur begreife er nicht, wie man zu dem angeklebten Schwalbennest gelangen könne. Allerdings war weder von Treppen, noch von Thüren irgend eine Spur zu sehen, was freilich schon durch das undurchdringliche Gebüsch am Erdgeschoß unmöglich wurde. Man beschloß deshalb das Besteigen einer ausgetretenen, aber doch noch ziemlich festen Steintreppe in einem der großen Flügel zu wagen und so auf das Ziel loszusteuern. Es gelang, wenn auch unter beständigem Anklammern an die unebene Mauer. Sie kamen zuerst durch einen großen Saal, der den blauen Himmel als Decke und einige grüne Büsche droben auf den Mauern als einzigen Schmuck aufzuweisen hatte. Zertrümmerte Balken, Dachsparren, einzelne Plafondstücken mit Ueberresten von Malerei bildeten ein grauses Gemisch, über das die Suchenden hinwegklettern mußten. Dann folgte eine Reihe von Zimmern in demselben Zustand der Zerstörung. An einigen Wänden hingen noch Fetzen von Familienbildern, die oft, schauerlich und komisch zugleich, nur [34] ein Auge, ein Paar gekreuzter, bleicher Frauenhände, oder einen theatralisch vorgestreckten, schienenbekleideten Männerfuß zeigten. Endlich hatten sie den letzten Raum erreicht und standen vor einem hohen Thürbogen, der mit Ziegelsteinen vermauert war.

„Aha!“ sagte Ferber, „hier hat man den Zwischenbau abzuschließen gesucht von der allgemeinen Zerstörung. Ich meine, ehe wir noch länger die halsbrechende Arbeit des Suchens fortsetzen, wäre es gescheidter, die Steine herauszunehmen.“

Der Vorschlag fand Beifall und der Maurer begann sein Werk; er drang in eine tiefe Wandnische ein und versicherte, hier seien doppelte Wände. Beide Männer halfen wacker mit, und bald erschien eine mächtige Eichenthür hinter dem zerstörten Mauerwerk, das schnell hinweggeräumt wurde. Die Thür war nicht verschlossen und gab dem Druck der Männer sogleich nach. Sie traten in einen völlig dunklen, dumpfen Raum. Nur ein dünner Sonnenstrahl drang durch eine schmale Ritze und zeigte die Richtung der Fenster. Das seit so langer Zeit nicht berührte Fensterschloß sträubte sich tapfer gegen die Kraftaufwendung des Oberförsters, ebenso der Laden, den die starken Zweige der Bäume draußen fest andrückten. Endlich wich er mit lautem Gekreisch – ein grüngoldenes Sonnenlicht strömte durch ein hohes Bogenfenster herein und beleuchtete ein nicht sehr breites, aber tiefes Zimmer, dessen Wände mit Gobelins behangen waren. Der Plafond zeigte in den vier Ecken das sauber gemalte Wappen der Gnadewitze. Zum Erstaunen Aller war es vollständig meublirt und zwar als Schlafzimmer. Zwei Himmelbetten mit vergilbtem Behang, welche an den zwei langen Wänden standen, waren vollkommen eingerichtet. Das Bettzeug steckte noch in den feinen Leinüberzügen, und die seidenen Steppdecken schienen nichts an Farbe und Haltbarkeit eingebüßt zu haben. Alles, was zur Bequemlichkeit vornehmer Leute gehört, war hier vorhanden, und wenn auch unter einer Last von Staub vergraben, doch noch in völlig brauchbarem Zustande. An dies Zimmer stieß ein zweites, weit größeres mit zwei Fenstern; es war ebenfalls meublirt, wenngleich in veraltetem Geschmack und, wie nicht zu verkennen war, mit Möbeln, die man aller Orten zusammengesucht hatte. Ein alterthümlicher Schreibtisch mit kunstreich ausgelegter Platte und seltsam geschnörkelten Füßen wollte durchaus nicht zu der mehr modernen Form des roth überzogenen Sofas passen, und die goldenen Rahmen, in denen einige nicht übel gemalte Jagdstücke an den Wänden hingen, harmonirten nicht mit der versilberten Fassung des großen Wandspiegels. Aber sei es auch darum – es fehlte ja nichts, was den Raum behaglich machen konnte; selbst ein großer, wenn auch etwas verblichener Teppich lag auf dem Boden, und unter dem Spiegel stand eine große, alterthümliche Uhr. Es folgte noch ein kleines, ebenfalls eingerichtetes Cabinet, von welchem eine Thür nach Vorsaal und Treppe führte. Hinter den Zimmern lagen drei Räume von gleicher Größe, deren Fenster in den Garten sahen und von denen das eine, tannene Möbeln und zwei Betten enthaltend, jedenfalls für die Dienerschaft bestimmt gewesen war.

„Potz tausend!“ sagte der Oberförster vergnügt lachend, „da finden wir ja eine Bescheerung, die unsere bescheidenen Seelen sich nicht einmal haben träumen lassen. Na, wenn das der Hochselige wüßte, er drehte sich in seinem zinnernen Grabe um. … Das sind lauter Dinge, die wir der pflichtvergessenen Seele einer Beschließerin oder dem ungetreuen Gedächtniß eines altersschwachen Haushofmeisters verdanken.“

„Aber dürfen wir sie denn auch behalten?“ fragten Frau Ferber und Elisabeth, die bis dahin vor freudiger Ueberraschung starr gewesen waren, wie aus Einem Munde.

„Ei freilich, liebe Frau,“ beruhigte der Vater, „Dein Onkel hat Dir das Schloß vermacht mit Allein, was es enthalte.“

„Und das ist wenig genug,“ grollte der Oberförster.

„Im Vergleich zu unseren Erwartungen aber eine wahre Fundgrube von Schätzen,“ sagte Frau Ferber, indem sie einen hübschen Glasschrank öffnete, der verschiedenes Porcellan enthielt, „und wenn mich damals, als ich noch hoffnungsmuthig und anspruchsvoll in’s Leben sah, der Onkel mit einem reichen Vermächtniß bedacht hätte, es würde mir sicher keinen größeren Eindruck gemacht haben, als in diesem Augenblick die unverhoffte Entdeckung, welche uns großer Sorgen enthebt.“

Elisabeth bog sich unterdessen aus dem Fenster des zuerst betretenen Zimmers und versuchte mit ihren Armen die Zweige zu trennen, welche die ganze Fensterreihe der Fronte vollständig verbarrikadirten und deshalb in den Zimmern gerade nur ein grünes Dämmerlicht zuließen. „Schade,“ meinte sie, das Ohnmächtige ihrer Anstrengung einsehend, „ein wenig Aussicht in den Wald hätte ich schon gern gehabt!“

„Glaubst Du denn,“ sagte der Oberförster, „ich würde Euch hinter dieser grünen Verschanzung stecken lassen, die jeden frischen Luftzug abwehrt? Dem soll heute noch abgeholfen werden, darauf verlasse Dich, Klein-Else.“

Sie gingen die Treppe hinab. Auch sie war in gutem Zustande und führte in eine große Halle, in deren Mitte eine ungeheure eichene Tafel, von hochbeinigen Stühlen umgeben, stand. Der Fußboden war von rothen Backsteinen, Wände und Plafond aber zeigten kunstvolle Holzschnitzereien. Dieser große Raum hatte außer vier Fenstern zwei Thüren, die sich gegenüber lagen; eine derselben führte in den Garten, die andere, die sich nur schwer öffnen ließ, aus einen schmalen, freien Platz, der sich zwischen das Gebäude und die äußere Mauer drängte. Hier hatten sich die Syringen und Haselsträucher ungemein üppig ausgebreitet, allein es gelang doch den Männern, einen Durchgang zu erzwingen und mit drei Schritten standen sie vor einem Pförtchen in der gegenüberliegenden Mauer, das hinaus in das Waldgestrüpp führte.

„Nun, sagte Ferber erfreut, „hier fällt auch das letzte Bedenken weg. Dieser Eingang ist viel werth. Wir brauchen nun nicht mehr durch die Höfe zu gehen, was jedenfalls sehr umständlich und immerhin gefährlich gewesen wäre.“

Noch einmal wurde die Wohnung durchschritten, die künftige Einrichtung derselben besprochen und der Maurer für morgen bestellt, damit er eines der Hinterzimmer zur Küche einrichte. Dann, nachdem man die Eichenthür, die nach dem großen Flügel führte, gehörig verrammelt und verriegelt hatte, wurde der Rückweg durch das Mauerpförtchen angetreten, ein Unternehmen, das für den Augenblick durch das dichte Gebüsch zwar sehr erschwert wurde, trotzdem aber doch dem ersten halsbrechenden Weg vorzuziehen war.

Als die Heimkehrenden den Garten des Forsthauses betraten, kam ihnen Sabine in Begleitung des kleinen Ernst, den man ihrer Obhut anvertraut hatte, erwartungsvoll entgegen. Sie hatte unter den Buchen auf einem weißgedeckten Tische den Nachmittagskaffee servirt und das schattige Plätzchen auf das Behaglichste eingerichtet, wollte nun aber auch wissen, wie man die Dinge droben gefunden, und schlug bei dem Bericht vor freudigem Erstaunen die Hände zusammen.

„Ach, du meine Güte!“ rief sie aus, „sehen der Herr Oberförster, daß ich Recht hatte?.… Ja, ja, die Sachen sind vergessen worden, und das ist auch gar nicht zu verwundern. Sowie der junge Herr von Gnadewitz unter die Erde gebracht war, ist der alte Gnädige über Hals und Kopf abgereist und hat alle Dienerschaft mitgenommen. Nur der alte Hausverwalter Silber ist zurückgeblieben; der war aber zuletzt ganz schwach im Kopfe und ein unmenschlich viel Zeug hat auch drunten im neuen Schloß gesteckt, da hatte er mehr als genug zu thun, daß ihm nichts unter der Hand wegkam, und da ist zuletzt das Alles da droben stehen geblieben und keine Menschenseele hat mehr davon gewußt. ... Du lieber Gott, ich habe ja jedes Stück davon unter den Händen gehabt und habe es abstäuben und putzen müssen ... Und vor der Uhr habe ich mich immer so gefürchtet denn, die spielt ein trauriges Stückchen, wenn sie schlägt und das klang so grausig durch die Stuben, wo ich mutterseelenallein hantiren mußte … Ja, damals war ich noch jung ... wo sind die Zeiten hin!“ –

Es folgte nun eine gemüthliche Stunde der Ruhe und des behaglichen Ueberlegens, während der Kaffee getrunken wurde. Weil Elisabeth gemeint hatte, sie könne sich nichts Schöneres denken, als zum ersten Mal am Pfingstmorgen da droben aufzuwachen, wenn die Kirchenglocken der umliegenden Dörfer hinauf klängen, eine Ansicht, die auch Frau Ferber theilte, so wurde beschlossen, die Renovirung mit allen Kräften schon morgen in’s Werk zu setzen, um das Beziehen der Wohnung bis zum Pfingstabend zu ermöglichen, und der Oberförster stellte alle seine Leute zur Verfügung.

Sabine hatte nicht weit von der Gesellschaft auf einer Rasenbank Platz genommen, um bei der Hand zu sein, wenn man etwas bedürfe. Um nicht ganz müßig zu bleiben, hatte sie ein paar Hände voll junger Möhren aus dem Beete gezogen, die sie eifrig schabte und putzte. Elisabeth setzte sich zu ihr und half bei der Arbeit [35] „Sie sind hier aus der Gegend,“ begann sie, „und wissen gewiß auch etwas von der Geschichte des alten Schlosses. Erzählen Sie mir davon ein wenig.“

„I nu freilich,“ entgegnete die alte Haushälterin. „Lindhof, wo ich geboren bin, hat ja den Herren von Gnadewitz seit undenklichen Zeiten gehört, und, sehen Sie, in so einem kleinen Orte, da dreht sich nachher Alles um die Herrschaft, der man unterthänig ist. Da geht nichts verloren, was Besonderes im Herrenhause vorfällt; das vererbt sich auf Kind und Kindeskinder, und wenn den vornehmen Leuten schon lange kein Zahn mehr wehe thut, da erzählen sich die Bursche und Mädchen im Dorfe noch ihre Geschichte.

Da war meine selige Urgroßmutter, die ich noch recht gut gekannt habe, die wußte Dinge, daß einem die Haare zu Berge standen. Sie hatte aber einen heiligen Respect vor denen auf Gnadeck und duckte mich mit ihren beiden zitternden Händen immer ganz tief auf den Boden, wenn die Herrschaft vorbeifuhr, denn ich war dazumal noch ein kleines Ding und konnte keinen rechten Knix machen … Sie wußte weit, weit in die uralte Zeit hinein die Namen von all’ den Herren, wie sie der Reihe nach da droben gehaust haben, und gar Vieles, was dort wider Gott und Recht geschehen ist.

Wie ich nachher auf das neue Schloß kam und die großen Säle fegen mußte, wo sie Alle abgemalt waren, von denen vielleicht jetzt kein Staubkörnchen mehr übrig ist, da habe ich manchmal dort gestanden und mich gewundert, wie sie doch ganz und gar nicht anders ausgesehen haben, als andere Menschenkinder auch, und haben doch ein Wesens von sich gemacht, als ob sie der liebe Gott in eigener Person auf die Welt ‘runtergebracht hätte. … Von Schönheit war bei den Weibern nicht viel zu sehen, desto mehr von seidenen Schleppen und Edelsteinen auf der Brust.

Unter den Männern war auch nur Einer, den ich gern ansehen mochte. Der hat aber gar ein liebes, treuherziges Gesicht gehabt und ein Paar Augen, so schwarz wie die Schlehen; und an dem ist’s auch wieder wahr geworden, daß der Beste am meisten zu leiden hat in der Welt. Von allen Anderen in der langen Reihe hat man nichts gewußt, als daß es ihnen gut gegangen ist ihr Lebelang… Viele davon haben Unglück genug in die Welt gebracht und haben sich doch nachher so ruhig auf ihr Sterbebett gelegt, als sei das Alles von Rechtswegen geschehen… Na, um wieder auf den Jost von Gnadewitz zu kommen, der hat ein recht trauriges Schicksal gehabt. Die Großmutter von meiner Urgroßmutter hat ihn selbst gekannt, als sie noch ein kleines Kind gewesen ist. Er hat dazumal nur der wilde Jäger geheißen, weil er den ganzen, geschlagenen Tag nicht aus dem Walde gekommen ist. Auf dem Bilde war er auch im grünen Rock gemalt und hatte eine lange, weiße Feder auf dem Hut, was mir immer so gefallen hat zu seinen kohlschwarzen, lockigen Haaren. Aber gut ist er gewesen und hat keinem Kinde was zu Leide thun mögen. Dazumal ist es den Leuten im Dorfe gar gut gegangen und sie haben gewünscht, es möchte immer so bleiben.

Aber auf einmal ist er eine Zeit fortgewesen; kein Mensch hat gewußt, wo er steckt, bis er endlich bei Nacht und Nebel wiedergekommen ist, ohne daß es Jemand gemerkt hätte… Von der Zeit an war er aber ganz verwandelt… Den Leuten in Lindhof ist zwar nichts entzogen worden, aber sie haben ihren Herrn nicht mehr zu sehen gekriegt. Er hat alle Dienerschaft fortgeschickt und ist im alten Schloß mutterseelenallein mit einem Lieblingsdiener geblieben. Da haben denn endlich die Leute viel gemunkelt von der schwarzen Kunst, die er da oben treibe, und hat sich kein Mensch mehr bei hellem, lichtem Tag auf den Berg getraut, geschweige denn in der Nacht… Die alte Großmutter ist aber in ihrer Jugendzeit gar ein keckes Ding gewesen und hat just erst recht ihre Ziegen bei den Schloßmauern grasen lassen… Nun, und da hat sie einmal ganz still und in Gedanken unter einem Baum gesessen und hat hinübergesehen nach der Mauer, wie die doch so hoch sei und was wohl dahinter stecken möchte. Und da ist mit einem Mal da droben ein Arm, so weiß wie Schnee, hervorgekommen, nachher ein Gesicht – die Großmutter hat erzählt, schöner sei das gewesen als Sonne, Mond und Sterne – und zuletzt hat mit einem Sprunge ein Mädchen droben gestanden, das hat die Arme in die Luft gestreckt, hat etwas gerufen, was die Großmutter nicht verstehen konnte, und wäre um ein Haar hinunter in das Wasser gesprungen, das dazumal um das ganze Schloß herumgelaufen ist. … Aber da hat auf einmal der Jost hinter ihr gestanden, der hat sie umfaßt und mit ihr gerungen und hat gebeten und gefleht, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen, und die kohlschwarzen Haare haben ihm vor Angst und Schrecken in die Höhe gestanden. Nachher hat er sie auf seinen Arm genommen, wie ein Kind, und weg waren sie von der Mauer… Dem Mädchen ist aber der Schleier vom Kopf gefallen und ist hinüber geflogen bis zu der Großmutter. Er ist wunderfein gewesen, und sie hat ihn voller Freude mit heimgenommen zu ihrem Vater; der hat ihn gleich voll Schreck in’s Feuer geworfen, weil es Teufelsspuk sei, und die Großmutter hat nie wieder auf den Berg gedurft.

Später – es ist wohl ein volles Jahr herumgewesen, seit der Jost auf Gnadeck so still gelebt hat – ist er auf einmal früh Morgens zu Pferde den Berg herabgekommen; aber Niemand hat ihn kennen mögen, so verfallen war sein Gesicht, und hat wohl noch viel blässer deswegen ausgesehen, weil er kohlschwarz angezogen war. Er ist langsam geritten und hat Jedem, der ihm begegnet ist, noch einmal traurig zugenickt. Dann ist er fortgewesen und ist auch nie wieder gekommen … er ist in der Schlacht erschossen worden, und sein alter Diener auch, der mit ihm war … es war dazumal der dreißigjährige Krieg.“

„Nun, und das schöne Mädchen?“ fragte Elisabeth.

„Ja, von dem hat Niemand weiter eine Spur gehört, noch gesehen… Der Jost hat auf dem Rathhause zu L. ein großes, versiegeltes Paket niedergelegt und hat gesagt, das sei sein letzter Wille. Man solle es aufmachen, wenn die Nachricht von seinem Tode käme. Aber da war eine große, große Feuersbrunst in L., viele Häuser, selbst die Kirchen und das Rathhaus mit Allem, was darin war, sind bis auf den Grund niedergebrannt, und das Paket natürlich auch mit.

In der letzten Zeit soll auch einige Mal der Pfarrer von Lindhof oben bei dem Jost gewesen sein. Der geistliche Herr hat aber still geschwiegen wie ein Mäuschen; und weil er alt war und bald darauf das Zeitliche segnen mußte, so hat er das, was er vielleicht da droben erfahren hat, mit in’s Grab genommen… So weiß nun kein Mensch, was es mit dem fremden Mädchen für ein Bewenden gehabt hat, und es wird auch wohl ein Geheimniß bleiben bis an den jüngsten Tag.“

„Na, genire Dich nur nicht, Sabine!“ rief der Oberförster herüber, indem er seine Pfeife ausklopfte, „es ist besser, die Else gewöhnt sich gleich von vornherein an den schauerlichen Schluß Deiner Geschichten – sag’s nur, denn Du weißt es ja doch ganz genau, daß das schöne Mädchen eines schönen Tages auf dem Besen zum Schornstein hinausgefahren ist.“

„Nein, das glaube ich nicht, Herr Oberförster, wenn ich auch –“

„Drauf schwöre, daß es in der Umgegend wimmelt von Solchen, die jeden Tag zum Scheiterhaufen reif wären,“ unterbrach sie der Oberförster. „Ja, ja,“ wandte er sich zu den Anderen, „die Sabine ist noch vom alten Thüringer Schlag. Es fehlt ihr sonst nicht an Verstand, und sie hat auch das Herz auf dem rechten Flecke; wenn aber der Hexenglaube bei ihr in’s Spiel kommt, da verliert sie Beides und ist im Stande, ein armes, altes Weib, weil es rothe Augen hat, von der Thür wegzuschicken, ohne einen Bissen Brod abzuschneiden.“

„Nu, so schlimm ist’s doch nicht, Herr Oberförster,“ entgegnete die Alte gekränkt, „ich gebe ihr zu essen, aber ich ziehe die Daumen ein und antworte weder ja, noch nein – und das kann mir kein Mensch verdenken.“

Alle lachten über dies Präservativ gegen das Behexen, welch’ ersteres augenscheinlich sehr ernst gemeint war. Die alte Haushälterin aber strich die Möhrenüberreste von der Schürze und erhob sich, um das Abendbrod für die Leute herzurichten, die heute früher essen sollten, denn bis zum Einbruch der Nacht gab es noch tüchtig zu thun im alten Schlosse.


4.

Als Elisabeth am anderen Morgen die Augen aufschlug, verkündete die große Wanduhr drunten in der Stube gerade die achte Stunde und überzeugte sie zu ihrem Verdruß und Schrecken, daß sie sich verschlafen habe. Daran aber war nichts schuld, als ein tiefer, häßlicher Morgentraum… Der goldene, poetische Duft, den ihre Phantasie gestern um Sabinens Erzählung gehaucht hatte, [36] war über Nacht zur trüben Wolke geworden, deren Druck noch im Augenblick des Erwachens auf ihr lastete… Sie war in Todesangst durch die wüsten, weiten Säle des alten Schlosses gelaufen, immer verfolgt von Jost, dem sich die Haare auf der todtblassen Stirn aufbäumten und der sie mit den schwarzen Augen anglühte, und hatte eben unter tiefem, nie empfundenem Grauen die Hände ausgestreckt, um ihn zurückzustoßen, als sie erwachte. … Noch klopfte ihr das Herz, und sie dachte mit Schauder an jene Unglückliche auf der Mauer, die vielleicht, ebenso gehetzt wie sie, verzweiflungsvoll den Tod suchte und in dem fürchterlichen Augenblick von dem Verfolger ergriffen wurde.

Sie sprang auf und kühlte sich das Gesicht in frischem Wasser; dann öffnete sie das Fenster und sah hinunter in den Hof. Dort saß Sabine unter einem Birnbaum, mit dem Butterfaß beschäftigt. Das ganze Hühnervolk hatte sich um sie geschaart und sah erwartungsvoll zu ihr empor, denn von dem großen Butterbrod, das neben ihr auf dem Steintisch lag, warf sie dann und wann einige Brocken auf den Boden, wobei sie nicht unterließ, die Unverschämten zu schelten und die Unterdrückten zu trösten.

Als sie das junge Mädchen erblickte, nickte sie freundlich und rief hinauf, Alles, was im Forsthaus Hände und Füße habe, arbeite seit sechs Uhr droben im alten Schlosse. Auf Elisabeth’s Vorwurf, weshalb man sie nicht geweckt, entgegnete sie, das sei auf den Wunsch der Mama geschehen, weil ihr Töchterlein sich in den letzten Wochen weit über seine Kräfte angestrengt habe.

Sabinens gutes, friedvolles Gesicht und die frische Morgenluft beruhigten Elisabeth’s Nerven augenblicklich und führten die Gedanken des jungen Mädchens in die Wirklichkeit zurück, die sich ja gerade jetzt so hell und rosig gestaltete… Sie gab sich unsägliche Mühe, sich selbst auszuschelten, daß sie, der väterlichen Ermahnung des Onkels entgegen, gestern bis um Mitternacht am Fenster gelehnt und über die mondbeglänzte Wiese in den schweigenden Wald hinausgesehen hatte. Allein der angeregten Phantasie gegenüber spielt der Verstand oft eine klägliche Rolle. Mitten in der Untersuchung verschwinden plötzlich Ankläger und Zeugen, er sieht sich allein auf seinem Richterstuhl und muß es sich sogar gefallen lassen, daß er hinter die Coulissen gesteckt wird, während um und neben ihm die Spectakelstücke der Phantasie von vorn anheben. Deshalb verstummten Elisabeth’s ärgerliche Betrachtungen auch sehr bald vor dem Bilde, das sich in einem Nu vor ihrem inneren Auge aufrollte und sie noch einmal den ganzen Zauber einer Mondnacht im Walde nachempfinden ließ.

Nachdem sie sich angekleidet und rasch ein Glas frische Milch getrunken hatte, eilte sie den Berg hinauf. Der Himmel war bedeckt, aber nur mit jener hellen, hohen Wolkenschicht, die zwar keinen goldenen, aber einen desto frischeren Frühlingstag verheißt. Deswegen dauerte auch heute das Morgenconcert der Vögel etwas länger und die Thautropfen schaukelten sich noch so voll in den Blumenkelchen, als sei ihr zartes Dasein für heute unantastbar.

Als Elisabeth in das weit offene Hauptthor des Schlosses trat, fiel ihr sogleich ein ungeheurer, grüner Hügel neben dem Brunnen in’s Auge. Es waren Distelbüsche, Farrenkrautbündel und Brombeerranken, die, ihrem alten, trauten Wohnplatz, dem Garten entrissen, hier ihr lustiges Leben verhauchen mußten. Der Weg durch den gewölbten Thorbogen des zweiten Hofes bis zur Gitterthür war mit verzetteltem Grünzeug bestreut, als sollte ein fröhlicher Hochzeitszug durch die Ruinen wandeln, und sogar an den Sims eines hohen Fensters, das droben in feinem Spitzbogen eine prächtige, durchbrochene Steinrosette mit Resten bunter Glasmalerei zeigte, hatten sich im Vorübertragen einige Ranken gehängt und legten ihr lebendiges Grün traulich neben die steinernen Kleeblätter der heiligen Dreifaltigkeit, die nicht verkennen ließen, daß der dunkle, wüste Raum da drinnen einst die Schloßcapelle gewesen war.

Der Garten, in welchem man gestern nicht zwei Schritte weit vordringen konnte, erschien dem jungen Mädchen völlig verwandelt. Ein beträchtliches Stück lag aufgedeckt und zeigte nun die Reste zierlicher Anlagen. Elisabeth konnte auf einem ziemlich gesäuberten Hauptweg, über den erschreckte Eidechsen blitzschnell huschten, bis nach dem grünen Damme gelangen, den man gestern von der Ferne aus entdeckt hatte. Zu beiden Seiten des langen, berasten Erdaufwurfes führten breite, ausgewaschene Steintreppen in die Höhe bis zu einer niedrigen Brüstung, über die man in den Wald und da, wo die Bäume ein wenig auseinander traten, hinunter in das Thal sehen konnte, wo das Forsthaus mit seinem blauen Schieferdach voll weißer Tauben behaglich auf der grünen Wiese lag. Zu Füßen des Walles, gerade da, wo der Hauptweg endete, befand sich ein kleines Bassin, in das eine grünbemooste Gnomengestalt einen starken, krystallhellen Wasserstrahl spie. Zwei Linden wölbten sich über dem rauschenden Brunnen und warfen ihren wohlthätigen Schatten auf die zarten Vergißmeinnicht, die hier massenhaft aus der feuchten Erde sproßten und das Bassin in dunkler Bläue umfingen.

Dem Damm gegenüber lag der Zwischenbau; er sah mit seinen zurückgeschlagenen Fensterläden und der großen offenen Thür im Erdgeschoß heute so hell und gastlich aus, daß sich Elisabeth freudig dem süßen Gefühl hingab, hier auf heimischem Boden zu stehen. Sie überblickte den Garten und dachte an ihre Kinderjahre, an jene Momente voll unbezwingbarer Sehnsucht, wo sie beim Spaziergang hinter den Eltern zurückblieb und, ihr Gesicht an das festgeschlossene Gitter gepreßt, in fremde Gärten hineinsah. Dort tummelten sich glückliche Kinder ungezwungen auf den Rasenplätzen; sie durften die aufgeblühten Rosen am Stock in ihre kleinen Hände nehmen und sich an dem Duft erquicken, so lange sie wollten… Und was mußte das für eine Lust sein, den kleinen Körper unter einen vollen Strauch zu ducken und gerade so im Grünen zu sitzen, wie die großen Leute in einer Laube! Damals blieb es bei Wunsch und Sehnsucht. Nie öffnete sich eine der geschlossenen Thüren vor dem Kind mit den bittenden Augen, und es wäre doch schon zufrieden gewesen, wenn man durch das Gitter einige Blumen in seine kleinen Hände gelegt hätte!

Während Elisabeth auf dem Wall stand, erschien der Oberförster an einem der oberen Fenster des Zwischenbaues. Als er das junge Mädchen erblickte, wie es, die zarte Gestalt an die Brüstung gelehnt und den schönen Kopf halb nach dem Garten gewendet, sinnend vor sich hinsah, da überflog ein unverkennbarer Ausdruck von Wohlgefallen und stiller Freude sein Gesicht.

Auch Else wurde den Onkel gewahr, nickte lustig ihm zu und lief schnell die Stufen hinab nach dem Hause. Da sprang ihr der kleine Ernst aus der großen Halle entgegen, und lachend fing sie ihn in ihren Armen auf.

Seiner enthusiastischen Beschreibung nach hatte der Kleine schon Unglaubliches geleistet. Er hatte dem Maurer, der den Heerd einrichtete, Backsteine zugetragen, war von Mama beim Ausklopfen der Betten beschäftigt worden und meinte mit großem Stolz, die Herren und Damen auf der wollenen Tapete sähen viel schöner und freundlicher aus, seit er mit der Bürste über ihre staubigen Gesichter gefahren sei. Er schlang entzückt die Arme um den Hals der Schwester, die ihn die Treppe hinauftrug, und hörte nicht auf, zu versichern, daß er es hier oben doch tausendmal schöner finde, als in B.

Der Oberförster empfing Elisabeth droben im Vorsaal. Er ließ ihr kaum Zeit, die Eltern zu begrüßen, und führte sie, ohne ein Wort zu sagen, in das Zimmer mit den Gobelins. … Welche Veränderung! … Das grüne Bollwerk vor dem Fenster war verschwunden, draußen, jenseits der äußeren Mauer, trat der Wald auf beiden Seiten coulissenartig zurück und gewährte einen vollen Einblick in ein weites Thal, das Elisabeth wahrhaft paradiesisch erschien.

„Das ist Lindhof,“ sagte der Oberförster und zeigte auf ein ungeheures Gebäude im italienischen Geschmack, das sich ziemlich nahe an den Fuß des Berges drängte, auf welchem Gnadeck lag. „Ich habe Dir hier etwas mitgebracht, das Dir sofort jeden Baum drüben auf den Bergen und jeden Grashalm drunten auf den Wiesen vorführen wird,“ fuhr er fort, indem er dem jungen Mädchen ein gutes Perspectiv vor die Augen hielt.

Da rückten die gewaltigen, ernsten Bergkuppen herüber, deren granitne Gipfel hie und da den Wald zerrissen und auf ihrer äußersten Spitze eine einsame Tanne gen Himmel streckten. Hinter diesen nächsten Bergen thürmten sich zahllose bewaldete Rücken im blauen Dämmerlichte, und aus einem fernen dunklen Thale, das nur wie ein tiefer Einschnitt zwei Bergriesen voneinander trennte, tauchten zwei schlanke, gothische Thürme bleich und nebelhaft empor. Ein kleiner Fluß, eine von Pappeln eingefaßte Chaussee und mehrere schmucke Dörfer belebten den Hintergrund des Thales; vorn lag das Schloß Lindhof, umgeben von einem im grossartigsten Style angelegten Park. Unter den Fenstern des Schlosses breitete sich ein weiter, kurzgeschorener Rasenplatz aus, [38] Unter dem letzten Baum der Allee stand ein Ruhebett. Eine junge Dame lag darauf; sie hatte den reizenden Kopf zurückgelehnt, so daß ein Theil ihrer langen, kastanienbraunen Locken über das Polster herabfiel. Unter dem Saum des langen, weißen Mouslinkleides, das die ganze Gestalt bis an den Hals züchtig verhüllte, erschienen zwei zarte Füßchen in goldglänzenden Saffianschuhen. Die Dame hielt zwischen den feinen, fast durchsichtig mageren Fingern einige Aurikeln, welche sie gedankenlos unaufhörlich hin und her drehte. Nur auf den schmalen Lippen lag ein schwacher Anflug von Roth, sonst war das Gesicht lilienweiß, man hätte sich versucht fühlen können, seine Lebenswärme zu bezweifeln, hätten nicht die blauen Augen in einem wundersamen Ausdruck geleuchtet. Diese Augen mit diesem Ausdruck aber waren auf das Gesicht eines Mannes gerichtet, der, gegenübersitzend, ihr vorzulesen schien. Elisabeth konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er wendete ihr den Rücken zu. Er schien jung, groß und schlank zu sein und hatte üppiges, dunkelblondes Haar.

„Ist die reizende Dame da drunten die Baronin Lessen?“ fragte Elisabeth gespannt.

Der Oberförster nahm das Perspectiv. „Nein,“ sagte er, „das ist Fräulein von Walde, die Schwester des Besitzers von Lindhof. Du nennst sie reizend, und ihr Kopf ist es auch, aber ihr Körper ist krüppelhaft – sie geht an der Krücke.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 4, S. 49–52
Fortsetzungsroman – Teil 4


[49] Frau Ferber trat zu den am Fenster Stehenden und nach der Lindenallee Hinabblickenden. Auch sie sah durch das Glas und fand das Gesicht der unten auf dem Ruhebett ausgestreckten jungen Dame überaus lieblich; sie hob besonders den Ausdruck von Seelengüte hervor, der „die Züge verkläre“.

„Ja,“ sagte der Oberförster, „gut und mildthätig soll sie auch sein. Als ich hierher kam, war die ganze Umgegend ihres Lobes voll… Aber auch darin hat sich das Blättchen gar sehr gewendet, seit die Baronin Lessen das Regiment im Hause führt. … Da kommt kein Almosen mehr unter die Armen, das nicht erst mit dem Muckerthum auf der Goldwage gelegen hätte… Wehe dem armen Bittsteller, er kriegt keinen Pfennig Unterstützung, und noch spitze Bemerkungen obendrein, wenn es sich nämlich herausstellt, daß er lieber beim Pfarrer in Lindhof die Predigt hört, als in der Schloßcapelle, wo ein Candidat – der Hauslehrer bei der Baronin – allsonntäglich Feuer und Schwefel und alle erdenklichen Höllenqualen von der Kanzel herab auf die Häupter der Gottlosen schleudert.“

„Solche Zwangsmaßregeln sind ein sehr übles Mittel, den christlichen Sinn im Volke wieder zu erwecken,“ meinte Frau Ferber.

„Sie schlagen ihn vollends todt und füttern dafür die Heuchelei groß, sage ich!“ rief zornig der Oberförster. „Schon deshalb, weil sie selbst dazu das Beispiel geben… Da lesen sie jederzeit in der Bibel von der christlichen Demuth und werden doch von Tag zu Tag hochmüthiger und anmaßender; ja, sie wollen einem sogar weismachen, ihr hochgeborner Leib sei schon aus einem ganz anderen Stoffe, als der ihrer niederen Brüder in Christo… Wenn Du Almosen giebst, so lasse Deine linke Hand nicht wissen, was Deine rechte thut, so steht geschrieben … ein Huhn macht aber wahrlich nicht mehr Geschrei um sein eben gelegtes Ei, als diese Leute um ihre milden Thaten. Da giebt’s Collecten, Armenlotterieen u. dergl. m., wobei die ganze Umgegend unaufhörlich gebrandschatzt wird; wenn es aber gilt, da zu nehmen, wo am meisten zu finden ist, im eigenen Geldbeutel, da hört der Spaß auf, wie man zu sagen pflegt… Da drunten in dem Hause da bimmelt das Glöckchen so und so viel Mal des Tages; dann heißt es in der Umgegend – denn man hört’s weit und breit – ‚jetzt beten die im Schlosse‘. Das Kämmerlein, in welchem sie nach Gottes Gebot zu ihm reden sollen, ist ihnen zu klein und nicht nach ihrem Geschmack. … Aber mir ist nicht allein das Gesperr ein Gräuel; nein, es ist auch geradezu gottheillos, so mir nichts, dir nichts das Heiligste in die Berufsgeschäfte hineinzuziehen… Jetzt Frage ich, ob die Jungfer, die eben ein glühendes Plätteisen handhabt, oder der Koch, der einen heiklen Braten in der Röhre hat, sich freuen kann, wenn das Glöckchen mit einem Mal anfängt?“

„Ja, in diese Art Andacht setze ich allerdings einige Zweifel,“ sagte lächelnd Frau Ferber. „Und ist Herr von Walde mit den Reformen der Baronin Lessen einverstanden?“ fuhr sie fort.

„Nach Allem, was ich in der Beziehung von ihm höre, wahrscheinlicherweise nicht; aber was hilft das? … Der durchstöbert vielleicht im Augenblick die Pyramiden, um Licht in die alten Zeiten zu bringen; daß seine Frau Cousine unterdeß im christlichen Eifer das anrüchige Licht der Gegenwart nach Kräften mit auszublasen sucht, das kann er ja nicht wissen… Er mag übrigens auch seinen ganz gehörigen Sparren haben… Der Fürst von L., dem er sehr nahe steht, soll in früheren Jahren lebhaft eine Verbindung zwischen ihm und einer jungen Dame am Hofe gewünscht haben; er hat, dem Vernehmen nach, die Partie ausgeschlagen, weil das Fräulein nicht die erforderliche Anzahl Ahnen besitze. Ich glaube überhaupt nicht, daß er sich noch verheirathet,“ setzte der Oberförster hinzu. „Er ist nicht mehr ganz jung, hängt viel zu sehr am Wanderleben und soll sich auch im Ganzen nie was aus den Weibsleuten gemacht haben… Ich will gleich meinen kleinen Finger verwetten, daß der da drunten mit dem Buch in der Hand diese meine Ansicht theilt und Lindhof und alle die anderen schönen Besitzungen in Sachsen und Gott weiß, wo noch, im innersten Schrein seiner Seele als unverlierbares Eigenthum betrachtet.“

„Hat er Ansprüche daran?“ fragte Frau Ferber.

„Freilich wohl. Er ist der Sohn der Baronin Lessen. Außer dieser Familie haben die Geschwister von Walde keine Verwandten in der ganzen, weiten Welt. Die Baronin war zuerst mit einem Herrn von Hollfeld verheirathet; aus dieser Ehe stammt der junge Mann da drunten, der durch den frühen Tod seines Vaters Herr von Odenberg, einer großen Besitzung jenseits L., geworden ist. Die schöne Wittwe hat damals gemeint, sie müsse eiligst ihre Freiheit benützen, um wenigstens noch eine Staffel auf der Leiter menschlicher Glückseligkeit und Vollkommenheit zu ersteigen; diese Staffel aber konnte natürlicherweise nur der Freiherrnrang sein, und deshalb wurde Frau von Hollfeld eines schönen Tages die Gemahlin des Baron Lessen. Sein Name war zwar etwas anrüchig, es klebten einige Thatsachen daran, die man in niedrigerer Sphäre spießbürgerlicherweise unehrenhaft nennt, aber das schadete nichts, er war ja auch Kammerherr, der Schlüssel am Rockknopf schließt das Hofparadies auf, und davor müssen sich selbst die gewaltigen Schlüssel des heiligen Petrus verstecken, trotz aller Verheißungen, die sie einst wahrmachen sollen. Der Baron machte übrigens nach [50] zehnjähriger Ehe seine Gemahlin abermals zur Wittwe und hinterließ ihr, außer einer kleinen Tochter, eine enorme Schuldenlast. … Es mag ihr nun freilich gefallen, in Lindhof unumschränkt die Herrin spielen zu dürfen, denn wie ich höre, hat sie auf dem Gute ihres Sohnes weder Sitz noch Stimme.“

Eine Magd aus dem Forsthaus unterbrach hier das Gespräch, indem sie, mit Scheuereimer und Kehrbesen bewaffnet, durch unzweideutige Bewegungen zu erkennen gab, daß jetzt ihr Herrscheramt hier beginne. Das Fernrohr wurde eiligst zusammengeschraubt, und während der Oberförster daran ging, die Fenstersimse an der Gartenseite von den Umarmungen der Schlingpflanzen vollends zu befreien, nahmen Frau Ferber und Elisabeth die inmitten der Zimmer zusammengestellten Möbel in Angriff, um deren ursprünglichen Glanz mittels Staubtuch und Bürste wieder herzustellen.


5.

Pfingsten war vorüber. Die Glocken, die ehernen, hatten sich in’s Stillleben zurückgezogen und blickten droben schwarz und unbeweglich durch die Schalllöcher, als seien sie die Särge des melodischen Lebens, das während der Feiertage die Thürme umbraust hatte. Die bunten Glöckchen im Walde aber, lose auf grünem Stengel hängend und ihres feierlichen Amtes wohl bewußt, konnten das Fest nicht vergessen.

Droben im alten Schloß Gnadeck harmonirte die nachhaltige Festtagsstimmung mit der des Waldes, obgleich Ferber seine Geschäfte übernommen und außerdem die unvermeidlichen Antrittsbesuche in L. abzumachen hatte. Frau Ferber und Elisabeth hatten sich durch Sabine bedeutende Aufträge eines Weißwaarengeschäfts in L. zu verschaffen gewußt und waren nebenbei im Garten beschäftigt, der auch in diesem Jahre noch nach Kräften seinen Tribut abgeben sollte. Daß trotz dieser Rührigkeit immer noch ein sonntäglicher Hauch durch die Räume des Zwischenbaues wehte, lag in der gehobenen Stimmung der Familie selbst, die den Einfluß eines glücklichen Wendepunktes in ihrem Leben ungeschwächt fortempfand und sich jeden Augenblick angeregt fühlte, das Sonst mit dem Jetzt zu vergleichen; das Waldleben, so ungewohnt und neu, wirkte fast berauschend auf die Gemüther.

Die zärtlichen Eltern hatten Elisabeth das Zimmer mit den Gobelins angewiesen, weil es die schönste Aussicht bot und gleich bei der ersten Musterung des Zwischenbaues von dem jungen Mädchen für das hübscheste und gemüthlichste erklärt worden war. Die unheimliche Thür, die nach dem großen Flügel führte, hatte man wieder zugemauert; die hohen Eichenflügel mit den Messingschlössern und Riegeln bedeckte das Mauerwerk und ließ nicht ahnen, daß jenseits die Wüstenei begann. Den Hintergrund des Zimmers füllte eines der neu hergerichteten Himmelbetten aus; in der Nähe des Fensters befand sich der alterthümliche Schreibtisch, außer einem altmodischen Porcellan-Schreibzeug und den nöthigen Schreib-Utensilien auch noch zwei hübsche, kleine Vasen voll frischer Blumen auf seiner Platte tragend, und draußen auf dem breiten Steinsims, von der Krone eines Syringenbusches schmeichelnd umspielt, stand der gelbe Messingkäfig, in welchem Hänschen mit dem ganzen Neid einer verzogenen Bravoursängerin seine schmetternden Triller vor denen der Waldvirtuosen geltend zu machen suchte.

Als das Zimmer eingerichtet wurde und Frau Ferber aller Augenblicke einen neuen Gegenstand brachte, um den kleinen Raum auch recht anmuthend auszuschmücken, da trat der Vater endlich an die längste Wand, breitete die Arme darüber und verbannte den kleinen Divan, der eben hereingeschoben werden sollte, wieder in das Nebenzimmer.

„Halt, diesen Platz reservire ich mir!“ rief er lachend. Er holte eine große Console von dunklem Holz und befestigte sie an der Wand, die gerade an dieser Stelle eine sehr breite Holzleiste zeigte. „Hier,“ fuhr er fort, indem er eine Büste Beethoven’s darauf stellte, „hier soll er, der Einzige, ganz allein thronen!“

„Aber das sieht ja abscheulich aus,“ meinte Frau Ferber.

„Na, warte nur. Morgen oder übermorgen wirst Du Dich überzeugen, daß mein Arrangement nicht so sehr zu verwerfen ist und daß für Elisabeth noch ein ganz besonderer Vortheil aus den vorgefundenen Möbeln entspringt.“

Am folgenden Tag, es war der Pfingstabend, fuhr er mit dem Oberförster nach der Stadt, und als er gegen Abend zurück kehrte, kam er nicht durch das Mauerpförtchen. Das große Thor wurde weit geöffnet, und vier kräftige Männer, trugen einen großen, glänzenden Gegenstand durch die Ruinen. Elisabeth stand gerade in der Nähe des Küchenfensters und war – zum ersten Mal in der neuen Wohnung – mit der Zubereitung des Abendbrodes beschäftigt, als die Männer mit ihrer Last den Garten betraten.

Sie schrie laut auf; denn das war ja ein Clavier, ein schönes, tafelförmiges Instrument, das ohne Weiteres in den Zwischenbau hineingetragen und droben im Gobelin-Zimmer unter Beethoven’s Büste gestellt wurde. Elisabeth weinte und lachte in einem Athem und schlang jubelnd die Arme um den Hals des Vaters, der sein einziges kleines Capital – den Erlös aus den Möbeln in B. – hingegeben hatte, um ihr das, was die Wonne ihres Lebens war, wieder zu verschaffen. Dann aber öffnete sie das Instrument, und gleich darauf schlugen mächtige Accorde an die engen Wände, die so lange das Schweigen des Todes umfangen hatte.

Der Oberförster war auch mitgekommen, denn er wollte Elisabeth’s Freude und Ueberraschung sehen. Er lehnte jetzt stumm an der Wand, als die wunderbaren Melodieen unter den Fingern des jungen Mädchens hervorrauschten. In diesem Augenblick sprach ja die glühende, mächtige Seele, die in der lieblichen, jungen Hülle wohnte, zum ersten Mal in ihrer ganzen Gewalt zu ihm. Dieser feingemeißelte Kopf, wie wunderbar beseelt und gedankenschwer erhob er sich jetzt über der zarten Gestalt, welche der ganze Zauber des Mädchenhaften und Tiefsinnigen umwob! Bis dahin waren ja nur Neckereien und Witzworte zwischen ihr und dem Onkel hin- und hergeflogen. Er nannte sie der Leichtigkeit ihrer Bewegungen und ihrer Gedankenschnelle halber, die sie nie um eine witzige Replik verlegen sein ließ, oft seinen Schmetterling; am meisten aber „Gold-Else“, indem er behauptete, ihr Haar sei so golden, daß er es durch den dichtesten Wald blitzen und schimmern sähe, wie einst Jung Roland das Kleinod im Schild des Riesen.

Als Elisabeth geendet, legte sie beide Arme über das Clavier, als wolle sie den neuen Besitz umarmen, und lächelte glückselig vor sich hin; der Oberförster aber näherte sich ihr leise, küßte sie auf die Stirn und ging schweigend hinaus.

Von diesem Moment an kam er jeden Abend hinauf in’s alte Schloß. Sobald die letzten Streiflichter der Sonne auf den Baumwipfeln erloschen waren, mußte sich Elisabeth an das Clavier setzen. Die kleine Familie nahm Platz in der Nische des weiten Bogenfensters und versenkte sich in das Gedankenmeer des Meisters, dessen Bild von der Wand herab ernst auf die begeisterte junge Spielerin schaute. Dann dachte Ferber wohl daran, wie sich Elisabeth das Leben im Walde ausgemalt hatte als der Brief vom Försteronkel in B. eingelaufen war. Elfen und Kobolde erschienen freilich nicht; wohl aber zogen die Geister die der gewaltige Tondichter in die Töne gebannt hat, entfesselt auf dem Musikstrom hinaus und hauchten in die feierliche Stille jenes geheimnißvolle Leben, dessen Wonnen und Leiden, wenn auch durch jede empfindende Menschenbrust fluthend, auszusprechen und zu verkörpern doch nur dem Genius beschieden ist.

Eines Nachmittags saß die Familie Ferber beim Kaffee. Der Oberförster war auch heraufgekommen, hatte Zeitung und Pfeife mitgebracht und ließ es sich gern gefallen, daß ihm Elisabeth eine Tasse des dampfenden Trankes einschenkte Er wollte eben einen interessanten Artikel vorlesen, als draußen am Mauerpförtchen geläutet wurde. Zum Erstaunen Aller trat, nachdem der kleine Ernst geöffnet hatte, ein Bedienter vom Schlosse zu Lindhof ein und überreichte Elisabeth einen Brief. Er war von der Baronin Lessen. Sie begann damit, dem jungen Mädchen sehr viel Schmeichelhaftes zu sagen über sein vortreffliches Clavierspiel, das sie bei ihren Spaziergängen durch den Wald seit einigen Abenden belauscht haben wollte, und knüpfte daran die Frage, ob Fräulein Ferber geneigt sei, natürlich unter vorher festzustellenden Bedingungen, wöchentlich einige Mal mit Fräulein von Walde vierhändig zu spielen.

Der Brief war in sehr höflichem Tone gehalten; gleichwohl warf ihn der Oberförster, nachdem er ihn zum zweiten Mal durchgelesen, unmuthig auf den Tisch und sagte, Elisabeth scharf anblickend:

„Du gehst nicht darauf ein, wie ich denke?“

„Und warum nicht, lieber Carl?“ frug Ferber an ihrer Stelle.

[51] „Weil Elisabeth nun und nimmermehr in den Kram da drunten paßt!“ rief ziemlich heftig der Oberförster. „Willst Du das, was Du sorgfältig angebaut hast, unter giftigem Mehlthau oder Reif vergehen sehen – nun, so thue es.“

„Ich habe allerdings,“ entgegnete Ferber ruhig, „bis jetzt die Seele meines Kindes allein in den Händen gehabt und bin, wie es meine Pflicht war, eifrig besorgt gewesen, jeden Keim zu wecken, jedes Pflänzchen, das ausbiegen wollte, zu stützen. Dabei ist es mir indessen nie eingefallen, eine kraftlose Treibhauspflanze erziehen zu wollen, und wehe mir und ihr, wenn das, was ich seit achtzehn Jahren unermüdlich gehegt und gepflegt habe, wurzellos im Boden hinge, um von dem ersten Windhauch des Lebens hinweggerissen zu werden… Ich habe meine Tochter für das Leben erzogen; denn sie wird den Kampf mit demselben so gut beginnen müssen, wie jedes andere Menschenkind auch. Und wenn ich heute meine Augen schließe, so muß sie das Steuer selbst ergreifen können, das ich bisher für sie geführt habe… Sind die Leute drunten im Schlosse in der That kein Umgang für sie, nun, dann wird sich das sehr bald herausstellen. Entweder, es fühlen beide Theile sofort, daß sie nicht für einander passen, und das Verhältniß löst sich von selbst wieder, oder aber Elisabeth geht an dem vorüber, was ihren Grundsätzen widerspricht, und es bleibt deshalb nicht an ihr haften. Und weißt Du denn, ob Elisabeth in späteren Jahren je eine andere Stütze haben wird, als sich selbst, je eine fremde Kraft, welche die Verantwortlichkeit für sie mit übernimmt?“

Der Oberförster warf einen schnellen Blick auf das junge Mädchen, das seine Augen feurig auf den Vater geheftet hielt. Er sprach ihr aus der Seele, der für sie der Inbegriff des Unfehlbaren und der Weisheit war, das lag sprechend in ihren Zügen.

„Vater,“ sagte sie, „Du sollst sehen, daß Du Dich nicht geirrt hast, daß ich nicht schwach bin… Ich habe von jeher das abgenützte Bild vom Epheu und der Eiche nicht leiden mögen, und werde es am allerwenigsten an mir wahr machen… Laß mich getrost in’s Schloß hinunter gehen, Onkelchen,“ wandte sie sich schelmisch lächelnd an den Oberförster, dem die grimmige Falte in möglichster Entwickelung zwischen den Augenbrauen erschienen war. „Sind seine Bewohner herzlos, ei, so setzt das noch lange nicht voraus, daß ich sofort zum Kannibalen werden und mein eigenes Herz unter dem Mühlstein der Grausamkeit zermalmen muß. Wollen sie mich treten und verletzen durch Hochmuth, dann setze ich mich innerlich auf einen so hohen Standpunkt, daß alle Pfeile umsonst nach mir verschossen werden, und sind sie Heuchler, nun, so sehe ich der Wahrheit um so fester in’s sonnige Angesicht und weiß dann desto klarer, wie häßlich jene schwarzen Masken sind.“

„Schön gesagt, unvergleichliche Else, und wäre auch wunderleicht durchzuführen, wenn nur die Leute die Freundlichkeit haben wollten, ihre Masken so handgreiflich zur Schau zu tragen… Wirst Dich schon wundern, wenn Du eines Tages Spreu da findest, wo Du so und so lange auf Gold geschworen hast. Nun, es soll mir eine für Dich freilich nicht eben erfreuliche Genugthuung sein, wenn ich sehe, wie eines schönen Tages das heldenmüthige Küchlein eilig und verscheucht unter die schützenden Flügel des heimischen Daches kriecht.“

„Ach!“ lachte Frau Ferber, „da kannst Du warten, Du kennst unsern kleinen Eisenkopf schlecht! … Aber laßt uns einen Entschluß fassen. Meiner Ansicht nach wäre es passend, wenn Elisabeth sich morgen den Damen vorstellte.“ –

Tags darauf, und zwar Nachmittag gegen fünf Uhr, stieg Elisabeth den Berg hinab. Ein schön gehaltener Weg führte durch den Wald, der in dem Park gewissermaßen aufging. Kein Gitter trennte den ersten, herrlich gepflegten Rasenplan, der mit seinen feinen, elastisch auf- und abwehenden Gräsern wie ein duftiges, grünes Gefieder dalag, von dem mit knorrigen Wurzeln bedeckten Waldboden.

Elisabeth hatte ein frischgewaschenes, helles Muslinkleid angezogen und ein weißer, runder Strohhut bog sich leicht über ihre Stirn. Der Vater gab ihr das Geleite bis an die erste Wiese, dann schritt sie allein muthig vorwärts. Keine menschliche Seele begegnete ihr auf dem langen Wege durch die reizenden Anlagen; ja, es schien, als flüstere es hier im Laub der Boskets tiefer, als droben im Walde, und als hüteten sich selbst die Vögel, allzulaut zu werden. Sie erschrak vor dem Knirschen des Sandes unter ihren Füßen, als sie in die Nähe des Schlosses kam, und wunderte sich über sich selbst, wie diese bängliche Stille sie mit einem Mal so verzagt mache.

Endlich hatte sie den Hauptflügel erreicht und erblickte das erste Menschenangesicht. Es war ein Bedienter, der in einem imposanten Vestibüle geschäftig, aber möglichst geräuschlos hantirte. Auf ihre Bitte, sie bei der Baronin zu melden, schlüpfte er die breite, gegenüberliegende Treppe hinauf, an deren Fuß zwei hohe Statuen standen, die ihre weißen Glieder halb unter dem dunklen Laub mehrerer Orangenbäume versteckten. Sehr bald zurückkehrend, meldete er, daß sie willkommen sei, und eilte flüchtigen Fußes wieder voraus, kaum mit der Fußspitze die Stufen berührend.

Beklommenen Herzens folgte ihm Elisabeth. Nicht der sie umgebende Glanz war es, was sie niederdrückte, nein, es war das Gefühl des Alleinstehens in dieser neuen, ungekannten Sphäre. Der Diener führte sie durch einen langen Corridor, an den sich mehrere Zimmer anschlossen, die, außerordentlich reich und elegant ausgestattet, jene tausend Kleinigkeiten in sich schlossen, welche ein unbefangenes und unverwöhntes Menschenkind auf die Vermuthung bringen müssen, es sei in eine Waarenausstellung gerathen.

Der Bediente öffnete leise und behutsam eine Flügelthür und ließ das junge Mädchen eintreten.

In der Nähe des Fensters, Elisabeth gegenüber, lag auf einem Ruhebett eine dem Anschein nach sehr leidende Dame. Ihr Kopf ruhte auf einem weißen Kissen, warme Decken verhüllten fast die ganze Gestalt, die jedoch – so viel ließ sich trotz der Umhüllung beurtheilen – von beträchtlichem Embonpoint sein mußte. In der Hand hielt sie ein Flacon.

Die Dame richtete sich ein wenig in die Höhe, so daß Elisabeth vollständig ihr Gesicht sehen konnte; es war voll und blaß und erschien im ersten Augenblick nicht unangenehm. Bei schärferer Beobachtung jedoch mußte man finden, daß die großen, blauen Augen, von weißblonden Wimpern umrahmt und unter ebenso hellen, in die Höhe gezogenen Brauen liegend, kalt wie Gletschereis blickten, ein Ausdruck, den ein Zug von Hochmuth um Lippen und Nasenflügel und ein stark hervortretendes, breites Kinn keineswegs milderten.

„Ach, es ist sehr freundlich von Ihnen, mein Fräulein, daß Sie kommen!“ rief die Baronin mit schwacher, aber trotzdem hart und spröde klingender Stimme, indem sie mittels einer Handbewegung nach einem ihr nahe stehenden Fauteuil deutete und das sich höflich verbeugende junge Mädchen aufforderte, sich zu setzen. „Ich habe,“ fuhr sie fort, „meine Cousine bitten lassen, sich bei mir mit Ihnen zu verständigen, da ich leider zu unwohl bin, Sie hinüber führen zu können.“

Der Empfang war jedenfalls höflich und zuvorkommend, obgleich sich in Ton und Bewegung der Dame eine bedeutende Dosis Herablassung nicht verkennen ließ.

Elisabeth setzte sich und wollte eben auf die Frage, wie es ihr in Thüringen gefalle, antworten, als die Thür heftig aufgerissen wurde. Ein kleines, ungefähr achtjähriges Mädchen mit fliegenden, etwas röthlichen Locken stürzte herein, in ihren Armen einen niedlichen, zappelnden und quikenden Hund an sich drückend.

„Ali ist so unartig, Mama; er will gar nicht bei mir bleiben!“ rief die Kleine fast athemlos, indem sie den Hund auf den Teppich warf.

„Wahrscheinlich hast Du das kleine Thier wieder einmal zu arg geneckt, mein Kind,“ sagte die Mama. „Ich kann Dich übrigens hier nicht brauchen, Bella; Du machst so argen Lärm und ich habe Kopfweh… Geh’ hinüber auf Dein Zimmer.“

„Ach, dort ist’s so langweilig. Miß Mertens hat mir verboten, mit Ali zu spielen, immer soll ich die alten Fabeln lernen, die ich gar nicht leiden mag.“

„Nun, so bleibe hier, aber verhalte Dich ruhig.“

Die Kleine strich dicht an Elisabeth vorüber, wobei sie deren Anzug von unten bis oben musterte, und stieg auf einen gestickten Fußschemel neben der Spiegelconsole, um eine Vase voll frischer Blumen besser erreichen zu können. In einem Nu verwandelte sich das reizend geordnete Bouquet in ein wildes Chaos unter den kleinen Händen, die sich eifrig bemühten, einzelne Blumen in die feingestickten Löcher der Vorhangsbordüre zu placiren. Bei diesem Arrangement liefen dicke Tropfen der trüben Lache, in der die Blumen gestanden, von den Stielen auf Elisabeth’s Kleid, so [52] daß diese sich genöthigt sah, weiter zu rücken, denn es hatte nicht den Anschein, als ob die kleine Vandalin selbst oder ein Verbot der Mama dem Amüsement so bald ein Ende machen würde.

Elisabeth hatte eben nur so viel Zeit gehabt, zu retiriren und auf die wiederholte Frage der Baronin zu antworten, daß sie sich in Thüringen bereits vollkommen heimisch und sehr glücklich fühle, als die Dame sich ziemlich rasch aus ihrer liegenden Stellung emporrichtete und mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen nach einer Tapetenthür winkte, die sich seitwärts geräuschlos aufthat. Auf ihrer Schwelle erschienen die zwei jungen Leute, die Elisabeth neulich durch das Fernrohr beobachtet hatte; aber wie ganz anders und seltsam sahen sie jetzt nebeneinander aus! Herr von Hollfeld, eine fast übergroße, schlanke Gestalt, mußte sich tief auf die Seite neigen, um der kleinen Hand eine Stütze sein zu können, die auf seinem Arm lag. Jenes sylphenartige Wesen, das damals auf dem Ruhebett gelegen, war eine gänzlich verschobene Kindergestalt. Der auch in diesem Augenblick vollendet schöne Kopf steckte tief zwischen den Schultern, und die Krücke in der rechten Hand zeigte, daß auch in den Füßen ein Mißverhältniß sein müsse.

„Verzeihe, theure Helene,“ rief die Baronin der Eintretenden entgegen, „daß ich Dich herüber bemühen mußte; allein, Du siehst, ich bin wieder einmal der arme, geplagte Lazarus, an dem Du Deine Engelsgüte ja stets übst. … Fräulein Ferber,“ deutete sie vorstellend auf das junge Mädchen, das sich erröthend erhob, „hat die Freundlichkeit gehabt, auf mein gestriges Billet selbst zu kommen.“

„Und dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar!“ wandte sich die junge Dame mit einem liebreizenden Lächeln an Elisabeth und reichte ihr die Hand. Ihr Auge glitt dabei wie im bewundernden Erstaunen über die Erscheinung des jungen Mädchens und blieb dann an den blonden Flechten haften, die unter dem Hut hervorquollen. „Ach ja,“ sagte sie, „Ihr schönes Goldhaar habe ich schon gesehen und zwar gestern auf einem Spaziergang durch den Wald – Sie bogen sich über eine Mauer droben im alten Schlosse.“

Elisabeth erröthete noch tiefer.

„Aber eben weil Sie dort waren,“ fuhr die junge Dame fort, „kam ich um den Genuß, um dessen willen ich eigentlich die Anhöhe hinaufgeklettert war – lediglich um Sie noch einmal, wie am Abend zuvor, spielen zu hören. … So jung und kindlich und ein so tiefes Verständniß der classischen Musik, wie ist das möglich! … Sie werden mich sehr glücklich machen, wenn Sie öfter mit mir spielen wollen.“

Es glitt etwas wie Mißbilligung über das Gesicht der Baronin, und einem feinen Beobachter wäre auch wahrscheinlicherweise das leise, spöttische Lächeln in den Mundwinkeln nicht entgangen; für Elisabeth aber war es vollständig verloren, denn ihr ganzes Interesse wandte sich der unglücklichen jungen Dame zu, deren weiche Silberstimme unmittelbar aus dem Herzen zu quellen schien.

Herr von Hollfeld hatte unterdeß einen Fauteuil für Fräulein von Walde an das Ruhebett gerückt; dann empfahl er sich, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Weil er aber durch die Thür das Zimmer verließ, die Elisabeth gerade gegenüberlag, so konnte ihr nicht entgehen, daß sein letzter, langer Blick auf ihr ruhte, ehe er die Thür langsam schloß. Sie erschrak förmlich darüber, denn die Art und Weise, wie er sie angesehen, war zu eigenthümlich gewesen, so daß sie im Stillen ihren Anzug prüfte, ob er wohl am Ende gar zu auffallend sei.

Fräulein von Walde unterbrach diese Musterung mit der Frage, welchem Lehrer Elisabeth ihr vollendetes Spiel verdanke, worauf Letztere erzählte, daß die Mutter sie ganz allein ausgebildet, wie überhaupt die Eltern sie in Allem, was sie habe lernen müssen, selbst unterrichtet hätten.

Während dieser Mittheilung, welche die junge Dame sehr zu interessiren schien, hatte sich Bella auf den Teppich gekauert und spielte mit dem Hunde. Es würde ein allerliebstes Bild gewesen sein, hätten nicht das Gewinsel und die heftigen Bewegungen des kleinen Thieres bewiesen, daß es gequält werde. Nach jedem lauteren Schrei des Hundes, bei dem Fräulein von Walde stets erschreckt zusammenfuhr, rief die Baronin wie mechanisch: „Laß doch die Possen, Bella!“ Endlich aber, als das Thier in ein schmerzliches Geheul ausbrach, hob sie drohend den Finger gegen die kleine Unartige und sagte: „Ich werde Miß Mertens rufen müssen.“

„Ach,“ entgegnete die Kleine geringschätzend, „die darf sich doch nicht unterstehen, mich zu strafen; Du hast es ihr ja selbst streng verboten.“

In dem Augenblick wurde die Tapetenthür leise aufgemacht und ein blasses, älteres Frauenzimmer trat ein. Indem sie sich demüthig vor den Damen verbeugte, sagte sie schüchtern:

„Der Herr Candidat wartet auf Bella.“

„Ich will heute aber keine Stunde!“ rief die Kleine, während sie ein Wollknäul vom Tisch nahm und dasselbe nach der Eingetretenen warf.

„Ja, mein Kind, das muß sein,“ sagte die Baronin. „Gehe mit Miß Mertens, sei hübsch artig, Bella.“

Bella setzte sich, als ginge sie die Sache so wenig an, als den hinter das Sopha geflüchteten Ali, in einen Fauteuil und zog die Füße in die Höhe. Die Gouvernante schien sich ihr nähern zu wollen, aber ein zorniger Blick der Baronin wies sie an die Thür zurück.

Wahrscheinlicherweise würde diese widerwärtige Scene noch lange gespielt haben, hätte nicht die Baronin Hülfstruppen in Gestalt von Bonbons aufmarschiren lassen. Die Kleine verließ, nachdem sie Mund und Taschen vollgestopft hatte, ihren Sitz, und während sie die Hand der Gouvernante, die sie führen wollte, zurückstieß, lief sie hinaus.

Elisabeth saß starr vor Erstaunen. Auch die sanften Züge des Fräulein von Walde drückten unverkennbar Mißbilligung aus, aber sie sagte kein Wort.

Die Baronin sank in die Kissen zurück. „Diese Gouvernanten rauben mir Jahre vom Leben!“ seufzte sie. „Ob diese Miß Mertens nur einmal lernen wird, Bella zu behandeln, wie es dies erregbare Kind mit seinen empfindlichen Nerven verlangt! .… Da wird keine Rücksicht auf Lebensstellung, Temperament und Körperconstitution genommen. Alles kommt unter eine Schablone, gleichviel, ob Krämer- oder Pairstochter, ob zart besaitete Wesen oder robuste Tagelöhnernaturen. … Miß Mertens ist ein widerwärtiger, pedantischer Schulmeister. Dabei ist ihr Englisch abscheulich; Gott weiß, aus welchem Winkel Englands sie stammen mag!“

„Aber das kann ich durchaus nicht finden, liebe Amalie,“ sagte Fräulein von Walde, ihre Stimme hatte dabei etwas unendlich Begütigendes.

„Ach ja, das sagst Du nun wieder in Deiner Engelsgüte; aber obgleich ich selbst nicht Englisch verstehe, so höre ich doch auf der Stelle, wenn Du, liebes Herz, mit ihr sprichst, wie ungleich eleganter Deine Aussprache ist.“

Elisabeth bezweifelte innerlich die Competenz dieses Urtheils, und Fräulein von Walde machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, wobei sie leicht erröthete. Die Baronin aber fuhr unbehindert fort: „Bella scheint dies auch recht gut zu fühlen. Sie schweigt hartnäckig, wenn ihre Gouvernante sie englisch anredet; ich verdenke es ihr keinen Augenblick, muß mich aber immer unbeschreiblich ärgern, wenn diese Person auch noch behauptet, es sei Eigensinn und Bosheit von dem Kinde.“

Die anfänglich so schwache und angegriffene Stimme der Baronin war unter dem Erguß des Verdrusses merkwürdig kräftig geworden. Sie schien dies plötzlich selbst inne zu werden und schloß ermüdet die Augen. „O mein Gott,“ seufzte sie, „da spielen mir nun wieder einmal meine unglücklichen Nerven übel mit… Ich werde heftig, wo ich langmüthig sein sollte; diese Verdrießlichkeiten sind doch wahres Gift für Leib und Seele.“

„Ich würde Dir rathen, zu Zeiten, wo Du so angegriffen bist, wie heute, Bella unter der Obhut des Herrn Möhring und der Miß Mertens getrost zu lassen. Ich bin überzeugt, daß sie da ganz gut aufgehoben ist. … Wenn ich auch Deine rührende Angst und Sorge um das Kind vollkommen begreife, so muß ich doch zu Deiner Beruhigung sagen, daß Miß Mertens viel zu sanft und gebildet ist, um irgend etwas zu thun, was nicht zum Heil der Kleinen wäre. … Du siehst ganz erschöpft aus,“ fügte sie theilnehmend hinzu. „Es wird gut sein, wenn ich Dich jetzt allein lasse. Fräulein Ferber wird gewiß die Güte haben, mich bis an mein Zimmer zu führen.“

Damit erhob sie sich, bog sich über die Baronin und hauchte einen Kuß auf deren Wange. Dann legte sie ihre Hand auf Elisabeth’s Arm, die von der Baronin mittels einer sehr gnädig aussehenden Handbewegung verabschiedet wurde, und verließ das Zimmer.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 6, S. 81–84
Fortsetzungsroman – Teil 5


[81] „Es wird besonders meinem Bruder, der jetzt fern von mir weilt, eine große Freude sein,“ sprach Fräulein von Walde, als sie sich vor einer hohen Flügelthür von Elisabeth verabschiedete, „wenn er hört, daß ich die Musik wieder aufnehme. Oft hat er stundenlang in einer dunklen Ecke gesessen und meinem Spiele zugehört. Später haben mich meine kranken Nerven gezwungen, der lieben Musik zu entsagen. Jetzt fühle ich mich aber wieder viel kräftiger, der Arzt hat mir wieder zu spielen erlaubt, und nun will ich tüchtig üben, um den Bruder zu überraschen, wenn er zurückkommt.“

Wie geflügelt eilte Elisabeth durch den einsamen Park und den Berg hinauf, und als sie die Reihenfolge ihrer Eindrücke den sehnsüchtig harrenden Eltern mitgetheilt hatte, da schloß sie mit den Worten: „Deiner Lehre nach, Väterchen, dürfte ich mir heute eigentlich noch kein festes Urtheil über die neue Bekanntschaft bilden; denn Du verwirfst den ersten Eindruck als etwas Trügliches, das uns leicht ungerecht macht. Aber was kann ich für meine widerspenstige Phantasie? So oft ich an die beiden Damen denke, sehe ich eine junge, einsame Hängebirke, die einer vom Sturm getragenen Wetterwolke ihre elastischen Zweige willenlos preisgiebt.“ –

Von nun an ging, nach schon andern Tags getroffener Vereinbarung, Elisabeth zweimal wöchentlich hinunter nach Lindhof. Diese Musikstunden wurden für das junge Mädchen sehr bald eine Quelle hoher Genüsse. In den Zwischenpausen pflegte sich Helene in ihren Fauteuil zurück zu lehnen, und Elisabeth setzte sich dann auf einen Fußschemel zu ihren Füßen, entzückt der flötenartigen, melancholischen Stimme lauschend, mit der das arme, mißgestaltete Wesen aus seiner Vergangenheit erzählte. Dann trat jedesmal das Bild des fernen Bruders in den Vordergrund. Sie konnte nicht genug rühmen, wie er für sie sorge und denke, wie er, obgleich bedeutend älter und sehr ernst, sich bemühe, auf ihre kleinen Liebhabereien und Eigenheiten einzugehen. Sie erzählte ferner, daß er die Besitzung Lindhof einzig aus dem Grunde gekauft, weil die Schwester bei einem längeren Besuch am Hofe zu L. gefunden habe, die Thüringer Luft wirke ganz besonders wohlthätig auf ihren leidenden Zustand. Aus Allem ging hervor, daß er Helene zärtlich lieben müsse.

Eines Nachmittags, als ungewöhnlich lange musicirt worden war, trat ein Bedienter ein und meldete einen Besuch.

„Bleiben Sie heute Abend bei mir zum Thee,“ sagte Fräulein von Walde zu Elisabeth. „Mein Arzt aus L. ist gekommen und es haben sich auch einige Damen aus der Nachbarschaft melden lassen. Ich werde Jemand hinaufschicken zu Ihrer Mama, damit sie sich über Ihr Ausbleiben nicht ängstigt. Mein Zwiegespräch mit dem Doctor wird nicht lange dauern, bald bin ich wieder bei Ihnen.“

Damit ging sie hinaus. Es waren kaum zehn Minuten vergangen, als die Thür sich wieder öffnete und Fräulein von Walde am Arm eines Herrn eintrat, den sie Elisabeth als Herrn Doctor Fels aus L. vorstellte. Er war ein stattlicher Mann mit einem geistvollen Gesicht, der sich bei Nennung ihres Namens sogleich lebhaft an Elisabeth wandte und ihr in ergötzlicher Weise erzählte, wie er sowohl, als die ganze ehrsame Bewohnerschaft von L. des Erstaunens und Entsetzens kein Ende gewußt hätten, als es laut geworden sei, daß das alte Schloß Gnadeck wieder Bewohner, und zwar aus Fleisch und Bein, beherberge.

Plötzlich rauschte es im Nebenzimmer, und gleich darauf erschienen zwei weibliche Gestalten, eine alte und eine jüngere, von etwas absonderlichem Aeußeren in der Thür. Die große Aehnlichkeit in den Gesichtszügen ließ sogleich erkennen, daß die Eingetretenen Mutter und Tochter seien. Helene von Walde begrüßte die Damen als Frau und Fräulein von Lehr, und Elisabeth erfuhr später, daß sie, in L. wohnhaft, den Sommer gewöhnlich im Dorfe Lindhof zuzubringen pflegten, wo sie sich in einem Bauernhaus eingemiethet hatten.

Unmittelbar nach den Eingetretenen kam die Baronin Lessen am Arme ihres Sohnes und von einem Herrn begleitet, der von den Anwesenden als Herr Candidat Möhring angeredet wurde.

Die Baronin war dunkel, aber mit ausgesuchter Eleganz gekleidet; sie sah imposant aus. Auf der Schwelle blieb sie einen Augenblick stehen und schien sehr unangenehm überrascht durch Elisabeth’s Anwesenheit. Sie maß das junge Mädchen mit einem hochmüthig fragenden Blicke und erwiderte ihre Verbeugung mit einem kaum bemerkbaren Kopfnicken.

Helene hatte den Blick aufgefangen und trat ihr näher, indem sie begütigend flüsterte: „Ich habe meinen kleinen Liebling heute hier behalten, weil es durch mein Verschulden doch gar zu spät geworden war.“

Elisabeth’s feinem Ohr entging jedoch diese Entschuldigung nicht. Sie war empört und wäre am liebsten durch das Fenster geflohen, in dessen Nische sie stand, hätte nicht gerade der Stolz ihr geboten, zu bleiben und dem Hochmuth der Baronin die Stirn zu bieten. Diese schien indeß durch die Sühne des hinter ihrem Rücken begangenen Verbrechens zufriedengestellt zu sein. Sie nahm Helene in ihre Arme, streichelte zärtlich ihre Locken und sagte ihr tausend Schmeicheleien. Dann forderte sie die Anwesenden auf, ihr in das Nebenzimmer zu folgen, wo servirt sei. Sie machte [82] die Honneurs am Theetisch und entwickelte dabei die allerdings nicht wegzuleugnende Gabe, das Gespräch in Athem zu erhalten. Mit bewunderungswürdigem Geschick wußte sie es außerdem einzurichten, daß Helene stets der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeiten blieb, ohne daß die Anderen dadurch irgendwie hätten verletzt werden können.

Frau von Lehr erzählte sehr viel und machte jedesmal beim Schlusse irgend einer empörenden Neuigkeit von der Sündhaftigkeit der Weltkinder eine Miene, als trage sie als Lamm die Sünde der Menschheit auf ihrem Rücken. Welch ein Contrast zwischen ihr und Helenens Madonnengesichtchen, über dessen Jugend heute ein ganz besonderer Schimmer zu liegen schien! Ganz verwischt war der Ausdruck des Leidens freilich nicht, aber es brach ein voller Strahl des Glückes aus den Augen, und um die blaßrothen Lippen spielte ein entzücktes Lächeln, so oft sie das volle Rosenbouquet vom Schooße aufnahm, das Herr von Hollfeld bei seinem Kommen in ihre Hand gedrückt hatte. Er saß neben ihr und mischte sich einigemal in das Gespräch. Sobald er sprach, schwiegen sämmtliche Damen und hörten mit sichtbarem Eifer und Interesse zu, obgleich seine Art zu sprechen nichts weniger als fließend war und, wie es Elisabeth vorkam, auch durchaus keinen originellen Gedanken verrieth.

Er war ein schöner, junger Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Es lag eine große Ruhe in den edelgeformten Zügen, die in ihren Linien leicht auf männliche Festigkeit und Charakterstärke hätten schließen lassen; allein wer nur einmal fest und forschend in sein Auge gesehen hatte, dem imponirte die plastische Gesichtsbildung sicher nicht mehr. Diese Augen, obgleich groß und tadellos geschnitten, entbehrten der Tiefe und zeigten nie jenes meteorartige Aufleuchten, das uns oft den geistreichen Menschen verräth, selbst wenn er noch kein Wort gesprochen hat. Dieser Mangel kann übrigens ersetzt werden durch jenen milden, dauerhaften Glanz, der von einem tiefen Gemüth ausgeht und der uns nicht hinreißt, wohl aber anzieht und fesselt. Aber auch davon verriethen die großen, schönen Blauen des Herrn von Hollfeld keine Spur.

Diese Beobachtung indeß machten vielleicht nur sehr Wenige; denn es war nun einmal, und zwar vorzüglich am Hofe zu L., hergebracht, in Herrn von Hollfeld einen Sonderling zu sehen, dessen meist schweigsamer Mund ein um so tieferes Innere verschließe, und am allerwenigsten würden wohl die Damen in und um Lindhof jene Ansicht unterzeichnet haben. Das bewies vor Allen Frau von Lehr’s sehr corpulente Tochter, indem sie sich jedesmal, als gälte es die Verkündigung eines Evangeliums, über die ängstlich zurückweichende Elisabeth hinüberbog, so oft Herr von Hollfeld den Mund aufthat. Aber auch sie schien gern ihr Licht leuchten zu lassen.

„Sind Sie nicht auch entzückt von den herrlichen Predigten, mit denen uns Herr Candidat Möhring an den heiligen Festtagen erquickt hat?“ fragte sie, sich an Elisabeth wendend.

„Ich bedaure, sie nicht gehört zu haben,“ entgegnete Elisabeth.

„So haben Sie den Gottesdienst gar nicht besucht?“

„O ja … Ich war in Begleitung meiner Eltern in der Dorfkirche zu Lindhof.“

„So,“ sagte die Baronin Lessen, indem sie zum ersten Male den Kopf nach Elisabeth umwandte, wodurch diese ein äußerst höhnisches Lächeln zu sehen bekam, „und es war wohl recht erbaulich in der Dorfkirche zu Lindhof?“

„Gewiß, gnädige Frau,“ entgegnete ruhig Elisabeth und sah fest in das spöttisch funkelnde Auge der Dame. „Ich war tief bewegt von den schlichten und doch so ergreifenden Worten des Predigers, der übrigens nicht in der Kirche, sondern außerhalb derselben, unter den Eichen, seinen Vortrag hielt. … Als der Gottesdienst beginnen sollte, da stellte es sich heraus, daß die kleine Kirche die massenhaft herbeigeströmten Zuhörer nicht fassen könne. Es wurde sofort eine Art Altar unter Gottes freiem Himmel errichtet, wie es schon oft geschehen sein soll. Mir war an dem herrlichen Pfingstmorgen, als der Orgelton aus den geöffneten Kirchenfenstern und Thüren quoll und der ehrwürdige, alte Mann unter dem lebendigen Grün der Bäume seine bewegte Stimme erhob, genau so zu Muthe, wie da ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gotteshaus betreten durfte.“

„Sie scheinen ein vortreffliches Gedächtniß zu haben, mein Fräulein,“ warf hier Frau von Lehr ein. „Wie alt waren Sie damals, wenn man fragen darf?“

„Elf Jahre.“

„Elf Jahre? .… O, mein Gott, wie ist das möglich?“ rief die alte Dame entsetzt. „Können das christliche Eltern wohl über’s Herz bringen? … Meine Kinder kannten das Haus des Herrn schon in ihrer frühesten Kindheit, das müssen Sie mir bezeugen, bester Doctor!“

„Ja wohl, meine Gnädigste,“ entgegnete dieser ernst. „Ich erinnere mich, daß Sie den Croup-Anfall, an welchem sie leider Ihr Jahr zweijähriges Söhnchen verlieren mußten, einem Besuch des Kindes in der kalten Kirche zuschrieben.“

Elisabeth sah erschrocken ihren Nachbar an. Der Doctor hatte der anfänglichen Unterhaltung nur insofern beigewohnt, als er hie und da in trockener Weise Sarkasmen einstreute, die dem jungen Mädchen um so ergötzlicher waren, als die Baronin ihm jedesmal einen verweisenden Blick dafür zusandte. Als Elisabeth selbst zu sprechen begann, hatte sie auf ihn nicht mehr geachtet, ebensowenig wie die Anderen, die nur das unglückliche Heidenkind im Auge hatten; deshalb bemerkte Niemand, daß er sich innerlich fast zu Tode lachen wollte über die freimüthigen Antworten des jungen Mädchens und deren Wirkung auf die Anwesenden. Jetzt kam er Elisabeth grausam vor durch seine Antwort; aber er mußte wohl seine Leute kennen, denn Frau von Lehr blieb ruhig und unbewegt und sagte salbungsvoll: „Ja, der Herr nahm den kleinen, frommen Engel zu sich, er war zu gut für diese Welt. .… Und so war und blieb Ihnen für die ersten elf Jahre Ihres Lebens das Reich des Herrn verschlossen?“ wandte sie sich wieder an Elisabeth.

„Nur sein Tempel, gnädige Frau … Ich wußte schon als kleines Kind die Geschichte des Christenthums und lernte jedenfalls mit meinen ersten Gedanken das höchste Wesen kennen und verehren, denn ich weiß nicht, daß ich je gelebt hätte ohne die Vorstellungen von Gottes Dasein … Es ist meines Vaters Grundsatz, seine Kinder nicht zu früh das Haus Gottes betreten zu lassen; er meint, so junge Seelen seien unfähig, die hohe Bedeutung desselben zu verstehen, langweilten sich bei der Predigt, die sie mit dem besten Willen nicht fassen könnten, und so entstünde von vorn herein eine saloppe Anschauung … Mein kleiner Bruder ist sieben Jahre alt und war noch nicht in der Kirche.“

„O der glückliche Vater,“ rief der Doctor, „daß er dies durchführen kann und darf!“

„Nun, was hindert Sie, Ihre Kinder moralisch wie die Pilze aufschießen zu lassen?“ fragte malitiös die Baronin.

„Das kann ich Ihnen mit wenig Worten sagen, gnädige Frau. Ich habe sechs Kinder und bin nicht reich genug, einen Hauslehrer für sie zu halten. Sie selbst zu unterrichten, daran hindert mich mein Beruf; mithin bin ich gezwungen, sie in die öffentliche Schule zu schicken und mich mit ihnen zugleich in die Gesetze der Anstalt zu fügen – dahin gehört der Kirchenbesuch der Kleinen und das Bibellesen. In Kinderhände aber gehört die Bibel wahrhaftig nicht.“

Hier erhob sich die Baronin Lessen mit einer ungeduldigen Bewegung. Auf ihren blassen, vollen Wangen waren allmählich zwei rothe Flecken aufgeblüht, welche für Alle, die sie kannten, das Zeichen inneren Zornes waren. Deshalb stand auch Fräulein von Walde, die sich während des ganzen Gespräches passiv verhalten hatte, sofort auf, bot ihrer Cousine den Arm und führte sie an’s Fenster, indem sie fragte, ob es ihr wohl genehm sei, wenn sie mit Elisabeth ein wenig musicire.

Dieser Blitzableiter wurde zwar mit einem Kopfnicken bewilligt, aber die Baronin zog sich in eine Fensternische zurück und starrte hinaus in die Gegend, auf die sich die ersten, leichten Schatten der hereindämmernden Nacht legten. Ihr Blick zeigte einen kalt-grausamen Ausdruck, wie er jener gewissen Art wasserblauer, hellbewimperter Augen so leicht innewohnen kann. Eine tiefe Falte lagerte um die Mundwinkel, ein Zeuge tiefen Grolles, der auch nicht verschwand, als Schubert’s Erlkönig, zu vier Händen und meisterhaft von den beiden Damen vorgetragen, in dämonischer Gewalt erbrauste. An dieser Brust verhallten ungefühlt die Töne, wie der Wellengesang am Uferfelsen.

Als der letzte Accord verklungen war, erhoben sich die beiden Damen, und der Doctor, der regungslos zugehört hatte, eilte auf sie zu. Sein Auge glänzte; er dankte begeistert für den Genuß, [83] der ihm, wie er versicherte, seit vielen Jahren nicht zu Theil geworden sei, und sprach dann eingehend über Schubert’s herrliche Tonschöpfung, wobei er ein feines Urtheil und den gründlich gebildeten Musikverständigen verrieth.

Plötzlich wurde mit hartem Anschlag ein voller Accord auf dem Flügel gegriffen. Erschrocken drehten sich die Plaudernden um. Der Candidat saß am Clavier mit hochgehobenem Kopf und ausgedehnten Nasenflügeln und ließ eben wieder beide Hände zu einem zweiten schrillen Accord auf die Tasten fallen, dazu begann er mit näselnder Stimme die Melodie des grausam mißhandelten Chorals zu singen. Das war zu viel. Der Doctor griff nach seinem Hut und verbeugte sich abschiednehmend vor Helene und der Baronin. Die Letztere bog ihr Gesicht nach dem Fenster und bewegte nachlässig ihre Hand als Zeichen der Entlassung.

Ein unvergleichlicher Ausdruck von Humor überflog die Züge des Doctors. Er drückte Elisabeth’s Hand herzlich beim Scheiden und empfahl sich dann mit einer höflichen Verbeugung beiden Uebrigen.

Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, erhob sich die Baronin und trat aufgeregt zu Helene, die sich still in einer Sophaecke niedergelassen hatte.

„Unerträglich!“ rief sie, und ihre scharfe Stimme klang gedämpft, als ob ihr der innere Grimm den Hals zusammenschnüre, während sie ihr stechendes Auge fest auf das junge Mädchen heftete, das fast schüchtern und beklommen den Blick zu ihr erhob. „Und Du duldest es so widerstandslos, Helene,“ fuhr sie fort, „daß man in Deinen Zimmern unsere Standesvorrechte, unsere Frauenwürde, ja, das Heiligste, was wir treulich behüten und pflegen, mit Füßen tritt?“

„Aber, liebe Amalie, ich sehe nicht ein –“

„Du willst nicht einsehen, Kind, in Deiner unerschöpflichen Geduld und Langmuth, daß dieser Doctor mich beleidigt, wo er kann. Nun, ich muß mir das gefallen lassen, weil es nicht in meinem Hause geschieht und weil ich als gute Christin lieber dulde und Unrecht leide, als daß ich die unziemlichen Waffen der Wiedervergeltung in die Hand nehmen möchte… Diese Duldsamkeit jedoch findet ihr Ende, sobald unser Herr in seinen göttlichen Rechten angegriffen wird. Hier sollen wir kämpfen und streiten und nicht ermüden… Ist es nicht wahrhaft gotteslästerlich, daß dieser Mensch sans façon seinen Hut nimmt und mit großem Geräusch das Zimmer verläßt, während unsere Seelen durch den erhabensten Gedanken der Musik, durch den Choral, tief bewegt sind?“

„Ach, das mußt Du dem Doctor nicht so übel nehmen,“ sagte Fräulein von Walde. „Er ist an seine Zeit gebunden, hat vielleicht noch einen Krankenbesuch in L. zu machen und wollte ja eigentlich schon aufbrechen, ehe wir zu spielen anfingen.“

„Indeß der heidnische Spuk des Erlkönigs ließ diesen vortrefflichen Mann seine Patienten vergessen,“ unterbrach sie die Baronin höhnisch. „Nun, ich bescheide mich… Es liegt leider in unserer traurigen Zeit, daß die Vertreter des Unglaubens die herrschenden werden.“

„Aber, mein Gott, Amalie, was willst Du denn, daß ich thun soll? Du weißt ja nur zu gut, daß Fels mir unentbehrlich ist … er ist der erste und einzige Arzt, der meine körperlichen Leiden zu lindern versteht!“ rief Helene und ihr Auge schimmerte feucht, während die Röthe der Aufregung in ihre blassen Wangen stieg.

„Ich dächte, mein Fräulein,“ begann hier Frau von Lehr, die bis dahin schweigend und lauernd wie eine Spinne in einer Ecke gesessen hatte, langsam und feierlich, „vor Allem müsse wohl das Seelenheil berücksichtigt werden, die Sorge für das körperliche Wohl kommt meiner Ansicht nach erst in zweiter Linie. … Im Uebrigen hat L. noch mehr vortreffliche Aerzte aufzuweisen, die es getrost mit der Gelehrsamkeit des Herrn Doctor Fels aufnehmen können… Glauben Sie mir, liebes Fräulein, es berührt die Gläubigen in unserem guten L. oft schmerzlich, wenn sie sehen müssen, wie ihr offenkundiger Widersacher als Freund und Rathgeber in Ihrem Hause aus- und eingehen darf.“

„Wenn ich auch das Opfer bringen wollte, einen anderen Arzt zu nehmen,“ entgegnete Helene, „so dürfte ich doch ohne die Einwilligung meines Bruders diesen Schritt nicht thun. Da aber würde ich auf den heftigsten Widerstand stoßen – ich weiß es – denn Rudolph hält sehr viel auf den Doctor und schenkt ihm sein unbedingtes Vertrauen.“

“Ja, Gott sei’s geklagt!“ rief die Baronin. „Das ist auch so eine schwache Seite in Rudolph’s Charakter, die ich nie habe begreifen können! … Mit diesem sogenannten Freimuth, den man am besten mit Frechheit übersetzen könnte, imponirt ihm der Herr Fels… Nun, ich wasche meine Hände, werde mir aber für künftig die Besuche des Herrn Doctor verbitten und halte mich bei Dir, liebe Helene, für die Zeit stets entschuldigt, wenn Du ihn bei Dir siehst.“

Fräulein von Walde erwiderte kein Wort. Sie erhob sich, während ihr getrübtes Auge durch das Zimmer glitt, als vermisse sie etwas; es schien Elisabeth, als gelte dieser suchende Blick Herrn von Hollfeld, der vor einer Weile unbemerkt das Zimmer verlassen hatte.

Die Baronin griff nach ihrer Spitzenumhüllung, und auch Frau von Lehr nebst Tochter rüsteten sich zum Aufbruch. Beide sagten dem Candidaten, der seinen Vortrag geendet hatte und nun verlegen seine Hände reibend am Flügel stand, noch einige Liebenswürdigkeiten und verabschiedeten sich dann in Begleitung der Baronin von Helene, die ihnen mit erschöpfter Stimme gute Nacht sagte.

Als Elisabeth die Treppe hinunterstieg, sah sie Herrn von Hollfeld in einem gegenüberliegenden, nur schwach beleuchteten Corridor stehen. Er hatte droben während des Zornergusses seiner Mutter in einem Album geblättert und sich mit keinem Wort in die leidenschaftlichen Verhandlungen gemischt. Das war Elisabeth ganz abscheulich vorgekommen; denn sie hatte lebhaft gewünscht, er möge zu Helene stehen und dem Treiben der Baronin durch ein männlich ernstes Wort ein Ende machen. Noch mehr aber mißfiel es ihr, als sie bemerken mußte, daß er, über das Buch hinweg, sie unausgesetzt fixire. Möglich war es schon, daß er in ihren Zügen den Verdruß über sein Benehmen gelesen hatte, aber sie meinte, dafür habe er sie nun lange genug angestarrt. Sie fühlte, daß sie endlich unter seinem Blick tief erröthete, und ärgerte sich darüber um so mehr, als dies ihm gegenüber, ganz gegen ihren Willen, schon einige Mal der Fall gewesen war. Ein eigenthümlicher Zufall wollte nämlich, daß sie beim Nachhausegehen von Schloß Lindhof Herrn von Hollfeld stets begegnete, sei es nun im Corridor, auf der Treppe, oder daß er plötzlich hinter einem Bosket hervortrat. Warum ihr dies zuletzt peinlich wurde und sie verlegen machte, wußte sie selbst nicht. Sie grübelte auch nicht weiter darüber und hatte die Begegnung meist vergessen, ehe sie noch daheim war.

Jetzt nun stand er da drunten in dem dunklen Gang. Ein schwarzer, tief herabgedrückter Hut bedeckte halb sein Gesicht, und den hellen Sommerrock hatte er mit einem dunklen Ueberzieher vertauscht. Er schien auf etwas gewartet zu haben und trat, sobald Elisabeth die letzte Stufe erreicht hatte, rasch auf sie zu, als ob er ihr etwas sagen wolle.

In dem Augenblick erschienen Frau und Fräulein von Lehr droben auf der Treppe. „Ei, Herr von Hollfeld,“ rief die alte Dame hinab, „wollen Sie denn noch eine Promenade machen?“

Die Züge des jungen Mannes, die Elisabeth auffallend belebt und erregt vorgekommen waren, nahmen sofort einen gleichgültigen, ruhigen Ausdruck an.

„Ich komme aus dem Garten,“ sagte er in eigenthümlich nachlässigem Ton, „wo ich mich in der milden Nachtluft noch ein wenig ergangen habe. Bringe Fräulein Ferber nach Hause,“ gebot er dann dem Hausknecht, der eben zu diesem Zweck mit einer Laterne aus der Domestikenstube trat, und schritt, nach einer Verbeugung gegen die Damen in den Corridor zurück.

Als Elisabeth eine Stunde später, am Bett der Mutter sitzend, ihren Bericht über die heutigen Erlebnisse abstattete, gedachte sie schließlich noch des Herrn von Hollfeld und seines sonderbaren Benehmens in der Hausflur, woran sie die Bemerkung knüpfte, daß sie sich doch gar nicht denken könne, was er eigentlich von ihr gewollt habe.

„Nun, darüber wollen wir uns auch den Kopf nicht zerbrechen,“ sagte Frau Ferber. „Sollte es ihm jedoch einmal einfallen, Dir seine Begleitung beim Nachhausegehen anbieten zu wollen, so weise sie unter allen Umständen zurück. Hörst Du, Elisabeth?“

„Aber, liebe Mama, was denkst Du denn?“ rief lachend das junge Mädchen. „Da steht eher des Himmels Einfall zu erwarten, als ein solches Anerbieten … Hat er ja Frau und Fräulein von Lehr, die sich jedenfalls zu den sehr vornehmen Leuten zählen, allein nach Hause gehen lassen, da wird er sich doch wahrhaftig meiner simplen Persönlichkeit gegenüber nicht herablassen.“


[84]
6.

Der Oberförster hatte ungefähr acht Tage nach Ankunft seiner Verwandten ein neues Hausgesetz erlassen, das, wie er sagte, von seinem Minister freudig begrüßt worden war und kraft dessen der Familie Ferber die Verpflichtung auferlegt wurde, allsonntäglich im Forsthause das Mittagsbrod einzunehmen… Das waren Freudentage für Elisabeth.

Lange vor dem ersten Glockenläuten wurde gewöhnlich der Kirchgang angetreten. Im wehenden weißen Kleide, die Seele geschwellt von jener süßen Ahnung der Jugend, als könne ein schöner, heiterer Tag auch nur Glück in sich schließen, schritt Elisabeth den Eltern voraus und freute sich stets auf den Moment, wo der goldene Knopf des Lindhofer Kirchleins tief drunten im Thal aus den grünen Wogen des Waldes aufleuchtete; wenn rechts und links auf dunklen, verschwiegenen Waldwegen die Kirchengänger der verschiedenen Filiale ihnen entgegenschritten und sich mit freundlichem Gruß und Handschlag zu ihnen gesellten, bis sie in zahlreicher Gesellschaft, unter dem Geläute der Glocken, den weiten Wiesenplan vor der Kirche betraten, wo meist der Onkel schon wartete. Er begrüßte sie dann schon von Weitem mit glänzenden Augen und freudigem Hutschwenken. In jeder Bewegung seiner hohen Gestalt, in seiner ganzen Haltung offenbarte sich jene unbeugsame Wahrhaftigkeit, die vor dem Größten nicht zurückschrickt, jener Ausdruck von Manneskraft und Manneswillen, hinter dem wir große Entschlüsse, kühne Thaten, nie aber die zarten Empfindungen eines reichen Gemüths vermuthen. Deshalb meinte auch Elisabeth, es sei unbeschreiblich rührend und ergreifend, wenn ein einzelner, kleiner Stern sein mildstrahlendes Gesichtchen aus dunklen Wolken stecke; genau so aber erscheine ihr der gerade, feste Blick des Onkels, sobald er in einem weichen Gefühl schmelze. Und sie hatte oft genug Gelegenheit, diese Metamorphose zu beobachten; denn sie war sein Augapfel geworden. Er hatte ja nie Kinder gehabt und trug nun alle Vaterzärtlichkeit, deren sein reiches, volles Herz fähig war, auf sein liebliches Bruderskind über, das, wie er deutlich mit großem Stolz fühlte, ihm in vieler Beziehung geistig verwandt war, wenn auch hier alle jene Charakterzüge unter dem Hauch echt holdseliger Weiblichkeit sich verklärten.

Sie vergalt ihm aber auch seine Liebe mit kindlicher Hingebung und zärtlicher Fürsorge. Bald hatte sie alles das, was zu seinem häuslichen Wohlbehagen gehörte, herausgefunden und griff da, wo Sabinens Scharfsinn oder ihre waltende Hand nicht mehr ausreichte, unmerklich und mit so vielem Tact ein, daß die alte, treue Dienerin niemals verletzt wurde, während um den Onkel ein ganz neues, behagliches Leben aufblühte, da Elisabeth auch auf seine kleinen Liebhabereien geschickt einzugehen und ihnen Geschmack abzugewinnen wußte.

Auf dem Heimweg aus der Kirche, der dann gemeinschaftlich angetreten wurde, führte der Onkel Elisabeth gewöhnlich an der Hand, „wie ein kleines Schulmädchen“ sagte sie, und es sah auch genau so aus.

Am fernsten Ende des langen, dunklen Laubganges, denn es war ein sehr schmaler Holzweg, der vom Dorf Lindhof nach der Försterei lief, blinkte wie ein goldener Punkt die helle, sonnenbeglänzte Lichtung, auf deren Mitte das alte Jagdhaus lag. Mit jedem Schritt näher wurde das kleine Bild deutlicher und klarer, bis man unter der Thür die harrende Sabine zu erkennen vermochte, wie sie, den einen Zipfel der weißen Küchenschürze quer aufgesteckt, die Hand schützend über die Augen haltend, nach den Heimkehrenden spähte und bei ihrem Erblicken eiligst in das Haus zurücklief; denn es galt ja, droben unter den Buchen, hinter der dampfenden Suppenterrine in treuer Pflichterfüllung zu stehen, wie der gewissenhafte Festungscommandant auf seinen Wällen.

Heute aber hatte die alte Sabine ein besonders herrliches Mahl hergerichtet; neben der Suppenschüssel leuchtete eine purpurrothe Pyramide, die ersten Walderdbeeren, die der kleine Ernst, aber auch die große Elisabeth mit lautem Jubel begrüßte. Der Oberförster lachte über den Enthusiasmus des großen und des kleinen Kindes und meinte, er dürfe doch nicht hinter Sabine und ihrer Extra-Ueberraschung zurückbleiben; er wolle deshalb den Braunen einspannen und Elisabeth, wie längst versprochen, nach L. fahren, wo er ohnehin Geschäfte abzumachen habe. Der Vorschlag wurde von dem jungen Mädchen mit heller Lust aufgenommen.

Bei Tische erzählte Elisabeth vom gestrigen Abend. Der Onkel wollte sich ausschütten vor Lachen.

„Courage hat der Doctor freilich gezeigt,“ rief er lachend, „aber was hilft’s ihm, es war doch die letzte Tasse Thee, die er gestern in Lindhof getrunken hat.“

„Unmöglich, Onkel, es wäre empörend!“ rief Elisabeth, „das kann und wird Fräulein von Walde nicht zugeben, sie wird sich aus allen Kräften widersetzen.“

„Nun,“ sagte er, „ich wünschte nur, wir könnten auf der Stelle das Fräulein um ihre heutigen Gesinnungen gegen den Doctor befragen, da solltest Du Dein blaues Wunder sehen… Wie sollte auch in solch einem gebrechlichen Gehäuse eine starke Seele stecken; mit der wird das herrschsüchtige Weib bald fertig, und jeder andere Zügel fehlt, denn ‚der Himmel ist hoch und der Czar ist weit‘, sagen die Russen… Gelt’, Sabine, wir haben schon gar verwunderliche Dinge erlebt, seit die Frau Baronin das Regiment führt?“

„Ach, ja wohl, Herr Oberförster,“ entgegnete die Alte, die eben ein neues Gericht auf den Tisch setzte, „wenn ich nur an die arme Schneider denke… Das ist eine Taglöhnerswittwe aus Dorf Lindhof,“ wandte sie sich an die Anderen, „sie hat immer rechtschaffen gearbeitet, um sich durchzubringen, und hat ihr auch Niemand was Unrechtes nachsagen können; aber sie muß vier kleine Kinder ernähren, das arme Weib, und lebt nur von der Hand in den Mund… Und da ist’s ihr einmal im vorigen Herbst recht schlecht gegangen; sie hat nicht gewußt, wie sie die Kinder satt machen soll, nu, und da hat sie sich etwas zu Schulden kommen lassen, was freilich nicht recht war, sie hat von einem herrschaftlichen Acker eine Schürze voll Kartoffeln mitgenommen. Der Verwalter Linke aber hat hinter einem Busch gestanden; das sehen, vorspringen und auf die Frau losschlagen ist Eins gewesen. Ja, wenn er’s bei einem kleinen Denkzettel hätte bewenden lassen, da wollte ich nichts sagen; aber er hat gar nicht wieder aufgehört und hat sie sogar wüthend mit dem Fuße getreten… Ich hatte dazumal gerade etwas in Lindhof zu besorgen, und wie ich da unter den Kirschbäumen beim Dorfe hingehe, sehe ich einen Menschen an der Erde liegen, es war die Schneider; sie hatte ein erschreckliches Blutbrechen, konnte kein Glied mehr rühren, und keine Menschenseele war bei ihr. Da hab’ ich Leute gerufen, und die haben mir geholfen, sie nach Hause zu bringen. Der Herr Oberförster war zwar damals verreist, aber ich habe mir gedacht, er würde mir’s auch nicht verwehren, wenn er da wäre, und habe das arme Weib verpflegt, so viel in meinen Kräften stand… Die Leute im Dorfe waren wüthend über den Verwalter, aber was konnten sie denn machen? Es wurde zwar gesagt, die Sache käme vor Gericht; ja, da kann man warten… Der Linke ist einer von den Frommen; er ist die rechte Hand bei der Frau Baronin, verdreht die Augen und thut Alles im Namen des Herrn. Es durfte doch um keinen Preis unter die Leute kommen, daß so ein Frommer mitunter auch recht unmenschlich sein könne, und da ist die Frau Baronin alle Tage in die Stadt gefahren und hat sich sehr herabgelassen; kurz und gut, die Geschichte ist vertuscht worden, und die Schneider, die noch immer nicht ordentlich fort kann, hat ihre Schmerzen leiden müssen, und ist ihr und ihren Kindern weder ein Trunk, noch ein Bissen Brod vom Schlosse aus gereicht worden während ihrer schweren Krankheit… Ja, der Verwalter und die alte Kammerjungfer bei der Baronin, die treiben’s arg in Lindhof. Die sitzen in der Bibelstunde und in der Schloßkirche und schnüffeln und merken sich fleißig, wer fehlt, und das hat schon manchen ordentlichen Menschen um die Arbeit im Schlosse gebracht.“

„Na, jetzt wollen wir uns aber nicht weiter ärgern,“ sagte der Oberförster. „Mir wird jeder Bissen im Mund bitter, wenn ich an diese Geschichten denke, und unser schöner Sonntag, auf den ich mich die ganze Woche freue, soll keinen anderen Schatten haben, als den sich die schuldlosen, weißen Wölkchen da droben erlauben.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 7, S. 97–100
Fortsetzungsroman – Teil 6


[97] Bald nach dem Essen rollte die kleine Equipage vor das Haus. Der Oberförster stieg hinauf, und wie ein Blitz war Elisabeth an seiner Seite. Indem sie den Zurückbleibenden noch einmal grüßend zunickte, flog ihr Blick über das Haus; aber sie erschrak bis in’s innerste Herz vor den Augen, die aus dem oberen Stockwerk auf sie niederstarrten. Freilich verschwand der Kopf sogleich wieder, allein Elisabeth hatte die stumme Bertha erkannt, hatte gesehen, daß der Blick voll Haß und Ingrimm ihr gegolten, obgleich sie sich die Ursache dieser Feindseligkeit nicht denken konnte. Bertha hatte bisher in der strengsten Zurückgezogenheit der Familie Ferber gegenüber beharrt; nie kam sie zum Vorschein, so oft auch Elisabeth im Forsthaus war. Sie aß allein auf ihrem Zimmer, seit sie wußte, daß der Onkel allsonntäglich Gäste habe, und der ließ sie auch gewähren. Es mochte ihm ganz recht sein, daß die beiden Mädchen gar nicht zusammenkamen.

Frau Ferber hatte auch einmal den Versuch gemacht, sich dem jungen Mädchen zu nähern. Ihrer echt weiblichen Anschauungsweise gemäß hielt sie es für unmöglich, daß lediglich Trotz und Böswilligkeit die Triebfedern zu Bertha’s sonderbarem Benehmen sein könnten. Sie vermuthete eine tiefe, innere Niedergeschlagenheit, irgend einen Kummer, der sie gegen ihre Umgebung gleichgültig, oder auch bei ihrem heftigen Naturell wohl gar so gereizt mache, daß sie lieber das Sprechen vermeide, um keinen Conflict herbeizuführen. Sanftes Zureden, ein freundliches Entgegenkommen, hatte sie gehofft, werde das Siegel auf Bertha’s Lippen lösen; allein es war ihr nicht besser ergangen, als Elisabeth, ja, das Benehmen des Mädchens hatte sie dermaßen empört, daß sie ihrer Tochter jeden ferneren Annäherungsversuch streng untersagte. –

Nach kurzer Fahrt war das Ziel erreicht.

Die Lage von L. war unbestritten eine reizende. Inmitten eines nicht sehr weiten Thales, an den Fuß einer Anhöhe geschmiegt, deren Gipfel das imposante fürstliche Schloß krönte, lag es tief gebettet im dunklen Grün schöner, alter Lindenalleen und im Frühling umwogt von einem wahren Blüthenmeer zahlloser Obstgärten.

Der Oberförster führte Elisabeth in das Haus eines ihm befreundeten Assessors. Sie sollte dort auf ihn warten, bis er seine Geschäfte besorgt haben würde. Wenn auch herzlich bewillkommnet von der Dame des Hauses, hätte das junge Mädchen doch am liebsten sofort umkehren und dem die Treppe hinabeilenden Onkel folgen mögen; denn zu ihrem Verdruß gerieth sie mitten in einen großen Damencirkel. Die Assessorin theilte ihr in wenigen flüchtigen Worten mit, daß zur Feier des Geburtstages ihres Mannes lebende Bilder aus der Mythologie gestellt werden sollten, zu welchem Zwecke sich das darstellende weibliche Personal bereits eingefunden habe. Am Kaffeetisch eines hübsch eingerichteten Zimmers plauderten mit großer Lebhaftigkeit acht bis zehn Damen, die sämmtlich schon im mythologischen Costum steckten und jetzt mit ihren Augen der neuen Erscheinung bis in die geheimsten Falten ihres einfachen Anzugs zu schlüpfen versuchten.

Plötzlich zog eine die Straße langsam herabrollende Equipage die Damenschaar an die Fenster. Elisabeth konnte von ihrem Sitz aus die Straße und mithin auch den Gegenstand der allgemeinen Neugierde übersehen. In dem eleganten Wagen saßen die Baronin Lessen und Fräulein von Walde. Letztere hatte das Gesicht herüber nach dem Hause des Assessors geneigt, und es sah aus, als ob sie gewissenhaft alle Fenster des Erdgeschosses zähle. Die Wangen waren leicht geröthet, bei ihr stets ein Zeichen innerer Erregung. Die Baronin dagegen lehnte nachlässig im Fond; für sie schienen weder Häuser noch Menschen in der Straße zu sein.

„Die Lindhofer Damen,“ sagte Ceres, eine ziemlich compacte Blondine mit einem ganzen Erntesegen auf dem Kopfe. „Aber, mein Gott, was soll denn das heißen? … Sie ignoriren ja förmlich die Fenster des Doctor Fels! … Dort steht die Doctorin … ha, ha, ha, seht nur das lange Gesicht, das sie macht; sie hat zu grüßen versucht; aber die Damen haben leider am Hinterkopf keine Augen!“

Elisabeth sah nach dem gegenüberliegenden Haus. Dort stand eine sehr hübsche Frau, ein reizendes Blondköpfchen auf dem Arm, am Fenster. Es lag allerdings einiges Befremden in den schönen, blauen Augen, die dem Wagen folgten; aber lang war das blühende Oval ihres Gesichts durchaus nicht geworden. Durch eine Bewegung des Kindes veranlaßt, das seine Händchen nach den seltsam geschmückten Damenköpfen im Assessor-Hause streckte, sah sie herüber und nickte schelmisch lächelnd den Damen zu, die den freundlichen Gruß mittels Kußhänden und allerhand zärtlichen Pantomimen erwiderten.

„Sonderbar,“ sagte die Assessorin. „Was nur die beiden Damen haben mochten, daß sie ohne Gruß nach da drüben vorübergefahren sind! Bis jetzt haben sie noch nie die Straße passirt, ohne daß der Wagen gehalten hätte. Die Doctorin stand dann halbe Stunden lang am Wagenschlag und Fräulein von Walde schien sich sehr in der Unterhaltung mit ihr zu gefallen … die Baronin machte freilich manchmal ein saures Gesicht. … Wirklich merkwürdig; nun, die Zukunft wird ja zeigen, was dahinter steckt.“

„Herr von Hollfeld muß wohl in Odenberg geblieben sein. [98] Er war heute Morgen mit den Damen, als der Wagen bei uns vorüberfuhr,“ sagte Diana.

„Wie wird Fräulein von Walde die Trennung ertragen?“ meinte Flora spöttisch lächelnd.

„Steht es denn so mit den Beiden?“ fragte die Assessorin.

„Nun, wenn Du das noch nicht weißt, Kind; rief Ceres. „Wie er denkt und fühlt, darüber suchen wir freilich noch Aufklärung, daß sie ihn aber leidenschaftlich liebt, steht außer allem Zweifel. Es ist übrigens fast mit Gewißheit anzunehmen, daß diese Neigung einseitig ist; denn, ich bitte Euch, wie ist es möglich, daß ein so entsetzlich verkrüppeltes Wesen Liebe einzuflößen vermag! … Und nun gar einem so eiskalten Menschen, wie Hollfeld, der an den größten Schönheiten ungerührt vorübergeht!“

„Nun, den Reichthum kann er billiger haben,“ sagte Flora überlegen. „Er ist ja doch der muthmaßliche Erbe der beiden Geschwister.“

„Der Schwester, willst Du sagen,“ verbesserte die Assessorin. „Herr von Walde ist doch noch nicht zu alt zum Heirathen?“

„Ach, gehe mir doch mit dem!“ rief Ceres erzürnt, „die Frau müßte erst noch geboren werden oder geradezu vom Himmel niedersteigen, die dem zusagen sollte… Der ist aus lauter Hochmuth zusammengesetzt und hat noch weniger Herz, als sein Vetter. … Was habe ich mich als Mädchen über den geärgert, wenn er bei den Hofbällen in der Thür lehnte, die Arme verschränkt, als wären sie zusammengewachsen, und vornehm auf die Versammlung herabsah! Nur, wenn er von der Fürstin oder den Prinzessinnen zum Tanzen befohlen wurde, rührte er sich von der Stelle; und auch da hielt er’s nicht der Mühe werth, zu verbergen, daß er für diese Ehre keinen Pfifferling gäbe… Nun, wie er in Bezug auf Diejenige denkt, der er den stolzen Namen der Frau von Walde zu Füßen legen würde, das wissen wir ja, er hat’s rund heraus erklärt: Ahnen, Ahnen muß sie haben, und ihren Stammbaum wo möglich vom Männlein und Fräulein in der Arche Noah herleiten können.“

Alle lachten, nur Elisabeth blieb ernst. Fräulein von Walde’s Benehmen hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. Sie war empört und fühlte ihre Ansichten vom menschlichen Charakter gedemüthigt … War eine solche Wandlung in wenig Stunden wohl möglich? … Für Andere mit weniger idealer Anschauung wäre der unbegreifliche Zauber, den die Baronin Lessen auf Helene von Walde ausübte, sofort aufgeklärt worden durch den Ausspruch der Damen, daß das junge Mädchen den Sohn der Baronin liebe – für Elisabeth jedoch nicht. Jenes erhabene Gefühl, das die Dichter aller Zeiten und Zonen begeistert als das Lieblichste und Herrlichste auf Erden feierten, konnte doch unmöglich zur Triebfeder unedler Handlungen werden; ebensowenig konnte sie aber auch begreifen, wie Herr von Hollfeld ein solches Gefühl einzuflößen vermöchte. Er war durchaus nicht befähigt, das Ideal einer schönen, weiblichen Seele verwirklichen zu können. Er besaß weder Geist noch Witz. Bei alledem war er maßlos eitel und wollte nicht allein durch seine schöne Gestalt Interesse erwecken, er wußte recht gut, daß die meisten Frauen eher ein häßliches Aeußere, als den Mangel an innerem Fond verzeihen. Es blieb ihm mithin nichts Anderes übrig, als jene Verschlossenheit und Schroffheit des Wesens anzunehmen, hinter denen die Welt sehr leicht geneigt ist, durchdringenden Verstand, Originalität und Strenge der Ansichten zu vermuthen. Es gab keinen Mann in der Welt, der sich rühmen konnte, auf vertrautem Fuße mit Herrn von Hollfeld zu stehen; er war schlau genug, jeden Einblick in sein Inneres abzuwehren, und vermied streng jedes eingehende Gespräch mit Männern; den Damen genügte jene rauhe Schale vollkommen, um hier das Sprüchwort vom „desto süßeren Kern“ in Anwendung zu bringen. Herr von Hollfeld verstand zu rechnen. Er wurde der Gegenstand stiller Wünsche und Sehnsucht, wie ja das Eroberungsgelüst in der Schwierigkeit den Sporn findet. Was indeß Hollfeld’s Geist an Kraft und Feuer gebrach, das wurde vollkommen ausgeglichen im Gebiet der niederen Leidenschaften, unter denen die Habsucht und die sinnliche Liebe die Hauptstimme hatten. Um seine Stellung in der Welt zu einer glänzenden und angenehmen zu machen, scheute er keine Intrigue, er hatte den ergiebigsten Boden für dieselbe unter seinen Füßen, denn er war Kammerjunker am Hofe zu L. Er log und trog und war um so gefährlicher, als hinter seinem geraden, trockenen Wesen Niemand, nicht einmal die Männer, einen solchen Feind vermutheten, so wenig, wie die Frauen zugegeben haben würden, daß da, wo ihrer Ueberzeugung nach die köstliche Perle, die Liebe, noch unberührt schlief, eine unreine Flamme verheerend loderte.

Elisabeth war froh, als sie den Onkel um eine Ecke biegen und auf das Haus zukommen sah. Tief aufathmend saß sie endlich an seiner Seite im Wagen. Sie hatte den Hut abgenommen und badete die heiße Stirn in einem köstlich frischen Abendlüftchen, das leise vorüberstrich. Auf den schwach zitternden Blättern der Pappeln zu beiden Seiten der Fahrstraße glänzte der letzte Sonnenstrahl; auch über die blühenden Kartoffelfelder flog noch ein goldener Hauch, aber der Wald, der mit seinen Armen Elisabeth’s trautes Heim umschloß, lag dunkel und düster da drüben, als habe er bereits das sonnige Leben vergessen, das ihm doch heute bis in das innerste Herz geschlüpft war.

Der Oberförster hatte das schweigende junge Mädchen einige Mal von der Seite angesehen. Plötzlich nahm er Zügel und Peitsche in eine Hand, faßte mit der anderen Elisabeth’s Kinn und bog ihr Gesicht zu sich herüber.

„He, laß ‘mal sehen, Else!“ sagte er. „Was, zum Henker, hast ja zwei Runzeln auf der Stirn, so tief, wie der Sabine ihre Ackerfurchen! … Hat’s was gegeben da drin? Heraus mit der Sprache – Du hast Dich geärgert, nicht?“

„Nein, Onkel, Aerger war’s nicht, aber geschmerzt hat es mich, daß Du so Recht gehabt hast hinsichtlich Deiner Ansicht über Fräulein von Walde,“ entgegnete Elisabeth, indem ein tiefes Roth der Erregung über ihre Züge flog.

Sie schilderte ihm dann Helenens Benehmen und theilte ihm auch die Vermuthungen der Damen mit. Der Oberförster lächelte vor sich hin.

„Aber, Onkel,“ fuhr sie fort, „Du wirst doch nicht glauben, daß ein Mensch um einer solchen Neigung willen seine besseren Gesinnungen aufgiebt?“

„Um einer solchen Neigung willen, Kind, sind schon ganz andere Dinge geschehen, und wenn ich auch Fräulein von Walde’s Schwäche und Nachgiebigkeit durchaus nicht billige, weit entfernt, so beurtheile ich sie doch jetzt milder… Das ist die Macht, die uns selbst Vater und Mutter vergessen läßt um eines Anderen willen.“

„Ja, das eben kann ich mir ganz und gar nicht vorstellen, Onkel, wie man einen fremden Menschen lieber haben kann, als die eigenen Eltern,“ entgegnete Elisabeth eifrig.

„Hm,“ meinte der Oberförster und ließ die Peitsche leicht auf den Rücken des Braunen fallen, um ihn ein wenig anzutreiben. Diesem „Hm“ folgte ein leichtes Räuspern und dabei ließ er es bewenden.

„Siehst Du dort den schwarzen Strich über dem Walde?“ fragte er dann nach einem längeren Schweigen, während dessen er sich in seine eigene Vergangenheit versenkt hatte, indem er mit der Peitsche nach den immer näher rückenden Bergen zeigte.

„Ja wohl, das ist die Fahnenstange auf Schloß Gnadeck. Ich habe sie schon vorhin entdeckt und bin in diesem Augenblick unsäglich froh in dem Gedanken, daß dort ein Stückchen Erde ist, auf welchem wir heimisch sind, eine Stätte, von der Niemand in der Welt das Recht hat, uns zu vertreiben. Gott sei Dank, wir haben eine Heimath!“

„Und was für eine!“ sagte der Oberförster, während sein leuchtender Blick über die Gegend flog. „Als ich noch ein kleiner Junge war, da lebte schon die Sehnsucht nach den Thüringer Wäldern in mir, und daran war mein Großvater schuld mit seinen Erzählungen. Er hatte seine Jugendzeit in Thüringen verlebt und schüttelte Sagen und Märchen seiner Heimath förmlich aus dem Aermel. Nachdem ich denn meine Sache gelernt hatte, wanderte ich hierher. Damals gehörte noch der ganze Forst, den wir hier vor uns sehen, den Gnadewitzes; aber denen mochte ich nicht dienstbar sein, ich kannte diese Menschenschinder genug von meinem Vater her. Ich war der erste Ferber seit undenklichen Zeiten, der darauf verzichtete, in ihren Diensten zu stehen, und ließ mich beim Fürsten L. anstellen. Der Universalerbe des letzten Gnadewitz hat die großen Waldungen getheilt, weil der Fürst von L. seinen Waldbesitz zu vergrößern wünschte und sich diese Liebhaberei ein tüchtiges Stuck Geld kosten ließ. So kam es, daß ein lebhafter Wunsch meiner Jugend erfüllt wurde, denn ich wohne jetzt in dem Hause, das eigentlich die Wiege der Ferber ist … Du weißt doch, daß wir aus Thüringen stammen?“

[99] „Ja wohl, schon seit meiner Kinderzeit.“

„Weißt auch, was es für eine Bewandtniß mit unserer Herkunft hat?“

„Nein.“

„Nun, es ist freilich schon ein wenig lange her und ich bin vielleicht noch der Einzige, der die Geschichte kennt; aber ganz verlieren soll sie sich doch nicht, das Andenken ist ja der einzige Dank, den wir Nachkommen für eine brave That haben können; drum sollst Du die Geschichte jetzt hören und später einmal erzählst Du sie weiter. … Vor etwa zweihundert Jahren – Du siehst, wir können unsern Stammbaum auch ein gutes Stück zurückleiten, nur schade, daß wir nicht zu sagen wissen, wer unsere Ahnenmutter war, solltest Du indeß einmal darum befragt werden, vielleicht von der Frau Baronin Lessen und dergleichen, so kannst Du getrost sagen, daß wir vermuthen, es sei – wenn auch nicht gerade die Gustel von Blasewitz, denn die Geschichte spielt im dreißigjährigen Krieg, – so doch eine Marketenderfrau gewesen. … Vielleicht war es auch eine rechtschaffene, brave Frau, die bei ihrem Mann in allen Bedrängnissen des Krieges treu ausgehalten hat; aber verzeihen kann ich’s ihr doch nicht, daß sie ihr Kind verlassen konnte … Nun also, vor etwa zweihundert Jahren sieht die Frau des Jägers Ferber, als sie in der Morgenfrühe die Hausthür aufmacht – dieselbe, die jetzt auch mein Hab und Gut verschließt – ein Kindlein auf der Schwelle liegen. Heisa, die hat die Thür wacker zugeschlagen, denn damals hat sich viel Zigeunergesindel in den Wäldern umhergetrieben und sie hat gemeint, es sei solch’ ein unreines Wesen. Ihr Mann aber war christlicher, er hat das Kind hereingeholt, es war kaum einen Tag alt. Auf seiner Brust hat ein Zettel gelegen, der hat besagt, man möge sich des kleinen Knaben annehmen, er sei ehelich geboren und habe in der heiligen Taufe den Namen Hans erhalten, man werde später Näheres über das Kind erfahren. In dem Wickelkissen hat auch ein Beutelchen mit etwas Geld gesteckt. Die Jägerfrau ist sonst ein gutes Weib gewesen, und als sie gehört hat, daß der Knabe von christlichen Eltern und wahrscheinlich ein ehrlich Soldatenkind sei, das wohl die Eltern ausgesetzt hatten, um es nicht in die Gefahren des Krieges zu bringen, da hat sie ihn an ihr Herz genommen und ihn mit ihrem kleinen Mädchen aufgezogen, als ob sie Geschwister seien. Und das war sein Glück, denn es hat sich keine Menschenseele von seinen Verwandten wieder um ihn gekümmert. Später hat ihn sein Pflegevater adoptirt, und um sein Glück voll zu machen, hat er auch sein schönes Milchschwesterlein heimführen dürfen. Er sowohl, wie auch sein Sohn und ein Enkel haben als Jäger der von Gnadewitz in meiner jetzigen Wohnung gelebt und sind auch darin gestorben. Erst mein Großvater ist auf die Besitzung nach Schlesien versetzt worden … Als Knabe ärgerte ich mich immer unbeschreiblich, daß nicht nach so und so viel Jahren eine gräfliche Mutter aufgetaucht war, die in dem Findling ihr durch Bosheit geraubtes Kind erkannt und ihn triumphirend in ihr Schloß zurückgeführt hatte. Diese fehlende romantische Wendung im Geschick unseres Ahnherrn habe ich freilich später um so lieber verschmerzt, als mir der Gedanke kam, daß mein Erscheinen auf dieser schönen Welt dann doch vielleicht ein sehr zweifelhaftes sei; auch gefiel mir mein wackerer Name zu gut, als daß ich einen anderen hätte führen mögen … Aber wunderbar war mir doch zu Muthe, als ich zum ersten Male die Schwelle überschritt, auf welcher der kleine Ausgesetzte wohl den hülflosesten Augenblick seines Lebens verbringen müßte; seine natürlichen Versorger hatten ihn verlassen und das Mitleid hatte ihre Stelle noch nicht eingenommen… Der tief ausgetretene Stein ist ohne Zweifel noch derselbe, auf dem das Kind gelegen hat, und so lange ich lebe oder in dem Hause etwas zu sagen habe, soll er nicht von seiner Stelle gerückt werden.“

Plötzlich bog sich der Oberförster vor und deutete durch die Zweige, denn man fuhr bereits im Walde.

„Siehst Du dort den weißen Punkt?“ fragte er.

Der weiße Punkt war die Haube Sabinens, welche vor der Thür saß und auf die Rückkehrenden aufschaute. Als sie des Wagens ansichtig wurde, stand sie eilig auf, schüttete den Inhalt ihrer Schürze, der sich später als eine Menge Vergißmeinnicht auswies, in einen neben ihr stehenden Korb und ging den Ankommenden entgegen.

Noch eine Zeit lang saß heute Abend Elisabeth mit dem Onkel zusammen. In dem Oberförster waren eine Menge Erinnerungen wach geworden. Mit dem Erzählen der zweihundertjährigen Familiengeschichte waren auch viele Entschlüsse, Pläne und Empfindungen seiner Jugendzeit aufgetaucht, die er jetzt mitleidig lächelnd an sich vorübergehen ließ; sie waren sammt und sonders vor dem reellen Leben zerstoben, wie Spreu im Winde. Er erzählte behaglich, wie Einer, der auf sicherem Lande steht und nur von fern noch das Rauschen der Brandung hört, die ihm nichts mehr anhaben kann. Manchmal fiel auch ein Witzwort oder eine Neckerei dazwischen, die von Elisabeth oder Sabine, wem es gerade galt, gehörig parirt und zurückgegeben wurde.

Mittlerweile war der Mond groß und voll über die Baummassen getreten, es wurde Zeit, daß Elisabeth an den Heimweg dachte.

„Schönen Dank für die Spazierfahrt! Gute Nacht, Herzensonkel!“ rief sie, während sie den Kranz, den die alte Sabine inzwischen aus ihren Vergißmeinnicht gewunden hatte, sich scherzend auf das blonde Haar drückte, eilte durch Haus und Hof und stand bald droben auf dem Berge außerhalb des Gartens, dessen Thür sie zuschlug. Sie flog auf dem schmalen, mondbeglänzten Waldweg aufwärts. Droben im Wohnzimmer brannte die Lampe; der Lichtschimmer war trotz der Mondbeleuchtung weithin sichtbar, weil die Fronte des Zwischenbaues im tiefen Schatten lag.

Als sie auf die Waldblöße heraustrat, fiel ein merkwürdiger Schatten quer über ihren Weg … Das war weder ein Baum, noch ein Pfahl, sondern eine fremde Männergestalt, die seitwärts gestanden hatte und jetzt zu ihrem Schrecken auf sie zuschritt. Die Erscheinung nahm höflich den Hut ab und in dem Augenblick verschwand Elisabeth’s Furcht, denn sie blickte in das lächelnde, gutmüthige Gesicht eines ältlichen, feingekleideten Herrn.

„Verzeihung, mein Fräulein, wenn ich Ihnen vielleicht einen kleinen Schrecken eingejagt habe,“ sagte er und blickte freundlich über zwei große, funkelnde Brillengläser hinweg in ihr Gesicht, „aber ich habe es weder auf Ihr Leben, noch auf Ihre Börse abgesehen und bin nichts weiter, als ein heimkehrender, friedlicher Reisender, der gern wissen möchte, was es mit dem Licht da droben in den Ruinen für ein Bewenden hat … Ich überzeuge mich übrigens in diesem Augenblicke, daß es ganz überflüssig war, zu fragen … Die Feen und Elfen führen dort ihren Reigen auf und die schönste streift im Walde umher, um Keinen ungestraft des Weges ziehen zu lassen, der ihren gefeiten Ring betritt.“

Der galante Vergleich, so abgenutzt er übrigens auch sein mochte, war doch in diesem Augenblick nicht übel angewendet, denn die schlanke Mädchengestalt im weißen Gewande, den blauen Kranz über dem engelschönen Gesicht und vom Mondlicht umflossen, konnte recht wohl für eine Märchenerscheinung gelten, als sie so leicht durch die Gebüsche über den einsamen Berg dahinflog.

Sie selbst aber lachte innerlich über das seichte Compliment und dachte zugleich ein wenig entrüstet, sie sähe doch wahrhaftig nicht so leichtfertig aus, wie solch ein quecksilbernes Elfenkind, und das wolle sie dem alten Herrn auf der Stelle klar machen.

„Es thut mir leid,“ sagte sie leicht, „daß ich Sie in die rauhe Wirklichkeit zurückführen muß, aber ich wüßte wahrhaftig nicht, wie ich es anfangen sollte, dort in dem Licht etwas Anderes zu sehen, als die respectable Lampe in der gemüthlichen Stube eines fürstlich L.’schen Forstschreibers.“

„Ei,“ lachte der Herr, „und haust der Mann ganz allein in den unheimlichen alten Mauern?“

„Er könnte es getrost wagen, denn über den, der den rechten Weg wandelt, haben die ‚Unheimlichen‘ keine Gewalt … Uebrigens leisten ihm noch einige lebende Wesen Gesellschaft, unter Anderen auch zwei gutgeartete Ziegen und ein allerliebster Canarienvogel; die Eulen ungerechnet, die sich jedoch sehr indignirt in’s Privatleben zurückgezogen haben, weil sich das Treiben lustiger Menschenkinder nicht mit der ernsten Lebensanschauung dieser gestrengen Herren verträgt.“

„Oder auch, weil sie lichtscheu sind und es nicht vertragen können …“

„Daß der neue Ankömmling die Wahrheit verehrt?“

„Auch möglich … Ich wollte aber eigentlich sagen, daß sie die zwei Sonnen fliehen, die plötzlich in den Ruinen aufgegangen sind.“

„Zwei Sonnen auf einmal? … Das wäre aber auch eine starke Zumuthung für die armen Eulenaugen und möchte selbst einem Feueranbeter zu viel werden!“ entgegnete lachend Elisabeth, [100] indem sie mit einer leichten Verbeugung an ihm vorüber eilte, denn die Eltern traten eben aus dem Mauerpförtchen und gingen ihr einige Schritte entgegen. Sie waren besorgt heruntergeeilt, als sie Elisabeth’s Stimme und die eines fremden Mannes gehört hatten, und gaben ihr nun, nachdem sie ihr kleines Abenteuer erzählt hatte, einen sanften Verweis dafür, daß sie so rückhaltslos auf ein Gespräch eingegangen war.

„Deine Neckerei hätte sehr unangenehme Folgen für Dich haben können, mein Kind,“ sagte die Mutter. „Zum Glück sind es Männer von Bildung gewesen …“

„Männer?“ unterbrach sie das junge Mädchen erstaunt. „Es war ja ein einziger.“

„Nun, dann sieh Dich um,“ sagte der Vater, „dort kannst Du sie noch sehen.“

Wirklich tauchten da, wo der Weg anfing, steil abwärts zu laufen, noch einmal zwei helle Herrenhüte auf.

„Da kannst Du sehen, Mütterchen,“ meinte Elisabeth lachend, „wie wenig verfänglich die Begegnung gewesen ist. Der Eine hat sich nicht einmal aus dem Gebüsch heraus getraut, und hinter dem guten, alten Gesicht des Anderen steckt sicher auch nicht das Atom einer Banditenseele.“

Oben in ihrem Zimmer nahm sie vorsichtig den Kranz von der Stirn, legte ihn auf einen Teller und stellte Beides unter Beethoven’s Büste. Dann küßte sie den schlafenden Ernst auf die Stirn und sagte den Eltern gute Nacht.


7.

„Holla, Else, lauf’ nicht so!“ schrie der Oberförster, als er am andern Tag, die Büchse über die Schulter geworfen, in der dritten Nachmittagsstunde aus dem Walde trat und quer über die Wiese nach seinem Hause schritt.

Elisabeth flog den Berg herab, den runden Hut am Arm, statt auf den Flechten, die im Sonnenglanz weithin leuchteten, und lief, unten am Haus angekommen, lachend in die Arme des Onkels, die er ihr ausgebreitet entgegenhielt.

„Onkelchen, Onkelchen, was ich da habe!“ rief sie und zog behutsam eine kleine Schachtel aus der Tasche.

„Es ist für Dich,“ fuhr sie mit freudestrahlendem Gesicht fort indem sie den Deckel der Schachtel öffnete, in welcher der Oberförster auf einem grünen Blatte eine große citrongelbe Raupe mit schwarzen Punkten erblickte.

„Alle Tausendsapperment, Sphinx Atropos!“ rief er entzückt.

„Aber umsonst bekommst Du den Schatz nicht,“ wehrte Elisabeth den Onkel ab, der schon die Hand nach der Raupe ausstreckte „Du mußt mir zwölf baare Groschen dafür bezahlen.“

„Zwölf Groschen?“

„Billiger thue ich’s nicht. Wird doch manch altes, verschimmeltes Pergamentblatt, das man kaum anrühren möchte, so abscheulich. sieht es aus, gar manchmal mit Gold aufgewogen, sollte da so ein lebendiges Prachtstück der Natur nicht seine zwölf Groschen werth sein?“

„Altes, verschimmeltes Pergamentblatt, na, das sage einmal vor gelehrten Ohren, da wirst Du schön ankommen.“

„Ach, hier im frischen, freien Walde giebt es keine.“

„Nimm Dich in Acht – Herr von Walde –“

„Steckt in den Pyramiden.“

„Könnte aber plötzlich kommen und gewisse naseweise Fräulein zur Rechenschaft ziehen; ist ein Haupthahn der Gelehrtenwelt.“

„Nun, meinetwegen können sie ihm Denksäulen errichten und Lorbeeren streuen, so viel sie wollen, ich kann es ihm nicht vergeben, daß er über diesem todten Kram die Ansprüche vergißt, die das Leben an ihn zu stellen berechtigt ist, daß er vielleicht nach einem unversehrten Küchenzettel des Lucull, oder Gewißheit darüber sucht, ob die Römer in der That ihre Fische mit Sclavenfleisch fütterten, während die Armen auf seinen Gütern hungern und unter der Geißel der Baronin in ein modernes Sclavenjoch getrieben werden.“

„Heisa, dem mag sein linkes Ohr klingen! … Schade, daß er dies Glaubensbekenntniß nicht mit anhören kann… Hier also sind Deine zwölf Groschen, wenn’s nicht anders sein soll. Du willst Dir doch irgend einen Firlefanz, eine Feder oder solch’ einen Tand auf Deinen Hut dafür kaufen?“ sagte er lächelnd.

Sie hielt ihren Hut mit ausgestrecktem Arm von sich ab und betrachtete entzückt die zwei frischen Rosen, die sie in das einfach geschlungene schwarze Sammetband gesteckt hatte. „Sieht das nicht wunderlieblich aus?“ fragte sie. „Und glaubst Du, ich werde mein junges Haupt freiwillig unter düstere Federwolken stecken, wenn ich Rosen, frische Rosen haben kann? … Und da ist Deine Raupe, und nun sollst Du auch wissen, weshalb ich Dich gebrandschatzt habe… Heute Morgen war die Frau eines armen Webers aus Lindhof bei meiner Mutter und bat um eine Unterstützung. Ihr Mann ist gestürzt, hat sich Arm und Fuß verletzt und kann seit Wochen nichts verdienen. Die Mutter gab ihr altes Linnen und ein großes Hausbrod; mehr zu geben geht über ihre Kräfte, wie Du weißt… Sieh, hier habe ich fünfzehn Groschen aus meinem Sparschatz, mehr war zur Zeit nicht drin – drei desgleichen sind von Ernst, der am liebsten seine Bleisoldaten verkauft hätte, um der armen Frau zu helfen; dazu kommt der Preis für die Raupe, macht zusammen einen ganzen Thaler, und der wird sogleich in das Weberhäuschen getragen.“

„Läßt sich hören… Hier ist noch ein Thaler, und – Sabine,“ rief er in das Haus hinein, „hole ein tüchtiges Stück Fleisch aus dem Salzfaß und lege es zwischen grüne Blätter – das nimmst Du auch mit,“ wandte er sich wieder zu Elisabeth.

„Ach, Du lieber, prächtiger Onkel!“ jubelte das Mädchen, indem sie seine große Hand zwischen ihre schlanken Finger nahm und sich bemühte, sie herzhaft zu drücken.

Die alte Haushälterin trat aus der Thür, und während sie auf des Oberförsters Wink Elisabeth das Fleisch hinreichte, flüsterte sie ihm zu, Herr von Walde, der gestern spät Abends von seiner Reise zurückgekehrt sei, warte schon seit einiger Zeit auf ihn.

„Wo?“ fragte er.

„Hier unten in der Wohnstube.“

Sie standen aber gerade vor dieser Stube, und die Fenster waren offen. Elisabeth drehte sich überrascht um, konnte aber nichts entdecken, sie war feuerroth geworden. Der Onkel jedoch zog, ohne sich umzusehen, seinen Kopf auf eine unendlich komische Weise zwischen die Schultern, strich schmunzelnd seinen Bart und sagte leise mit unterdrücktem Lachen: „Da haben wir die Bescheerung; Du hast Dir ein gutes Süppchen eingebrockt, der hat Alles mit angehört.“

„Desto, besser,“ erwiderte das junge Mädchen und hob fast trotzig den Kopf, „er wird ohnehin selten genug die Wahrheit zu hören bekommen.“ Dann reichte sie dem Onkel und Sabinen die Hand zum Abschied und schritt langsam durch den Wald nach Lindhof zu.

Im ersten Augenblick war ihr der Gedanke peinlich gewesen, daß Herr von Walde ihr Urtheil über ihn so wider Willen hatte mit anhören müssen; dann aber meinte sie, ganz ebenso würde sie ihm ja auch die Wahrheit in’s Gesicht gesagt haben. Da aber nicht zu vermuthen stand, daß er sie je um ihr Gutachten befragen würde – ein Gedanke, der sie lächeln machte im Hinblick auf seine Unnahbarkeit – so konnte es ihm wirklich nicht schaden, daß ihn der Zufall zum Zeugen eines völlig unparteiischen Ausspruchs – wenn auch nur aus einem Mädchenmunde – gemacht hatte… Wie mochte es aber kommen, daß er so plötzlich und unerwartet zurückgekehrt war? Fräulein von Walde hatte stets ein mehrjähriges Ausbleibens ihres Bruders vorausgesetzt und war vorgestern noch gänzlich ahnungslos in Bezug auf seine Rückkehr gewesen… Die Begegnung am gestrigen Abend fiel ihr plötzlich ein. Der alte Herr hatte ja auch gesagt, er sei ein heimkehrender Reisender, aber er mit seinen gemüthlich lächelnden Zügen und seinem behäbigen Wesen war doch nun und nimmermehr der ernste, stolze Besitzer von Lindhof; dann wohl eher der Andere, der schweigend im Dunkel der Gebüsche gewartet hatte, bis seinem Begleiter die gewünschte Auskunft über das fragliche Licht zu Theil geworden war… Was aber mochte Herr von Walde von ihrem Onkel wollen, der, wie sie wußte, niemals in irgend welchem Verkehr mit ihm gestanden hatte?

Diese und ähnliche Gedanken beschäftigten sie lebhaft auf ihrem Wege nach dem Hause des Webers. Mann und Frau weinten vor Freude über die unverhofften Spenden, und von tausend Segenswünschen der armen Leute begleitet verließ Elisabeth das Häuschen.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 8, S. 113–116
Fortsetzungsroman – Teil 7


[113] Elisabeth schritt durch das Dorf nach Lindhof zu ihren gewöhnlichen Musikübungen, die trotz der Ankunft des Herrn Walde nicht abgesagt worden waren. Mit der Rückkehr des Besitzers hatte das Schloß eine ganz andere Physiognomie angenommen. Sämmtliche Fenster im Erdgeschoß an der Südseite, die so lange verschwiegen und geheimnißvoll hinter den weißen Läden gesteckt hatten, spiegelten ihre lange glänzende Reihe im Sonnenlicht. In den Räumen selbst wurde gewaltig gelärmt und hantirt, gesäubert und gelüftet. Eine Glasthür, die das Innere eines großen Saales zeigte, stand weit offen; auf einer der Stufen, die hinunter nach dem Garten führten, lag ein schneeweißes Windspiel; den schlanken Leib unbeweglich hingestreckt auf den sonnenbeschienenen, heißen Stein und die Schnauze auf die Vorderpfoten gelegt, blinzelte es Elisabeth an, als sei sie eine alte Bekannte. An einem offenen Fenster ordnete der Gärtner einen Blumentisch, und der alte Hausverwalter Lorenz schritt eben mit dem Blick eines Untersuchungsrichters durch das Zimmer.

Es war auffallend, daß sämmtliche Menschen, die dem jungen Mädchen im Hause begegneten, wie durch einen Zauberschlag einen völlig anderen Gesichtsausdruck angenommen hatten. War ein Sturmwind durch die schwüle Atmosphäre gebraust und hatte einen neuen Odem in die Räume gehaucht, so daß die Stimmen heller klangen und die gedrückten Menschengestalten sich erfrischt und elastisch aufrichteten? … Selbst der alte Lorenz, dessen Gesichtsmuskeln stets so schlaff und grämlich herabhingen, als ob sie Bleigewichten nachgeben müßten, hatte heute einen wahren Sonnenschein in den Augen, obgleich er einen Augenblick auf die Staubausklopfer erbost war; auch klang seine Stimme so laut, daß Elisabeth überrascht aufsah, denn sie kannte den alten Mann ja nur, wie er geräuschlos, auf den Zehen in das Zimmer der Damen trat und lächelnd, mit möglichst unterdrückter Stimme, seine Meldungen machte.

Erstaunt über dies urplötzlich aufgeblühte neue Leben und Treiben wandte sich Elisabeth nach dem Flügel, den die Damen bewohnten. Hier herrschte jedoch die tiefste Stille. In der Wohnung der Baronin hingen sämmtliche Rouleaux dicht und schwer hinter den Scheiben. Kein Laut drang durch die Thüren, an denen Elisabeth vorbei mußte. Die Luft des schmalen Corridors war mit dem durchdringenden Geruch starker Baldriantropfen gemischt, und als endlich am untersten Ende des Ganges eine Thür geöffnet wurde, erblickte Elisabeth wohl ein menschliches Haupt, aber in welcher Verfassung! Es war die alte Kammerjungfer der Baronin, die vermuthlich sehen wollte, wer so vermessen sei, die feierliche Ruhe des Corridors zu unterbrechen. Die Haube saß schief auf den falschen Locken, von denen das eine Paket bedenkliche Anstalten machte, herunterzufallen. Die Gesichtszüge sahen verstört aus und zwei cirkelrunde, feuerrothe Flecken auf den hervorstehenden Backenknochen zeugten entweder von Fieberhitze oder einer großen, geistigen Erregung. Sie erwiderte Elisabeth’s Gruß kurz und mürrisch und verschwand schnell wieder hinter der leise zugemachten Thür.

Als Elisabeth Fräulein von Walde’s Zimmer betrat – auf ihr mehrmaliges Klopfen war kein „Herein“ erfolgt – da meinte sie, hier spiele der letzte Act des geheimnißvollen Dramas, das in den Räumen der Baronin begonnen hatte. Nicht allein die Rouleaux, sondern auch die dicken, seidenen Vorhänge waren dicht zugezogen. Die tiefe Dunkelheit und Stille hielten sie ab, einzutreten, und eben wollte sie die Thür wieder schließen, als Helene mit schwacher Stimme sie hereinrief. Die junge Dame lag in einem Fauteuil im Hintergrund des Zimmers; sie hatte den Kopf in ein weißes Kissen gedrückt und Elisabeth konnte hören, wie ihr leise die Zähne zusammenschlugen.

„Ach, liebes Kind,“ sagte sie und legte ihre feuchtkalten Hände auf den Arm des jungen Mädchens, „ich habe Nervenzufälle gehabt. Niemand von meiner Umgebung hat es gemerkt, daß ich so unwohl hier liege, und da war ich so fürchterlich allein in dem finsteren Zimmer … Bitte, öffnen Sie die Fenster weit – ich brauche Luft, warme Gottesluft.“

Elisabeth erfüllte sogleich ihren Wunsch, und als das Tageslicht auf das blasse Gesicht der Kranken fiel, sah das junge Mädchen, daß sie heftig geweint hatte.

Die eindringenden Sonnenstrahlen erweckten mehr Leben und Bewegung in dem Zimmer, als Elisabeth geahnt hatte; sie schrak heftig zusammen, als es plötzlich in einer Ecke laut aufkreischte. Dort wiegte sich ein Kakadu mit schneeweißem Gefieder und emporgesträubter gelber Krone auf einem Ring.

„Gott, wie fürchterlich!“ seufzte Helene und drückte die schmalen Hände an beide Ohren. „Das abscheuliche Thier zerreißt mir noch die Nerven.“

Elisabeth’s Blick haftete erstaunt auf dem kleinen Fremdling und glitt dann durch das Zimmer, das aussah wie ein Bazar. Auf allen Tischen und Stühlen lagen reiche Stoffe, Shawls, kostbar gebundene Bücher und die verschiedenartigsten Toilettengegenstände. Fräulein von Walde fing Elisabeth’s Blick auf und sagte kurz, mit abgewandtem Gesicht: „Lauter Geschenke meines Bruders, der gestern unerwartet zurückgekehrt ist.“

[114] Wie kalt klang ihre Stimme, als sie dies sagte! Auch nicht der leiseste Anflug von Freude war in den verweinten Zügen zu entdecken; aus den sonst so sanften Rehaugen sprachen unverhohlen Groll und Bitterkeit.

Elisabeth bückte sich schweigend und hob ein prachtvolles Camellienbouquet auf, das halb verschmachtet am Boden lag.

„Ach ja“ sagte Helene und richtete sich empor, während ein schwaches Roth über ihr Gesicht flog, „das ist der heutige Morgengruß meines Bruders; es ist vom Tisch herabgefallen und vergessen worden … Bitte, stecken Sie es dort in die Vase.“

„Die armen Blüthen,“ sagte Elisabeth halblaut, indem sie die welken braunen Ränder an den weißen Blumenblättern betrachtete, „sie haben auch nicht geahnt, als sie ihre Knospe öffneten, daß sie in einer so kalten Region würden athmen müssen.“

Helene blickte betroffen und forschend zu dem jungen Mädchen auf und ihr Auge sah einen Moment aus, als schmelze es in Reue. „Stellen Sie die Blumen in das offene Fenster; dort haben sie Luft und die wird ihnen gut thun,“ flüsterte sie hastig. „O, mein Gott!“ rief sie, in das Polster zurücksinkend. „Er ist ja gewiß ein vortrefflicher Mensch … aber sein Erscheinen zerreißt die Harmonie eines beglückenden Zusammenlebens!“

Elisabeth sah mit einem fast ungläubigen Ausdruck auf die junge Dame, wie sie so dalag, die gerungenen Hände emporgehoben und die starren Augen nach der Zimmerdecke gerichtet, als habe ihr das Geschick die furchtbarste Prüfung auferlegt … Fehlte dem jungen Mädchen schon gestern jegliches Verständniß für Helenens Handlungsweise, so stand es jetzt geradezu fassungslos vor diesem unbegreiflichen Charakter … Wo war so urplötzlich jenes heiße Dankgefühl geblieben, das aus jedem Worte sprach, sobald Helene des fernen Bruders gedachte? Hatte ein einziger Moment die ganze schwesterliche Zärtlichkeit, die ihr Herz zu erfüllen schien, spurlos verflüchtigen können, so daß sie jetzt beklagte, was nach ihren früheren Aeußerungen doch ein glückliches Ereigniß für sie sein mußte? … Und wenn auch der Heimgekehrte nicht mit dem Kreis sympathisirte, in welchem sie sich allein beglückt fühlte, selbst wenn er ihre liebsten Wünsche durchkreuzte, war es trotzdem möglich, daß sofort Kälte und Groll zwischen zwei Wesen treten konnten, die das Geschick eng aneinander gekettet hatte und die sich um so inniger angehören mußten, als das eine so schutzbedürftig war und das andere so allein stand in der Welt? … Elisabeth fühlte plötzlich ein tiefes Erbarmen für den Mann, der ferne Meere durchschifft, fremde Länder einsam durchstreift hatte und nun nach langem Umherirren blos als störendes Element am eigenen Heerd begrüßt wurde. Allem Anschein nach hatte er nur den einen warmen Punkt, die Liebe zu der Schwester, in seinem stolzen Herzen; wie tief mußte es ihn dann verwunden, daß gerade sie kein freundliches Willkommen für ihn hatte und ihr Herz kalt von ihm abwandte!

In dem Augenblicke wurde die Thür heftig aufgestoßen, und eine weibliche Gestalt erschien auf der Schwelle. Es kostete Elisabeth Mühe, sich zu überzeugen, daß diese Erscheinung in äußerst vernachlässigter Toilette und alle Zeichen großer Aufregung an sich tragend die Baronin Lessen war. Das spärliche, sonst stets mit fast peinlicher Sorgfalt geordnete Haar fiel aus einer Morgenhaube auf die Stirn, die, gewöhnlich so blaß und elfenbeinartig, jetzt eine dunkle Röthe überflammte. Aus den Augen war das stereotype, stolze Selbstbewußtsein gewichen, und wie unbedeutend erschienen sie jetzt, als sie scheu und erschreckt in das Zimmer blickten!

„Ach, Helene!“ rief sie angstvoll, ohne Elisabeth zu bemerken und mit ungewohnt raschen Schritten ihre corpulente Gestalt vorwärts bewegend, „Rudolph hat soeben den unglücklichen Linke auf sein Zimmer befohlen … Er wüthet und tobt so laut gegen den armen Menschen, daß es über den Hof bis in mein Schlafzimmer schallt … Gott, ich fühle mich ja so elend … der heutige Morgen hat mich so angegriffen, daß ich mich kaum auf den Füßen halten kann; aber ich konnte diese Ungerechtigkeiten nicht länger mit anhören und flüchtete hierher … Und diese feilen Seelen, diese Dienerschaft, die während Rudolph’s Abwesenheit nicht mit den Augen zu blinzeln gewagt, da steht sie frech unter den Fenstern und belacht schadenfroh das Unglück, das über einen treuen Diener hereinbricht … Es stürzt Alles zusammen, was ich mühsam im Dienste des Herrn und zum Heil des Hauses aufgerichtet habe. … Und daß Emil gerade in Odenberg sein muß! … Wie beklagenswerth und verlassen sind wir, theure Helene!“

Sie schlang ihre Arme um den Hals der jungen Dame, die sich bestürzt und leichenblaß erhoben hatte. Diesen Moment benutzte Elisabeth, um aus dem Zimmer zu schlüpfen.

Als sie den Corridor betrat, der in das Vestibül mündete, schallte ihr lautes Sprechen entgegen. Es war eine tiefe, klangreiche Männerstimme, welche sich dann und wann in heftiger Erregung steigerte, nie aber, selbst nicht im höchsten Affect, eine Spur von Schärfe annahm. Obwohl sie kein Wort verstehen konnte, so bebte sie doch schon allein bei dem Klang der Stimme, es lag etwas Unerbittliches, Eisernes in der Art und Weise, wie die einzelnen Sätze markirt wurden.

Der Schall in dem langen Corridor täuschte. Elisabeth wußte nicht, von welcher Seite die Stimme kam, und lief deshalb vorwärts, um schnell in’s Freie gelangen zu können. Aber schon nach wenig Schritten hörte sie, als stände sie neben dem Sprechenden, die Worte: „Sie verlassen Lindhof bis morgen Abend.“

„Gnädiger Herr –“ wurde geantwortet.

„Es war mein letztes Wort, gehen Sie!“ klang es gebieterisch, und in demselben Augenblick sah sich Elisabeth zu ihrem Schrecken neben einer weit offenen Flügelthür. Eine hohe Männergestalt stand, die linke Hand auf den Rücken gelegt und mit der rechten auf die Thür zeigend, mitten im Zimmer. Ein Paar sprühende, dunkle Augen begegneten ihrem Blick, den sie tief betroffen abwandte, indem sie schnell nach dem Vestibüle und hinaus in den Garten eilte … Ihr war, als verfolge sie dieser Blick, aus dem eine empörte Seele flammte, und treibe sie rastlos weiter.

Als die Familie Ferber beim Abendbrod zusammensaß, erzählte der Vater lebhaft angeregt, daß er heute im Forsthause die Bekanntschaft des Herrn von Walde gemacht habe.

„Nun, und wie hat er Dir gefallen?“ fragte seine Frau.

„Ja, das ist eine Frage, liebes Kind, die ich Dir vielleicht erst in einem Jahr beantworten könnte, vorausgesetzt, daß ich täglich Gelegenheit hätte, mit dem Gutsherrn zu verkehren, und da fragte es sich noch sehr, ob ich wirklich im Stande sein würde, ein Endurtheil zusammenzufassen … Mir ist der Mann dadurch interessant geworden, daß man fortwährend angeregt wird, darüber nachzudenken, ob er das wirklich ist, was er scheint, nämlich eine völlig kalte, leidenschaftslose Natur … Er kam zu meinem Bruder, um Näheres über den Vorfall zwischen seinem Verwalter und der armen Taglöhnerswittwe zu hören, weil man ihm irriger Weise gesagt hatte, daß Sabine die Mißhandlung selbst mit angesehen hätte. Sie wurde hereingerufen und mußte erzählen, wie sie die Schneider gefunden habe. Er fragte nach dem kleinsten Umstand, aber immer kurz, bestimmt. Welchen Eindruck Sabinens Bericht ihm machte, darüber blieb man völlig im Dunkeln, so undurchdringlich war sein Blick; nicht die leiseste Bewegung in seinen Zügen verrieth die Richtung seiner Gedanken … Er kommt direct aus Spanien. Aus den wenigen Aeußerungen, zu denen er sich herbeiließ, konnte man entnehmen, daß ihm brieflich durch irgend einen Freund das Unwesen auf seinem Gut mitgetheilt worden war, worauf er sofort die Rückreise nach Thüringen angetreten hatte.“

„Und seine äußere Erscheinung?“ fragte Frau Ferber.

„Gefällt mir, obgleich mir so viel Zurückweisung und Unnahbarkeit in Haltung und Bewegungen fast noch nie bei einem Menschen vorgekommen ist. Ich begreife vollkommen, daß man ihn für unbegrenzt hochmüthig hält, und doch kann ich mir andererseits wieder nicht einreden, daß hinter den merkwürdig geistvollen Gesichtszügen ein so thörichter Wahn Grund und Boden habe. Sein Gesicht hat stets den Ausdruck kalter Ruhe, dessen ich gedachte; nur zwischen den Augenbrauen liegt ein, ich mochte sagen, unbewachter Zug; der flüchtige Beobachter würde ihn höchst wahrscheinlich finster nennen, ich aber finde ihn melancholisch, schwermütig.“

Elisabeth hörte dieser Schilderung nachdenklich zu. Sie hatte bereits die Erfahrung gemacht, daß jene kalte Ruhe auf Momente bedeutend aus dem Geleise weichen konnte, und erzählte dem Vater die Scene, deren Zeugin sie gewesen war.


8.

Kaum eine Woche war seit jenem Abend vergangen. Diese wenigen Tage aber hatten einen gewaltigen Umschwung im Lindhofer Schlosse hervorgebracht, wie man hörte. Der entlassene Verwalter war bereits durch einen neuen ersetzt, dem jedoch sehr [115] enge Grenzen gesteckt waren, indem der Gutsherr sich selbst die Oberaufsicht vorbehielt. Einige Taglöhner, die man eigenmächtig verabschiedet hatte, weil sie dem Ortsgeistlichen anhingen und der Bibelstunde im Schlosse einige Mal untreu geworden waren der dringenden Arbeit wegen, oder auch, weil sie vom Candidaten Möhring das Wort Gottes nicht hören wollten, arbeiteten wieder nach wie vor auf dem Gute. Gestern, als am Sonntage, hatte Herr von Walde in Begleitung der Baronin Lessen und der kleinen Bella dem Gottesdienst in der Dorfkirche zu Lindhof beigewohnt. Herr Candidat Möhring war zum Erstaunen der Gemeinde als Zuhörer neben der Orgel erschienen – und Mittags hatte der würdige Dorfpfarrer im Herrschaftshause gespeist. … Doctor Fels kam jeden Tag nach Lindhof; denn Fräulein von Walde war krank. Das war jedenfalls der Grund, weshalb Elisabeth bisher keine Aufforderung erhalten hatte, wieder zur Stunde zu kommen, und auch die Ursache, meinte der Oberförster, daß die Baronin Lessen der ‚Verbannung nach Sibirien‘ entgangen sei; „denn,“ sagte er, „Herr von Walde wird kein solcher Barbar sein, die kranke Schwester noch kränker zu machen, indem er ihr den liebsten Umgang raubt, und wenn das auch nicht gerade die Baronin ist, so hören doch mit ihrer Entfernung selbstverständlich auch die öfteren und langen Besuche ihres Sohnes auf.“ Das war boshaft, „aber unumstößlich richtig calculirt,“ wie er hinzufügte.

Im Dorfe wußte man, daß es auf dem Gute furchtbare Stürme gegeben hatte, bis die Luft rein geworden war. Herr von Walde hatte die drei ersten Tage nach seiner Ankunft allein auf seinem Zimmer gegessen und sämmtliche Briefchen der Baronin, mit denen die alte Kammerfrau zu allen Tageszeiten vor seiner Thür gesehen worden war, zurückgewiesen, bis endlich das heftige Unwohlsein seiner Schwester ihn mit der Cousine im Krankenzimmer zusammengeführt hatte. Seit jenem Tag war der Verkehr scheinbar wieder im Geleise, wenn auch die Bedienten erzählten, daß bei Tische fast kein Wort gesprochen werde. Herr von Hollfeld war auch einmal herübergekommen, um den Heimgekehrten zu begrüßen; man wollte aber bemerkt haben, daß er nach sehr kurzem Aufenthalt mit einem bedenklich langen Gesicht wieder heimgeritten war.

An einem trüben, regnerischen Augusttage war Elisabeth von Fräulein von Walde ersucht worden, doch auf eine halbe Stunde in’s Schloß zu kommen. Die junge Dame war nicht allein, als die erstere eintrat. Im Fenster saß Herr von Walde. Die hohe Gestalt in einen Fauteuil zurückgelehnt, berührte sein Kopf leicht die hellbekleidete Wand, wodurch das dunkle Braun seines Haares auffallend hervortrat. Seine Rechte hing, die Cigarre zwischen den Fingern haltend, nachlässig vom Fenstersims herab, während er die Linke gehoben hielt, als habe er soeben gesprochen. Seine Nachbarin, die Baronin Lessen, hielt den Oberkörper vorwärts gebeugt und schien seinen Worten mit einem äußerst verbindlichen Lächeln zu lauschen, obgleich die Rede augenscheinlich nicht an sie selbst, sondern an Helene gerichtet war; sie saß ihm ziemlich nahe und hatte eine Häkelarbeit in der Hand, im Ganzen sah die Gruppe sehr friedfertig aus. Auf einer Chaise longue lag Fräulein von Walde. Ein weiter Schlafrock umhüllte die kleine Gestalt und die schönen, braunen Locken waren unter ein Morgenhäubchen gesteckt, dessen rosa Bänder die krankhafte Blässe ihres Gesichtes noch mehr hervorhoben. Auf ihrem ausgestreckten Finger saß der Kakadu; sie hielt ihn von Zeit zu Zeit liebkosend an ihre Wange. Das „abscheuliche Thier“ hieß jetzt Liebchen, durfte schreien, so viel es wollte, und wurde höchstens durch ein mitleidiges: „Was ärgert denn mein Herzchen?“ zu beschwichtigen gesucht – also auch hier Versöhnung und vollkommener Friede.

Bei Elisabeth’s Eintreten winkte Helene ihr freundlich mit der Hand entgegen; es entging jedoch dem jungen Mädchen nicht, daß sie mit einer leichten Verlegenheit zu kämpfen hatte.

„Lieber Rudolph,“ sagte sie, indem sie Elisabeth bei der Hand nahm, „Du siehst hier die liebenswürdige Künstlerin, der ich manche genußreiche Stunde verdanke… Fräulein Ferber – von ihrem Onkel und bereits auch in der Umgegend Gold-Elschen genannt – spielt so hinreißend, daß ich sie bitten will, uns heute den trüben, grauen Himmel vergessen zu machen. Sie sehen, liebes Kind,“ wandte sie sich an Elisabeth, „daß ich noch unfähig bin, Ihnen am Clavier Gesellschaft zu leisten; wollen Sie die Freundlichkeit haben, etwas allein zu spielen?“

„Von Herzen gern,“ erwiderte Elisabeth, „aber ich werde sehr ängstlich sein; denn Sie haben mir selbst zwei unbesiegbare Mächte entgegengestellt, die Wolken da draußen und das günstige Vorurtheil, das Sie soeben für mein Spiel geweckt haben.“

„Darf ich mich jetzt auf eine Stunde beurlauben?“ fragte die Baronin, indem sie ihre Arbeit zusammenlegte und sich erhob. „Ich möchte mit Bella ein wenig ausfahren, das arme Ding ist so lange nicht an die Luft gekommen.“

„Nun, ich meine, die kann sie hier stets aus der ersten Hand haben, wenn sie sich die Mühe nimmt, den Kopf zum Fenster hinauszustecken,“ sagte Herr von Walde trocken, während er die Asche von seiner Cigarre abstreifte.

„Mein Gott, ist es Dir unangenehm, Rudolph, wenn ich fahre? … Ich bleibe auf der Stelle zu Hause, wenn –“

„Ich wüßte in der That nicht, weshalb ich Dich abhalten sollte: Fahre so oft und so viel es Dir beliebt,“ war die gleichmüthige Antwort.

Die Baronin preßte die Lippen zusammen und wandte sich zu Helene. „Also bleibt es dabei, daß der Kaffee auf meinem Zimmer getrunken wird? … Sehr lange bleibe ich doch nicht draußen, des Sprühregens halber; ich bin pünktlich in einer Stunde zurück und werde es mir nicht nehmen lassen, Dich, liebste Helene, selbst in mein Zimmer zu fahren.“

„Das wirst Du Dir doch wohl nehmen lassen müssen, Cousine,“ sagte Herr von Walde. „Es ist mein Amt seit vielen Jahren, und ich will nicht hoffen, daß meine Schwester glaubt, ich sei während meiner Abwesenheit zu ungeschickt geworden.“

„Gewiß nicht, lieber Rudolph … ich bin Dir sehr dankbar, wenn Du so freundlich sein willst!“ rief lebhaft Helene, während ihr Blick ängstlich zwischen den Beiden hin und her flog. Die Baronin hatte jedoch ihren Aerger bereits tapfer niedergekämpft. Mit dem verbindlichsten Lächeln auf den Lippen reichte sie Herrn von Walde die Hand, küßte Helene auf die Wange und rauschte mit einem: „Nun denn, auf Wiedersehen“ zur Thür hinaus.

Während dieser kurzen Verhandlung beobachtete Elisabeth die Gesichtszüge des Mannes, dessen Blick und Stimme ihr neulich einen so tiefen Eindruck gemacht… Hatte sich doch der Schrecken – denn das war ohne Zweifel einzig und allein jene mächtig angeregte Empfindung gewesen – soeben wiederholt, als sie, in die Thür tretend, Herrn von Walde unerwartet sich gegenüber sah… Wie ruhig blickte heute sein Auge, aus welchem damals Funken zu sprühen schienen; ja, es wurde sogar eisig kalt, als es auf dem Gesicht der Baronin haftete. Die obere Partie seines Kopfes, die ohnehin in ihren Linien etwas ungemein Strenges hatte, erschien durch diesen Ausdruck der Augen geradezu eisern. Ein schöngepflegter, kastanienbrauner Bart; umgab Lippen und Wangen und floß in weichen Wellen vom Kinn herab auf die Brust… Herr von Walde sah nicht jung aus, und wenn auch seine schlanke Gestalt viel Elasticität bewahrt hatte, so gaben doch die unbeschreibliche Beherrschung und Ruhe in Haltung und Geberden seinem ganzen Auftreten jene Respect einflößende Würde, wie sie nur dem reiferen Mann eigen sein kann.

Als die Baronin das Zimmer verlassen hatte, öffnete Elisabeth den Flügel.

„Nein, nein, keine Noten!“ rief Helene hinüber, als sie sah, daß das junge Mädchen unter den Musikalien suchte und wählte. „Wir wollen Ihre eigenen Gedanken hören, bitte, spielen Sie aus dem Stegreif.“

Elisabeth setzte sich ohne Zögern nieder. Bald hatte sie in der That die Außenwelt vergessen. Ein Melodieenreichthum quoll in ihr auf, der ihre Seele hoch empor trug. In solchen Momenten empfand sie stets beseligt, daß sie vor Tausenden anderer Sterblicher begnadet sei, denn sie hatte die Macht, der leisesten Regung ihres Herzens Ausdruck verleihen zu können. Die Klarheit ihrer ganzen inneren Welt spiegelte sich in den Klängen wieder: nie noch hatte sie nach der verkörpernden Melodie ihrer Empfindung suchen müssen, sie lag fertig in ihrem Innern wie das Gefühl selbst… Heute aber mischte sich etwas in die Töne, was sie nicht begreifen konnte; es hatte durchaus keine eigene Stimme; sie hätte es um keinen Preis verfolgen und erfassen können, denn es flog nur wie ein neuer, unbekannter Hauch über die Tonwellen. Es war ihr, als wandelten Schmerz und Freude nicht mehr nebeneinander, sondern flössen in Eins zusammen… Dies Suchen nach dem Wesen jenes unfaßbaren Klanges ließ sie aber immer tiefer in ihre Gefühlswelt hinabsteigen. Das [116] ganze, süße Geheimniß einer reinen, keuschen Mädchenseele entfaltete sich allmählich vor den Zuhörern, sie blickten in einen Wunderbrunnen, aus dessen Tiefe die äußere Erscheinung des jungen Mädchens doppelt verklärt wieder auftauchte; denn es war ja eine unlösbare Harmonie in ihrem äußeren und inneren Menschen.

Der letzte, leise Accord war verklungen. An Helenens Wimpern hingen zwei schwere Thränen, die Blässe ihres Gesichts war fast geisterhaft geworden. Sie blickte nach ihrem Bruder, aber er hatte das Gesicht abgewendet und sah hinaus in den Garten. Als er sich endlich umdrehte, waren seine Züge ruhig wie immer, nur eine leichte Röthe färbte seine Stirn, die Cigarre war seinen Fingern entglitten und lag auf dem Boden. Er sagte Elisabeth, die sich inzwischen erhoben hatte, nicht ein Wort über ihr Spiel. Helene, der dies Schweigen sichtbar peinlich wurde, erschöpfte sich in Lobeserhebungen, um dem jungen Mädchen die Kälte und Indolenz ihres Bruders vergessen oder wenigstens weniger fühlbar zu machen.

„War das wieder einmal genial!“ rief sie. „Die Leute in B. hatten sicher keine Ahnung von dem goldenen Liederquell in Elschens Brust, sonst hätten sie wohl das liebe Mädchen nicht in die Thüringer Wälder auswandern lassen.“

„Sie haben bis jetzt in B. gelebt?“ fragte Herr von Walde, das Auge auf Elisabeth richtend; sie sah einen Augenblick hinein, das Eis war geschmolzen, ein seltsamer Schimmer tauchte dafür auf.

„Ja,“ antwortete sie einfach.

„Aus einer großen, schönen Stadt, die alle erdenklichen Genüsse und Annehmlichkeiten bietet, plötzlich in den stillen Wald, auf einen einsamen Berg versetzt zu werden, das ist ein unliebsamer Tausch… Sie waren natürlich trostlos über diese Veränderung?“

„Ich betrachtete sie als ein unverdientes Glück,“ war die unbefangene Antwort.

„Wie? … Sonderbar… Ich meine man greift sonst nicht nach der Distel, wenn man die Rose haben kann.“

„Ueber Ihre Meinungen habe ich begreiflicher Weise kein Urtheil.“

„Ganz recht, weil Sie mich nicht kennen … jene Ansicht ist jedoch eine ganz allgemeine.“

„In ihrer Anwendung aber ist sie einseitig.“

„Nun denn, ich will Ihre Geschmacksrichtung, mit der Sie unter Ihren Altersgenossinnen wohl schwerlich eine gleichgestimmte Seele finden dürften, nicht weiter anfechten… In Ihrem Interesse will ich jedoch glauben, daß es Ihnen nicht ebenso leicht geworden ist, Ihre Freunde zu verlassen.“

„Sehr leicht sogar; denn – ich hatte keine.“

„Ist das möglich?“ rief Fräulein von Walde. „Sie hatten mit Niemand Verkehr?“

„O ja; aber das waren Leute, die mich bezahlten.“

„Sie gaben Unterricht?“ fragte Herr von Walde.

„Ja.“

„Aber hatten Sie nie das Bedürfniß eine Freundin zu besitzen?“ rief Helene lebhaft.

„Niemals, denn ich habe eine Mutter,“ erwiderte Elisabeth[WS 1] mit einem Tone tiefen Gefühls.

„Glückliches Kind!“ murmelte Jene und senkte den Kopf.

Elisabeth fühlte, daß sie hier eine wunde Stelle in Helenens Herzens berührt habe. Es that ihr leid, und sie wünschte lebhaft, den Eindruck zu verwischen. Herr von Walde schien diese Gedanken auf ihrem Gesicht zu lesen; denn ohne auf Helenens Verstimmung zu achten, frug er: „Und war es der Thüringer Wald ganz besonders, wo Sie zu leben wünschten?“

„Ja.“

„Und warum?“

„Weil mir schon in meiner frühesten Kindheit erzählt wurde, daß wir aus den Thüringer Bergen stammen.“

„Ah, aus dem Geschlecht der Gnadewitze?“

„So hieß früher meine Mutter – ich bin eine Ferber,“ antwortete Elisabeth bestimmt.

„Sie sagen das mit einem solchen Nachdruck, als ob Sie Gott dankten, daß Sie jenen Namen nicht zu führen brauchen?“

„Ich bin auch froh darüber.“

„Hm … er hat seiner Zeit einen bedeutenden Klang gehabt.“

„Aber keinen reinen.“

„Ei, was wollen Sie? … An allen Höfen hat er so gut gegolten wie unverfälschtes Gold; denn er war sehr alt, und vorzüglich die letzten seiner Träger sind deshalb stets mit den höchsten Würden überhäuft worden.“

„Verzeihen Sie, aber dafür habe ich ganz und gar kein Verständniß, daß …“ sie hielt erröthend inne.

„Nun? … Sie haben den Satz angefangen, und ich bestehe darauf, auch sein Ende wissen zu wollen.“

„Nun, daß Sünden belohnt werden, weil sie alt sind, erwiderte sie zögernd.

„Gemach, man sagt von mehreren Ahnen der Gnadewitze, daß sie sich brav und tapfer gezeigt haben.“

„Das mag sein, aber es liegt auch ein Unrecht in dem Gedanken, daß dies Verdienst noch nach Jahrhunderten ausgebeutet werden darf von solchen, die nicht brav und tapfer sind.“

„Sollen große Thaten nicht fortwirken?“

„Gewiß, aber wenn wir es verschmähen, ihnen nachzueifern, dann sind wir auch nicht würdig, ihre guten Folgen zu genießen,“ gab Elisabeth mit Entschiedenheit zur Antwort.

Ein Wagen rollte donnernd in die Einfahrt. Herr von Walde runzelte die Stirn und strich mit der Hand über die Augen, als sei er unsanft aus einem Traum geweckt worden. Gleich darauf öffnete sich die Thür, und die Baronin trat ein. Sie hatte, gleich Bella, die heute mit dem Anstand einer erwachsenen jungen Dame neben der Mama herschritt, Hut und Mantille noch nicht abgelegt.

„Da wären wir glücklich wieder!“ rief sie. „Ist das eine abscheuliche Luft heute! Ich habe es tausend Mal bereut, mich hinaus gewagt zu haben, und werde wahrscheinlich für meine mütterliche Fürsorge mit einem tüchtigen Schnupfen büßen müssen… Bella möchte gern selbst sehen, wie es Dir geht, liebe Helene; ich habe mir deshalb erlaubt, sie mit herein zu nehmen.“

Die Kleine ging geraden Schrittes auf das Ruhebett los. Sie schien Elisabeth nicht zu bemerken, die dicht daneben saß, und streifte sie so hart, als sie sich bückte, um Helenens Hand zu küssen, daß ein Knopf ihres Mantels die leichte Garnirung an Elisabeth’s Kleid faßte und zerriß. Bella hob den Kopf und schielte seitwärts auf den Schaden, den sie angerichtet; dann drehte sie sich um und ging hinüber zu Herrn von Walde, um ihm die Hand zu geben.

„Nun,“ sagte dieser, indem er seine Hand zurückzog, „hast Du keine Entschuldigung für Deine Ungeschicklichkeit?“

Sie erwiderte kein Wort und retirirte neben die Mama, auf deren Wangen die zwei verhängnißvollen rothen Flecken erschienen. Der Blick, den sie Elisabeth zuwarf, zeigte indeß, daß ihr Unwille nicht dem ungezogenen Töchterchen galt.

„Nun, Kind, kannst Du nicht reden?“ fragte Herr von Walde nochmals, indem er sich erhob.

„Fräulein Ferber saß aber auch so nahe,“ entschuldigte die Baronin an Stelle der hartnäckig schweigenden Bella.

„In der That, ich hätte fortrücken sollen… Das Unglück ist ja auch gar nicht so groß,“ sagte Elisabeth ängstlich und griff mit einem anmuthigen Lächeln nach Bella’s Hand. Die Kleine aber that, als sähe sie diese Bewegung nicht, und steckte beide Hände unter den Mantel.

Ohne ein Wort zu sagen, schritt Herr von Walde auf sie zu, faßte sie am Arme und führte sie direct zur Thür, die er öffnete „Du gehst jetzt augenblicklich hinüber in Dein Zimmer,“ gebot er, „und kommst mir nicht eher wieder vor die Augen, als bis ich es wünsche.“

Die Baronin war innerlich außer sich. Ihre Züge arbeiteten einen Augenblick heftig; aber was konnte sie thun? Sie hatte keinerlei Waffen gegen die Gewaltthätigkeit und Barbarei dieses Mannes, der hier Gebieter war und jetzt mit einer so empörenden Ruhe seinen Platz wieder einnahm, als sei er sich der Grausamkeit seiner Handlung nicht im Entferntesten bewußt. Endlich siegte die Klugheit der Dame.

„Ich hoffe, lieber Rudolph,“ sagte sie, ihre Stimme bebte ein wenig, „Du wirst Bella die kleine Unart nicht nachtragen… Ich bitte Dich, nimm ein wenig Rücksicht, ihre Gouvernante ist gar zu tölpelhaft.“

„Miß Mertens? … Nun, der mag es bei ihrer angeborenen Sanftmuth und ihrem feinen Tact unsägliche Ueberwindung kosten, Bella so zu erziehen, wie sie sich eben gezeigt hat!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 9, S. 129–133
Fortsetzungsroman – Teil 8


[129] Ueber die Stirn der Baronin flammte es abermals dunkelroth. Aber sie bezwang sich. „Mein Gott!“ rief sie, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, „da habe ich über der dummen Geschichte ganz und gar vergessen, zu sagen, daß Emil von Odenberg herübergekommen ist. Er war zu Pferd, ist sehr naß geworden und wechselt gegenwärtig seinen Anzug… Darf er seine Auswartung machen?“

Eine hohe Gluth flog über Helenens Wangen, und aus ihren Augen brach ein leuchtender Strahl des Glückes. Allein sie sagte kein Wort, sondern senkte das Gesicht tief herab, um die Zeichen ihrer inneren Erregung zu verbergen.

„Gewiß,“ erwiderte Herr von Walde. „Beabsichtigt er, länger hier zu bleiben?“

„Einige Tage, wenn Du es erlaubst.“

„Ganz recht… Nun, wir werden ihn ja bei Dir sehen, wenn wir zum Kaffee kommen.“

„Er wird sehr glücklich sein… Wenn es übrigens gefällig ist, so kann die Uebersiedelung sogleich vor sich gehen; denn meine Kammerfrau meldete mir, als ich aus dem Wagen stieg, daß Alles zum Empfang meiner lieben Gäste bereit sei.“

Hier erhob sich Elisabeth und rüstete sich zum Fortgehen. Herr von Walde, der dies bemerkte, richtete einen fragenden Blick auf die Baronin. Ohne Zweifel erwartete er, daß sie das junge Mädchen auffordern würde, mitzukommen; die Dame fand jedoch in diesem Augenblick, daß der Gärtner den Blumentisch im Fenster diesmal doch zu reizend arrangirt habe, und vertiefte sich förmlich im Anschauen einer Gruppe Azaleen, wobei sie dem jungen Mädchen den Rücken zukehrte.

Elisabeth verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung, nachdem Helene ihr mit unsicherer Stimme, aber in herzlicher Weise gedankt hatte. Draußen im Corridor kam ihr Herr von Hollfeld entgegen. Bei ihrem Anblick verdoppelte er seine Schritte; zugleich fuhr sein Blick wie ein Blitz nach allen Seiten hin, als wolle er sich versichern, daß kein Lauscher in der Nähe sei. Ehe sie sich dessen versah, hatte er Elisabeth’s Hand erfaßt, drückte einen glühenden Kuß auf dieselbe und flüsterte: „Wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen!“

Elisabeth’s Betroffenheit war so groß, daß sie im ersten Augenblick keine Worte finden konnte. Sie zog aber schnell, als sei sie gestochen worden, ihre Hand zurück, und er schien sehr damit einverstanden zu sein; denn Helenens Zimmer wurde in dem Augenblick geöffnet, und Herr von Walde trat heraus. Hollfeld nahm, als sähe er erst in diesem Augenblick Elisabeth, den Hut leicht vor ihr ab, wobei seine Züge wieder einen völlig fremden Ausdruck hatten, und ging seinem Verwandten entgegen.

Elisabeth war außer sich über diese Komödie. Zuerst die empörende Vertraulichkeit, die ihr das Blut wallen machte vor Entrüstung, und dann die Verleugnung derselben vor dritten Personen. Ihr Mädchenstolz war tief verwundet. Sie schalt sich, ihn nicht auf der Stelle hart angelassen und seine Dreistigkeit gerügt zu haben. Eine helle Röthe stieg ihr in das Gesicht aus Scham darüber, daß ein Mann in der Weise sie berührt hatte … es war ihr, als brenne die Stelle noch, auf der die heißen Lippen geruht; sie ließ eilends den Strahl einer Fontaine im Park über ihre Hand sprühen, um den vermeintlichen Flecken wegzuspülen.

In großer Aufregung kam sie nach Hause und klagte der Mutter unter Thränen des Unwillens die ihr widerfahrene Beleidigung. Frau Ferber war sehr verständig und besaß einen ruhigen, klaren Blick. Sie erkannte sofort aus Elisabeth’s Entrüstung, daß hier nicht die mindeste Gefahr für das Herz ihres Kindes zu befürchten sei, und war beruhigt. Aeußere Anfechtung ließ sich abwehren, nicht aber der Jammer, den eine unglückliche Neigung heraufbeschwört.


9.

Am andern Nachmittag war Elisabeth eben im Begriff mit dem Nähkorb in den Garten zu gehen, als am Mauerpförtchen geläutet wurde.

Im Hinblick auf die gestrige Scene war ihre Verwunderung wohl sehr begründet, als sie beim Oeffnen der Thür Bella vor sich sah. Hinter der Kleinen standen Miß Mertens und der Herr, mit dem sie neulich Abends die Begegnung gehabt hatte. Bella reichte ihr beim Eintritt sogleich die Hand, machte aber ein scheues, verlegenes Gesicht und sagte kein Wort. Elisabeth errieth jetzt, sehr erstaunt, den Grund ihres Kommens und suchte ihr über das Peinliche der Situation hinwegzuhelfen, indem sie ihre Freude aussprach, die Kleine in ihrem Heim begrüßen zu können, und sie aufforderte, mit in den Garten zu kommen. Allein Miß Mertens trat vor.

„Machen Sie es Bella nicht so leicht, Fräulein Ferber,“ sagte sie. „Es ist ihr ausdrücklich anbefohlen worden, Ihnen der gestrigen Unart wegen Abbitte zu thun … ich muß darauf bestehen, daß sie spricht.“

Diese mit großer Bestimmtheit gesprochenen Worte, mehr [130] aber vielleicht noch das schützende Dunkel der Halle, in welche sie an Elisabeth’s Hand eingetreten war, lösten endlich Bella’s Zunge. Sie bat leise um Verzeihung und versicherte, nie wieder so unartig sein zu wollen.

„Na, das wäre ja glücklich überstanden!“ rief der Herr, indem er sich an Miß Mertens’ Seite stellte und Elisabeth nun schelmisch lächelnd eine tiefe Verbeugung machte.

„Es mag Ihnen vielleicht sehr ungewöhnlich erscheinen,“ begann er, „daß ich, als nicht dazu gehörig, mich dieser Deputation in Sühne- und Ausgleichungssachen anschließe; allein ich bin der Ansicht, bei einem Act der Versöhnung sei man meist geneigt, ein Auge zuzudrücken und dies scheint mir ganz der geeignete Moment für einen Fremdling, sich einzuschmuggeln… Ich heiße Ernst Reinhard, bin Reisebegleiter und Secretär des Herrn von Walde und kenne seit acht Tagen kein sehnlicheres Verlangen als die interessante Familie im Schloß Gnadeck kennen zu lernen.“

Elisabeth reichte ihm freundlich die Hand. „Die alten Mauern haben bereits die Unthaten des Raubritterthums mit angesehen,“ entgegnete sie, „wir haben deshalb ganz und gar keine Ursache, die Schmuggelei zu verurtheilen… Sie werden meinen Eltern gewiß herzlich willkommen sein.“

Sie schritt voran und stieß die hohe Eichenthür auf, die nach dem Garten führte. Herr Reinhard und Miß Mertens blieben einen Augenblick überrascht stehen.

„Ist das ein reizendes, sonniges Fleckchen Abgeschiedenheit!“ rief Ersterer. „Wer sucht wohl, wenn er draußen vor den unheimlichen Mauern steht, dies junge, frische Herz hinter der alten, verwitterten Physiognomie!“

Die Eltern und der Onkel, die mit dem kleinen Ernst unter den Linden saßen, hatten sich beim Erblicken der Eintretenden erhoben und gingen ihnen entgegen. Elisabeth stellte gegenseitig vor und verschwand dann wieder im Haus, um auf den Wink der Mutter einige Erfrischungen für die Gäste zu besorgen. Als sie zurückkam, hatte Bella bereits Mantille und Sonnenschirm abgelegt. Sie saß mit strahlendem Gesicht auf einer Schaukel, die der Vater zwischen zwei Bäumen aufgehangen hatte. Ernst schaukelte sie und schien nicht wenig stolz auf seine neue Spielgefährtin zu sein.

„Wahrhaftig,“ sagte Reinhard, indem er auf Bella zeigte, die eben jubelnd hoch durch die Luft flog, „wer die Kleine heute Morgen gesehen hat, mit welch unkindlicher Haltung sie in Herrn von Walde’s Zimmer trat, ihn um Verzeihung zu bitten wegen der gestrigen Ungezogenheit, und wie sie zornig und trotzig zu ihm aufsah, als er ihr erklärte, daß er sie nicht eher wiedersehen wolle, als bis sie Fräulein Ferber persönlich um Verzeihung gebeten habe“ – hier wurde Elisabeth purpurroth, und beschäftigte sich eilends und angelegentlichst mit zwei großen Honigbroden, die sie für Bella und Ernst strich – „der erkennt sie schwerlich wieder dort in dem kleinen Ding, das die ganze harmlose Kinderfröhlichkeit im Gesicht trägt.“

Es war eine genußreiche Stunde, die nun folgte. Miß Mertens zeigte sich als sehr unterrichtet und gebildet, und Reinhard erzählte in höchst anziehender Weise von seinen Reisen und Forschungen.

„An die Heimkehr wäre wahrscheinlicherweise noch sehr lange nicht gedacht worden,“ schloß er eine interessante Reihenfolge von Mittheilungen über Spanien, „allein verschiedene sehr ungünstige Nachrichten aus Thüringen, die nacheinander einliefen, bewogen Herrn von Walde, einen Riß durch einen kaum entworfenen neuen Reiseplan zu machen … Dem Herrschsüchtigen passirt es eben manchmal, daß ihn die Begier blind macht … der unvorsichtig ausgesprochene Wunsch aus zarter, weiblicher Feder: Herr von Walde möge doch den guten, aber nun altersschwachen Ortsgeistlichen in Lindhof pensioniren, weil er stumpf und nicht mehr fähig sei, die Gemüther zu erbauen, setzte jenen unliebsamen Nachrichten die Krone auf und war die Veranlassung, daß sofort die Rückreise angetreten wurde. … Als wir spät Abends, in der Nähe von Lindhof Wagen und Chaussee verlassend, das letzte Stückchen Weg durch den Wald zu Fuße zurücklegten, stießen wir noch auf ein allerliebstes Abenteuer … ‚Merkwürdig, sehen Sie doch, Reinhard, für was halten Sie den Schimmer da droben auf dem alten Gnadeck?‘ fragte Herr von Walde. ‚Für ein Licht‘, war meine Antwort. ‚Das müssen wir näher untersuchen,‘ meinte er, und stieg aufwärts. Der Punkt wurde immer größer und ergab sich zuletzt zu unserem Erstaunen als zwei hohe hellerleuchtete Fenster. … Da trippelt es hinter uns leicht den Berg herauf, es flattert weiß durch die Büsche, und plötzlich schwebt ein Etwas auf die mondbeglänzte Lichtung, das ich für ein höheres Wesen halte … Ich bin der Beherztere, trete näher, immer fürchtend, die Lichtgestalt werde vor dem Hauch meines Mundes zerfließen – wehe, da öffnen sich die Lippen und erzählen von zwei gutgearteten Ziegen und einem allerliebsten Kanarienvogel.“

Ein allgemeines Gelächter folgte dieser Schilderung.

„Als wir den Berg wieder hinabstiegen,“ fuhr Reinhard fort, „sprach mein Herr keine Sylbe; allein gewisse Anzeichen lassen mich fürchten, daß ich damals nicht von Ihnen allein ausgelacht worden bin … Es wäre wahrlich nicht vom Uebel gewesen, wenn Sie uns als gute Fee begleitet hätten; aber aller Mondesglanz, alle Lieblichkeit blieben droben auf dem Bergrücken, während wir hinunter in den dunklen Thalschooß wandern mußten, wo eine dumpfe Schwüle brütete und wo uns Niemand, nicht einmal ein erwachendes Lüftchen, ein Willkommen in der Heimath entgegentrug … In Schloß Lindhof flogen zahllose Lichter eilig wie Irrwische an den Fenstern vorüber. Der Wagen mit dem Gepäck war vor uns eingetroffen und mußte mit seinem Rädergeroll eine ähnliche Wirkung hervorgebracht haben, wie man dem Donner beim jüngsten Gericht dereinst zuschreibt, denn es herrschte eine solche Aufregung in dem Hause, als wir eintraten, daß ich am liebsten meine Schritte wieder hinweggelenkt und mein müdes Haupt unter den ersten, besten, stilldunklen Busch gebettet hätte.“

„Na, es ist gut, daß wenigstens bei uns endlich Einer kam, der Kraft und Manneswillen genug hatte, zu gebieten: Bis hierher und nicht weiter! … Tausend noch einmal, das kam dahergebraust wie eine Sündfluth!“ sagte der Oberförster.

„Herr von Walde besitzt aber auch eine Energie, eine moralische Kraft wie selten ein Mensch,“ erwiderte Muß Mertens lebhaft. „Er hat einen verschlossenen Mund, doch, einen offenen Blick, und vor diesem Blick erschrickt die Angeberei, und Bosheit und Heuchelei verlieren Muth und Larve.“

Mittlerweile hatte Reinhard das Gemäuer des alten verfallenen Schloßflügels aufmerksam betrachtet, der nach Süden hin den Garten begrenzte. Es war ein höchst unregelmäßiger Bau. Drei ungeheure Spitzbogenfenster von tadelloser Form erhoben sich ungefähr sechs Fuß über dem Boden und stiegen durch zwei Stockwerke in die Höhe. Dicht neben ihnen trat eine Art Erker weit in den Garten herein und bildete eine tiefe Ecke; eine mächtige Steineiche erhob sich zwischen den zwei Mauern und streckte einzelne Aeste durch die zwei nächsten, scheibenlosen Fenster in den kühlen, luftigen Raum hinein, der einst die Schloßcapelle vorgestellt hatte und den man auf eine bedeutende Zuhörerschaft berechnet haben mußte, denn er nahm die ganze Tiefe des Flügels in Anspruch. Den genannten Fenstern lagen drei ganz gleiche gegenüber; sie waren Sturm und Wetter weniger preisgegeben und hatten oben in den feingemeißelten Steinrosetten einige bunte Glasstückchen bewahrt. Hinter ihnen erschien der düstere Hof mit seinen zusammensinkenden, gespenstigen Mauern, wie ein in Grau gemaltes Bild. Die Gartenseite des Flügels sah buntscheckig genug aus. Die schrankenloseste Willkür hatte Fenster und Zierrathen von allen Sorten zusammengewürfelt; diesem Aeußeren nach mußte das große Gebäude ein wahres Labyrinth von Gemächern, Gängen und Treppen in sich schließen. Der Erker war es zumeist, der den Bau gefahrdrohend erscheinen ließ. Er neigte sich bedenklich seitwärts und schien auf den Moment zu lauern, wo er das blühende Leben der Eiche unter seinen Steinmassen begraben würde. Er hatte sich übrigens kokett einen lebensfrischen Mantel über seine gebrechlichen Glieder gebreitet, ein undurchdringliches Epheugespinnst umwob ihn vom Boden bis zu dem zerklüfteten Dachstuhl und ließ weder Fenster noch Risse und Sprünge in dem Mauerwerk sehen. Einzelne Ranken waren hinter der Eiche vorüber geschlüpft, sie kletterten an den gelockerten Mauersteinen der Hauptfronte in die Höhe und umarmten keck die allerorten angebrachten Steinwappen, die grämlich genug unter dem aufgedrungenen Schmuck hervorsahen.

„Ich habe,“ sagte Ferber, „bald nach meiner Hierherkunft gerade diesen Flügel, so weit es möglich, zu durchforschen gesucht, denn er interessirt mich seiner eigenthümlichen Bauart wegen; allein ich kam nicht weiter, als in die Capelle, und auch hier erschien mir das Verweilen gefährlich. Sie sehen, das ganze obere Stockwerk [131] ist eingestürzt; die Wucht der Trümmer hat den Plafond der kleinen Kirche tief niedergesenkt, so daß man meint, er müsse bei der leisesten Luftschwingung herniederstürzen. Der Erker ist erst in den letzten Wochen so hinfällig geworden, und zwar in Folge mehrerer Gewitterstürme. Er muß entfernt werden, weil uns sonst ein Theil des Gartens unzugänglich bleibt. Hätte ich Arbeiter bekommen können, so wäre er schon abgetragen.“

Nach dieser Schilderung verspürte Reinhard, wie er sich ausdrückte, weiter keinen Appetit, in den Ruinen umherzuwandeln. Desto mehr interessirte ihn aber der Zwischenbau, und auf diese Aeußerung hin erhob sich Ferber, um seinen Gästen die Wohnung zu zeigen. Zuerst aber wurde der hinter ihnen liegende Damm bestiegen. Ferber war sehr geschickt und thätig, er benutzte jede freie Stunde zur Verschönerung seines neuen Besitzthums. Die Stufen, die auf die Höhe des Dammes führten, hatte er eigenhändig ausgebessert, sie hoben sich jetzt weiß und glatt von der geschorenen Rasendecke ab, welche duftig grün die Schrägseite des Erdaufwurfes bedeckte. Droben das ziemlich breite Plateau war mit frischem Kies bestreut, und in der Mitte desselben, dicht vor dem Gezweig der Linden, die sich unten über dem Bassin wölbten, stand eine Gruppe selbstgezimmerter weißer Gartenmöbel.

Man ging in das Haus. Oben an der Treppe kam Bella auf Miß Mertens zugelaufen; sie hatte in der einen Hand verschiedene Bilderbücher und mit der anderen zog sie ihre Gouvernante in Elisabeth’s Zimmer.

„Denken Sie sich, Miß Mertens, hier oben sieht man doch unser Schloß!“ rief sie. Der Begriff vom Eigenthumsrecht in dieser Richtung hin saß fest in ihrem Köpfchen; kein Wunder, die Art und Weise, wie die Mama das Scepter bisher geführt hatte, ließen ja selbst die Erwachsenen nicht im Zweifel, daß sie sich als die unumschränkte Herrin in Lindhof ansehe. „Sehen Sie dort unten den Weg?“ fuhr Bella lebhaft fort, „da ist eben Onkel Rudolph vorübergeritten. Er hat mich erkannt und mir mit der Hand zugewinkt, die Mama wird froh sein, daß er wieder gut mit mir ist.“

Miß Mertens ermahnte sie, nun aber auch hübsch artig zu bleiben, jetzt aber Hut und Mantel zu holen, denn es sei Zeit aufzubrechen.

Elisabeth und Ernst begleiteten sie bis in den Park.

„Wir haben uns zu lange aufgehalten,“ bemerkte Miß Mertens mit besorgtem Gesicht, als sie am Mauerpförtchen von Ferbers Abschied genommen hatte und heraus auf die Waldblöße trat. „Ich mache mich für heute noch auf Sturm und böses Wetter gefaßt.“

„Sie meinen, die Baronin werde ungehalten sein über Ihr langes Ausbleiben?“

„Ohne Zweifel.“

„Nun, lassen Sie sich dies trotz alledem nicht reuen .… Wir haben jedenfalls einen reizenden Nachmittag verlebt,“ meinte Reinhard heiter.

Die Kinder waren Hand in Hand vorausgegangen und verschwanden hie und da seitwärts im Gebüsch, um Blumen zu suchen. Hector, der seinem Herrn untreu geworden war und sich der Gesellschaft angeschlossen hatte, sprang lustig mit ihnen hin und her, wobei er jedoch nicht unterließ, dann und wann zu Elisabeth – der Dame seines Herzens, wie der Onkel immer sagte – zurückzukehren, um sich den Kopf streicheln zu lassen.

Plötzlich stutzte er und blieb mitten im Wege stehen. Man war bereits in der Nähe des Parkes; durch das Gebüsch schimmerte das leuchtende Grün der Rasenflächen herauf und das Plätschern der nächsten Fontaine wurde hörbar. Hector hatte etwas entdeckt und das war eine weibliche Gestalt, die mit hastigen Schritten den Hinabwandelnden entgegenkam. Elisabeth erkannte sie sogleich als die stumme Bertha, obgleich ihr die ganze Erscheinung merkwürdig verändert erschien.

Das junge Mädchen mußte keine Ahnung von der Nähe Anderer haben, denn sie gesticulirte im Weiterschreiten heftig mit den Armen; eine dunkle Röthe bedeckte ihre Wangen, die Augenbrauen waren wie im tiefsten Seelenschmerz zusammengezogen, und die Lippen bewegten sich im leisen Selbstgespräch. Das weiße, blumengeschmückte Hütchen war von den Flechten herabgesunken und hing mittels der Bänder am Halse, infolge der heftigen Bewegungen jedoch lösten sich auch diese und es fiel auf den Boden, ohne daß die Eigenthümerin es bemerkte.

Sie lief vorwärts, und erst in dem Augenblick, als sie dicht vor Elisabeth stand, schlug sie die Augen auf. Entsetzt, als habe sie auf eine Natter getreten, fuhr sie zurück. In dem Moment aber auch verwandelte sich ihr schmerzlicher Gesichtsausdruck in den der tiefsten Erbitterung. Ihre Augen sprühten Haß, die Hände ballten sich krampfhaft, während ein zischender Laut über ihre Lippen glitt, es sah aus, als wolle sie sich wüthend auf das junge Mädchen stürzen … Reinhard stand sofort neben Elisabeth und zog sie einen Schritt zurück. Als Bertha ihn erblickte, stieß sie einen leisen Schrei aus und rannte blindlings in das Gebüsch, durch welches sie sich gewaltsam Bahn brach, obgleich ihre Kleider an den Dornen hängen blieben und niederhängende Aeste gegen ihre Stirne schlugen … in wenig Augenblicken war sie im Dickicht verschwunden.

„Das war ja die Bertha aus dem Forsthause!?“ rief Miß Mertens erstaunt. „Was muß ihr geschehen sein?“

„Ja, was mag vorgefallen sein?“ wiederholte Reinhard. „Die junge Person war in einer furchtbaren Aufregung, schien aber erst in die höchste Wuth zu gerathen bei Ihrem Anblick,“ wandte er sich an Elisabeth. „Sie ist Ihnen verwandt?“

„Eigentlich nicht,“ entgegnete das junge Mädchen, „denn sie steht nicht einmal meinem Onkel in dieser Beziehung sehr nahe. Ebensowenig ist sie mir bekannt. Sie hat meine Nähe vom Anfang an consequent gemieden, obgleich ich einen freundschaftlichen Verkehr mit ihr eine Zeit lang sehr gewünscht habe … Es ist klar, daß sie mich haßt, aber ich weiß nicht, weshalb; das müßte mich eigentlich betrüben, allein ihr Charakter gefällt mir zu wenig, als daß ich einen besonderen Werth auf ihre Gesinnung gegen mich legen möchte.“

„Zum Henker auch, Kindchen, da ist nicht allein mehr von Gesinnung die Rede! … Die kleine Furie hätte Sie am liebsten mit den Zähnen zerrissen.“

„Ich fürchte mich nicht vor ihr,“ erwiderte Elisabeth lächelnd.

„Nun, ich möchte Ihnen doch zur Vorsicht rathen,“ meinte Miß Mertens. „Die kleine Person hat etwas Dämonisches in ihrer Erscheinung … wo mochte sie nur herkommen?“

„Allem Anschein nach aus dem Schlosse,“ bemerkte Elisabeth, indem sie Bertha’s Hut aufhob und einige dürre Blätter und Moose von den Klatschrosen abstreifte.

„Das glaube ich nicht,“ entgegnete Miß Mertens. „Seit sie stumm ist, hat sie merkwürdiger Weise auch ihre Besuche in Lindhof eingestellt … Sie war früher täglich im Schlosse, wohnte den Bibelstunden bei und hatte bei der Baronin einen großen Stein im Bret. … Das Alles hat plötzlich ein Ende genommen, ohne daß irgend Jemand sagen kann, weshalb. Nur dann und wann habe ich sie auf meinen einsamen Spaziergängen durch den Park schlüpfen sehen, flink wie eine Schlange, und für mich ebenso unheimlich wie alle Reptilien.“

Die Sprechenden hatten bereits den ersten mit Kies bestreuten Parkpfad betreten, es war Zeit zum Abschied, der von Besuchern und Besuchten auf das Herzlichste genommen wurde.

„Höre, Else,“ sagte Ernst, als die andern Drei hinter dem nächsten Bosquet verschwunden waren, „wir wollen doch einmal sehen, wer von uns Beiden zuerst dort an der Ecke sein wird.“ Diese Ecke war die Mündung eines schmalen Waldweges, der sich an dem Fuß des Berges hinzog.

„Gut, mein Junge!“ lachte Elisabeth und begann zu laufen. Anfangs hielt sie Schritt mit den Beinchen, die tapfer nebenher trippelten und sich mühten, ihr den Vorsprung abzugewinnen; in der Nähe des Zieles jedoch flog sie, um den Kleinen zu necken, wie eine Feder vorwärts und stand mit einem Schritt mitten im Waldweg, zu ihrem Schrecken aber auch dicht vor einem Pferdekopf, der sie heftig anschnaubte. Hector, welcher nebenher gelaufen war, erhob ein lautes Gebell … Das Pferd machte einen furchtbaren Satz nach rückwärts und stand in einem Nu fast kerzengerade auf den Hinterbeinen.

„Zurück!“ rief eine gewaltige Stimme. Elisabeth umfaßte den Knaben, der inzwischen herangekommen war, und sprang seitwärts mit ihm; fast in demselben Moment stürzte das Pferd aus dem Walde hervor und brauste, mit seinen Hufen kaum die Erde berührend, querfeldein … Herr von Walde ritt das scheu gewordene Thier, das die gewaltigsten Anstrengungen machte, seinen Reiter abzuwerfen; aber er saß fest wie eine Mauer, nur einmal bog er sich herab und hieb mit der Gerte nach Hector, der in tollen [132] Sprüngen auf- und abjagte und das Pferd durch sein Gebell immer wilder machte. Eine Weile zerstampfte der Renner den großen Rasenplatz, dann wendete er sich plötzlich seitwärts und verschwand jenseits im Walde.

Elisabeth fühlte, wie ihr die Zähne zusammenschlugen in namenloser Angst, denn nun zweifelte sie keinen Augenblick mehr, daß ein Unglück geschehen müsse. Sie nahm Ernst bei der Hand und wollte nach dem Schlosse laufen, um Hülfe zu holen, allein schon nach wenigen Schritten sah sie den Reiter zurückkehren. Das Thier war ruhiger, der Schaum floß vom Gebiß und Elisabeth sah, wie die Beine des Pferdes zitterten. Herr von Walde klopfte es liebkosend auf den Hals, sprang herab und band es an einen Baum, dann schritt er auf Elisabeth zu.

„Verzeihen Sie!“ sagte das junge Mädchen mit bebender Stimme, als er vor ihr stand.

„Was denn, mein Kind?“. entgegnete er mild. „Sie haben ja nichts verbrochen … Kommen Sie, setzen Sie sich ein wenig hier auf die Bank … Sie haben sich erschreckt und sind todtenblaß geworden.“

Er machte eine Bewegung, als wolle er ihre Hand ergreifen und sie führen, aber sein Arm sank sogleich wieder herab. Elisabeth folgte mechanisch seinem Geheiß, er setzte sich ohne Weiteres neben sie. Der kleine Ernst lehnte sich an seine Schwester und sah Herrn von Walde mit seinen großen, schönen Augen unverwandt in’s Gesicht. Der Kleine war nur einen Moment erschrocken gewesen, als das Pferd unvermuthet aus dem Walde hervorkam; das Umherjagen auf der Wiese aber hatte ihn amüsirt, denn er hatte keine Ahnung von der Gefahr.

„Was hatten Sie vor, als Sie vorhin so stürmisch in den Wald einzudringen versuchten?“ fragte Herr von Walde Elisabeth nach einem kurzen Schweigen.

Ein schelmisches Lächeln schwebte um die noch immer blassen Lippen des jungen Mädchens. „Ich wurde verfolgt,“ antwortete sie.

„Von wem?“

„Von diesem hier,“ sie zeigte auf Ernst; „wir sind um die Wette gelaufen.“

„Ist der Kleine Ihr Bruder?“

„Ja.“ Sie sah dem Knaben zärtlich in’s Gesicht und strich mit der Hand über seinen dunkeln Lockenkopf.

„Und sie ist meine einzige Schwester,“ bemerkte der Kleine mit großem Nachdruck.

„So – nun, wie es scheint, verträgst Du Dich sehr gut mit dieser einzigen Schwester?“ sagte Herr von Walde.

„O ja, ich habe sie sehr lieb .… sie spielt mit mir, gerade wie ein Junge.“

„Wirklich?“ frug Herr von Walde.

„Wenn ich exerciren will, dann setzt sie einen ebensolchen Papierhut auf, wie sie mir einen macht, und trommelt durch den Garten, so lange ich will. Vorm Schlafengehen erzählt sie mir Geschichten und streicht mir auch die Butterbrode viel dicker als Mama.“

Ein heiteres Lächeln glitt über Herrn von Walde’s Gesicht. Elisabeth sah es zum ersten Male und fand, daß es seine Züge, deren tiefen Ernst sie für unverwischbar gehalten hatte, unbeschreiblich anziehend machte … es kam ihr vor, wie der klare Sonnenglanz, der unerwartet über einen wolkendüsteren Himmel hinfliegt.

„Du hast Recht, mein Junge,“ sagte er und zog den Kleinen zu sich hinüber, „das sind ohne Zweifel anerkennenswerthe Eigenschaften; aber wird sie nie böse?“ fragte er weiter, indem er auf Elisabeth zeigte, die wie ein Kind lachte, denn Ernst’s Mittheilungen erschienen ihr urkomisch.

„Nein, böse niemals,“ antwortete der Knabe, „nur ernsthaft manchmal, und da spielt sie immer Clavier.“

„Aber, Ernst …“

„O ja, Else,“ fiel ihr der Kleine eifrig in’s Wort, „weißt Du noch, in B., wo wir so arm waren?“

„Nun, da magst Du freilich Recht haben,“ erwiderte das junge Mädchen unbefangen, „aber das war doch nur in der Zeit, wo Papa und Mama allein sich abmühen und für das tägliche Brod arbeiten mußten, später wurde es ja besser.“

„Aber Sie spielen noch Clavier?“

„Ja,“ entgegnete Elisabeth lachend, „jedoch nicht mehr in dem Sinn, wie Ernst es meint, die Meinen sind ja versorgt.“

„Und Sie?“ forschte Herr von Walde weiter.

„Nun, ich? Ich habe den Muth, es mit dem Leben aufzunehmen und ihm das abzuringen, was zu meiner Selbstständigkeit nöthig ist.“

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Ich werde im nächsten Jahr eine Stelle als Erzieherin annehmen.

„Schreckt Sie Miß Mertens’ Beispiel nicht zurück?“

„Ganz und gar nicht… Ich bin nicht so schwach, ein müheloses Brod zu wünschen, wo ich Tausende in meinen Verhältnissen muthig die Last der Dienstbarkeit auf sich nehmen sehe.“

„Hier handelt es sich aber nicht allein um die Arbeit, sondern auch um das Ertragen und Dulden… Sie sind stolz; nicht allein Ihr Gesicht in diesem Augenblick, sondern auch Ihre gestern ausgesprochenen Ansichten beweisen es.“

„Nun ja, es mag Stolz sein, daß ich die Menschenwürde höher stelle, als jene Aeußerlichkeiten, die der Egoismus erfunden hat und aufrecht erhält – aber eben deshalb glaube ich auch, daß ein Mensch den anderen nur insofern demüthigen kann, als er moralisch und geistig hochstehend ihm unerreichbar erscheint – niemals aber durch erniedrigende Behandlung.“

„Und Sie glauben sich durch diese Ansicht gestählt gegen alle jene großen und kleinen Leiden, die eine launenhafte, herzlose Herrin über Sie verhängen kann?“

„O nein, aber ich werde mit ihr den Kopf oben behalten.“

Es entstand eine kleine Pause, während welcher Ernst sich dem Pferd näherte und dasselbe mit großer Aufmerksamkeit betrachtete.

„Aus Ihren gestrigen Reden schloß ich, daß Sie Ihre jetzige Heimath lieben,“ begann Herr von Walde wieder.

„Ja, unbeschreiblich.“

„Nun, ich begreife das; denn wir haben hier das schönste Stück Thüringens… Wie ist es Ihnen dann aber möglich, den Gedanken so leicht zu nehmen, daß Sie wieder gehen müssen?“

„Leicht wird er mir auch durchaus nicht, im Gegentheil, aber mein Vater hat mich gelehrt, daß man stets das Nothwendige über die Annehmlichkeit stellen müsse, und das begreife ich vollkommen … weniger klar dagegen ist es mir, wie man die Annehmlichkeit verlassen kann, ohne daß es die Nothwendigkeit gebietet.“

„Ah, das gilt mir! … Sie fassen es nicht, daß ein Mensch freiwillig in den dumpfen Pyramiden steckt, während er im kühlen, sonnigen Thüringen athmen könnte.“

Elisabeth fühlte, wie ihr eine brennende Röthe in das Gesicht stieg. Herr von Walde berührte hier mit leichtem Humor jenes scherzhafte Gespräch zwischen ihr und dein Onkel, dessen unfreiwilliger Zuhörer er gewesen war.

„Wenn ich Ihnen das auch begreiflich machen wollte, Sie würden mich doch nicht verstehen; denn wie mir scheint, vermissen Sie ja noch nichts im Kreise der Ihrigen?“ fragte er nach kurzem Schweigen. Er hatte sich vorwärts geneigt und strich mechanisch mit der Spitze der Reitgerte über den Kies zu seinen Füßen… Er sprach in jenen tiefen Tönen, die stets etwas Ergreifendes für Elisabeth hatten. „Aber es kommt eine Zeit,“ fuhr er fort, „da flieht man hinaus in die Welt, um draußen zu vergessen, daß daheim das Glück fehlt… Eine schmerzlich empfundene Lücke in seinem Dasein kann der Mann, wenn auch nicht ausfüllen, so doch am besten in den Hintergrund drängen, wenn er sich in die Wissenschaft versenkt.“

Also hier stand sie vor der wunden Stelle in seinem Herzen. … Er fühlte tief, daß ihn daheim die Liebe nicht empfing, die er lebhaft wünschte und die er auch mit vollstem Recht beanspruchen konnte, da er seiner Schwester die reinste, aufopferndste Zärtlichkeit unausgesetzt bewies. Diesen Schmerz hatte ja Elisabeth schon begriffen, noch bevor sie Herrn von Walde kannte. In dem Augenblick aber, als er ihn so unumwunden aussprach, wallte ihr das Herz auf in dem lebhaften Verlangen, ihn zu trösten. Die Worte des Mitgefühls drängten sich ihr fast auf die Lippen; aber zugleich empfand sie eine unerklärliche Scheu, das auszusprechen, was sie bewegte, und als ihr Blick seitwärts streifte über die festen Linien seines Profils, über die Stirn, die gebieterisch und stolz blieb, während die Stimme weich und trauervoll klang, da kam ihr plötzlich die beängstigende Vermuthung, er habe einen Moment vergessen, wer neben ihm sitze, sein aristokratisches Gefühl werde [133] ihn später den Mißgriff bitter bereuen lassen, infolge dessen ein unbedeutendes Mädchen in sein streng verschlossenes Innere einen Blick werfen durfte… Dieser Gedanke trieb ihr das Blut in die Wangen, sie erhob sich schnell und rief Ernst zu sich. Herr von Walde wandte überrascht den Kopf nach ihr, und sein Auge ruhte einen Augenblick forschend auf ihrem Gesicht; dann verließ er gleichfalls die Bank und stand, als wolle er ihre Annahme bestätigen, plötzlich in seiner ganzen, stolzen Ruhe und Gelassenheit vor dem jungen Mädchen; aber jener düstere, schwermüthige Zug zwischen den Augenbrauen, den der Vater schon beobachtet hatte, fiel ihr zum ersten Male auf und machte ihr denselben Eindruck wie vorher seine Stimme.

„Sie sind gewöhnlich sehr flink im Denken,“ sagte er, sichtbar bemüht, einen leichteren Ton anzuschlagen, und langsam neben Elisabeth herschreitend – sie ging, um Ernst zu holen, der ihren Ruf nicht gehört hatte – „noch ehe man einen Satz völlig geendet hat, sieht man an Ihrem Auge, daß Sie die Antwort bereits auf den Lippen haben. Ihr Schweigen in diesem Augenblick sagt mir also, daß ich vorhin Recht hatte, als ich annahm, Sie würden mich nicht verstehen, weil Sie noch nichts vermissen.“

„Der Begriff von Glück ist so sehr verschieden, daß ich in der That nicht wissen kann –“

„Den Begriff haben wir Alle gemein,“ unterbrach er sie. „In Ihnen schlummert er nur noch.“

„O nein!“ rief sie, ihre Zurückhaltung vergessend, lebhaft und erstaunt, „ich liebe die Meinen von ganzem Herzen und habe das beseligende Bewußtsein, daß ich wieder geliebt werde!“

„Ah, also haben Sie mich doch nicht ganz falsch verstanden! … Nun, und die Ihrigen … das ist wohl ein sehr großer Personenkreis, den Sie da in Ihr Herz schließen müssen?“

„Nein,“ rief sie lachend, „die sind schnell zusammengezählt! Meine Eltern, der Onkel und dieses kleine Menschenkind hier,“ sie nahm den herbeilaufenden Ernst bei der Hand, „das sich sehr breit macht und mit jedem Jahr mehr Terrain erobert… Jetzt müssen wir aber fort, mein Junge,“ sagte sie zu dem Kleinen, „sonst ängstigt sich die Mama.“

Sie verbeugte sich leicht vor Herrn von Walde, es kam ihr vor, als sei der Schatten auf seiner Stirn plötzlich wieder verschwunden. Er zog höflich den Hut vor ihr und reichte Ernst die Hand; dann schritt er langsam hinüber zu dem Pferd, das ungeduldig stampfte, faßte den Zügel und führte es fort.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 10, S. 145–151
Fortsetzungsroman – Teil 9


[145] Oben in der Halle angekommen, legte Elisabeth Bertha’s Hut, der noch an ihrem Arme hing, auf das Büffet. Sie wollte den Eltern vorläufig noch nichts von der Begegnung sagen, weil sie mit Recht annahm, daß sie sich beunruhigen und es dem Onkel erzählen würden. Der war aber gerade in den letzten Wochen wieder sehr bitter und heftig geworden, wenn er auf diesen Punkt zu reden kam, so daß Elisabeth die Ueberzeugung hatte, er werde nach einer solchen Mittheilung zum Aeußersten schreiten und die Störerin seines Hausfriedens verstoßen. Ernst hatte weder den Hut an Elisabeth’s Arm, noch ihr Bemühen, denselben zu verstecken, bemerkt, er konnte also nichts verrathen.

Nach dem Abendbrod ging Elisabeth hinunter in’s Forsthaus. Sie traf Sabine im Garten und hörte befriedigt, daß der Onkel nach Lindhof gewandert sei. Indem sie der alten Haushälterin den Hut übergab, theilte sie ihr das auffallende Gebahren Bertha’s mit und fragte schließlich, ob dieselbe nach Hause gekommen sei. Sabine war außer sich.

„Na, das können Sie mir glauben, Kindchen,“ sagte sie, „waren Sie allein, die hätte Ihnen die Augen ausgekratzt .… Ich weiß nicht, was noch daraus werden soll, vorzüglich in den letzten Tagen ist es sehr schlimm geworden … Sie schläft keine Nacht mehr, rennt auf und ab und spricht auch wieder, aber nur mit sich selbst … Wenn ich’s nur über mich gewinnen könnte, einmal geradezu die Thür aufzumachen, wenn der Spectakel so groß ist; aber ich kann’s nicht, und wenn Sie mir Berge von Gold hinlegen wollten … Sie lachen mich aus, ich weiß es; aber – nur der ist’s nicht richtig! Sehen Sie ihr nur einmal in die Augen, das funkelt und blitzt, als wenn sie das ganze Feuer vom Blocksberg drin hätte … Na, ich bin still, ich sage nichts, der Herr Oberförster hat einen gesunden Schlaf und die Anderen auch; aber ich bin da, wenn sich ein Mäuschen rührt, und so weiß ich recht gut, daß die Bertha gar oft des Nachts draußen herumflankirt, und allemal ist auch der Hofhund aus seiner Hütte verschwunden. Das ist noch der Einzige im Hause, der sie lieb hat, und so bös er ist – ihr thut er nichts.“

„Weiß das mein Onkel?“ fragte Elisabeth erstaunt.

„Ei, beileibe nicht! … Ich werde mich hüten, etwas zu sagen, das könnte mir schlecht bekommen.“

„Aber, Sabine, bedenken Sie denn nicht, daß Sie mit Ihrem Schweigen dem Onkel großen Schaden zufügen können? Das Haus liegt so allein; wenn kein Hund im Hofe ist –“

„So stehe ich droben am Fenster und wache, bis die endlich wieder über den Berg kommt und das Thier an die Kette legt.“

„Das sind ja übermenschliche Opfer, die Sie Ihrem Aberglauben bringen! … Man sollte doch lieber der Bertha –“

„Still, nicht so laut, dort sitzt sie!“ Sabine deutete durch das Staket auf den Birnbaum im Hofe. Elisabeth ging leise näher. Unter dem Baum, auf der Steinbank, saß Bertha, scheinbar ruhig, und schnitt Bohnen. Die glühende Röthe der Erregung auf Stirn und Wangen war einer fahlen Blässe gewichen. Elisabeth sah jetzt, daß das junge Mädchen in der letzten Zeit bedeutend magerer geworden war. Die schmale Nase trat schärfer aus dem Gesicht und die Wangen hatten die liebliche Rundung verloren. Dunkle Ringe lagerten um die Augen, und zwischen den Brauen gruben sich zwei Falten tief in die feine Haut, die dem Gesicht etwas finster Brütendes, aber auch im Verein mit gewissen Zügen um die Lippen einen unsäglich schmerzlichen Ausdruck gaben … Dieser Anblick schnitt tief in Elisabeth’s Seele. Auf den Schultern jener Einsamen lastete das Elend und mußte sie um so tiefer beugen, weil sie es schweigend trug … Elisabeth vergaß alle Feindseligkeit, die ihr Bertha bisher gezeigt hatte, und ging rasch einige Schritte näher, um jenes schmerzensmüde Haupt an ihre Brust zu lehnen und zu sagen: „Hier ruhe dich aus! Schütte all’ deinen Jammer, mit dem du so allein kämpfst und ringst, in mein Herz, ich will ihn redlich mit dir tragen,“ allein Sabine klammerte sich fest an ihren Arm.

„Sie werden doch nicht hingehen!“ flüsterte sie heftig. „Das leide ich nicht, sie ist im Stande und stößt mit dem Messer nach Ihnen.“

„Aber sie ist grenzenlos unglücklich. Es gelingt mir vielleicht doch, sie zu überzeugen, daß mich nur das innigste Mitgefühl zu ihr führt.“

„Nein, nein! … Nun, Sie sollen gleich sehen, wie weit man mit ihr kommt.“

Sabine schritt die Stufen hinab in den Hof. Bertha ließ sie herankommen, ohne die Augen aufzuschlagen.

„Fräulein Elisabeth hat ihn gefunden,“ sagte Sabine, Bertha den Hut hinhaltend; dann legte sie ihre Hand auf die Schulter des jungen Mädchens und fuhr freundlich fort: „Sie möchte Ihnen gern einige Worte sagen.“

Bertha fuhr auf, als sei ihr eine tödtliche Beleidigung widerfahren. Sie schüttelte wild die Hand von sich, und ihr Auge richtete sich zornig sofort auf die Stelle, wo sich Elisabeth befand, ein Beweis, daß sie die Anwesenheit des jungen Mädchens längst bemerkt hatte. Sie warf das Messer auf den Tisch, stieß mit einer ihrer heftigen Bewegungen den Korb zu ihren Füßen um, [146] so daß die Bohnen nach allen Seiten hin auf das Pflaster flogen, und ging in das Haus. Man hörte durch das offene Fenster, wie sie droben in ihrer Stube die Thür zuschlug und den Riegel vorschob.

Elisabeth war stumm vor Ueberraschung, aber auch vor Schmerz. Sie wäre der Unglücklichen so gern näher getreten, doch jetzt sah sie, daß sie jeden Gedanken daran aufgeben mußte.

Seit einer Woche ging sie täglich hinunter in’s Schloß. Fräulein von Walde hatte sich merkwürdig schnell erholt, seit jenem Nachmittag, wo sie, wie die Baronin zärtlich betonte, Heilung in dem von ihr eigenhändig bereiteten Kaffee gefunden hatte und wo Herr von Hollfeld angekommen war. Sie übte aus allen Kräften einige vierhändige Musikstücke und vertraute Elisabeth endlich an, daß in die letzten Tage des August das Geburtsfest ihres Bruders falle; sie wolle dasselbe diesmal ganz besonders verherrlichen, weil sie mit ihm zugleich die glückliche Rückkehr des Vielgereisten zu feiern gedenke. An diesem Tage sollte er sie zum ersten Male nach langer Zeit wieder spielen hören; sie wußte, daß sie ihn damit freudig überraschen würde.

Elisabeth sah diesen Uebungsstunden stets mit einem Gemisch von Freude, Angst und Widerwillen entgegen … Sie wußte selbst nicht warum, aber Schloß und Park waren ihr plötzlich lieb und vertraut geworden; ja, sie fühlte sogar für jene Bank, auf der sie mit Herrn von Walde gesessen hatte, eine Art zärtlicher Zuneigung wie für einen alten Freund, so daß sie stets, um an derselben vorüberzukommen, einen kleinen Umweg machte … Angst und Widerwillen dagegen flößte ihr Herrn von Hollfeld’s Benehmen ein. Nachdem sie einigemal seine Versuche, ihr in den Weg zu treten, durch schleuniges Ausweichen vereitelt hatte, kam er eines Nachmittags ohne Weiteres auf Fräulein von Walde’s Zimmer und bat um die Erlaubniß, der Stunde beiwohnen zu dürfen. Zu Elisabeth’s Schrecken versicherte ihm Helene mit freudestrahlenden Augen, sie heiße ihn doppelt willkommen als einen Bekehrten, der ja früher der Musik keinen Geschmack habe abgewinnen können … Er erschien nun beharrlich jedesmal, legte stillschweigend bei seinem Kommen einige frischgepflückte Blumen vor Helene auf das Clavier nieder, in Folge dessen sie consequent verschiedene falsche Accorde griff, und setzte sich in eine Fensterecke, von wo aus er den Spielenden gerade in das Gesicht sehen konnte. Er hielt, so lange musicirt wurde, die Hand über die Augen, als wolle er sich gänzlich den Eindrücken der Außenwelt entziehen, um im Reich der Töne zu versinken. Elisabeth bemerkte jedoch sehr bald zu ihrem Verdruß, daß er sein Gesicht nur so weit bedecke, als es von Helene gesehen werden konnte; hinter der vorgehaltenen Hand starrte er unausgesetzt zu ihr selbst hinüber und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie erbebte unter diesen Augen, die, sonst so nichtssagend und leer, ihr gegenüber stets in einem eigenthümlichen Feuer aufglühten, so daß sie oft die größte Selbstbeherrschung nöthig hatte, um unbeirrt weiter zu spielen.

Helene hatte augenscheinlich keine Ahnung von der Hinterlist, mit welcher Hollfeld seinen Zweck zu erreichen suchte. Sie machte öftere Pausen und unterhielt sich lebhaft mit ihm, d. h. sie sprach dann fast immer allein und meist sehr hübsch. Jede seiner einsilbigen Antworten, so banal und gewöhnlich wie sie waren, nahm sie auf wie eine Gunst, wie einen Orakelspruch, dessen Sinn man stets tiefer zu suchen habe.

Wenige Minuten vor dem Schluß der Stunden entfernte er sich stets. Gleich das erste Mal jedoch hatte ihn Elisabeth beim Nachhausegehen bemerkt, und zwar durch eines der Corridorfenster im ersten Stock, von wo aus man einen bedeutenden Theil des Parkes überblicken konnte, wie er wartend vor dem Waldweg auf und ab ging, den sie passiren mußte. Sie durchkreuzte seinen Plan, nicht ohne heimliches Lachen, indem sie Miß Mertens besuchte und sich über eine Stunde bei ihr aufhielt. Dort wurde sie stets mit offenen Armen aufgenommen und gewann die Gouvernante allmählich so lieb, daß sie zuletzt gar nicht mehr an deren Thür vorbeigehen mochte, ohne auf ein Plauderstündchen einzukehren.

Miß Mertens war meist traurig und niedergeschlagen. Sie fühlte, daß ihr Bleiben in Lindhof immer unmöglicher wurde. Die Baronin, ihrer Herrschermacht und der damit verknüpften Thätigkeit plötzlich enthoben, langweilte sich jetzt öfter bis zum Sterben. Ihren Verwandten gegenüber mußte sie die Maske der Harmlosigkeit und Zufriedenheit vornehmen, was ihr wohl herzlich sauer werden mochte, sie war also gezwungen, ihre üble Laune hinter den verschlossenen Thüren ihres Appartements zu lassen, dort aber wurde sie nachgerade unerträglich; nicht für Bella, denn dem Kind gegenüber, in welchem sie bereits mehr die geborene Baronesse, als ihre Tochter sah, ließ sich die Dame nie zu Ausschreitungen hinreißen; vor ihrer alten Kammerfrau aber hatte sie, man wußte nicht warum, „einen heillosen Respect“, wie der Hausverwalter Lorenz sich ausdrückte, und der niederen Dienerschaft durfte sie nicht zu nahe treten, ohne den Herrn des Hauses herauszufordern; mithin wurde all’ der verbissene Groll gegen die unglückliche, wehrlose Gouvernante geschleudert.

Gar oft sagte diese unter Thränen, nur die Liebe zu ihrer alten, alleinstehenden Mutter bewege sie immer wieder, diesen Martern sich zu unterwerfen. Die alte Frau lebe fast nur von dem, was ihr die Tochter schicke, deshalb sei sie gezwungen, ein öfteres Wechseln der Stellung, der pecuniären Verluste wegen, zu vermeiden… So betrübt sie nun aber auch meist war, ihre sanften Züge hellten sich ganz gewiß auf, wenn Elisabeth den Kopf durch die Thür steckte und mit ihrer fröhlich frischen Stimme hereinrief, ob sie kommen dürfe. Mit dem Eintritt des jungen Mädchens flohen die Bekümmernisse und Sorgen, und wenn sie auf dem kleinen Sopha am Fenster dicht nebeneinander saßen, so fand ein Gedankenaustausch zwischen den Beiden statt, bei dem die Gouvernante sich in die eigene Jugend zurückversetzt fühlte und Elisabeth manchen Schatz hob aus den reichen Kenntnissen und Lebenserfahrungen der älteren Freundin.

Diese kleinen Nachmittagsbesuche hatten aber auch noch einen geheimen Reiz für das junge Mädchen, den sie sich aber um Alles in der Welt nicht eingestand, obgleich sie infolge desselben schon vor der Thür ein starkes Herzklopfen zu bekämpfen hatte und ein unerklärliches Gemisch von Freude und Bangen empfand.

Die Fenster von Miß Mertens’ Wohnung sahen in einen großen Hofraum, den Elisabeth den Klostergarten zu nennen pflegte; denn er lag so still und abgeschieden zwischen den vier hohen Mauern. Einige breitästige Linden warfen eine grüne Dämmerung auf die saftigen Rasenplätze, die nur hie und da ein gepflasterter Weg durchschnitt. Inmitten des Hofes befand sich ein Brunnen, der das Haus mit einem köstlichen Wasser versorgte; auf dem Rande des mächtigen Bassins ruhten die weißen Glieder einiger Sandsteinfiguren, umhaucht von dem grünen Licht der Wipfel droben. Wenn draußen auf den Boskets und Kieswegen die Nachmittagssonne glühend und träge lastete wie flüssiges Blei, dann wehte hier unter den Bäumen eine erfrischende Kühle. Eine Thür im Erdgeschoß, die unmittelbar aus dem Arbeitscabinet des Herrn von Walde in den Hof führte, stand deshalb auch meist offen. Er selbst trat dann und wann heraus und schritt mit gekreuzten Armen auf und ab… Welcher Gedankenstrom mochte dann wohl hinter der schönen, bleichen Stirn fluthen, wenn er, eine Zeitlang gesenkten Hauptes dahinwandelnd, plötzlich sich aufrichtete, wie aus einem lieblichen Traume aufgeschreckt? Miß Mertens sagte öfter, sie finde, daß er sehr verändert zurückgekehrt sei.

Vor seiner Reise, erzählte Miß Mertens, sei ihr Herr von Walde’s Gesicht vorgekommen wie das einer Statue, so ernst und unbewegt, und obgleich sie schon damals erkannt habe, daß er ein durchaus edler Mensch sein müsse, sei sie doch stets in seiner Nähe von einer Eiseskälte überschlichen worden. Jetzt käme es ihr vor, als habe eine lebenerweckende Hand über seine Erscheinung hingestreift; selbst sein Gang sei elastischer und rascher geworden, und sie wolle darauf schwören, daß bei seinen einsamen Wanderungen durch den Hof öfter ein Lächeln über seine Züge gleite, als tauche irgend ein Wesen vor ihm auf, dessen Anschauen ihn glücklich mache. Bei dieser Bemerkung lächelte Miß Mertens selbst und meinte geheimnißvoll, er habe auf alle Fälle sehr angenehme Erinnerungen mit heimgebracht, und sie könne die stille Ahnung nicht unterdrücken, als müsse binnen Kurzem Alles anders werden in Lindhof. Sie sah aber nie, daß ihre junge Freundin bei dieser Schlußfolgerung stets mit der Hand nach dem Herzen griff, und diese selbst bemerkte es noch viel weniger, denn der schmerzliche Stich, der schneidend ihr Inneres durchdrang, ließ sie ganz und gar vergessen, ihre äußeren Bewegungen zu beherrschen.

Heute hatte Elisabeth ihre Wanderung in’s Thal eine halbe Stunde früher angetreten. Der Vater war nämlich Mittags, als er aus dem Forsthause zurückkehrte, Miß Mertens im Walde [147] begegnet. Sie hatte sehr verweint ausgesehen und war augenscheinlich im Moment außer Stande gewesen, zu sprechen, denn sie hatte ihm nur einen Gruß zugenickt und war rasch weiter gegangen. Diese Nachricht ließ Elisabeth keine Ruhe; um keinen Preis hätte sie mit ihrem Besuch bei der Gouvernante bis nach Beendigung der Stunde warten können; denn das arme, einsame Wesen brauchte sicher Trost und ein Herz, an dem es sich ausweinen konnte.

Jenseits der großen Wiese, die an den Saum des Waldes stieß, lag ein allerliebster Pavillon. Ein dunkles Gebüsch umschloß den zierlichen Bau von drei Seiten und ließ die helle Fronte um so leuchtender hervortreten. Das kleine Haus hatte bisher verschlossen gestanden; die Läden waren jedoch meist zurückgeschlagen, und durch den Spalt, den ein verschobenes Rouleau bildete, hatte Elisabeth gesehen, daß der innere Raum sehr elegant eingerichtet war. Als sie heute aus dem Walde trat, sah sie sogleich, daß die Thüren des Pavillons offen standen. Ein Bedienter mit einem leeren Präsentirteller trat heraus und winkte ihr, hinüber zu kommen. Beim Näherschreiten erkannte sie bald Fräulein von Walde, die Baronin und Hollfeld, die den Kaffee tranken in dem einzigen Zimmer, aus welchem der Pavillon bestand.

„Sie kommen heute ein wenig zu früh, liebes Kind!“ sagte Helene, als das junge Mädchen über die Schwelle trat.

Elisabeth sagte ihr, daß sie Miß Mertens zuvor einen Besuch machen wolle.

„Ach, lassen Sie das heute!“ rief Helene lebhaft, aber sehr verlegen, während die Baronin mit einem unbeschreiblich malitiösen Lächeln von ihrer Häkelarbeit aufsah. „Wissen Sie, daß diesen Morgen ein großes Packet neuer Musikalien aus Leipzig angekommen ist?“ fuhr Fräulein von Walde fort. „Ich habe sie schon ein wenig durchgestöbert, meist prächtige Sachen. Vielleicht finden wir noch eine brillante Pièce für unser Concert… Setzen Sie sich; wir gehen dann zusammen in’s Schloß.“

Sie bot Elisabeth ein Körbchen mit Kuchen und legte ihr eine schöne Birne auf den Teller.

Herr von Walde’s Hund sprang in diesem Augenblick über die Schwelle. Sofort richteten sich beide Damen aus ihrer bisherigen Stellung auf. Helene blickte gespannt nach der Thür und gab sich offenbar die größte Mühe, so freundlich und harmlos wie möglich auszusehen. Die Baronin aber warf ihre Arbeit in den Korb; sie untersuchte die silberne Kaffeekanne, ob sie noch heiß sei, stellte eine Tasse nebst Zuckerschale zurecht und zog einen Stuhl aus der Ecke an den Tisch. Das impertinente Lächeln war verschwunden, dafür lagerte sich ein gewisser Ernst auf ihre Stirn, und die ganze Erscheinung präparirte sich, einen würdevollen und imposanten Eindruck zu machen. Hollfeld eilte beim Erblicken des Hundes sogleich hinaus in den Garten und trat nach wenigen Minuten mit Herrn von Walde wieder ein, der, wie es schien, von einem Ausflug zurückkam, denn er trug einen staubgrauen Ueberzieher und einen runden Filzhut.

„Wir haben schon gefürchtet, lieber Rudolph,“ rief Helene ihm entgegen, während sie sich erhob und ihm die Hand hinreichte, „Dich für heute ganz entbehren zu müssen.“

„Ich fand in L. mehr Geschäfte vor, als ich erwartet hatte,“ erwiderte er und setzte sich nicht auf den ihm gebotenen Stuhl, sondern neben seine Schwester auf das Sopha, wodurch Elisabeth gezwungen wurde, sobald sie die Augen erhob, ihm in das Gesicht zu sehen, denn er saß ihr gerade gegenüber. „Uebrigens,“ fuhr er fort, „bin ich schon seit einer halben Stunde wieder zurück; allein Reinhard hatte mir eine Privatangelegenheit mitzutheilen und verlangte eine sofortige Entscheidung von mir … deshalb wäre ich beinahe um das Vergnügen gekommen, den Kaffee bei Dir zu trinken, liebe Helene.“

„Der böse Reinhard,“ schmollte Fräulein von Walde, „er hätte auch ein wenig warten können, die Welt würde ja wohl nicht gleich aus den Fugen gegangen sein.“

„Ach, liebes Kind,“ seufzte die Baronin, „das sind Dinge, die wir nie ändern werden … Wir sind eben für unser ganzes Leben verurtheilt, die Sclaven unserer Untergebenen zu sein.“

Herr von Walde wendete ruhig seinen Kopf nach ihr und ließ seinen Blick langsam über ihre ganze Gestalt gleiten.

„Nun, weshalb fixirst Du mich so angelegentlich, lieber Rudolph?“ fragte die Baronin nicht ohne einen Anflug von Verlegenheit.

„Ich wollte mich nur überzeugen, ob Du in der That geeignet seiest, eine jener traurigen Rollen in Onkel Tom’s Hütte durchzuführen.“

„Stets Spott, wo ich Theilnahme suche,“ entgegnete die Dame, indem sie sich bemühte, ihrer spröden Stimme einen weichen, trauervollen Klang zu geben. „Ich könnte es nun nachgerade wissen; allein …“ sie seufzte abermals. „Nicht Jeder hat übrigens Deinen beneidenswerthen Gleichmuth, der die kleinen Bitterkeiten und nothwendigen Uebel des Lebens an sich vorübergleiten läßt… Wir armen Frauen haben leider unsere unseligen Nerven, die uns jede Gemüthserschütterung doppelt fühlbar machen. … Hättest Du mich heute Morgen gesehen, in welch’ trostlosem Zustand ich war –“

„So?“

„Ich habe einen furchtbaren Aerger gehabt… Nun, diese Miß Mertens wird es dereinst verantworten müssen!“

„Hat sie Dich beleidigt?“

„Welcher Ausdruck, liebster Rudolph! Wie könnte mich diese Person in ihrer Stellung beleidigen! … Erzürnt, auf das Aeußerste erbittert hat sie mich!“

„Nun, ich sehe mit großer Befriedigung, daß Du Dich nicht so leicht unter das Sclavenjoch beugen wirst.“

„Ich habe in der letzten Zeit unsäglich viel mit dieser albernen Person zu ertragen gehabt,“ fuhr die Baronin fort, ohne den Einwurf ihres Cousins zu beachten. „Heute Morgen nun höre ich, wie diese einfältige Mertens dem Kinde sagt, der innere Adel stehe weit über dem Adel der Geburt – als ob das zu trennen sei – sie stelle den Bettler, der ein reines Herz habe, höher als ein gekröntes Haupt, das sündige, und dergleichen mehr… Wenn ich Dir nun sage, daß Bella dereinst – so es im Rathschluß des Herrn liegt – am Hofe leben wird – ich habe eine Hofdamenstelle in B. so gut wie in der Tasche für sie – dann wirst Du begreifen, daß ich die Lehren der allzu freien Gouvernante unterbrach… Das mußt Du mir doch zugeben, lieber Rudolph, daß Bella mit solchen Ansichten bei Hofe eine klägliche Rolle spielen und sich sehr bald unmöglich machen müßte.“

„Dagegen läßt sich nichts einwenden.“

„Nun, Gott sei Dank!“ rief die Baronin aufathmend. „Ich war wirklich ein wenig in Sorge, wie Du die Entlassung der Miß Mertens, die Du wirklich weit über ihr Verdienst geschätzt hast, aufnehmen würdest… Die Person wurde dermaßen impertinent, als ich ihren Vortrag unterbrach, daß mir nichts Anderes übrig blieb, als sie fortzuschicken.“

„Ich habe ganz und gar kein Recht, Dir Vorschriften in Bezug auf Deine Leute zu machen,“ entgegnete Herr von Walde kalt.

„Aber ich suche mich darin so viel wie möglich Deinen Wünschen unterzuordnen, bester Rudolph… Ich kann Dir übrigens nicht sagen, wie froh ich bin, daß ich dies unausstehliche englische Gesicht nicht mehr zu sehen brauche.“

„Es thut mir leid, aber ganz umgehen wirst Du das doch nicht können, da sie mit Dir hier in Lindhof stets unter einem Dache sein wird; denn Reinhard, mein Secretär, hat sich vor einer halben Stunde mit ihr verlobt.“

Die Arbeit entsank den Händen der Baronin. Diesmal erschienen nicht nur die bekannten Flecken in vergrößerter Gestalt, sondern auch die Stirn war in eine dunkle Röthe getaucht.

„Hat denn der Mensch seinen Verstand verloren?“ rief sie endlich, aus ihrer Erstarrung erwachend.

„Ich glaube nicht; denn er hat ihn ja eben bewiesen,“ entgegnete Herr von Walde gelassen.

„Nun, das muß ich sagen, er zeigt sich auch hier als Alterthümler! … Welch’ eine jugendliche, blühend schöne Braut!“ rief die Dame höhnisch und wollte sich todt lachen. Hollfeld stimmte ein in das Gelächter und gab somit das erste Zeichen, daß er Theil nehme an dem Gespräch. Helene warf ihm einen trüben Blick zu, Elisabeth aber schnitt dieses Lachen tief in die Seels, und sie fühlte etwas wie Zorn in sich aufwallen.

„Nun, ich hoffe,“ nahm die Baronin wieder das Wort, „Du wirst mir nicht zumuthen, lieber Cousin –“

„Was denn?“

„Daß ich mit dieser Person noch länger zusammen sein soll.“

„Zwingen kann ich Dich freilich nicht, Amalie, so wenig es in meiner Macht steht, meinem Secretär das Heirathen zu verbieten.“

[148] „Aber entlassen kannst Du ihn, wenn er eine Wahl trifft, die Deinen nächsten Anverwandten den Aufenthalt in Deinem Hause verleidet.“

„Auch das kann ich nicht, denn er ist lebenslänglich bei mir angestellt, und ich habe soeben seiner zukünftigen Frau im Fall seines Todes eine Pension zugesichert… Uebrigens bist Du doch ein klein wenig im Irrthum, beste Cousine, wenn Du glaubst, es könne mich irgend etwas in der Welt bewegen, einen Menschen, den ich einmal als treu und zuverlässig erkannt habe, von mir zu lassen… Ich bin mit Reinhard’s Wahl vollkommen einverstanden und habe ihm die hübsche, große Erdgeschoßwohnung im nördlichen Flügel für alle Zeiten angewiesen … er wird auch seine Schwiegermutter zu sich nehmen.“

„Nun, ich gratulire ihm zu dieser vortrefflichen Acquisition,“ entgegnete die Baronin und ihre scharfe Stimme wankte im verhaltenen Zorn. „Nur Eines erlaube ich mir zu bemerken, ich kann es nicht über mich gewinnen, die Person auch nur einen Tag länger um mich zu dulden, mag sie sehen, wo sie bis zu ihrer Hochzeit unterkommt… Hoffentlich wirst Du einsehen, lieber Rudolph, daß die interessanten Brautleute unter den obwaltenden Umständen nicht unter Einem Dache bleiben dürfen.“

„Wenn Sie mir erlauben wollten,“ wendete sich hier Elisabeth an Helene, „so möchte ich meine Eltern bitten, die Braut aufzunehmen; wir haben Raum genug!“

„Ach ja, thun Sie das; besser könnte die Frage nicht gelöst werden,“ antwortete Fräulein von Walde und reichte Elisabeth die Hand. Die Baronin schoß einen wüthenden Blick auf Elisabeth.

„Nun, da wäre ja jetzt die Sache zur allseitigen Zufriedenheit geordnet,“ sagte sie, mühsam ihre Fassung behauptend. „Ich bescheide mich und will in Demuth abwarten, ob mir die zukünftige Frau Secretärin ein Plätzchen übrig lassen wird, wo ich vor ihrem widerwärtigen Anblick sicher bin… Apropos, Fräulein Ferber,“ fuhr sie nach einer Weile in leichtem Ton fort, „da fällt mir eben ein, daß Ihr Honorar für die Stunden bereits seit einigen Tagen in den Händen meiner Kammerfrau ist … klopfen Sie im Vorübergehen bei ihr an, sie wird Ihnen das Geld geben, sammt Berechnung, die ich aber zu quittiren bitte.“

„Aber, Amalie!“ rief Helene, sich erschrocken aufrichtend.

„Ich werde Ihrem Befehl nachkommen, gnädige Frau,“ entgegnete Elisabeth ruhig. Sie hatte bemerkt, wie bei den Worten der Baronin in Herrn von Walde’s Auge ein zorniger Blitz jäh aufgeflammt war, es hatte ausgesehen, als ob eine dunkle Wetterwolke über seine Stirn hinziehe; aber schon im nächsten Augenblick waren diese Zeugen innerer Bewegung einem unbeschreiblich sarkastischen Ausdruck gewichen.

„Wenn ich Ihnen rathen soll, Fräulein,“ wandte er sich an das junge Mädchen, „so wagen Sie sich nicht so ohne Weiteres in die Appartements der Frau Baronin – es geht um dort – ja, lächeln Sie nur, ich weiß das ganz genau. Böse Geister zeigen sich am hellen Tage, und ihr Thun und Treiben hat schon manches Unheil gestiftet… Kümmern Sie sich nicht weiter um die berührte Sache, mein Hausverwalter soll sie in Ordnung bringen; er ist zuverlässig und behandelt dergleichen Angelegenheiten mit so viel Tact, daß er darin selbst Damen beschämen könnte.“

Die Baronin rollte ihre Arbeit hastig zusammen und stand auf.

„Es wird gut sein, wenn ich für den Rest des Tages mein einsames Zimmer aufsuche,“ wendete sie sich mit zuckenden Lippen an Helene. „Es giebt Augenblicke, wo man mit den harmlosesten Absichten und Worten verstößt und sich zu seinem Schmerz mißverstanden sieht … Ich bitte also, mein Nichterscheinen beim Thee zu entschuldigen.“

Sie machte eine unceremonielle Verbeugung vor den Geschwistern, ergriff den Arm ihres Sohnes, der sehr verlegen aussah, und rauschte zur Thür hinaus.

Helene erhob sich mit Thränen in den Augen und wollte ihr nachgehen, aber ihr Bruder faßte mit sanftem Ernst ihre Hand und zog sie wieder neben sich auf das Sopha.

„Willst Du mir nicht wenigstens so lange Gesellschaft leisten, bis ich meinen Kaffee getrunken habe?“ fragte er freundlich und so unbefangen, als sei nicht das Mindeste vorgefallen.

„O ja, wenn Du es wünschest,“ antwortete sie zögernd und die Augen von ihm abwendend, „aber so leid es mir auch thut, muß ich Dich doch bitten, ein klein wenig zu eilen, denn Fräulein Ferber ist zur Stunde gekommen und hat schon ungebührlich lange warten müssen.“

„Nun, dann wollen wir gleich gehen, aber ich mache eine Bedingung, Helene.“

„Und die ist?“

„Daß ich zuhören darf.“

„Nein, nein, das geht wirklich nicht … Ich bin noch zu weit zurück, Deine Ohren würden die mangelhafte Stümperei nicht ertragen!“

„Armer Emil!… Er ahnt sicher nicht, daß er die Gunst, zuhören zu dürfen, seinen ungebildeten Ohren verdankt!“

Helene wurde dunkelroth. Sie hatte ihrem Bruder bisher nichts von Hollfeld’s Besuchen gesagt, aus leicht erklärlichen Gründen. Uebrigens war sie auch der Meinung gewesen, daß er darüber sehr gleichgültig denken würde, und nun legte er, wie es schien, Gewicht darauf. Sie kam sich vor wie eine ertappte Lügnerin und war im ersten Augenblick sprachlos. Elisabeth ahnte, was in ihr vorging; sie wurde mit ihr verlegen und fühlte, wie ihr plötzlich eine Purpurgluth in das Gesicht stieg. In diesem Moment wandte Herr von Walde den Kopf nach ihr; ein forschender, scharfer Blick flog über ihr Gesicht, und zugleich erschien eine finstere Falte zwischen seinen Augenbrauen.

„Spielt Fräulein Ferber auch ihre Phantasien in diesen sogenannten Uebungsstunden?“ fragte er, rascher als gewöhnlich, seine Schwester.

„O nein,“ entgegnete diese, froh ihre Fassung wieder gewonnen zu haben, „dann würde ich doch wahrhaftig nicht von Stümperei sprechen … Ich habe Emil auch nur den Zutritt gestattet, weil ich denke, man müsse die erwachende Liebe zur Musik pflegen, wo man sie finde.“

Ein leises Lächeln glitt über Herrn von Walde’s Gesicht, aber es war nicht jenes Lächeln, das neulich einen so eigenthümlichen Reiz für Elisabeth gehabt hatte. Die finstere Falte verschwand nicht, und auch sein Auge hatte etwas Düsteres, als er das junge Mädchen abermals durchdringend ansah.

„Du hast Recht, Helene,“ sagte er endlich kalt und nicht ohne einen Anflug von Spott. „Aber welcher Magnet muß in diesen musikalischen Uebungen liegen, daß solche Wunder geschehen! … Noch vor ganz kurzer Zeit hörte Emil das Gebell seiner Diana lieber, als die Beethoven’schen Sonaten.“

Helene schwieg und senkte die Augen.

„Da fällt mir eben die arme Miß Mertens ein,“ nahm ihr Bruder plötzlich in gänzlich verändertem Ton wieder das Wort. „Wäre es nicht zweckmäßig, wenn Fräulein Ferber vor Allem diese Angelegenheit in Ordnung brächte?“

„Ei freilich,“ entgegnete Helene, den Gedanken mit Hast ergreifend, denn er gab ja dem peinlichen Gespräch eine andere Wendung. „Wir wollen lieber die Stunde für heute streichen, damit Sie, liebes Kind,“ wendete sie sich an Elisabeth, „die nöthigen Schritte thun können … Gehen Sie also jetzt zu Ihren Eltern und bitten Sie auch in meinem Namen um Aufnahme der armen Miß.“

Elisabeth erhob sich. Zu gleicher Zeit stand auch Helene auf. Als ihr Bruder bemerkte, daß sie den Pavillon verlassen wollte, schlang er rasch seine Arme um die kleine Gestalt, hob sie wie eine Feder vom Boden auf und trug sie hinaus auf den Wagen, der vor der Thür stand. Nachdem er die Kissen stützend hinter ihrem Rücken geordnet und ihre kleinen Füße sorgsam mit einem Shawl bedeckt hatte, lüftete er den Hut leicht vor Elisabeth, wobei sie bemerken mußte, daß sich die Wolke zwischen den Brauen noch nicht verzogen hatte, und schob den Wagen auf den nächsten Weg, der nach dem Schlosse führte. –


10.

Die Eltern erklärten sich sofort mit Elisabeth’s Bitte und Vorschlag einverstanden, und diese eilte unverweilt wieder hinunter in’s Schloß, Miß Mertens im Namen der Eltern einzuladen, Als sie in das Zimmer der Erzieherin trat, lehnte diese mit gefalteten Händen an der Wand. Zu ihren Füßen stand ein halb gepackter Koffer, Schränke und Kommoden standen offen und die Stühle lagen voll Bücher, Kleidungsstücke und Wäsche. Das junge Mädchen eilte auf die Gouvernante zu, schloß sie in ihre Arme und hob das von Thränen überströmte Gesicht in die Höhe, aber unter den hellen Tropfen strahlte das Glück.

[150] „Ich bin durch die plötzliche Wendung meines Geschickes so überrascht,“ sagte Miß Mertens, nachdem Elisabeth ihren Glückwunsch ausgesprochen hatte, „daß ich für Momente meine Augen schließen muß, um mich zu sammeln … Heute Morgen war es dunkel über mir, und ich wußte buchstäblich nicht, wohin ich meine Schritte lenken sollte … der Boden wankte unter meinen Füßen … Und nun mitten in dieser Bedrängniß thut sich plötzlich eine Heimath vor mir auf. Ein Herz, das ich hochachte, dessen Neigung für die arme Gouvernante mir aber bis dahin völlig unbekannt geblieben war, will mir treu zur Seite stehen, und der heißeste Wunsch meines Lebens erfüllt sich, denn ich darf nun das gute, alte Mütterchen selbst hegen und pflegen … Was wird sie nur sagen, wenn sie die Nachricht erhält, sie, die mit der schmerzlichsten Mutterangst mich draußen wußte in Sturm und Wetter und mich doch nicht zurückrufen durfte an ihr Herz!“

Sie erzählte Elisabeth, daß Reinhard in einigen Wochen selbst nach England gehen und die Mutter holen werde. Sein Gebieter habe es so bestimmt und trage die Reisekosten. So oft Miß Mertens Herrn von Walde erwähnte, flossen ihre Augen über, und sie versicherte wiederholt, Alles, was die Baronin an ihr verschuldet, sei tausendfach ausgeglichen durch ihn, der es nicht ertragen könne, daß in seinem Hause irgend eine Ungerechtigkeit ungesühnt bleibe. Mit ihrer Einladung machte Elisabeth das Maß der Freude voll. Miß Mertens hatte für den ersten Augenblick in das kleine Lindhofer Gasthaus gehen wollen, bis sich ein Unterkommen im Dorfe selbst für sie finden würde.

„Nun wollen wir aber auch so bald wie möglich auf den Berg,“ rief sie freudestrahlend. „Die Baronin hat mir vorhin meinen Gehalt herübergeschickt und sich jegliche Annäherung meinerseits verbitten lassen … Bella ist durch mein Zimmer gegangen, ohne mich eines Blickes zu würdigen; das that wehe, schmerzlich wehe, denn ich habe sie gepflegt und behütet, wie meinen Augapfel. Sie war früher sehr kränklich, und während die Mutter die Hoffeste besuchte, saß ich daheim viele Nächte hindurch und bewachte die Fieberträume des Kindes … Nun, das soll Alles vergessen sein … Ich wollte eigentlich auch nur sagen, daß ich des Abschiedes von Beiden überhoben bin.“

Während Miß Mertens, um sich zu verabschieden, zu Fräulein von Walde und einigen Leuten im Hause ging, die sie lieb gewonnen hatte, packte Elisabeth ein. Die neue Bewohnerin von Gnadeck nahm nur das Nöthigste mit, alles Uebrige wurde hinab in die Wohnung des zukünftigen Ehepaares geschafft.

Es amüsirte Elisabeth, unten in einem Glasschrank – denn Herr von Walde hatte auch die ganze Einrichtung den künftigen Bewohnern zur Benützung überlassen – sämmtliche Bücher der Gouvernante aufzustellen. Das waren aber lauter Werke, die ihr Interesse lebhaft weckten; es blieb nicht beim Aufschlagen des Titels, sondern ganze Capitel wurden stehenden Fußes, bei offenen Thüren und Fenstern, in aller Eile durchflogen. Miß Mertens und ihr Umzug versanken, als ob sie nie dagewesen, da fiel über ihre Schulter herab eine frische Rose auf das Buch, in dem sie eben las. Elisabeth erschrak, aber gleich darauf lächelte sie und las um so eifriger weiter, mit einer leichten Wendung die Rose abschüttelnd. Miß Mertens, die ohne Zweifel hinter ihr stand, sollte den Triumph ihrer Neckerei nicht genießen … Plötzlich aber stieß sie einen leisen Schrei aus – eine schöngeformte, weiße Männerhand kam neben ihr zum Vorschein und legte sich sanft auf die ihre. Sie drehte sich um, nicht Miß Mertens, sondern Hollfeld stand hinter ihr und breitete lächelnd seine Arme aus, als wolle er die Erschrockene auffangen.

Sofort verwandelte sich ihr Schrecken in Zorn und Entrüstung, aber ehe sie noch ein Wort hervorbringen konnte, rief eine befehlende, rauhklingende Stimme in ihrer Nähe: „Emil, Du wirst im ganzen Hause gesucht. Dein Verwalter aus Odenberg hat Dir Dringendes mitzutheilen. Gehe hinüber!“

Neben Elisabeth befand sich das Fenster – es war offen. Draußen stand Herr von Walde und sah, beide Arme auf die Brüstung gestemmt, in das Zimmer herein. Er hatte die Worte gerufen, die den tödtlich erschrockenen Hollfeld wie eine Handvoll Spreu hinauswehten. Welcher Ausdruck voll Grimm lag in diesem Augenblick auf der unbedeckten Stirn, in den zusammengepreßten Lippen und dem funkelnden Auge, das noch eine Weile nach der Thür starrte, durch welche Hollfeld verschwunden war!

Endlich fiel sein Blick wieder auf Elisabeth, die bis dahin regungslos gestanden hatte, jetzt aber, von ihrem zwiefachen Schrecken sich erholend, eine Bewegung machte, als wolle sie in den Hintergrund des Zimmers zurücktreten.

„Was thun sie hier?“ fragte er barsch; seine Stimme hatte genau den rauhen Klang wie zuvor. Das junge Mädchen fühlte sich tief verletzt durch die Art und Weise der Anrede, und war im Begriff, trotzig zu antworten, als sie bedachte, daß sie ja auf seinem Grund und Boden stehe; deshalb erwiderte sie ruhig:

„Ich ordne Miß Mertens’ Bücher.“

„Sie hatten eine andere Antwort auf den Lippen – ich sah es und will sie wissen.“

„Nun denn – ich wollte sagen, daß ich auf eine so ungewöhnliche Art zu fragen keine Antwort habe.“

„Und warum unterdrückten Sie diese – Zurechtweisung?“

„Weil mir einfiel, daß Sie hier das Recht haben, zu befehlen.“

„Es ist lobenswerth, daß Sie dies einsehen; denn ich bin gesonnen, dieses mein gutes Recht gerade in diesem Augenblick voll zur Geltung zu bringen – zertreten Sie die Rose, die da so schmachtend zu Ihren Füßen liegt.“

„Das werde ich nicht thun – denn sie hat nichts verschuldet.“

Sie hob die Rose, eine schöne, halbgeöffnete Centifolie, vom Boden auf und legte sie auf den Fenstersims. Herr von Walde ergriff die Blume und warf sie ohne Weiteres hinüber auf den Rasenplatz.

„Dort stirbt sie einen poetischen Tod,“ sagte er ironisch, „die Grashalme decken sie zu, und Abends kömmt ein mitleidiger Thau und weint seine Thränen auf die arme Geopferte.“

Die Spannung in seinen Zügen hatte nachgelassen, aber sein Auge hatte noch denselben Inquisitorenblick wie zuvor, und auch sein Ton klang nicht viel milder, als er fragte:

„Was lasen Sie eben, als ich das Unglück hatte, zu stören?“

Goethe’s ‚Wahrheit und Dichtung‘.“

„Kennen Sie das Buch?“

„Nur einzelne Auszüge.“

„Nun, wie gefällt Ihnen die rührende Geschichte vom Gretchen?“

„Ich kenne sie nicht.“

„Sie halten Sie ja gerade aufgeschlagen in den Händen.“

„Nein, ich las die Krönung Joseph’s des Zweiten in Frankfurt.“

„Zeigen Sie her.“

Sie gab ihm das aufgeschlagene Buch.

„Wahrhaftig! … Aber sehen Sie doch, wie abscheulich das ist! gerade hier, wo Goethe den Kaiser die Römerstiege hinaufschreiten läßt, ist ein häßlicher, saftgrüner Fleck… Sie haben ohne Zweifel die Rosenblätter zu innig darauf gedrückt, das werden der Kaiser, Goethe und Miß Mertens Ihnen sicher nicht verzeihen.“

„Der Fleck ist alt, ich habe die Rose gar nicht berührt.“

„Aber Sie haben gelächelt bei ihrem Anblick.“

„Weil ich glaubte, sie sei von Miß Mertens.“

„Ach, diese Freundschaft hat etwas Rührendes! … es war jedenfalls eine Enttäuschung für Sie, als Sie statt der Freundin das schöne Gesicht meines Vetters hinter sich sahen?“

„Ja.“

„‚Ja‘ – wie das nun klingt! … Ich liebe die lakonische Kürze; aber sie darf mich nicht in Zweifel lassen … Was soll ich nun mit diesem ‚Ja‘ anfangen? Es klingt weder süß, noch bitter, und dazu Ihr Gesicht! … Warum haben Sie plötzlich eine trotzige Falte zwischen den Augen?“

„Weil ich denke, jedes Recht habe seine Grenzen.“

„Ich wüßte nicht, daß ich in diesem Augenblick von meinem Recht Gebrauch gemacht hätte.“

„Das wird Ihnen gewiß klar werden, wenn Sie sich die Frage stellen, ob Sie mir in meines Vaters Hause in so rauher Weise begegnen würden.“

Eine tiefe Blässe flog über Herrn von Walde’s Gesicht. Er preßte die Lippen aufeinander und trat einen Schritt zurück. Elisabeth nahm das Buch, das er auf den Fenstersims gelegt hatte und ging nach dem Bücherschrank, um ihn zu schließen.

„Ich würde unter den gleichen Verhältnissen in Ihres Vaters Hause ganz ebenso gesprochen haben, sagte er nach einer Weile etwas ruhiger und wieder näher an das Fenster herantretend. „Sie haben mich ungeduldig gemacht, warum antworten Sie so [151] unbestimmt … Wie soll ich nach der einzigen Silbe wissen, ob jene Enttäuschung eine unangenehme war, oder eine willkommene? … Nun? …“

Er bog sich weit in das Fenster herein und sah starr in ihr Gesicht, als wolle er eine Antwort von ihren Lippen ablesen; aber sie wendete sich entrüstet ab … Abscheulich! wie war es nur möglich zu denken, daß Hollfeld ihr je willkommen sein könne! Mußte nicht ihr Gesicht, ihr ganzes Wesen dem verhaßten Menschen gegenüber stets und immer ihre tiefste Abneigung beweisen?

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 11, S. 161–166
Fortsetzungsroman – Teil 10


[161] In diesem Augenblick, als Herr von Walde durch das Fenster herein Elisabeth scharf fixirte, trat Miß Mertens in das Zimmer, um das junge Mädchen abzuholen; sie war mit Allem fertig und vollständig gerüstet, das Haus zu verlassen. Elisabeth eilte aufathmend ihr entgegen, während Herr von Walde das Fenster verließ und draußen einigemal auf- und abschritt. Als er wieder näher trat, verbeugte sich Miß Mertens tief und ging freudig auf ihn zu. Sie sagte ihm, daß sie heute schon mehrere Mal bei ihm vergeblich Zutritt gesucht habe, und sich nun sehr freue, ihm doch noch ihren Dank aussprechen zu dürfen für alle seine Güte und Fürsorge.

Er winkte abwehrend mit der Hand und wünschte ihr dann Glück zu ihrer Verlobung. Er sprach sehr ruhig. Wie durch einen Zauberschlag hatte sich plötzlich seine ganze Erscheinung wieder mit dem Nimbus der Hoheit und Unnahbarkeit umgeben, so daß Elisabeth nicht mehr begriff, wo sie den Muth hergenommen hatte, diesen Mann auf die Gesetze der allgemeinen Höflichkeit zurückzuführen … Die vorhin so leidenschaftlich flammenden Augen ruhten jetzt ernst auf Miß Mertens’ Gesicht. Der weiche, tiefe Klang seines Organs ließ nicht mehr ahnen, daß er sich noch vor wenig Augenblicken in beißender Ironie verschärft hatte, daß jedes seiner Worte ein Ausdruck der tiefsten Gereiztheit gewesen war und geklungen hatte, als solle es rächen und verwunden.

Herr von Walde war mit Bitterkeit gegen seinen Vetter erfüllt, das hatte Elisabeth ja heute schon einmal bemerkt. Warum aber mußte sie es büßen, wenn ihm der Verhaßte vor die Augen kam? … War sie nicht schon beleidigt genug gewesen durch Hollfeld’s abermalige Zudringlichkeit? … Und nun wurde sie auch noch das Opfer einer Entrüstung, an der doch nur Helene die Hauptschuld trug … Ein stechender Schmerz durchzuckte sie, als sie sich erinnerte, wie zärtlich und verzeihend Herr von Walde die Schwester in seine Arme genommen hatte, wie auch nicht ein Blick des Vorwurfs auf sie selbst gefallen war bei Erwähnung der Hollfeld’schen Besuche … sie, die arme Clavierspielerin, die nothgedrungen Hollfeld’s Anwesenheit mit dulden mußte, wurde nun zum Blitzableiter des brüderlichen Zornes … Oder hatte er mit angesehen, wie Hollfeld ihr die Rose auf das Buch warf, und war in seinem aristokratischen Stolz tief beleidigt, daß sein Vetter einem bürgerlichen Mädchen in der Weise huldige? … Dieser Gedanke kam Elisabeth wie ein erleuchtender Blitz … Ja, ganz gewiß, so nur konnte sie sich sein Benehmen erklären … Sie sollte die arme Blume zertreten und mit ihr den Beweis vernichten, daß Herr von Hollfeld einen Augenblick seine hohe Abkunft vergessen hatte. Darum wurde so plötzlich in rauhem, befehlendem Ton zu ihr gesprochen, in einem Ton, welchen sicher nur diejenigen an ihm kannten, die ein Vergehen zu büßen hatten; und darum auch sollte sie durchaus sagen, welchen Eindruck ihr Hollfeld’s plötzliches Erscheinen gemacht habe … In diesem Augenblick hätte sie nun hintreten und ihm unumwunden erklären mögen, wie verhaßt ihr sein hochgeborener Vetter sei, daß sie sich durchaus nicht geehrt fühle durch dessen Aufmerksamkeiten, sondern dieselben stets als eine ihr widerfahrene Schmach ansehe. Allein es war zu spät. Herr von Walde sprach mit Miß Mertens über Reinhard’s Reise nach England so ruhig und eingehend, daß es geradezu lächerlich gewesen sein würde, mitten hinein den Faden des vorigen stürmischen Gesprächs wieder aufzunehmen. Auch fiel nicht ein Blick seines Auges mehr auf sie, obgleich sie ziemlich nahe bei Miß Mertens stand.

„Ich bin eigentlich halb und halb entschlossen, die Reise selbst mitzumachen,“ sagte er schließlich zu der Gouvernante. „Reinhard soll mit Ihrer Frau Mutter zurückkehren, denn ich will Lindhof von nun an ganz unter seine Aufsicht stellen; ich aber bleibe den Winter über in London, gehe im Frühjahr nach Schottland.…“

„Und kehren dann Jahre lang nicht wieder heim,“ unterbrach ihn Miß Mertens erschrocken und betrübt zugleich. „Hat denn Thüringen ganz und gar keine Anziehungskraft für Sie?“

„O ja, aber ich leide hier, und Sie werden wissen, daß oft ein herzhafter Schnitt eine Wunde rasch und glücklich heilt, während sie unter einer allzu nachsichtigen, feigen Behandlung gefährlich werden kann … Ich hoffe viel von der schottischen Luft für mich.“

Die letzten Worte hatte er in einem Ton gesprochen, der scherzhaft sein sollte, allein der gewisse Zug zwischen den Augenbrauen trat schärfer hervor, denn je, und ließ Elisabeth seine heitere Stimmung sehr bezweifeln.

Er reichte darauf Miß Mertens die Hand und schritt langsam den Kiesweg hinab, wo er bald hinter einem Bosket verschwand.

„Da haben wir’s nun,“ sagte die Gouvernante traurig. „Statt daß er uns, wie ich im Stillen hoffte, eine schöne, junge Frau nach Lindhof bringt, zieht er wieder hinaus in die weite Welt und läßt in Jahr und Tag nichts wieder von sich hören noch sehen … Es ist etwas Ruheloses in ihm; kein Wunder, wenn man die unerquicklichen hiesigen Verhältnisse bedenkt … Die Baronin Lessen ist ihm ein Gräuel, und doch ist er gezwungen, an seinem eigenen Heerde stündlich mit ihr zu verkehren, denn [162] die Schwester, die er zärtlich liebt, hat ihm ja erklärt, daß sie im Umgang mit dieser Frau das Herbe und Freudenlose ihres Daseins vergißt. Auch sein Vetter ist ihm ein ungebetener Gast ... Herr von Walde ist eine viel zu gerade Natur, als daß es ihm glücken sollte, seine Abneigung zu verbergen, und doch sind diese Menschen wie von Stahl und Eisen; die wenig rücksichtsvolle Behandlung des Hausherrn gleitet vollständig an ihnen ab, sie haben weder Augen, noch Ohren, wenn er auf eine Trennung hindeutet. Und Herr von Hollfeld, nun, der ist in meinen Augen ein ganz erbärmlicher Mensch; ich begreife heute noch nicht, wie er Fräulein von Walde’s Herz gewinnen konnte.“

„Also wissen Sie das auch?“ fragte Elisabeth.

„Ach, Kindchen, das ist ja längst ein öffentliches Geheimniß … Sie liebt ihn so tief und hingebend, wie ein Weib nur lieben kann. Diese unselige Neigung aber, in der sie jetzt lebt und athmet wie im Sonnenlicht, sie wird dereinst den düstersten Schatten werfen auf das Leben der ohnehin so schwer Heimgesuchten… Dies ganze traurige Verhältniß und seine Zukunft durchschaut und ahnt Herr von Walde, aber da er seiner Schwester nicht die Augen öffnen kann, ohne sie tödtlich zu verwunden, so bringt er seiner brüderlichen Zärtlichkeit die schwersten Opfer und geht lieber, da ihm der Aufenthalt in seinem eigenen Hause zu unerträglich wird.“

Während dieses Gesprächs hatten Miß Mertens und Elisabeth längst das Schloß verlassen und stiegen bergauf. Bald stieß Reinhard zu ihnen, der einen Gang nach dem Dorfe gemacht hatte. Miß Mertens erzählte ihm das Zusammentreffen mit Herrn von Walde und seine letzten Aeußerungen bezüglich seiner Reise.

„Gesagt hat er mir noch nichts,“ meinte Reinhard, „aber er sah vorhin gerade so aus, als möchte er am liebsten auf der Stelle Lindhof verlassen … Schöne Wirthschaft das! .… Der Herr des Hauses ist das fünfte Rad am Wagen in seinem Verwandtenkreise, er muß die Sippschaft ernähren, und als Dank dafür machen sie ihm das Herz der Schwester abspenstig … Herr Gott, steckte ich doch nur zwei Tage in seinen Schuhen, ich wollte den unsaubern Geist austreiben, daß auch nicht eine Spur übrig bliebe! … Uebrigens hoffe ich, daß Herr von Hollfeld wenigstens wieder auf einige Tage nach Odenberg geht. Sein Verwalter hat soeben die Nachricht gebracht, daß die Wirthschafterin ihm plötzlich auf und davongegangen ist; es bleibt Keine, der saubere gnädige Herr ist zu geizig … Es sollen auch noch andere Unannehmlichkeiten drüben vorgefallen sein.“

Burg Gnadeck war erreicht und der Gast wurde von Ferbers sehr herzlich begrüßt. Wie heimlich und traut umfing Miß Mertens’ Stübchen die neue Bewohnerin! Es blinkte in Sauberkeit; auf Bett und Tisch lagen frische, weiße Decken, eine hübsche Schwarzwälder Uhr tickte leise neben dem zierlich geordneten Schreibtisch, und einige Reseden- und Rosenstöcke auf dem Fenstersims hauchten ihren Duft durch den kleinen Raum. Durch die offene Thür sah man in das Wohnzimmer der Familie. Dort auf dem gedeckten Tisch entzündete Elisabeth die Spiritusflamme in der Theemaschine, während Miß Mertens rasch ihre wenigen Habseligkeiten in Kommode und Schrank einräumte.

Unterdeß hatte sich auch der Onkel in Begleitung Hector’s und der langen Pfeife eingefunden. Auch Reinhard blieb da, und so saß bald eine fröhliche Gesellschaft zusammen. Der Oberförster war sehr rosiger Laune. Elisabeth saß neben ihm. Sie bemühte sich aus allen Kräften, auf seine Neckereien einzugehen, aber noch nie war es ihr so schwer geworden, und er, der ein sehr feines Ohr für die leiseste Modulation ihrer Stimme hatte, bemerkte das sehr bald.

„Holla, Goldelse, was ist mit Dir?“ rief er plötzlich, „da ist etwas nicht in Ordnung.“ Er faßte sie am Kinn und sah ihr in die Augen. „Richtig, hast einen Schleier über den Augen und auf der Seele! … Potztausend, Du siehst ja auf einmal ganz anders aus! … Was soll’s mit dem trübseligen Nonnengesicht da?“

Elisabeth wurde feuerroth unter seinem forschenden Blick. Sie bot Alles auf, um durch munteren Scherz einer strengen Beichte zu entgehen, allein es gelang ihr sehr schlecht, und zuletzt blieb ihr nichts übrig, als sich an das Clavier zu setzen, dort neckte und störte er sie ja nie.

Wie wohl that es ihrem gepreßten Herzen, als es aufgehen durfte in vollen, rauschenden Accorden, als die Töne schmerzlich hinausklangen in die beginnende Abenddämmerung, ein Echo jenes tiefen Wehes, das sie erfüllte, seit sie wußte, daß Herr von Walde Thüringen wieder verlassen wollte … Vorbei war es mit jenem Grübeln und Sinnen, jenem Haschen nach dem unklaren, fremdartigen Etwas, das plötzlich wie ein liebliches Räthsel zwischen ihren Tongedanken aufgetaucht war! Es sprach jetzt mit eigener, fester Stimme, in gewaltigen Klängen, vor denen das einstige, harmlose Saitenspiel ihres Inneren zu einem unhörbaren Säuseln erstarb … Der Schleier, unter dem ihre Seele in glücklicher Unwissenheit bis dahin gelegen, war zerrissen, sie erkannte mit Lust und unsäglichem Schmerz, daß – sie liebte.

Wie lange sie gespielt hatte, sie wußte es nicht. Aber sie erwachte jäh aus dem gänzlichen Vergessen der Außenwelt, als ein Lichtstrom aus dem Wohnzimmer herüberquoll und grell über Beethoven’s bleiche Büste floß. Die Mutter hatte die große Lampe angezündet, und Elisabeth sah jetzt, daß der Onkel neben ihr im Fenster saß; er mußte sehr geräuschlos eingetreten sein. Als ihre Hände von den Tasten herabglitten, strich er leise mit, der Hand über ihr Haar.

„Siehst Du, Kind,“ sagte er endlich mit bewegter Stimme, nachdem das letzte Vibriren der Saiten verhallt war, „wenn ich nicht schon gemerkt hätte, daß etwas ganz Absonderliches in Dir vorgeht, so wüßte ich’s jetzt durch Dein Spiel; das waren ja Thränen, nichts als Thränen!“


11.

Mit Miß Mertens’ Einzug in der alten Burg hatte sich das Ferber’sche Familienleben womöglich noch freundlicher gestaltet als bisher. Die Gouvernante fühlte sich seit langer, trostloser Zeit zum ersten Male wieder heimisch angeweht und von Liebe umgeben. Ihr warmes Fühlen, bis dahin ängstlich bewacht und zurückgehalten, brach jetzt hervor und ließ sie im Verein mit ihrem reichen Wissen höchst liebenswürdig erscheinen. Sie trachtete sich nützlich zu machen, wo sie konnte. Namentlich beschäftigte sie sich viel mit dem kleinen Ernst, der unter ihrer Anleitung eifrig englische und französische Vocabeln lernen mußte; auch Elisabeth suchte von dem Aufenthalt der Miß Mertens auf Gnadeck so viel Vortheil wie möglich zu ziehen. Sie studirte emsig, denn das war ja die beste Abwehr für alle trübe Grübelei.

Die Uebungsstunden bei Fräulein von Walde hatten mittlerweile ihren regelmäßigen Fortgang. Hollfeld, der nur auf einen Tag nach Odenberg gegangen war, kam nach wie vor als eifriger Zuhörer und bot Alles auf, einen Moment des Alleinseins mit Elisabeth zu gewinnen. Er hatte es schon einigemal so schlau einzurichten gewußt, daß Helene während der Pause aufgestanden war, um irgend einen besprochenen oder von ihm gewünschten Gegenstand in einem anderen Zimmer zu holen; allein er erreichte seinen Zweck nicht, denn Elisabeth ging zugleich hinaus und ließ sich von dem Bedienten ein Glas Wasser geben. An ein Begegnen auf dem Nachhauseweg durfte er auch nicht denken, da Miß Mertens regelmäßig mit Ernst kam, um das junge Mädchen abzuholen .… Dieses stete Vereiteln seiner Wünsche machte ihn endlich ungeduldig und rücksichtsloser. Die Hand fiel von dem Gesicht, er trug seine Leidenschaft unverhohlen zur Schau, und nur ihrer Kurzsichtigkeit verdankte es Helene, daß ihr eine schmerzvolle Entdeckung vor der Hand noch erspart blieb … So wurden Elisabeth die Gänge in’s Schloß, immer peinlicher, und sie dankte Gott, als endlich das beabsichtigte Fest heranrückte, denn mit ihm hörten dann wenigstens die täglichen Uebungsstunden auf.

Es war am Tage vor dem Geburtsfest des Herrn von Walde, als Reinhard Nachmittags bei einem Besuch auf Gnadeck erzählte, daß bereits ein Gast unten im Schlosse angekommen sei.

„Der Flederwisch hat uns noch gefehlt!“ meinte er ärgerlich.

„Wer ist denn das?“ fragten lachend Frau Ferber und Miß Mertens zugleich.

„Ach, eine sogenannte Freundin von Fräulein von Walde, eine Hofdame aus L. Sie will beim Arrangement des Festes helfen; gnade Gott den armen Leuten, die kehrt das Unterste zum Obersten!“

„Ah, Fräulein von Quittelsdorf!“ rief Miß Mertens noch immer lachend. „Nun ja, die hat allerdings Quecksilber in den Adern, sie ist entsetzlich oberflächlich, aber von Herzen nicht böse.“

Später ging Elisabeth in Reinhard’s Begleitung hinunter nach Lindhof. Als sie in die Nähe des Schlosses kamen, wurde gerade Herrn von Walde’s Reitpferd an die große Freitreppe inmitten [163] der südlichen Fronte geführt. Gleich darauf trat er selbst aus der Glasthür, mit der Reitpeitsche in der Hand, und stieg die Stufen hinab … Elisabeth hatte ihn nicht wieder gesehen seit jenem Nachmittag, wo er ihr so rauh und rücksichtslos begegnet war; er erschien ihr auffallend bleich und finster.

In dem Augenblick, als er sich auf das Pferd schwang, erschien eine junge Dame in weißem Kleide auf der Treppe. Sie war sehr hübsch und eilte mit graziöser Leichtigkeit hinunter, um das Pferd auf den Hals zu klopfen und ihm ein Stück Zucker zu reichen.

Fräulein von Walde, die an Hollfeld’s Arm mit ihr zugleich herausgetreten war, blieb oben stehen und winkte ihrem Bruder grüßend mit der Hand zu.

„Die junge Dame ist Fräulein von Quittelsdorf?“ fragte Elisabeth.

Reinhard bejahte mit einem mißvergnügtem Gesicht.

„Ihre äußere Erscheinung gefällt mir,“ meinte das junge Mädchen. „Herr von Walde scheint sich gern mit ihr zu unterhalten,“ fügte sie leise hinzu. Der Reiter bog sich in diesem Augenblick vom Pferd herab und schien nachdenklich auf das zu hören, was ihm die junge Dame vorplauderte.

„Je nun, er will nicht grob sein und läßt sich das Geschwätz einen Moment gefallen,“ sagte Reinhard weiterschreitend. „Die spricht das Blaue vom Himmel herunter und ist im Stande, dem Pferd in die Zügel zu fallen, wenn er davon will, ehe sie mit ihrem Capitel fertig ist.“

Inzwischen waren sie in das Vestibüle getreten. Elisabeth verabschiedete sich hier von Reinhard und begab sich hinauf in das Musikzimmer, wo sich alsbald auch Fräulein von Walde und Hollfeld einfanden. Erstere ging noch einmal in ihr Ankleidezimmer, um ihre ein wenig derangirten Locken in Ordnung bringen zu lassen; diesen Moment benutzte Hollfeld und trat eilig auf Elisabeth zu, die sich in die Fensternische zurückgezogen hatte und in einem Notenheft blätterte.

„Wir wurden neulich abscheulicher Weise gestört,“ flüsterte er.

„Wir?“ fragte sie ernst und mit Nachdruck und trat einen Schritt zurück. „Ich hatte allerdings Ursache, mich über Störung zu beklagen, und muß gestehen, daß ich sehr entrüstet war, meine Lectüre unterbrochen zu sehen.“

„Ah, jeder Zoll eine Fürstin!“ rief er scherzhaft, aber mit unterdrückter Stimme. „Ich habe übrigens durchaus nicht beabsichtigt, Sie zu beleidigen, im Gegentheil, wissen Sie nicht, was die Rose sagt?“

„Gewiß, sie hat sicher gemeint, es sei tausendmal schöner, am Zweig zu sterben, als zu einem so unnützen Zweck abgerissen zu werden.“

„Grausame! … Sie sind hart wie Marmor … Ahnen Sie denn gar nicht, was mich täglich hierher zieht?“

„Ohne Zweifel die Bewunderung für unsere großen Tonmeister.“

„Sie irren sich.“

„Dann jedenfalls zu Ihrem Vortheil.“

„O nein, denn damit käme ich um keinen Schritt weiter. Die Musik ist für mich lediglich die Brücke –“

„Von der Sie sehr leicht in’s kalte Wasser fallen dürften.“

„Und würden Sie mich untergehen lassen?“

„Ja, ganz sicher … Ich bin nicht ehrgeizig genug, um mir die Rettungsmedaille verdienen zu wollen,“ antwortete Elisabeth trocken.

Fräulein von Walde kam zurück. Sie schien verwundert, die Beiden im Gespräch zu finden, denn bis dahin war ja noch nie ein Wort zwischen ihnen gewechselt worden. Ihr Blick streifte prüfend über Hollfeld’s Gesicht, das den Ausdruck eines lebhaften Verdrusses noch nicht ganz zu unterdrücken vermochte, dann setzte sie sich schweigend an das Clavier und präludirte, während Elisabeth die Noten zusammensuchte. Hollfeld nahm seinen gewöhnlichen Platz ein und stützte melancholisch den Kopf auf die Hand. Noch nie aber hatten seine Blicke so glühend und verzehrend auf Elisabeth geruht, als in diesem Augenblick. Sie bereute, sich in ein Gespräch mit ihm eingelassen zu haben; ihr Bestreben, ihn durch Kälte und Schroffheit zurückzuweisen, schien eine ganz entgegengesetzte Wirkung gehabt zu haben. Furcht und Widerwillen bemächtigten sich ihrer beim Anblick seiner auffallend erregten Gesichtszüge, und obgleich das triumphirende Lächeln des Onkels vor ihr aufstieg, gewann doch der Entschluß, lieber den Stunden zu entsagen, als sich noch länger diesen unverschämten Blicken auszusetzen, immer mehr Boden in ihrer empörten Seele.

Die Stunde nahte ihrem Ende, als in Begleitung von Fräulein von Quittelsdorf die Baronin eintrat und auf Elisabeth zuschritt.

„Fräulein von Walde wird Ihnen wohl noch nicht mitgetheilt haben,“ sagte sie in ziemlich gnädigem Ton zu dem jungen Mädchen, „daß sich alle Geladenen zu dem Fest morgen um vier Uhr unten im großen Saal einfinden werden? ich bitte, die Stunde ja nicht zu versäumen. Das Concert wird jedenfalls gegen sechs Uhr zu Ende sein; ich bemerke Ihnen dies nur, damit die Ihrigen Sie nicht früher zu Hause erwarten.“

Helene sah bei diesen Worten verlegen auf die Tasten, während Fräulein von Quittelsdorf sich neben die Baronin postirte und Elisabeth neugierig in’s Gesicht starrte. So hübsch auch die schwarzen Augen waren, die auf ihr ruhten, so fühlte sich das junge Mädchen doch verletzt durch dies unausgesetzte Fixiren. Sie verbeugte sich leicht vor der Baronin mit der Versicherung, daß sie sich pünktlich einfinden werde, und heftete dann einen festen, ernsten Blick auf die hübsche Zudringliche. Die Wirkung war eine blitzschnelle. Fräulein von Quittelsdorf wandte den Kopf weg und drehte sich verlegen und wie ein ungezogenes Kind auf dem Absatz herum. In demselben Augenblick entdeckte sie Herrn von Hollfeld in der Fensternische.

„Wie, Hollfeld,“ rief sie, „sind Sie es selbst oder ist’s Ihr Geist? Was thun Sie hier?“

„Ich höre zu, wie Sie sehen.“

„Sie hören zu? … Ha, ha, ha! … Und genießen Unverdaulichkeiten wie Mozart und Beethoven? … Wissen Sie nicht mehr, daß Sie mir noch vor vier Wochen beim letzten Hofconcert versichert haben, Sie litten jedes Mal nach dem Genuß classischer Musik an verdorbenem Magen?“

Sie hielt sich die Seiten vor Lachen.

„Ach, lassen Sie jetzt die Possen, beste Cornelie,“ sagte die Baronin, „und helfen Sie mir lieber mit Ihrem erfinderischen Geist beim Festprogramm… Und auch Du, lieber Emil, würdest mir einen großen Gefallen thun, wenn Du mitkommen wolltest. … Du weißt ja, ich bin jetzt in die traurige Nothwendigkeit versetzt, eine männliche Stütze neben mir haben zu müssen, wenn meine Anordnungen respectirt werden sollen.“

Hollfeld erhob sich mit sichtlichem Widerstreben.

„Nun, dann nehmt mich auch mit! … Wollt Ihr so grausam sein, mich die ganze, lange Zeit bis zum Thee allein zu lassen?“ rief Helene vorwurfsvoll und stand auf. Sie sah verstimmt aus, und es kam Elisabeth zum ersten Mal so vor, als hafte ihr Blick neidisch auf Corneliens flinken Füßen, die ohne Weiteres Hollfeld’s Arm genommen hatte und zur Thür hinaushüpfte. Elisabeth machte den Flügel zu und wurde eiligst entlassen.

In den Gängen des Schlosses, die das junge Mädchen passiren mußte, herrschte reges Leben. Mehrere Bediente schleppten Körbe voll Silberzeug und Porcellan in ein Zimmer neben den großen Saal. Aus den Küchenfenstern im Souterrain quollen Duftströme aller möglichen gebackenen und gebratenen guten Dinge, und in einem offenstehenden Domestikenzimmer lagen ganze Berge grünen Laubwerks und bereits fertiger Guirlanden und Kränze.

Und er, zu dessen Verherrlichung sich Aller Hände heute rührten und regten, er ritt einsam draußen, mit umdüsterter Seele auf Mittel und Wege sinnend, wie er dem fried- und freudelosen Leben in seinem Hause entfliehen könne!

Elisabeth ging hinüber in das Dorf, um einen Auftrag ihres Vaters auszurichten. Vor einigen Tagen nämlich hatte ein heftiger nächtlicher Gewittersturm dem baufälligen Erker im Garten wieder dergestalt zugesetzt, daß man fürchten mußte, er werde bei der leisesten Erschütterung zusammenstürzen und die ihm naheliegenden, kaum erst mit so großer Mühe hergestellten Gartenanlagen mit seinen Trümmern zerstören. Zwei Lindhofer Maurer hatten endlich Ferber versprochen, die Ruine nächsten Montag abzutragen; da ihnen aber in Bezug auf das Worthalten nicht zu trauen war, wie der Oberförster nach gemachter Erfahrung versicherte, so sollte Elisabeth sie nochmals an ihre Zusage erinnern und ihnen die Nothwendigkeit ihres Kommens vorstellen.

Das Resultat ihrer Wanderung war ein befriedigendes. Einer [164] der Arbeiter hatte ihr sogar bei Allem, was ihm heilig und theuer, geschworen, zu kommen, und nun schritt sie durch den stillen, einsamen Wald nach Hause. Ungefähr in der Mitte des Pfades, der vom Dorf nach dem Forsthause lief, bahnte sich ein schmaler, nach der Burg Gnadeck aufwärts führender Weg ab. Er wurde selten betreten und wäre deshalb für ein fremdes Auge gar nicht sichtbar gewesen, denn an vielen Stellen überwucherte ihn das Gestrüpp, und das modernde Laub lag so locker aufgeschichtet zwischen den knorrigen Baumwurzeln, als sei es noch nie von der Sohle eines Menschen berührt worden. Elisabeth liebte diesen Pfad und wählte auch jetzt ihn zum Rückwege.

Noch nie war ihr hier ein menschliches Wesen begegnet; heute aber war sie noch nicht weit in die grüne Dämmerung vorgedrungen, als sie die Bemerkung machte, daß ungefähr zwanzig Schritte vor ihr, und zwar rechts, drunten am Abhange, neben dem Stamm einer mächtigen Buche, etwas wie ein Arm sich langsam vorwärts strecke und dann wieder zurücksinke. Sie konnte diese Bewegung um so deutlicher erkennen, als an jener Stelle die Bäume weiter auseinander traten und eine kleine Lichtung begrenzten, deren grüner, heller Rasenfleck wie eine Oase mitten im Waldesdüster lag. Elisabeth schritt unhörbar und langsam weiter und kam dadurch immer näher in das Bereich jener Buche, bis sie plötzlich erschrocken stehen blieb.

An dem Baume lehnte ein Mann. Er kehrte ihr den Rücken zu; sein Haupt war unbedeckt und zeigte einen Wust ungekämmter, struppiger Haare. Einen Augenblick stand er unbeweglich, als lausche er auf irgend ein Geräusch; dann trat er einen Schritt vor, hob den ausgestreckten, rechten Arm in die Höhe, richtete die Mündung einer Pistole hinaus nach der Waldblöße, als wolle er auf einen gegenüberstehenden Baum schießen und ließ nach einer Weile den Arm niedersinken.

„Er übt sich,“ dachte Elisabeth, aber sie dachte es nur, um sich zu beruhigen, denn eine unbeschreibliche Angst hatte sich ihrer plötzlich bemächtigt; sie wußte nicht, sollte sie vor- oder rückwärts laufen, um von dem Unheimlichen nicht bemerkt zu werden, und blieb deshalb gerade wie festgewurzelt stehen.

Da schlug Pferdegetrappel an ihr Ohr. Der Mann drüben richtete sich wie elektrisirt in die Höhe. Wenige Augenblicke darauf erschien jenseits der Lichtung ein Reiter. Der Mann mit der Pistole trat rasch zwei Schritte vor, hob den Arm in der Richtung des Reiters und wandte dabei den Kopf etwas seitwärts… Elisabeth erkannte sofort in den todtblassen, von Haß und Grimm entstellten Zügen den ehemaligen Verwalter Linke, und Jener dort, den sein Pferd immer näher vor die Mündung der todbringenden Waffe trug, war Herr von Walde… In diesem Augenblick ging eine merkwürdige Verwandlung in Elisabeth vor. Hatte sie noch eben mädchenhaft ängstlich vor der Begegnung mit jenem unheimlichen Menschen gezittert, so überkam sie jetzt ein wunderbarer Muth, eine unbegreifliche Ruhe und Beherrschung ihrer selbst in dem Gedanken, daß sie berufen sei, zu retten… Lautlos glitt sie vorwärts und stand plötzlich, wie aus der Erde gewachsen neben Linke, der, das Auge gespannt auf sein Opfer richtend ihre Nähe nicht ahnte… Mit aller Kraft, deren sie fähig packte sie seinen Vorderarm und riß ihn zurück. Die Pistole entlud sich mit einem lauten Knall und die Kugel schlug zischend seitwärts in einen Baum, während der Elende entsetzt zur Erde taumelte. Zu gleicher Zeit scholl ein lauter weiblicher Hülferuf durch den Wald… Der Mörder richtete sich auf und floh in das Gestrüpp… Drüben bäumte sich das Pferd im ersten Schrecken, dann aber flog es, von seinem Herrn angetrieben, über die Wiese und stand mit einigen Sätzen nahe bei Elisabeth, die sich todtenbleich an der Buche festhielt, denn nun, nachdem die Gefahr vorüber, machte die weibliche Natur ihr Recht geltend. Das junge Mädchen zitterte am ganzen Körper, aber ein glückliches Lächeln verklärte ihr blasses Gesicht, als sie Herrn von Walde gerettet vor sich sah.

Er sprang bei ihrem Erblicken bestürzt vom Pferde; sie aber, die eben noch eine so außerordentliche Selbstbeherrschung an den Tag gelegt, stieß einen leisen Schrei aus und drehte sich tödtlich erschrocken um, als sich von rückwärts zwei Arme um ihre Schultern legten; sie blickte in Miß Mertens’ tief erregte Züge.

„Um Gotteswillen, Elisabeth,“ rief die Gouvernante athemlos, „was haben Sie gethan, er konnte Sie ermorden!“

Herr von Walde drang durch den Rest von Gestrüpp, der ihn von den Beiden trennte.

„Sind Sie verletzt?“ fragte er rasch und heftig Elisabeth.

Sie schüttelte mit dem Kopfe. Ohne ein Wort weiter zu sagen, hob er sie vom Boden auf und trug sie nach einem umgestürzten Baumstamm, wo er sie niederließ. Miß Mertens setzte sich zu ihr und lehnte den Kopf des jungen Mädchens an ihre Schulter.

„Nun sagen Sie mir, was geschehen ist,“ sagte Herr von Walde zu der Gouvernante.

„Nein, nein,“ rief Elisabeth angstvoll, „nur hier nicht, wir wollen gehen, der Mörder ist entkommen; er lauert vielleicht im nächsten Gebüsch und führt sein Vorhaben doch noch aus!“

„Linke wollte Sie ermorden, Herr von Walde,“ sagte Miß Mertens mit zitternder Stimme.

„Der Elende! der Schuß galt also mir,“ entgegnete er ruhig, ohne das mindeste Anzeichen von Bestürzung. Er ging hierauf tief in das Gebüsch, durch welches, nach Miß Mertens’ Angabe, Linke entflohen war. Elisabeth zitterte, als er im Dickicht verschwand, und war eben im Begriff, alle Selbstbeherrschung zu verlieren und ihm nachzuspringen, als er zurückkehrte.

„Sie können ruhig sein,“ sagte er zu dem jungen Mädchen, „es ist keine Spur von ihm zu entdecken, der schießt heute sicher nicht zum zweiten Mal… Nun erzählen Sie mir den Vorfall, Miß Mertens.“

Sie war, wissend, daß Elisabeth heute über das Dorf zurückkehre, ihr auf dem schmalen Waldweg entgegengegangen. Langsam vom Berg niedersteigend, hatte sie dieselbe Entdeckung gemacht, wie das junge Mädchen. Die Absicht des Elenden war ihr sofort klar geworden, aber der Schrecken hatte sie dergestalt übermannt, daß sie im ersten Augenblick weder Zunge noch Fuß zu bewegen vermochte. So hatte sie in tödtlicher Angst wie eingewurzelt gestanden, als plötzlich Elisabeth, die sie vorher nicht gesehen, hinter dem Mörder erschienen war. Im Entsetzen über die Gefahr, in welche sich das junge Mädchen begeben, war ihr der Hülferuf entflohen, den man mit dem Schuß zugleich gehört hatte… Sie erzählte dies Alles in fliegenden Worten. „Wo nahmen Sie nur den Muth her, Elisabeth,“ rief sie schließlich, „den Menschen zu packen? .… Ich schaudere schon bei dem bloßen Gedanken an die Berührung und hätte es sicher beim Schreien bewenden lassen.“

„Wenn ich schrie,“ entgegnete Elisabeth einfach, „dann konnte eine unwillkürliche Bewegung des Elenden, infolge des Schreckens, das Unglück gerade herbeiführen.“

Herr von Walde hörte der Schilderung mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu. Nur als Miß Mertens beschrieb, wie Elisabeth den Mörder mit Blitzesschnelle gefaßt hatte, wechselte er jäh die Farbe und warf einen langen, ängstlich forschenden Blick auf das junge Mädchen, als wolle er sich versichern, daß es auch wirklich unverletzt aus der Gefahr hervorgegangen sei… Er bog sich zu ihr nieder, nahm ihre Rechte und führte sie an seine Lippen; sie fühlte dabei ein leises Beben seiner Hand.

Miß Mertens, welche bemerkte, daß diese Dankesäußerung Elisabeth sehr verlegen machte und ihr eine Purpurgluth auf die Wangen trieb, verließ ihren Platz, hob die Pistole vom Boden auf, die Linke auf seiner Flucht von sich geworfen hatte, und gab sie Herrn von Walde.

„Abscheulich!“ murmelte er. „Der Elende hat sich auch noch einer Waffe bedient, die mir gehört.“

Elisabeth erhob sich jetzt auch und versicherte auf Miß Mertens’ Befragen, daß sie von den Wirkungen des Schreckens ganz und gar nichts spüre und den Rückweg antreten könne. Beide wollten sich von Herrn von Walde verabschieden; allein er band sein Pferd an der verhängnißvollen Buche noch fester an und sagte in scherzhaftem Ton: „Linke ist, wie wir uns heute überzeugt haben, sehr rachsüchtiger Natur; es dürfte leicht sein, daß er meine Lebensretterin im Augenblick noch grimmiger haßt, als mich selbst … ich kann nicht zugeben, daß Sie ihm ohne männlichen Schutz begegnen.“

Sie stiegen den Berg hinauf. Miß Mertens eilte voraus, um auch Herrn von Walde zur Eile anzutreiben, denn es mußten ja doch Schritte zur Verfolgung des Verbrechers geschehen; allein ihre Bestrebungen waren umsonst. Er schritt langsam und schweigend neben Elisabeth, die eine Zeitlang mit sich kämpfte, endlich aber in leisem, verzagtem Ton ihn bat, er möge jetzt nicht wieder allein zu seinem Pferd zurückkehren, sondern dasselbe holen lassen.

[166] Er lächelte. „Mein Belisar ist wild und eigensinnig, Sie kennen ihn ja,“ sagte er. „Er geht nur mit mir, und würde es sehr übel vermerken, wenn ihn ein Anderer, als sein Herr, nach Hause bringen wollte… Jener feige Mensch wird übrigens, wie ich Ihnen schon gesagt habe, heute auf keinen Fall einen zweiten Angriff gegen mich wagen… Nun, und wenn auch, ich bin ja gefeit! … Ist nicht heute ein guter Stern über mir aufgegangen?“

Er blieb stehen. „Was meinen Sie,“ fragte er plötzlich mit gedämpfter Stimme, während sein Auge aufleuchtete und das ihre forschend suchte, „soll ich wohl den entzückenden Wahn festhalten, daß er mich durch mein ganzes Leben begleiten werde?“

„Wenn Sie Wagstücke in diesem Sinn ausführen wollen, dann ist es freilich besser, Ihr Glaube an jenen Stern ist kein so unbedingter.“

„Das größte Wagstück war wohl dieser augenblickliche Wahn selbst,“ murmelte er mehr für sich, während ein finsterer Schatten über sein Gesicht flog.

„Ich verstehe Sie nicht,“ sagte Elisabeth erstaunt.

„Das ist ganz natürlich,“ entgegnete er bitter, „Ihr Denken und Wünschen hat ja eine ganz entgegengesetzte Richtung… Bei aller Strenge gegen sich selbst, begegnet es einem doch manchmal, daß man sich von einem lieblichen Traum beschleichen läßt… Nein, nein, sagen Sie nichts mehr! … ich bin ja schon bestraft, denn ich wache.“

Jetzt beschleunigte er seine Schritte und ging nun an Miß Mertens’ Seite, während Elisabeth stumm folgte und sich den Kopf darüber zerbrach, warum er wohl so plötzlich wieder in jenen rauhen Ton verfallen war, der sie stets tief verletzte. Er sprach kein Wort mehr, und als endlich die Mauern des alten Schlosses durch die Büsche blickten, empfahl er sich in auffallend kurzer und knapper Weise und schritt rasch den Berg wieder hinunter.

Miß Mertens sah ihm erstaunt nach. „Sonderbarer Mann!“ sagte sie endlich und schüttelte den Kopf. „Und wenn auch wirklich das Leben für ihn sehr wenig Werth hat, wie ich in diesem Augenblick annehmen muß, so meine ich doch, wäre ein Wort des Dankes beim Auseinandergehen nicht gerade überflüssig gewesen, wenn man bedenkt, daß Sie Ihr Leben um seinetwillen in Gefahr gebracht haben.“

„Ich sehe diese Nothwendigkeit durchaus nicht ein,“ entgegnete Elisabeth. „Sie legen überhaupt meinem Antheil bei dem Vorfall viel zu viel Gewicht bei… Ich habe einfach eine Pflicht gegen den Nächsten erfüllt, und würde,“ fügte sie mit einem eigenthümlichen Trotz in Ton und Geberden hinzu, „ganz ebenso gehandelt haben, wenn der Fall ein umgekehrter und Linke der Bedrohte gewesen wäre… Es ist mir sehr erwünscht, daß auch er die Sache in der Weise auffaßt; denn bei seinem Hochmuth müßte ihm das Gefühl einer nicht einzulösenden Verbindlichkeit einem anderen menschlichen Wesen gegenüber jedenfalls ein höchst peinliches werden, ich aber möchte um Alles dieses Wesen nicht sein.“

In diesem Augenblick stritten zärtliche Angst und Bitterkeit in ihr. Sie verfolgte in Gedanken den Hinabsteigenden Schritt um Schritt und schüttelte sich vor Entsetzen, wenn sie dachte, er gehe vielleicht gerade jetzt an der Stelle vorüber, wo der Rachedürstende auf ihn lauere… dann meinte sie, indem sie hastig vorwärts schritt, es sei doch recht thöricht, alles Denken und Empfinden an einen Mann zu verschwenden, der ihr geflissentlich die rauheste Seite seines Wesens zeige… Selbst der Baronin gegenüber, die ihm doch in tiefster Seele zuwider war, verlor er keinen Augenblick seine Ruhe, setzte er nie die Formen der allgemeinen Höflichkeit aus den Augen, wenn er ihr auch seine Ueberzeugung stets ungescheut in’s Gesicht sagte. Seine ganze Umgebung kannte ihn nicht anders, als von dem Nimbus der Ruhe und Würde umgeben, nur im Gespräch mit ihr hielt er es nicht der Mühe werth, sich zu beherrschen… Wie heftig konnte er da werden! Wie flammten seine Augen auf und hingen mit verzehrender Ungeduld an ihren Lippen, wenn sie nicht rasch oder bestimmt genug antwortete! … Dabei verlangte er, sie solle ihn womöglich schon verstehen, noch bevor er gesprochen, und doch war er ihr noch völlig unverständlich, wenn er fertig zu sein meinte. Vielleicht waren alle Anderen scharfsinniger als sie und fanden sich rascher in seine Sprech- und Denkweise, die für sie nun einmal ein unlösbares Räthsel war und blieb… War es ihr zu verdenken, wenn sie sich vornahm, dergleichen Conflicten künftig auszuweichen? … Gewiß nicht…. Nun, zum Glück war ja seine Abreise nahe … zum Glück? … Der mittelst Trotz und Stolz aufgerichtete Bau der Selbstbetrügerei zerfiel plötzlich vor diesem einen Gedanken; ja, er versank so spurlos, daß sie zu Miß Mertens’ Verwunderung eilig in den Weg einbog, der von der Waldblöße hinunter nach dem Schlosse führte… Sie mußte sich überzeugen, ob Herr von Walde unangefochten zurückkehre. Miß Mertens folgte ihr willig bis in ein Bosket, nahe bei der Thür, wo er abzusteigen pflegte, und auch ihr fiel ein Stein vom Herzen, als er gleich darauf aus dem Walde hervorsprengte.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 12, S. 177–183
Fortsetzungsroman – Teil 11


[177]
12.

Am andern Morgen um fünf Uhr wurden die Bewohner von Gnadeck durch Böllerschüsse geweckt. „Aha,“ sagte Ferber zu seiner Frau, „die Verherrlichung nimmt ihren Anfang.“ Elisabeth aber fuhr jäh aus einem schrecklichen Traum auf. Das Unglück, welches sie gestern abgewendet, hatte der Traum wahr gemacht; sie sah in dem Augenblick Herrn von Walde sterbend zusammenbrechen, als der Schuß im Thal sie aufschreckte. Es bedurfte langer Zeit, ehe sie sich zu sammeln vermochte. In einen einzigen Moment hatten sich unnennbare Schmerzen zusammengedrängt. Sie hatte gewähnt, Himmel und Erde müßten mit jener hohen Gestalt zusammenstürzen und auch sie unter ihren Trümmern zerschmettern, und noch jetzt, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß das goldene Morgenlicht in ihr Stübchen und nicht auf die blutgetränkte Waldwiese falle, vibrirten die aufgestürmten Gefühle nach … nicht einmal gestern, als sie ihr Leben für das seine wagte, war sie sich so klar bewußt gewesen, daß sie in einem solchen Augenblick mit ihm sterben müsse.

Wieder und wieder donnerte es drunten durch das Thal. Die Fensterscheiben im Zwischenbau klirrten leise, und Hänschen flatterte entsetzt auf und klammerte sich an die Stäbe seines Käfigs. Elisabeth schauderte jedes Mal zusammen, und als die besorgte Mutter, die sich noch immer nicht über den Vorfall des gestrigen Tages beruhigen konnte, obgleich sie ihr Kind wohlbehalten und unverletzt ihr zurückgegeben sah, an der Tochter Bett trat, um zu fragen, wie sie geschlafen habe, da schlang diese heftig die Arme um ihren Hals und brach in einen unaufhaltsamen Thränenstrom aus.

„Um Gotteswillen, Kind!“ rief Frau Ferber erschrocken, „Du bist krank! … Ich wußte wohl, daß die gestrige Nervenaufregung nicht ohne Folgen bleiben würde … und nun schießen sie auch noch so unvernünftig da unten.“

Es kostete Elisabeth viel Mühe, die Mutter zu überreden, daß sie sich ganz gesund fühle und um keinen Preis im Bette bleiben, sondern mit den Andern zusammen Kaffee trinken wolle. Um jede Einwendung sofort abzuschneiden, schlüpfte sie in ihre Kleider, wusch das verweinte Gesicht mit frischem Wasser und stand bald draußen am Heerde, um die letzte Hand an das von der Mutter vorbereitete Frühstück zu legen.

Die Schüsse waren plötzlich verstummt, und es währte nicht lange, da waren auch die Thränenspuren aus Elisabeth’s Augen verwischt. Sie blickte wieder heller in die Welt, denn wenn sie auch ein Leben voll Entsagung vor sich sah, so lebte er ja doch, dieser Gedanke hatte infolge des fürchterlichen Traumgesichts eine beschwichtigende Kraft für ihr unruhiges Herz … und wenn er auch ging – weit fort – und sie mußte Jahre lang leben, ohne ihn zu sehen, einmal kam doch eine Zeit, da er wiederkehrte… Und ihn lieben und an ihn denken durfte sie ja auch, denn er gehörte ja keiner Andern.

Später ging sie mit den Ihrigen und Miß Mertens nach dem Forsthause, wohin die Gesellschaft, wie alle Sonntage, für den Mittag eingeladen war. Auf der Stirn des Oberförsters, der ihnen entgegenkam, lagen schwere Wolken. Wie Elisabeth bald bemerkte machte ihm Bertha schwer zu schaffen.

„Ich kann und werde diese Wirthschaft nicht länger mehr mit ansehen!“ rief er heftig. „Soll ich in meinen alten Tagen noch Zuchtmeister werden und in meinem eigenen Hause Tag und Nacht auf der Lauer stehen, um ein junges, eigensinniges Ding, das mich eigentlich auf der Gotteswelt nichts angeht, von verrückten Streichen abzuhalten?“

„Onkel, bedenke, daß sie unglücklich ist!“ rief Elisabeth erschrocken.

„Unglücklich? … Eine Komödiantin ist sie… Ich bin auch kein Menschenfresser, und als ich sie für wirklich unglücklich hielt, d. h. wie sie beide Eltern auf einmal verlor, da bin ich ihr Stab und Stütze gewesen, so viel nur in meinen Kräften stand… Aber da steckt das Unglück auch gar nicht; denn dazumal, kaum zwei Monate nach dem Trauerfall, trillerte sie den ganzen Tag wie eine Haidelerche, so daß mir das Herz weh gethan hat bei so viel Leichtsinn und Herzlosigkeit… Worüber ist sie unglücklich, he? … Ich will es übrigens auch gar nicht wissen, das Staatsgeheimniß, und wenn sie kein Vertrauen zu mir hat, so mag sie’s bleiben lassen… Meinetwegen könnte sie auch das ganze Jahr ein Thränenweiden-Gesicht machen, wenn sie sich nun einmal darin gefällt; aber sich stumm stellen, des Nachts wie eine Verrückte im Walde herumlaufen und mir eines schönen Tages das Haus über dem Kopf anbrennen, das sind Dinge, in die ich denn endlich doch ein Wörtchen reden werde.“

„Hast Du denn meine Warnung neulich nicht beachtet?“ fragte Ferber.

„Ei freilich… Ich habe ihr sofort eine andere Stube angewiesen, sie schläft jetzt über mir, so daß ich jeden Tritt droben hören kann. Nachts werden beide Hausthüren nicht blos verriegelt, wie früher immer geschehen ist, sondern auch zugeschlossen, und ich nehme die Schlüssel mit in meine Kammer… Aber Weiberlist – nun, das ist eine alte Geschichte… Wir haben durch die Vorsichtsmaßregeln wenigstens eine kurze Zeit Ruhe gehabt. [178] Diese Nacht aber konnte ich nicht einschlafen – die Geschichte mit dem Linke ging, mir noch durch den Kopf – da hörte ich droben Schritte, so leise, als ob eine Katze über die Dielen schliche. Aha, dachte ich, da geht das Nachtwandeln wieder los, und machte mich auf; aber als ich hinauf kam, da war das Nest schon leer; auf dem Tisch am offenen Fenster brannte ein Licht, und als ich die Thür aufmachte, da flog der Vorhang über die Flamme – Herr Gott, wäre ich nicht sofort zugesprungen, es hätte ein Feuerwerk geben können, bei dem die alten Balken im Forsthaus sicher gern mit geholfen hätten… Und wie war sie hinausgekommen? … Durch’s Küchenfenster… Ei, da will ich doch lieber einen Ameisenschwarm hüten, als solch’ eine geriebene Person…“

„Ich bin fest überzeugt, das Mädchen hat ein Liebesverhältniß,“ meinte Frau Ferber.

„Ja, das haben Sie mir schon einmal gesagt, Frau Schwägerin,“ entgegnete der Oberförster ärgerlich, „wenn Sie mir aber auch dabei bemerkten wollten, mit wem, dann würde ich Ihnen sehr dankbar sein… Sehen Sie sich doch um, ob nur ein Einziger da ist, der einem Mädchen so den Kopf verdrehen könnte… Meine Gehülfen? … Die sind ihr lange nicht gut genug, die hat sie gleich zu Anfang ablaufen lassen, daß es eine Art hatte … und der Schurke, der Linke, der wird’s wohl auch nicht sein mit seinen krummen Beinen und der semmelfarbnen Perrücke, und damit wäre denn das Register voll.“

„Einen haben Sie vergessen,“ fügte Frau Ferber bedeutsam und sah sich um nach Elisabeth, die einige Schritte zurückgeblieben war, um für Ernst eine Gerte abzuschneiden.

„Nun“ fragte der Oberförster.

„Herrn von Hollfeld.“

Der Oberförster blieb betroffen stehen. „Hm,“ brummte er endlich, „das wäre mir auch in meinem ganzen Leben nicht eingefallen.… Nein, nein,“ fuhr er lebhaft fort, „das glaube ich nicht; denn erstens wird das Mädel nicht so stockdumm sein, sich einzubilden, der werde sie zur gnädigen Frau auf Odenberg machen –“

„Vielleicht hat sie das doch gehofft und sieht sich nun enttäuscht,“ warf Frau Ferber ein.

„Hochmüthig und eitel genug wäre sie am Ende,“ meinte der Onkel nachdenklich, „aber er – er soll sich ja ganz und gar nichts aus den Weibern machen.“

„Er ist ein kalter Egoist,“ sagte Miß Mertens.

„Das Letztere glaube ich – das Erstere aber nicht,“ „erwiderte Frau Ferber, „und eben diese Anschauung erklärt mir Bertha’s ganzes Thun und Treiben.“

„I, das wäre ja eine gräuliche Geschichte!“ rief der Oberförster zornig. „Und ich hätte mir in meiner Arglosigkeit und Nachsicht eine Nase drehen lassen, wie nur irgend ein alter, bornirter Komödienvater! … Ich werde der Sache jetzt unerbittlich auf den Hals rücken, und wehe der ehrvergessenen Person, wenn sie es wirklich gewagt hat, unter meinem ehrlichen Dach eine Liebelei anzuzetteln, die ihr und mir nur Schande bringen kann!“

Das Mittagessen verlief sehr still. Der Oberförster war und blieb verstimmt und hätte am liebsten Bertha sogleich in die Beichte genommen, wenn nicht Frau Ferber gebeten hätte, er möge des Sonntags gedenken. Nach dem Kaffee verließen die Gäste das Forsthaus. Der Onkel warf die Büchse über die Schulter, ging mit hinauf bis vor das Mauerpförtchen und verlor sich dann in den Wald, der, wie er sagte, ihn stets beruhigte und wieder zu sich selbst brachte.

Elisabeth schmückte sich zum Concert, d. h. sie zog ein einfaches, weißes Mullkleid an und steckte als außergewöhnlichen Schmuck ein frisches Waldblumenbouquet an die Brust. Die Mutter brachte ein kleines Medaillon am schwarzen, schmalen Sammetbändchen und legte ihr dasselbe um den Hals – das war die Concerttoilette, die gewiß jedes andere junge Mädchen, im Hinblick auf sein Erscheinen in einer glänzenden Gesellschaft, mit einem bedrückten Gefühl angelegt haben würde. Die Mutter hatte heute das goldene Lockengekräusel selbst geordnet, das auf Elisabeth’s Stirn fiel und durch seinen lichten Glanz die feinen, aber festen Bogen der schwarzen Augenbrauen, als einen eigenthümlichen Reiz, wunderbar hervortreten ließ … Sie konnte Miß Mertens nicht widersprechen, die, nachdem Elisabeth den Weg in’s Schloß angetreten hatte, begeistert meinte, der Anblick des jungen Mädchens habe etwas Ueberirdisches, denn sie selbst hatte heute überrascht die Bemerkung gemacht, daß ihr Kind in auffallender Schönheit erblüht sei.

Als Elisabeth das Vestibül im Lindhofer Schloß betrat, bemerkte sie den Doctor Feld, der, seine Frau am Arm führend, eben in einen Corridor einbiegen wollte. Sie eilte auf ihn zu und begrüßte ihn freudig, denn ihr Herz hatte auf dem ganzen Weg ängstlich geklopft bei dem Gedanken, daß sie allein in den weiten Saal werde eintreten müssen, wo voraussichtlich schon der größte Theil der Geladenen versammelt war. Der Doctor reichte ihr sogleich erfreut die Hand und stellte sie seiner Frau mit halblauter Stimme als das „Heldenmädchen von gestern“ vor. Beide nahmen das junge Mädchen herzlich gern in’s Schlepptau … Die hohe Flügelthür des Saales rauschte auf. Elisabeth dankte in diesem Augenblick ihrem guten Stern, der sie hinter der imposanten Gestalt der Doctorin völlig verschwinden ließ, denn der Eindruck des großen, festlich geschmückten Raumes, über dessen spiegelglattes Parquet prachtvolle Damenroben rauschten und die feinen Lackstiefeln der vornehmen, befrackten Herren hinglitten, hatte etwas Ueberwältigendes für sie … Inmitten des Saales stand die Baronin Lessen, von einem prächtigen, dunkelblauen Moiré, antique umbauscht, und machte die Honneurs. Sie erwiderte den Gruß des eintretenden Ehepaares sehr höflich, aber auch sehr kühl und deutete auf des Doctors Frage nach Herrn von Walde an einen Menschenknäuel, nahe am Fenster, von welchem ein Gesumm, unverständlich wie die babylonische Sprachverwirrung, herüberscholl.

Während Fels mit seiner Frau dorthin schritt, folgte Elisabeth froh und dankbar einem Wink Helenens, die, in einem andern Fenster sitzend, ihr hastig und aufgeregt mittheilte, daß sie plötzlich vom sogenannten Lampenfieber überfallen werden sei: sie habe entsetzliche Angst, vor all’ diesen Leuten zu spielen, und möchte am liebsten in ein Mäuseloch kriechen. Schließlich bat sie das junge Mädchen, statt der vierhändigen Pièce, mit der das Concert eröffnet werden sollte, eine Sonate von Beethoven zu spielen, ein Wunsch, auf den Elisabeth sofort einging. Ihre Befangenheit war verflogen. Sie trat an den Tisch, auf welchem die Musikalien lagen, und schlug die Sonate auf, die sie vortragen wollte. Während dem fuhren draußen Wagen auf Wagen donnernd in die Einfahrt. Die Thüren öffneten sich unermüdlich und beförderten nach und nach einen solchen Ueberfluß von Tüll und Spitzen und Sammet und Seide in den Saal, daß Elisabeth bedauerlich lächelnd auf ihr schöngebügeltes Mullkleid hinabsah, denn einmal zwischen jenes Crinolinengedränge gerathen, mußte es auf der Stelle seine tadellose Glätte einbüßen.

Aus der Begrüßung der Baronin konnte sie sehr leicht erkennen, auf welcher Rangstufe die Eintretenden standen. Mittels einer einzigen Wendung des federgeschmückten Hauptes schwebte die Dame sofort über dem Fahrwasser freundschaftlichen Verkehrs, wenn bürgerliches Element in ihre Nähe kam, und dieses bürgerliche Element that auch Alles, jenen hohen, unnahbaren Standpunkt streng zu respectiren und anzuerkennen. Zuerst strömten gewöhnlich alle Ankommenden auf den Wink der Baronin nach dem Fenster, wo Herr von Walde stehen sollte – von ihm selbst sah Elisabeth keine Spur, denn der Ring, den die Glückwünschenden bildeten, war stets undurchdringlich – dann vertheilten sie sich in einzelne Gruppen, die entweder ruhig der Dinge harrten, die da kommen sollten, oder eine Unterhaltung auf eigene Faust anknüpften.

In diesem Augenblick rauschte abermals die Thür auf und eine alte, corpulente Dame hinkte am Arm eines ebenso bejahrten, vielfach decorirten Herrn und von Fräulein von Quittelsdorf begleitet, in den Saal. Die Baronin eilte den Eintretenden entgegen, auch Fräulein von Walde erhob sich mühsam und trat, von Hollfeld geführt, auf das alte Paar zu, während die um sie versammelten Damen ihr folgten, wie ein Kometenschweif. Der Menschenknäuel am Fenster löste sich ebenfalls wie durch einen Zauberschlag und Herrn von Walde’s hohe Gestalt wurde sichtbar.

„Man muß zu Ihnen kommen, wenn man Sie sehen will, Sie Unartiger!“ rief die alte Dame, indem sie mit dem Finger drohend auf ihn zuwackelte. „Hat denn das schöne Spanien jede Erinnerung an ihre alten Freunde verwischt? … Sie sehen, trotz meiner kranken Füße, und obgleich ich mich von Ihnen schmerzlich vernachlässigt fühle, komme ich heute doch, um unter Denen nicht zu fehlen, die Ihnen ihre Glückwünsche aussprechen.“

Er verbeugte sich und sagte ihr einige Worte, worauf sie ihm lachend einen leichten Schlag auf die Schulter versetzte; dann [179] führte er sie zu einem Fauteuil, auf welchen sie sich mit großer Grandezza niederließ.

„Die Frau Baronin von Falkenberg, Oberhofmeisterin am Hofe zu L.,“ antwortete die Doctorin auf Elisabeth’s Frage, wer die alte Dame sei. Fräulein von Quittelsdorf sah heute wunderschön aus in ihrem weißen Kreppkleid und einen brennend rothen Malvenkranz auf ihr dunkles Haar gedrückt, als sie sich in ehrerbietigster Weise um ihre Vorgesetzte bemühte, wobei sie jedoch nicht unterließ dann und wann einen schalkhaften Blick auf Fräulein von Walde zu werfen.

Das Erscheinen der Gäste vom Hof war das Signal zum Beginn des Concertes. Elisabeth hörte fast ihr Herz klopfen. Noch stand sie hinter der Doctorin; noch konnte sie ihr Gesicht verbergen vor all’ den Augen, die im nächsten Moment auf ihr haften, jeder ihrer Bewegungen folgen würden. Eine unsägliche Scheu überkam sie plötzlich, und sie bereute bitter, daß sie darauf eingegangen war, zuerst allein zu spielen… Sie bebte, als Fräulein von Walde ihr winkte, zu beginnen; aber nun half kein Sträuben mehr … sie schöpfte tief Athem, nahm das Notenheft und schritt langsam, mit gesenkten Augen zum Clavier, wo sie sich schüchtern verbeugte.

Zuerst entstand athemlose Stille, dann lief ein Geflüster von Mund zu Mund, das aber sofort erlosch, als das junge Mädchen die Tasten berührte. Auch Elisabeth’s Angst und Beklemmung entwichen bei dem ersten Accord. Sie war ja nicht mehr allein, er war ja bei ihr, an dessen Hand sie unzählige Mal über sonnige Halden, an dunklen Abgründen vorüber, durch Sturm und Wetter geschritten war, der süße Ahnungen in ihr geweckt und alle heiligen und erhabenen Empfindungen ihres Herzens in unendlichem Wohlklang zusammenfaßte … er, der ihr so lieb und vertraut war, wie das Gesicht der Mutter, wenn sie auch scheu den Blick senken mußte vor der feurigen Glorie, die sein gewaltiges Haupt umzuckte … Die geschmückten Damenköpfe, die sich drüben an den Wänden hinreihten, die Lorgnetten- und Brillengläser, welche, in der Sonne funkelnd, beharrlich ihre Blitze auf die einsame Spielerin mitten im Saale schleuderten, Alles verschwand: sie war allein mit dem großen Beherrscher der Töne und folgte entzückt jeder Wendung seines schöpferischen Geistes.

Ein wahrer Beifallssturm schreckte sie auf, als sie geendet hatte. Sie verbeugte sich und floh dann förmlich zu ihrer Beschützerin, der Frau Fels, die ihr, sprachlos vor innerer Bewegung, beide Hände entgegenstreckte.

Das Concert dauerte nicht lange. Vier junge Herren aus L. sangen ein hübsches Quartett, dann folgte der Vortrag eines tüchtigen Geigenspielers. Fräulein von Quittelsdorf sang auch zwei Lieder mit schöner Stimme, aber ohne Gehör, so daß bei jedem hohen Ton die Gesellschaft entweder unwillkürlich und angstvoll auf den Stühlen hin- und herrückte oder verlegen den Blick auf den Boden richtete. Auch eines der so lange einstudirten vierhändigen Musikstücke kam an die Reihe. Fräulein von Walde hatte ihre Fassung wiedergewonnen und spielte im Verein mit Elisabeth vortrefflich.

Als das Concert zu Ende war, trat Elisabeth in die Thür eines Nebenzimmers, um ihre Mantille zu holen. Fast auf dem Fuße folgte ihr ein ältlicher Herr, der ihr gegenüber gesessen und sie fortwährend mit großer Aufmerksamkeit betrachtet hatte. Die Doctorin, die mit Elisabeth gegangen war, stellte ihn auf sein Verlangen dem jungen Mädchen vor als den Herrn Kreisgerichtsdirector Busch. Er sagte ihr viel Schönes über ihr Clavierspiel und fügte hinzu, es sei für ihn von großem Interesse, die kühne Lebensretterin des Schloßherrn kennen zu lernen; er habe um so eiliger die heutige Gelegenheit ergriffen, als ihm seit einigen Stunden die Hoffnung genommen sei, in der Untersuchung der Attentatsgeschichte mit ihr verkehren zu dürfen.

Elisabeth fuhr erschrocken zurück. Er lachte laut und herzlich.

„Nun, nun, entsetzen Sie sich nicht nachträglich, mein Fräulein!“ rief er endlich. „Wir haben ja, wie ich Ihnen eben sagte, leider keine Veranlassung mehr, Sie vor unsere Schranken zu laden … Linke hat die ganze Angelegenheit mittels eines einzigen Sprunges niedergeschlagen – seine Leiche wurde heute Nachmittags aus dem Teich bei Dorf Lindhof gezogen,“ fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu. „Man machte mir die Meldung im Gasthof, wo ich abgestiegen war. Ich begab mich in Begleitung des Wahlheimer Arztes, der sich zufälligerweise im Gastzimmer befand, nach dem Schauplatz des Verbrechens und habe mich überzeugt, daß sich jene Hand nie wieder gegen das Leben eines Andern erheben wird … Der Zustand der Leiche beweist, daß Linke sofort nach dem Mißlingen seiner verbrecherischen Absicht den Tod gesucht hat.“

Elisabeth schauderte. „Weiß Herr von Walde dies schreckliche Ende?“ fragte sie mit bebender Stimme.

„Nein, ich fand noch keine Gelegenheit, ihn allein zu sprechen.“

„Von allen Anwesenden scheint Niemand eine Ahnung zu haben von dem, was gestern geschehen ist,“ sagte Frau Fels.

„Glücklicherweise nicht, und Dank unserer Umsicht und Verschwiegenheit,“ entgegnete der Kreisgerichtsdirector ironisch. „Der arme Herr von Walde hat sich ohnehin kaum retten können vor der Gratulanten-Ueberschwemmung; wehe, wenn die Veranlassung eine doppelte gewesen wäre, ihn seines Daseins wegen zu beglückwünschen!“

Der Hausverwalter Lorenz näherte sich in diesem Augenblick Elisabeth und präsentirte ihr einen kleinen, silbernen Teller, auf welchem mehrere Papierröllchen lagen. Als ihn das junge Mädchen erstaunt ansah, sagte er respectvoll: „Bitte, haben Sie die Güte, eines der Papiere an sich zu nehmen.“

Elisabeth zögerte.

„Es wird sich um irgend einen Scherz handeln,“ meinte die Doctorin. „Nehmen Sie schnell, damit der Hausverwalter nicht länger aufgehalten wird.“

Fast mechanisch ergriff das junge Mädchen ein Röllchen, fuhr aber erschrocken zurück, als die Baronin Lessen plötzlich in der Thür erschien und einen forschenden Blick in das Zimmer warf.

„Nun,“ sagte die Eingetretene rasch, indem sie auf den alten Diener zuschritt, „was thun Sie hier, Lorenz? … Sie können sich doch denken, daß Frau Fels sich nicht entschließen wird, mit einem Andern, als ihrem Herrn Gemahl zu gehen!“

„Ich habe Fräulein Ferber den Teller präsentirt, gnädige Frau,“ entgegnete der alte Mann.

Die Baronin schleuderte ihm einen wüthenden Blick zu, dann maß sie das junge Mädchen von Kopf bis zu Füßen. „Wie, Fräulein Ferber,“ sagte sie schneidend, „Sie sind noch hier? … Ich glaubte Sie längst zu Hause auf Ihren Lorbeeren ruhend.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie wieder über die Schwelle, wandte aber nochmals den Kopf schüttelnd zurück nach dem verblüfft dastehenden Hausverwalter und zuckte mit den Achseln.

„Sie waren wieder einmal recht zerstreut, Lorenz, eine Schwäche, die sich leider in der letzten Zeit oft sehr unangenehm fühlbar macht.“

Mit diesen Worten rauschte sie hinaus, während ihr der Alte geräuschlos folgte. Er erwiderte auf ihre maliciöse Zurechtweisung nicht eine Silbe, aber in sein blasses Gesicht trat eine leichte Röthe und die weißen, buschigen Brauen zogen sich dergestalt zusammen, daß die gutmüthigen Augen fast verschwanden.

Noch standen die drei Zurückbleibenden und sahen sich erstaunt an, als der Doctor hereintrat. Er machte eine tiefe, komische Verbeugung vor seiner Frau und sagte feierlich:

„Sintemalen Fräulein von Quittelsdorf soeben die Gnade gehabt hat, uns abermals zusammenzuthun, wie bereits vor fünfzehn Jahren durch Priesterhand geschehen, so bin ich gewillt, das sanfte Joch der Ehe geduldig weiterzuschleppen und heute ausschließlich an Deiner Seite, vielgetreues Ehegespons, genährt und gepflegt von Deiner zartwaltenden Hand, die Freuden des Tages zu genießen!“

„Was fällt denn Dir ein, lieber Mann?“ rief erstaunt und lachend die Doctorin.

„Bitte,“ das ist nicht mein Einfall … Ach, ich merke, Du hast Fräulein von Quittelsdorfs schwungvolle Rede nicht mit angehört … wie schade! … Ich sehe mich also genöthigt, Dir hiermit zu sagen, daß jegliches Ehepaar, gleichviel, ob auf dem Kriegsfuß stehend, oder nicht, binnen jetzt und einer Viertelstunde sich hübsch einträchtig nach dem Nonnenthurm im Walde zu verfügen hat, allwo ein ländliches Fest gefeiert werden soll. Dort hast Du die Verpflichtung, mich zu bedienen, respective mir so viel Essen und Trinken herbeizuschaffen, wie mein Herz begehrt, und überhaupt für mein Wohlbefinden zu sorgen, wie es nur je die vielgefeierte Penelope gethan … Damit aber die unbeweibten Männer, die in der Mehrzahl hier vertreten sind, nicht zu kurz kommen, d. h. wenn sie es für einen Vorzug halten wollen, daß ihnen [180] der Mund gestopft wird, so hat man höchst sinnreich eine Art Lotterie veranstaltet. Jede unverehelichte Dame zieht ein mit dem Namen eines unverheiratheten Herrn versehenes Papierröllchen, und es bleibt nun Fortuna und Amor überlassen, ob sie begünstigen oder hämischerweise zwei zärtliche Herzen trennen wollen.“

Elisabeth gerieth bei diesem Bericht in eine unbeschreibliche Aufregung. Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht, ob sich an das Concert noch eine andere Festlichkeit reihen werde. Jetzt wurde ihr klar, weshalb die Baronin gestern den Schluß des Concertes und ihr Nachhausegehen so eigenthümlich betont hatte … Ihre Wangen glühten vor Beschämung, denn sie hatte sich mit der Annahme des Papierstreifens, den der Hausverwalter aus Versehen ihr präsentirt hatte und der in diesem Augenblick wie Feuer in ihrer Hand brannte, den Anschein einer grenzenlosen Aufdringlichkeit gegeben. Rasch entschlossen trat sie in den Saal, wo eben das Oeffnen der verhängnißvollen Rollen unter Lachen und gegenseitigen Verbeugungen der Herren und Damen vor sich ging.

„Welche abgeschmackte Idee von der Quittelsdorf!“ sagte eben, als Elisabeth vorüberging, ein junger, adeliger Actuar verdrießlich zu seinem Nachbar. „Jetzt habe ich die dicke, fromme Lehr auf dem Halse – Fi donc!“

Das junge Mädchen brauchte die Baronin nicht lange zu suchen; sie stand ziemlich abgesondert in der Nähe des einen Fensters. Fräulein von Quittelsdorf, die Oberhofmeisterin und Helene standen bei ihr in lebhaftem, aber wie es schien, nicht sehr angenehmem Wortwechsel. Die Oberhofmeisterin sprach heftig auf Fräulein von Quittelsdorf hinein, die ein um das andere Mal rathlos mit den Achseln zuckte. Auf dem Gesicht der Baronin Lessen spiegelte sich der tiefste Verdruß, es hätte diesmal der zwei rothen Flecken nicht bedurft, um zu erkennen, daß sie sich schwer ärgere. Nicht weit von der Gruppe, an einem Pfeiler, lehnte Herr von Walde mit verschränkten Armen; er schien nur mit halbem Ohr auf die Mittheilungen des alten, neben ihm stehenden, decorirten Begleiters der Oberhofmeisterin zu hören, während seine Augen unablässig auf den gesticulirenden Damen ruhten.

Elisabeth schritt eilig auf die Baronin zu. Sie konnte nicht umhin, zu bemerken, wie Fräulein von Quittelsdorf bei ihrem Erblicken die Oberhofmeisterin leicht anstieß und wie diese sich darauf hin umdrehte und einen feindseligen Blick auf sie richtete. Sie erkannte, daß sie der Gegenstand der Debatte gewesen war, und beeilte ihre Schritte, um so schnell wie möglich den unwürdigen Verdacht zurückzuweisen.

„Gnädige Frau,“ sagte sie, sich leicht verbeugend, zu der Baronin, „ich habe, ohne zu wissen, um was es sich handle, infolge eines Mißverständnisses dies Papier an mich genommen und erfahre erst in diesem Augenblick, daß mit demselben eine Verpflichtung verknüpft ist, die ich nicht auf mich nehmen kann, denn meine Eltern erwarten mich.“

Sie reichte die kleine Rolle der Baronin, die, urplötzlich einen wahren Sonnenschein in ihren Zügen entwickelnd, hastig danach griff.

„Ich glaube, Sie sind im Irrthum, Fräulein Ferber!“ rief plötzlich Herr von Walde mit seiner ruhigen, klangvollen Stimme herüber. „Vor Allem haben Sie sich wohl bei dem Herrn zu entschuldigen, dessen Namen das Papier enthält; von ihm hängt es ab, ob er Sie freigeben will, oder nicht.“ Sein Auge flog, während er eigenthümlich lächelte, über die Anwesenden, die sich bereits paarweise gruppirt und zum Fortgehen gerüstet hatten, selbst der alte Cavalier schritt eben auf die Oberhofmeisterin zu und reichte ihr galant den gekrümmten Arm. Herr von Walde fuhr fort, indem er langsam näher trat: „Als Hausherr, der keine Beeinträchtigung eines Gastes dulden darf, muß ich Sie bitten, mein Fräulein, das Papier zu öffnen.“

Elisabeth gehorchte schweigend und reichte ihm tief erglühend den entfalteten Papierstreifen hin. Er warf einen Blick auf den Zettel.

„Ah!“ rief er. „Ich habe, wie ich sehe, meine eigenen Rechte gewahrt! … Sie werden mir zugeben, Fräulein, daß es völlig in meiner Hand liegt, ob ich Ihre Entschuldigung beachten will, oder nicht, ich ziehe das Letztere vor und bitte Sie, streng der Verpflichtung nachzukommen, die Ihnen dies kleine Stückchen Papier auferlegt.“

Die Baronin näherte sich ihm und legte die Hand auf seinen Arm. Es sah fast aus, als ob sie mit dem Weinen kämpfe.

„Verzeihe, lieber Rudolph,“ sagte sie, „es ist wirklich nicht meine Schuld!“

„Ich weiß nicht, welche Schuld Du meinst, Amalie,“ erwiderte er eiskalt, „aber Du hast den richtigen Moment gewählt, wenn Du Verzeihung suchst, ich könnte in diesem Augenblick viel Böses vergessen, was mir widerfahren ist.“

Er griff nach dem Hut, den ihm ein Bedienter brachte, reichte Elisabeth den Arm und gab das Signal zum Aufbruch.

„Aber meine Eltern!“ stammelte Elisabeth.

„Sind sie krank, oder wollen sie in diesem Augenblick verreisen?“ fragte er stehen bleibend.

„Beides nicht.“

„Nun, dann lassen Sie mich dafür sorgen, daß sie den Grund Ihres Ausbleibens erfahren.“

Er rief einen Bedienten und schickte ihn sofort hinauf nach Gnadeck.

Während der Saal sich allmählich leerte, blieb die Gruppe, zu der sich außer dem alten Cavalier auch noch Hollfeld mit einem sehr verdrießlichen Gesicht gesellt hatte, am Fenster stehen.

„Es geschieht Ihnen ganz recht, Cornelie,“ zürnte die Oberhofmeisterin. „Sie haben sich heute blamirt für alle Zeiten… Welch ein hirnloser Gedanke, diese Lotterie! … Wie oft schon habe ich gegen Ihre Farcen geeifert, denen leider unsere gnädigste Fürstin auch manchmal ein williges Ohr leiht!.. Nun soll der Hausverwalter schuld sein, warum haben Sie ihn nicht gehörig instruirt? … Sie halten sich für eine Hofdame par excellence und wissen nicht einmal, daß diese Art Leute nie ihre eigenen Gedanken haben dürfen? … Ihnen gönne ich diese Lehre von Herzen, wenn nur nicht gerade der unglückliche Walde das Opfer Ihres Leichtsinns sein müßte! … Da hat er nun das blonde Gänschen am Arm, er, der sich in seinem stolzen, aristokratischen Bewußtsein unzähligemal des Fehlers schuldig gemacht hat, es nicht zu bemerken, wenn sehr hochgestellte Damen von ihm geführt zu sein wünschten.… Wie mag ihm nur zu Muthe sein gegenüber dieser kleinen Clavierlehrerin, der Tochter eines – Forstschreibers?“

„Warum opfert er sich so bereitwillig?“ entgegnete Fräulein von Quittelsdorf; „es war ganz unnöthig, daß er sich in den Handel mischte. Die Kleine war ja im Begriff zu gehen; nein, da tritt er vor wie der Ritter ohne Furcht und Tadel und nimmt die Last freiwillig auf sich.“

„Nun, diese Last ist wenigstens blendend schön!“ hüstelte der alte Cavalier mit einem frivolem Lächeln.

„Was fällt Ihnen ein, Graf!“ rief die Oberhofmeisterin. „Das ist wieder einmal eine Bemerkung, ganz Ihrer würdig, der Sie sich für jedes runde Bauerngesicht enthusiasmiren… Uebrigens leugne ich nicht, daß die Kleine hübsch ist … Weshalb Walde sich heute großmüthig opfert, das hat er ja eben deutlich genug ausgesprochen. Er ist innerlich befriedigt und beglückt durch die große Theilnahme und Aufmerksamkeit, die wir Alle ihm heute an den Tag gelegt haben, und will Alles, selbst das kleine Ding, das übrigens ganz nett gespielt hat, froh und heiter sehen… Schade, daß solch ein Flecken auf das Fest fallen mußte… Ich rathe Ihnen, liebste Lessen, künftig bei dergleichen Arrangements dem Tact und Talent unserer Quittelsdorf nicht allzu unbedingt zu vertrauen.“

Die Hofdame biß sich auf die Lippen und warf heftig ihren Spitzenshawl über die Schultern. Draußen rollte der Wagen vor, der die Oberhofmeisterin und Helene in Begleitung der Baronin und des Grafen nach dem Festplatz bringen sollte.

„Die alte Katze!“ rief Fräulein von Quittelsdorf, nachdem sie der Oberhofmeisterin in den Wagen geholfen und darin für die Bequemlichkeit der Dame gesorgt hatte. „Sie ist wüthend, daß man bei dem Arrangement nicht erst ihren hochweisen Rath eingeholt hat… Haben Sie nicht gesehen, Hollfeld, beinahe wäre Ihrer Excellenz der falsche Scheitel auf die Nase gefallen, als sie so zornig mit dem Kopfe wackelte? Ich hätte mich vierzehn Tage lang nicht beruhigen können vor Lachen, wenn plötzlich unter dem Blumengarten ihrer Haube der kahle Kopf zum Vorschein gekommen wäre!“

Sie wollte sich auch jetzt ausschütten vor Lachen bei dem Gedanken. Ihr Begleiter aber schritt wortlos, als habe er von ihrem ganzen, langen Geschwätz nicht eine Silbe gehört, immer rascher vorwärts. In seinem ganzen Wesen lag eine auffallende [182] Hast und Unruhe. Es schien ihm offenbar daran zu liegen, die vorangegangene Gesellschaft so schnell wie möglich zu erreichen. Sein Blick eilte stets weit voraus und drang nach allen Richtungen hin in das Gebüsch; nur wenn der Schimmer eines weißen Kleides in der Ferne auftauchte, dann blieb er einen Augenblick stehen, als wolle er beobachten.

„Nein, Sie sind doch zu langweilig, Hollfeld! Langweilig bis zum Sterben!“ rief die Hofdame ärgerlich. „Sie haben zwar das Privilegium, stumm zu sein wie ein Fisch, um dabei doch für einen geistreichen Mann zu gelten … wo ich aber in diesem Moment Ihren Geist suchen soll, weiß ich wahrhaftig nicht … Weshalb, um Gotteswillen, rennen Sie denn so? … Und denken Sie, wenn ich bitten darf, doch an mein nagelneues Kreppkleid, das aller Augenblicke an den Büschen hängen bleibt, an denen Sie mich vorbeizerren wie ein armes Schlachtopfer!“

Der sogenannte Nonnenthurm, das einzige standhafte Ueberbleibsel eines ehemaligen Frauenklosters, lag tief versteckt in einem Eichen- und Buchenforst, auf dem Waldgebiet, das, zu dem Gut Lindhof gehörig, sich meilenweit nach Osten hin erstreckte. Er stieg viereckig, plump und schmucklos in die Höhe. Droben auf dem platten Dach, das eine steinerne Galerie umgab, endete die Treppe in einem engen, viereckigen Raum, den eine schwere Eichenthür verschloß. Von dem Plateau aus genoß man eine reizende Fernsicht nach L. Diesem Vorzug hatte wohl hauptsächlich der Thurm sein durch aufbessernde Menschenhände gefristetes Dasein zu verdanken. Mächtige Eisenklammern umschnürten die Ecken, und zahllose Adern frischen Mörtels ringelten sich durch das geschwärzte Gemäuer, so daß der alte Bau von Weitem aussah, wie ein riesiger Malachit.

Heute aber hatte sich der alte Bursche ausstaffirt, wie ein junges Blut, das auf die Wanderschaft gehen will. Frische Reiser, d. h. vier kräftige Tannenbäume, steckten auf seinem alten Hut, und darüber her wehten ungeheure Fahnen und schwammen wie helle Schwäne über den grünen Wogen der Baumwipfel. Er, der zwar bisher Tag und Nacht ein trautnachbarliches Gespräch mit seinen alten Cameraden, den Eichen, geführt hatte, nie aber auch nur fingerbreit von seinem würdevollen Standpunkt aus ihnen entgegengerückt war, er griff heute mit grünen Armen keck an ihr ehrwürdiges Haupt, es waren lange Guirlanden an den Mauern befestigt, deren anderes Ende unter den Zweigen der Bäume verschwand. Sogar ein langes, weißes Taschentuch hing dem jung gewordenen Springinsfeld aus der Tasche. Die beiden freien Zipfel des Tuches waren stramm an zwei mit Laubwerk bekleideten Tannenstämmen befestigt; es beschützte einige Fäßchen, eine ganze Batterie bestaubter, rothgesiegelter Bouteillen, zahllose Flaschen mit silbernen Köpfen in Eiskübeln und ein neben all’ diesen Herrlichkeiten stehendes hübsches Mädchen in Marketender-Costüm vor den Sonnenstrahlen…

Elisabeth hatte willenlos und schweigend an Herrn von Walde’s Arm den Saal verlassen. Sie hatte, trotz der Ueberzeugung, daß sie gehen müsse, nicht den Muth gefunden, ihm zu widersprechen, zu sagen, daß sie bei ihrem Entschluß beharre. Er hatte in einem so gebietenden Ton gesprochen, und – was ihr zumeist den Mund verschloß – er war für sie in die Schranken getreten und hatte ihr offenbar aus der Verlegenheit helfen wollen; jeder Widerspruch hätte in jenem Moment wie Trotz aussehen müssen, auch wäre durch eine Entgegnung ihrerseits das peinliche Aufsehen erhöht worden, dessen Gegenstand sie ohnehin schon geworden war.

Hinter ihr streiften knisternd die seidenen Gewänder der Damen an die Wand des Corridors. Lachend und plaudernd folgte der Menschenschwarm in langem Zuge Herrn von Walde bis vor das Hauptthor, dann aber stob Alles auseinander und begab sich auf die verschiedenen Waldwege, die nach dem Nonnenthurm führten. Viele, die besondere Toilettenrücksichten zu nehmen hatten, blieben auf dem breiten, gut gehaltenen Fahrweg. Herr von Walde hatte sicher keine Ahnung, daß seine Begleiterin ihr selbstgewaschenes und gebügeltes Mullkleid mit ebenso ängstlichem Auge behütete, wie die anderen Damen ihre theuren Toiletten, sonst würde er sie sicher nicht auf den schmalen, wenig betretenen Weg geführt haben, in den er plötzlich einbog.

„Hier ist es gewöhnlich sehr feucht,“ brach Elisabeth mit schüchterner Stimme das Stillschweigen, denn es war bisher kein Wort zwischen ihnen gefallen. Ihr Fuß zuckte, als habe er die größte Lust, zurück statt vorwärts zu gehen. Vielleicht dachte sie aber auch in diesem Augenblick gar nicht an ihr Kleid und ihre dünnen Schuhe und sah nur den engen, grünen Laubgang vor sich, durch den sie mutterseelenallein mit ihm gehen sollte, hörte bebend schon im Geiste seine Stimme, die plötzlich rauh, ungeduldig und herrisch wurde, denn das war ja stets der Fall, wenn er sich mit ihr allein sah.

„Es hat lange nicht geregnet; sehen Sie die Risse und Sprünge in dem trockenen Boden?“ entgegnete er ruhig weiterschreitend und einen Zweig abknickend, der Elisabeth’s Wange bedrohte. „Wir kommen auf diesem Weg schneller vorwärts und haben den Vortheil, auf eine Viertelstunde dem Geschnatter zu entgehen, das meine Verwandten zur Verherrlichung meiner siebenunddreißig Jahre heraufbeschworen haben… Oder fürchten Sie in dieser engen Gasse Linke’s Begegnung?“

Ein Schauder flog durch die Glieder des jungen Mädchens. Sie dachte an das verzweiflungsvolle Ende des Verbrechers, aber sie konnte es nicht über sich gewinnen, Herrn von Walde diese Mittheilung zu machen.

„Ich fürchte ihn nicht mehr!“ sagte sie ernst.

„Er hat auf alle Fälle die Gegend verlassen, und wenn nicht, nun, so wird er doch nicht so unhöflich sein, den Leuten die Freude zu verderben, die sich nun auch für die gehabte Anstrengung des Glückwünschens amüsiren wollen… Apropos, es wird Ihnen nicht entgangen sein daß ein Jedes aus der Gesellschaft mir heute einen Augenblick besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, selbst das jüngste Gänschen im florenen Flügelkleide hat nicht versäumt, mir seinen huldigenden Knix zu machen und einen einstudirten Glückwunsch herzusagen… Sie halten mich wohl noch nicht für alt genug, um mir ein noch längeres Leben zu wünsche?“

„Ich meine, diesen Wunsch kann man der Jugend und dem kräftigen Lebensalter so gut aussprechen, wie den greisen Menschen; denn jene haben eben so wenig ein Monopol für die Lebensdauer wie diese.“

„Nun, warum kamen Sie dann nicht auch zu mir? … Gestern retten Sie mir das Leben, und heute ist es Ihnen so gleichgültig, daß Sie nicht einmal die Lippen öffnen und sagen mögen: ‚Gott beschütze es auch ferner.‘“

„Sie sagten vorhin selbst: ‚Jedes aus der Gesellschaft,‘ ich gehörte aber nicht zu der Gesellschaft und durfte mich deshalb auch nicht in die Reihen der Glückwünschenden drängen.“ Sie sprach hastig, denn schon grollte es in seiner Stimme, und er machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Arm, auf welchem ihre Hand lag.

„Sie waren doch eingeladen –“

„Um die Eingeladenen zu amüsiren.“

„War diese bescheidene Ansicht einzig und allein der Grund, weshalb Sie vorhin nicht mir gehen wollten?“

„Ja, meine Weigerung galt durchaus nicht dem Herrn, dessen Name mir ja völlig unbekannt war.“

„Das machen Sie mir nicht weis, Sie mußten ja auf den ersten Blick sehen, daß bereits sämmtliche Herren – mich ausgenommen – versagt waren. Sie wußten sogar, daß meine Schwester, ohne ein Papier zu ziehen, sich schon vorher Hollfeld’s Begleitung ausgebeten hatte, weil sie an seinem Arm am sichersten geht. – Gestehen Sie!“

„Ich sah und wußte gar nichts… Ich war viel zu aufgeregt, als ich in den Saal trat, um das Papier zurückzugeben; denn man hatte mir gestern ganz bestimmt die Stunde genannt, zu welcher mir gestattet sein würde, nach Hause zu gehen. Daß nach dem Concert irgend welche Festlichkeit folgen könne, darüber hatte ich gar nicht nachgedacht; mit der Annahme der kleinen Papierrolle habe ich mir eine Gedankenlosigkeit zu Schulden kommen lassen, die ich mir nie verzeihen werde.“

Er blieb plötzlich stehen.

„Sehen Sie mich einmal an!“ sagte er gebieterisch.

Sie hob das Auge, und obgleich sie fühlte, daß eine hohe Röthe in ihr Gesicht stieg, hielt sie seinen Blick doch aus, der zuerst flammend auf ihren Zügen ruhte, dann aber in einem unbeschreiblichen Ausdruck schmolz.

„Nein, nein,“ flüsterte er mehr wie für sich mit weicher Stimme, „es wäre Sünde, hier an das abscheuliche Laster, die Lüge, zu denken… Ja, doppelte,“ fuhr er in gänzlich verändertem, sarkastischem Ton fort – es klang fast, als wolle er seine momentane Weichheit persifliren – „habe ich nicht selbst als unfreiwilliger [183] Zeuge den Ausspruch von Ihnen gehört: ‚Man brauche mehr Muth dazu, eine offenbare Lüge dreist zu sagen, als einen Fehler zu bekennen‘?“

„Das ist meine Ueberzeugung, ich wiederhole sie.“

„Ah, es ist etwas Hohes um die Charakterfestigkeit! … aber ich meine, wenn man zu wahrhaftig ist, um seine Lippen mit einer Unwahrheit zu beflecken, so darf man auch seinem Auge nicht gestatten, zu lügen … ich kenne jedoch einen Moment in Ihrem Leben, wo Sie sich anders zeigten, als Sie dachten.“

Das junge Mädchen zog verletzt die Hand aus seinem Arm.

„O nein, so wohlfeil entkommen Sie mir nicht!“ rief er, sie festhaltend. „Jetzt heißt es bestätigen oder widerlegen. … Sie schienen neulich gleichgültig, als ich das zärtliche Andenken meines Vetters, die Rose, wegwarf.“

„Hätte ich ihr nachspringen sollen?“

„Allerdings, wenn Sie wahrhaftig waren.“

Elisabeth wußte jetzt, weshalb er den einsamen Waldweg mit ihr betreten hatte, sie sollte beichten, wie sie über Hollfeld denke. Es war richtig, wie sie damals vermuthet hatte, Herr von Walde war offenbar in großer Besorgniß, daß sie jene Huldigung seines Vetters zu hoch anschlagen und sich wohl gar einbilden könne, er habe ihren bürgerlichen Standpunkt vergessen. Jetzt war der Moment gekommen, wo sie ihre Ansicht aussprechen durfte. Mit einer raschen Bewegung befreite sie ihre Hand von der seinigen und trat einen Schritt seitwärts.

„Ich muß Ihnen zugeben,“ sagte sie, „daß mein Aeußeres, wenn es in jenem Augenblick gleichgültig war, durchaus nicht im Einklang mit meinem Innern gewesen ist.“

„Sehen Sie!“ rief er, aber es lag nichts weniger als ein Triumph in diesem Ausruf.

„Ich war vielmehr entrüstet.“

„Ueber mich?“

„Zunächst über den unpassenden Scherz des Herrn von Hollfeld.“

„Er hatte Sie sehr erschreckt – freilich –“

„Nein, beleidigt. Wie konnte er es wagen, sich mir in der Weise aufzudrängen! … Ich verabscheue ihn!“

Sie hatte Recht gehabt in ihrer Voraussetzung, aber daß er einen solchen außerordentlichen Werth auf ihren Ausspruch legen würde, hatte sie nicht geahnt. Es schien ihm eine Centnerlast vom Herzen zu fallen … Brach es nicht wie heller Jubel aus den Augen, die eben noch in einem Gemisch von Mißtrauen, Hohn und Bitterkeit auf sie gerichtet gewesen waren? Er schöpfte tief Athem und breitete plötzlich die Arme aus … Elisabeth sah sich um nach dem unbekannten Etwas, das seine leuchtenden Blicke in der Luft suchten, um es ohne Zweifel an sein Herz zu ziehen. Sie entdeckte nichts, wohl aber fühlte sie ein heftiges Zittern seiner Hand, als er die ihrige nahm und sie wieder auf seinen Arm legte. Sie gingen einige Schritte weiter, er sprach kein Wort.

Plötzlich blieb er wieder stehen.

„Wir sind in diesem Augenblick ganz allein,“ sagte er mit unbeschreiblich milder Stimme. „Sehen Sie, nur ein Stückchen blaues Himmelsauge sieht auf uns herab, keines jener Gesellschaftsgesichter drängt sich zwischen uns … ich kann und will Ihren Glückwunsch nicht entbehren … Sagen Sie ihn jetzt, wo ihn Niemand hört, als ich, ich ganz allein!“

Sie schwieg verlegen.

„Nun, wissen Sie nicht, wie man das macht?“ drängte er.

„O ja,“ entgegnete sie, und ein schelmisches Lächeln flog um ihren Mund, „ich habe Uebung darin; die Eltern der Onkel Ernst –“

„Jedes hat seinen Geburtstag,“ fiel er lächelnd ein, „aber Sie können es mir nicht verdenken, wenn ich meinen Glückwunsch für mich ganz allein haben will, daß ich verlange, er soll ganz anders klingen, als alle, die Sie bisher ausgesprochen haben, denn ich bin weder Ihr Vater, noch der barsche Försteronkel, am allerwenigsten aber beanspruche ich die Rechte des Bruders, mit dem Sie spielen … Nun sprechen Sie!“

Sie schwieg abermals. Was sollte sie sagen? … Sie hatte schon längst die Augen gesenkt, denn sie konnte den Blick nicht ertragen, der so peinlich forschend, mit einem eigenthümlichen Ausdruck von ängstlicher Unruhe und Erwartung tief, tief in ihre Seele drang.

„Kommen Sie!“ rief er rauh, nachdem er einen Augenblick vergeblich auf einen Laut von ihren Lippen gewartet hatte, und zog sie fort. „Es war ein thörichtes Verlangen von mir … Ich weiß ja, Ihr Mund, der allzeit bereit ist, Anderen Freundliches und Liebes zu sagen, schweigt entweder für mich, oder ergeht sich in strenger Zurechtweisung.“

Sie erblaßte bei diesen Worten und blieb unwillkürlich stehen.

„Sie wollen?“ frug er milder. „Geht es durchaus nicht?“ fuhr er kopfschüttelnd fort, als sie noch immer nicht sprach, ihn aber bittend ansah. „Nun, dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen … Ich werde Ihnen den Glückwunsch sagen, wie ich ihn ungefähr von Ihren Lippen zu hören gewünscht hätte, aber ich mache die Bedingung, daß Sie ihn Wort für Wort nachsprechen.“

Jetzt erschien wieder ein Lächeln auf Elisabeth’s Gesicht und sie nickte zustimmend.

„Zuerst reicht man dem – dem Freunde die Hand,“ begann er und nahm ihre Hand in die seine – sie bebte, zog aber die Hand nicht zurück – „und spricht: ‚Sie sind bisher ein armer, unbeglückter Wanderer gewesen; es war hohe Zeit, daß die Wolken sich theilten und daß endlich der holde Lichtstrahl erschien, der Ihr ganzes Dasein umgewandelt hat. Es ist mein eigener, unumstößlicher Wunsch und Wille, daß er Sie nie wieder verlasse, hier ist meine Hand als Bürge eines unaussprechlichen Glückes.‘“

Bis dahin hatte sie den höchst seltsam lautenden Glückwunsch pünktlich nachgesprochen, bei dem letzten Satz trat sie erstaunt zurück und zögerte. Er aber faßte heftig auch ihre andere Hand und drängte: „Weiter, weiter!“

„Hier ist meine .…„begann sie endlich.

„Das ist zu hübsch, Herr von Walde,“ rief plötzlich Corneliens Stimme durch das Gebüsch, „daß wir uns hier treffen! So habe ich doch den Triumph, an Ihrer Seite mit Musik empfangen zu werden!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 13, S. 193–198
Fortsetzungsroman – Teil 12


[193] Nie in ihrem ganzen Leben hatte Elisabeth eine so entsetzliche Veränderung in einem menschlichen Antlitz bemerkt, wie die, welche bei dem jähen Erscheinen von Fräulein von Quittelsdorf in Herrn von Walde’s Zügen vor sich ging. Auf der bleichen Stirn zeigte sich sofort eine starke blaue Ader, seine Augen sprühten und die Nasenflügel dehnten sich aus. Er stampfte heftig mit dem Fuße, und es sah aus, als habe er die größte Lust, die unwillkommene Störerin, die jetzt, ihr Kreppkleid hoch aufnehmend, sich durch die Büsche arbeitete, wieder dahin zurückzuschleudern, wo sie hergekommen war. Diesmal gelang es ihm nicht so rasch, Herr seiner innern Bewegung zu werden, vielleicht wollte er auch gar nicht, denn seine Augenbrauen falteten sich noch grimmiger, als Hollfeld hinter der Hofdame auftauchte. Bei dessen Erblicken schob Herr von Walde Elisabeth’s Arm heftig wieder in den seinigen und preßte ihn fest an sich, als solle sie ihm entrissen werden.

„Wie sehen Sie denn aus, Herr von Walde?“ rief Fräulein von Quittelsdorf, mitten in den Weg springend, „Sie machen uns ja wahrhaftig ein Gesicht, als wären wir Banditen, die es auf Ihr Leben oder mindestens auf Ihr kostbarstes Hab und Gut abgesehen hätten!“

Ohne ein Wort auf diese Ansprache zu erwidern, wandte er sich an seinen Vetter und fragte kurz: „Wo ist Helene?“

„Sie bekam plötzlich Angst vor dem weiten, unebenen Weg,“ entgegnete dieser, „und hat es vorgezogen, zu fahren.“

„Nun, ich denke, Du wirst es dem alten Grafen Wildenau nicht überlassen, Helenen aus dem Wagen zu helfen; ich begreife überhaupt nicht, wie Du als vielgetreuer Ritter den Hauptweg verlassen konntest … Einige rasche Schritte werden die Versäumniß ausgleichen, ich werde Dir nicht hinderlich sein,“ sagte Herr von Walde mit auffallend scharfer Stimme, während ein sarkastisches Lächeln um seine Lippen zuckte. Er trat mit Elisabeth seitwärts, um das Paar vorüberzulassen.

„Und warum sind Sie nicht auf dem Hauptweg geblieben, wenn man fragen darf?“ frug Fräulein von Quittelsdorf pikirt und schnippisch; sie war in diesem Augenblick bei Weitem mehr Kammerkätzchen, als Hofdame.

„Das können Sie erfahren; einfach, weil ich hoffte, auf diesem einsamen Weg der redseligen Zunge gewisser Damen zu entgehen,“ erwiderte Herr von Walde trocken.

„Hu, wie grob! … Gott behüte einen in Gnaden vor solch’ einem sauertöpfischen Geburtstagskind!“ rief die Hofdame sich schüttelnd und im komischen Entsetzen einen Schritt zurückprallend. „Es war sicher ein Mißgriff, daß wir heute nicht mit Leichenbittermienen, Citronen in den Händen und bis über die Nase in schwarzen Krepp gewickelt erschienen sind.“

Sie hing sich schmollend wieder an Hollfeld’s Arm und schob ihn vorwärts; allein es hatte den Anschein, als wolle dieser unerhörter Weise und vielleicht zum ersten Male in seinem Leben seinem Vetter trotzen. Langsam, wie ein Lebensmüder, schritt er weiter. Er sah angelegentlich rechts und links in die Büsche, als beschäftige ihn jeder Stein, jede vorbeihuschende Eidechse; dabei knüpfte er ein Gespräch mit seiner Begleiterin an; ihre Antworten waren scheinbar von großem Interesse für ihn, denn er blieb sogar einigemal stehen, um keines ihrer Worte zu verlieren.

Herr von Walde murmelte etwas zwischen den Zähnen, Elisabeth konnte es nicht verstehen, aber der feindselige Blick, den er auf seinen Vetter schleuderte, ließ sie errathen, daß er auf’s Aeußerste ergrimmt sei über dessen Gebahren. Mit ihr sprach er nicht mehr. Er wandte einmal langsam den Kopf nach ihr und sie fühlte, daß seine Blicke unverwandt auf ihr ruhten, allein es war ihr unmöglich, die Augen zu ihm aufzuschlagen. Hätte er nicht auf der Stelle sehen müssen, daß ihr ganzes Innere in Aufruhr war über jenen räthselhaften Glückwunsch, den er ihr mit tiefbewegter Stimme soufflirt hatte? … Er würde mittels eines einzigen Blickes errathen haben, was in ihr wogte und stürmte, und – sie mochte diesen Gedanken gar nicht ausdenken – infolge dieser Wahrnehmung seinen vielleicht sehr harmlos gemeinten Einfall bereuen. Es war eine natürliche Folge dieser Befürchtung, daß die Lider des jungen Mädchens sich noch tiefer senkten, als zuvor, und deshalb konnte sie auch nicht bemerken, wie ein leiser, unhörbarer Seufzer über die Lippen ihres Begleiters glitt, während der Groll aus seinen Zügen verschwand, um dem gewissen melancholischen Schatten über und zwischen den Augen Platz zu machen.

Ein schwacher, schnell hinsterbender Trompetenton, den ohne Zweifel die Ungeduld der auf der Galerie des Thurmes wartenden Musikanten hinausgeschickt hatte, verrieth die Nähe des Festplatzes. Bald summte und lärmte es, als ob ein großes Zigeunerlager in der Nähe sei; der Weg wurde breiter, hinter dem nächsten Buschwerk wogte ein buntes Gedränge, und plötzlich schmetterte eine wahre Salve von Posaunen- und Trompetentönen auf die Ankommenden herab. Elisabeth benutzte diesen Moment, ihren Arm leise aus dem Walde’s zu ziehen und sich unter die Gesellschaft zu mischen, die einen dichten Kreis um den Schloßherrn bildete, während Flora, als Dryade costümirt und von vier andern gleichdecorirten Waldnymphen umgeben, ihn in holprigen Hexametern im Waldrevier begrüßte.

[194] „Nun, der Walde hat wenigstens im geeigneten Moment seine aufgedrungene Dulcinea abzuschütteln gewußt, ich sehe die Kleine nicht mehr,“ flüsterte lächelnd die Oberhofmeisterin dem Grafen Wildenau zu, der neben ihr auf einem erhöhten Sitze unter den Eichen saß. „Der vergiebt es der Lessen und unserer vorwitzigen Hofdame nie und nimmer, daß er durch ihr einfältiges Arrangement gezwungen worden ist, dem kleinen Ding gegenüber einen Augenblick die Rolle des Ritters spielen zu müssen … Kindchen,“ wandte sie sich an Helene, die, zu ihrer Rechten sitzend, ihr getrübtes Auge suchend über den Menschenschwarm gleiten ließ, „wir müssen ihn nachher, wenn die dort drüben ihn freilassen, in unsere Mitte nehmen und Alles aufbieten, damit er den unerquicklichen Anfang des Festes vergißt.“

Helene nickte mechanisch mit dem Kopfe. Sie hatte offenbar nur die Hälfte von dem verstanden, was die alte Dame ihr zugeflüstert. Ihre kleine, verkrüppelte Gestalt, die ein schwerer, zartblauer Seidenstoff umhüllte, drückte sich hülflos und matt an die hohe Stuhllene, und ihre Wangen waren weißer, als der Seerosenkranz, der über ihrer Stirn lag.

Elisabeth hatte sich unterdeß im Gedränge wieder mit Doctor Fels und dessen Frau zusammengefunden. Letztere nahm das junge Mädchen sogleich bei der Hand, damit sie nicht wieder getrennt würden.

„Bleiben Sie noch so lange, bis man anfängt zu tanzen,“ meinte sie auf Elisabeth’s Aeußerung hin, daß vielleicht jetzt der passende Augenblick gekommen sei, wo sie sich unbemerkt entfernen und nach Hause gehen könne. „Ich verdenke es Ihnen gar nicht, wenn Sie die Gesellschaft sobald wie möglich zu verlassen wünschen,“ fügte sie lächelnd hinzu; „auch wir werden nicht lange bleiben, mir läßt die Sorge um meine Kleinen daheim keine Ruhe, und daß ich überhaupt hier bin, ist ein schweres Opfer, welches ich der Stellung meines Mannes bringe … Herr von Walde, dem Sie nun einmal heute durch das Loos angehören, tanzt nicht, er wird Sie gewiß frei geben, wenn der Tanz beginnt, denke ich.“

Der Menschenknäuel entwirrte sich plötzlich. Von der Zinne des Thurmes rauschte ein imposanter Marsch hernieder, und während die Herren schattige Plätze suchten, eilten die Damen nach den Büffets, um den Statuten des Festes gemäß das Beste für die Herren der Schöpfung herbeizutragen.

Herr von Walde schritt langsam über den Platz, er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und sprach mit dem Kreisgerichtsdirector Busch, der an seiner Seite ging.

„Mein bester Herr von Walde, nun kommen Sie zu uns!“ rief die Oberhofmeisterin zu ihm hinüber und streckte ihm in beinahe zärtlicher Weise die Hände entgegen. „Ich habe Ihnen ein reizendes Plätzchen reservirt .… Ruhen Sie hier aus auf den wohlverdienten Lorbeeren, die man Ihnen heute streut … Zwar sind sämmtliche junge Damen bereits durch das Loos gefesselt, aber hier unsere schönen, liebenswürdigen Waldnymphen sind bereit, Ihnen den Wein zu credenzen und von den Büffets herbeizutragen, was Ihr Herz begehrt.“

„Ihre Güte und Fürsorge rührt mich, Excellenz,“ entgegnete der Angeredete, „aber ich will nicht hoffen, daß Fräulein Ferber mich dem allgemeinen Mitleiden überlassen wird.“

Er sprach mit lauter Stimme und wandte sich um nach Elisabeth, die nicht sehr entfernt von ihm stand. Sie hatte jedes Wort gehört. Sofort schritt sie hinüber und stellte sich so ruhig und fest an seine Seite, als sei sie durchaus nicht gewillt, auch nur ein Haarbreit von ihrer Verpflichtung an Andere abzutreten. Es flog in diesem Augenblick etwas, wie ein freudiges Erschrecken, über sein Gesicht. Sein Auge begegnete aufleuchtend dem ihren, das, unbeirrt durch die Umgebung, lächelnd zu ihm aufsah. Er schien unerhörter Weise ganz und gar zu vergessen, daß die Frau Oberhofmeisterin ein „reizendes Plätzchen“ für ihn reservirt hatte, denn nach einer leichten Verbeugung gegen die Excellenz und die sie umringenden, willfährigen jungen Damen reichte er Elisabeth den Arm und führte sie über den Platz nach einer dickstämmigen Eiche, unter deren Schatten Doctor Fels soeben für sich und seine Frau einen Sitz zurecht machte.

„Nein, diese Sache geht denn doch ein wenig zu weit!“ wandte sich die Oberhofmeisterin entrüstet an den Grafen Wildenau und die sehr verblüfft dastehenden fünf Waldgrazien. „Er sucht das ganze Fest zu persifliren, indem er die Anwesenheit der kleinen Person in so auffallender Weise markirt… Jetzt fange ich an, mich über ihn zu ärgern… Niemand sieht es ja besser ein, als ich, daß er vollkommen Recht hat, wenn er zürnt; aber ich meine auch, er dürfte sich nicht so weit hinreißen lassen, die Rücksicht für die übrigen Anwesenden zu vergessen, die ja völlig schuldlos sind an dem geistlosen Machwerk der Lessen und der Quittelsdorf… Ich wette, schließlich bildet sich das Gänschen dort auch noch ein, das geschehe Alles nur um ihrer schönen Augen willen.“

Alle zehn Augen der schönen, liebenswürdigen Dryaden schleuderten a tempo einen vernichtenden Blick auf Elisabeth, die in diesem Augenblick unbefangen nach dem Marketenderzelt ging und bald darauf mit einer Flasche Champagner und vier Gläsern nach der Eiche zurückkehrte, wo sich Herr von Walde und das doctorliche Ehepaar bereits einträchtig hinter einem Tisch niedergelassen hatten.

„Unsere sämmtlichen Damen haben heute wahre Blumengärten auf dem Scheitel,“ sagte Frau Fels, als das junge Mädchen an den Tisch trat, „nur Fräulein Ferber geht schmucklos wie Aschenbrödel; das leide ich nicht.“

Sie zog aus dem großen Bouquet, das sie in der Hand hielt, zwei Rosen und stand auf, um Elisabeth mit denselben zu schmücken.

„Halt!“ rief Herr von Walde und hielt ihre Hand zurück. „In diesem Haar mag ich nur die Orangenblüthe sehen.

„Die ziemt eigentlich nur den Bräuten,“ meinte die Doctorin unbefangen.

„Ja, eben deshalb,“ entgegnete er, und so ruhig, als habe er etwas gesagt, das sich ganz von selbst verstehe, füllte er die Gläser und wandte sich an Fels.

„Stoßen Sie mit mir an, Doctor,“ sagte er. „Ich trinke auf das Wohl meiner Retterin, der Goldelse auf Gnadeck!“

Der Doctor schmunzelte und stieß kräftig an. Auf dies Signal näherte sich eine Schaar Herren mit den Gläsern in der Hand.

„Schön, meine Herren, daß Sie kommen!“ rief ihnen der Schloßherr entgegen, „trinken Sie mit mir auf die Erfüllung meines höchsten Wunsches!“

Ein Hoch schallte durch die Lüfte, und die Gläser klangen lustig an einander.

„Scandalös!“ rief die alte Excellenz und ließ die Gabel mit einem saftigen Stück marinirten Aales auf den Teller fallen. „Dort drüben geht es ja wahrhaftig zu wie in einer Studentenkneipe… Ich bin ganz consternirt! Welch unanständiger Lärm! Da schreit ja wirklich der Pöbel auf den Straßen manierlicher, wenn er unseren Durchlauchten ein Hoch zu bringen sich erlaubt. … Apropos, meine Liebe,“ wandte sie sich an Helene, „ich bemerke mit großem Erstaunen, daß Ihr Herr Bruder ziemlich familiär mit dem Doctor Fels verkehrt.“

„Er schätzt ihn hoch als einen durchaus rechtlichen Mann mit bedeutendem Wissen,“ erwiderte Helene.

„Das ist Alles recht schön und gut, aber er weiß sicher nicht, daß dieser Mensch gegenwärtig sehr übel angeschrieben ist an unserem Hofe. Denken Sie sich, er hat die unbegreifliche Kühnheit gehabt, unserer allgeliebten Prinzessin Katharine –“

„Ja, ich kenne diese Geschichte,“ unterbrach Fräulein von Walde die Entrüstete, „mein Bruder hat sie mir vor einigen Tagen selbst mitgetheilt.“

„Wie, er weiß das und berücksichtigt so wenig die Stimmung des Hofes, der ihn stets ausgezeichnet hat? … Unglaublich! … Ich versichere Ihnen, liebes Kind, mir schlägt schon jetzt das Gewissen, und ich werde bei Ankunft unserer Herrschaften sicher die Augen nicht aufschlagen können, in dem schuldigen Bewußtsein, daß ich mit diesem unmanierlichen Menschen hier zusammengekommen bin.“

Helene zuckte mit den Achseln und überließ die Oberhofmeisterin ihren Gewissensbissen und einem frisch gefüllten Glas Champagner, mit welchem sie sich ohne Zweifel jetzt schon für jenen großen, gefürchteten Ankunftsmoment Muth und Fassung einzuflößen suchte.

Fräulein von Walde litt neben der Dame alle jene Qualen, die uns so manchmal die Convenienz auferlegt; sie mußte mit zuvorkommender Aufmerksamkeit auf tausend Nichtigkeiten hören und antworten, während ein heißer Schmerz ihr Inneres zerriß. [195] Aber auch nur eine Frau wie die Oberhofmeisterin, die das höchste Erdenglück in einem Gnadenblick aus fürstlichen Augen suchte und fand, eine Person, deren ganze Seelenthätigkeit sich darauf beschränkte, Schildwache vor dem Reich der Etikette zu stehen und den Nimbus ihrer sauer genug errungenen Excellenz ängstlich zu behüten, nur sie konnte wiederholt in das Gesicht der jungen Dame sehen, ohne die tiefe innere Erregung in den Zügen zu bemerken.

Hollfeld war nicht allein so unaufmerksam gewesen, Helenen bei ihrer Ankunft auf dem Festplatz der Fürsorge des Grafen Wildenau zu überlassen, er hatte auch, als er endlich erschienen war, kein Wort der Entschuldigung für seine Säumniß gehabt und mürrisch und zerstreut hatte er sich endlich an ihre Seite gesetzt. Sie fand ihn seltsam verändert, und ihr unruhiges Herz, ihr Kopf zermarterten sich in Vermuthungen. Zuerst folgte ihr argwöhnisches Auge Cornelien, die ihrer Quecksilber-Natur gemäß wie ein Irrwisch von Gruppe zu Gruppe flatterte und unaufhörlich plauderte und lachte. Ueber diesen Punkt war sie jedoch bald beruhigt; denn es gelang ihr nicht ein einziges Mal, einen Blick Hollfeld’s auf dem Weg nach der koketten, aber anmuthigen Hofdame aufzufangen. Ihre besorgten Fragen wurden einsilbig beantwortet. Sie ließ durch einen Diener Speisen herbeitragen und legte Hollfeld selbst vor, aber er rührte keinen Bissen an und trank nur rasch hintereinander einige Gläser starken Weines, den er sich am Marketenderzelt einschenken ließ. Dies nachlässige Benehmen, das sie zum ersten Mal an ihm bemerkte, that ihr unbeschreiblich wehe. Sie schwieg endlich und ließ wie ermüdet die Lider über die Augen sinken – Niemand bemerkte die zwei hellen Tropfen, die an ihren Wimpern hingen.

Mitten in den Toast-Jubel hinein, der augenscheinlich bedeutend erhöht wurde dadurch, daß der sonst so ernste, schweigsame Schloßherr ihn veranlaßt hatte, fiel plötzlich ein Schatten; wenigstens schien es Elisabeth, als verkünde das Gesicht des Hausverwalters Lorenz, das auf einmal zwischen den Baumstämmen in der Nähe auftauchte, nichts Gutes. Der alte Mann gab sich die größtmögliche Mühe, um die Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich zu lenken, ohne daß es die Anderen bemerken sollten. Endlich gelang es ihm. Herr von Walde warf einen raschen Blick hinüber, stand auf und ging mit dem alten Diener tiefer in das Gestrüpp, während die anderen Herren ihre früheren Plätze wieder aufsuchten. Er kehrte sehr bald mit bleichem Gesicht zurück.

„Ich habe eine erschütternde Nachricht erhalten, in Folge deren ich sofort abreisen muß,“ sagte er mit gedämpfter Stimme zu dem Doctor. „Herr von Hartwig in Thalleben, ein alter Freund von mir, ist auf einer Spazierfahrt verunglückt, die Verletzung ist tödtlich; wie man mir schreibt, kann er höchstens noch einen Tag leben… Er beruft mich zu sich, um die Sorge für seine unmündigen Kinder in meine Hände zu legen… Theilen Sie der Baronin Lessen meine Abreise und deren Veranlassung mit; sie soll dafür Sorge tragen, daß das Fest nicht gestört werde. Meine Schwester und die Gesellschaft sollen in dem Wahn bleiben, daß ich in einer Geschäftsangelegenheit abberufen worden bin und möglicherweise bald wieder nach dem Festplatz zurückkehre. Man wird mich nicht mehr vermissen, sobald der Tanz begonnen hat.“

Der Doctor entfernte sich sogleich, um die Baronin aufzusuchen. Seine Frau war schon vor einer Weile nach dem Büffet gegangen, und so stand Elisabeth in diesem Augenblick Herrn von Walde allein gegenüber. Er näherte sich ihr rasch.

„Ich hatte geglaubt, wir würden heute nicht auseinandergehen ohne daß der Schluß des Glückwunsches ausgesprochen worden wäre,“ sagte er, während sein Auge ihren ausweichenden Blick aufzufangen suchte. „Ich gehöre nun schon einmal zu jenen Glückspilzen, denen noch in der letzten Stunde ein Unstern das gelobte Land verschließt.“ Er bemühte sich, diesen Worten einen humoristischen Anstrich zu geben, aber sie klangen deshalb nur um so bitterer. „Diesmal soll er mich jedoch zäher finden, sprach er in entschlossenem Tone weiter, „fort muß ich, das läßt sich nicht ändern, aber die Erfüllung dieser schweren Pflicht kann mir sehr erleichtert und versüßt werden durch ein Versprechen Ihrerseits… Wissen Sie noch die Worte, die Sie mir vorhin nachgesprochen haben?“

„Ich vergesse nicht so schnell.“

„Ah, das klingt schon bedeutend ermuthigend für mich! … Es existirt ein Märchen, in welchem ein einziges Wort ein Reich voll unermeßlicher Schätze und lieblicher Wunder erschließt; der Schluß jenes Glückwunsches ist auch ein solches Wort… Wollen Sie mir behülflich sein, daß es ausgesprochen werde?“

„Wie könnte ich Ihnen zu Schätzen und Reichthümern verhelfen?“

„Das ist meine Sache… Ich bitte Sie ernstlich, in diesem Augenblick keinen weiteren Ausweichungsversuch zu machen; denn die Zeit drängt… Ich frage Sie also, wollen Sie in den Tagen, die ich ausbleiben werde, sich bestreben, den Anfang des Glückwunsches in Erinnerung zu behalten?“

„Ja.“

„Und werden Sie bereit sein, wenn ich zurückkehre, das Ende zu hören?“

„Ja.“

„Gut, ich werde mitten in Trübsal und Leiden ein Stück blauen Himmels über mir behalten, und Ihnen – möge unterdeß mein guter Engel den Namen jenes Wunderreiches zuflüstern… Leben Sie wohl!“

Er reichte ihr die Hand und schritt hinter dem Thurm weg auf den nächsten Weg, der nach dem Schlosse führte.

Elisabeth blieb eine Weile in einer Art süßer Betäubung stehen, aus welcher sie erst durch die Doctorin geweckt wurde, die mit Tellern und Schüsseln beladen zurückkehrte und nun sehr erstaunt war, keinen der Herren vorzufinden. Das junge Mädchen theilte ihr das Geschehene mit. Bald darauf kam auch der Doctor und erzählte, die Frau Baronin sei sehr pikirt gewesen, daß ihr Cousin es nicht der Mühe werth gehalten habe, sie persönlich von dem Vorfall in Kenntniß zu setzen. Der unglückliche Doctor hatte einige Bitterkeiten der gereizten Dame in den Kauf nehmen müssen, aber er war so unhöflich, sich dadurch ganz und gar nicht in seiner Gemüthsruhe stören zu lassen. Er setzte sich behaglich hinter die vollen Schüsseln und aß mit vortrefflichem Appetit.

Währenddem ging Elisabeth hinüber zu Fräulein von Walde, um sich zu beurlauben. Es hielt sie ja hier nichts mehr zurück. Sie hatte das lebhafte Verlangen, mit ihren Gedanken allein zu sein, jedes Wort, das er zu ihr gesprochen, sich noch einmal ungestört zurückrufen und über den Sinn desselben nachdenken zu können.

„Sie wollen gehen?“ fragte Helene, als das junge Mädchen hinter ihren Stuhl trat und sich empfahl. „Was meint mein Bruder dazu?“

„Rudolph ist in einer dringenden Geschäftssache nach dem Schlosse gerufen worden,“ antwortete die Baronin, die eben erschien, schnell an Elisabeth’s Stelle, „Fräulein Ferber ist mithin der Verpflichtung des Hierbleibens enthoben.“

Helene warf der Sprecherin einen mißbilligenden Blick zu. „Das sehe ich noch nicht ein,“ sagte sie, „die Geschäfte werden doch wahrhaftig nicht der Art sein, daß er gar nicht wieder hierher zurückkehrt.“

„Ich denke nicht,“ erwiderte die Baronin zögernd, „aber seine Rückkehr kann möglicherweise sehr spät erfolgen… Fräulein Ferber wird sich voraussichtlich unterdeß sehr langweilen in einem ihr völlig unbekannten Kreise, und –“

„Hat mein Bruder Sie frei gegeben?“ wandte sich Fräulein von Walde an Elisabeth, ohne die Baronin ausreden zu lassen.

„Ja,“ antwortete das junge Mädchen, „und ich bitte auch Sie, mir zu erlauben, daß ich mich entfernen darf.“

Während dieses kurzen Wortwechsels bog sich die Oberhofmeisterin zurück und musterte Elisabeth von Kopf bis zu Füßen mit ihren kalten, stechenden Augen; Hollfeld aber stand auf und entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Fräulein von Walde sah ihm mit einer Art von schmerzlichem Unwillen nach und antwortete im ersten Augenblick gar nicht auf Elisabeth’s Bitte; endlich reichte sie ihr sichtlich zerstreut die Hand und sagte: „Nun, da gehen Sie, liebes Kind, und haben Sie vielen Dank für Ihre heutige freundliche Mitwirkung.“

Elisabeth verabschiedete sich noch rasch von Doctor Fels und Frau und schritt dann mit erleichtertem Herzen in den Wald hinein.

Sie athmete auf, als das Gewühl hinter ihr lag, als ein rauschender Accord den Walzer schloß, dessen jubelnde Töne sie noch eine Weile begleitet hatten… Jetzt durfte sie sich ungestört dem Zauber hingeben, der ihrem ganzen Denken und Sinnen einen süßen Bann auferlegte, der sie zwang, immer wieder auf jene längst verhallte Stimme zu hören, die mit ergreifendem Klange ihr Herz bestrickte und vor welcher alle Vorsätze ihres [196] Mädchenstolzes, alle Vorsichtsmaßregeln des Verstandes haltlos verwehten… Sie dachte daran, wie sie zuerst ihm widerstandlos gefolgt war, obgleich ihr tief gekränktes Ehrgefühl ihr gebot, den Kreis, in welchem sie so unwillkommen erschien, zu verlassen; sie empfand noch einmal jene Glückseligkeit, mit der sie an seine Seite geeilt war, als er es vor allen Anwesenden betont hatte, daß er ihr für heute angehöre und keine Stellvertreterin für sie wolle. Er hätte sie bis an das Ende der Welt führen können, sie wäre ihm blindlings gefolgt mit unerschütterlichem Vertrauen und der vollsten Hingabe ihres ganzen Wesens… Und ihre Eltern? … Jetzt begriff sie, wie eine Jungfrau das Vaterhaus verlassen könne, um einem Manne anzugehören, dessen Lebensbahn bis dahin, fernab von der ihrigen, über vielleicht ganz entgegengesetztes Gebiet gelaufen war; der nichts wußte von all’ jenen Neigungen, Beziehungen, großen und kleinen Ereignissen, durch die jede Faser ihres bisherigen Lebens mit dem ihrer gesammten Familie innig verwebt wurde. Noch vor zwei Monaten war ihr das ein unlösbares Räthsel gewesen.

Sie hatte einen Weg betreten, den sie oft in Miß Mertens’ Gesellschaft zurückgelegt hatte. Er mündete, in zahllosen Windungen schmal durch das Dickicht laufend, an der Chaussee, die den Wald durchschnitt und eine Strecke lang die Grenze zwischen dem Fürstlich L.’schen Forstgebiet und dem des Herrn von Walde bildete. Jenseits der Chaussee, dem Fußweg gegenüber, öffnete sich die breite Fahrstraße, die nach dem Forsthause lief.

In ihre Träumerei versenkt, hatte Elisabeth nicht gehört, daß schon längst rasche Schritte ihr folgten; deshalb erschrak sie jetzt doppelt, als dicht in ihrer Nähe ihr Name von einer männlichen Stimme genannt wurde – Hollfeld stand hinter ihr. Sie ahnte, was ihn hierher führte, und fühlte ihr Herz klopfen, aber sie faßte sich schnell und trat ruhig seitwärts, um ihn auf dem schmalen Weg vorüber zu lassen.

„Nein, so ist es nicht gemeint, Fräulein Ferber,“ sagte er lächelnd und in einem eigenthümlich vertrauten Ton, der sie tief verletzte. „Ich wollte mir erlauben, Sie zu begleiten.“

„Ich danke,“ entgegnete das junge Mädchen ruhig, aber zurückweisend, „es wäre eine nutzlose Aufopferung Ihrerseits, denn ich gehe stets am liebsten allein durch den Wald.“

„Und kennen Sie keine Furcht?“ fragte er, so nahe an sie heraustretend, daß sein heißer Athem ihre Wange berührte.

„Nur die vor ungebetener Gesellschaft,“ entgegnete sie, mühsam ihre Entrüstung bekämpfend.

„Ah, das ist wieder einmal jene hoheitvolle Haltung, hinter der Sie sich mir gegenüber stets verschanzen; weshalb? nun, das weiß ich mir schon zurechtzulegen … Heute jedoch werde ich sie nicht so respectiren, wie ich sonst folgsamer Weise thue – ich muß Sie sprechen.“

„Und ist das so wichtig, daß Sie um deswillen Ihre Freunde und das Fest verlassen?“

„Ja, es ist ein Wunsch, der mit meinem Leben zusammenhängt, der mich Tag und Nacht verfolgt. Ich bin krank und elend, seit ich fürchte, er könne sich vielleicht nie verwirklichen – ich –“

Elisabeth war unterdeß immer rasch vorwärts geschritten. Es wurde ihr unsäglich unheimlich diesem Menschen gegenüber, aus dessen Augen jetzt jene Leidenschaft unverhohlen loderte, die ihr schon einen heftigen Abscheu eingeflößt hatte, als sie noch beherrscht wurde. Sie fühlte aber auch, daß Ruhe in diesem Augenblick ihre einzige Waffe sei, und deshalb unterbrach sie ihn, während der schwache Versuch eines Lächelns um ihre Lippen zuckte.

„Ach,“ sagte sie, „unsere Clavierübungen sind also vom besten Erfolg gewesen, Sie wünschen meinen Beistand auf dem Gebiet der Musik, wenn ich recht verstehe?“

„Sie verstehen mich absichtlich falsch,“ rief er zornig.

„Nehmen Sie das als eine Art von Schonung meinerseits, ich müßte Ihnen sonst Dinge sagen, die Sie vielleicht noch weniger zu hören wünschen,“ erwiderte Elisabeth ernst.

„Sprechen Sie immerhin, ich kenne die Frauen genug, um zu wissen, daß sie es lieben, eine Zeit lang die Maske der Kälte und Zurückweisung vorzuhalten … die Beglückung ist dann um so süßer. Ich gönne Ihnen die Freude dieser unschuldigen Koketterie, aber dann –“

Elisabeth stand einen Augenblick starr und sprachlos vor dieser Unverschämtheit; solch’ häßliche Worte hatten noch nie ihr Ohr berührt. Scham und Entrüstung trieben ihr das Blut in das Gesicht und sie suchte vergebens nach Worten, um diese beispiellose Frechheit zu strafen. Er faßte ihr Schweigen anders auf.

„Sehen Sie,“ rief er triumphirend, „daß ich Sie durchschaut habe! … Das Erröthen des Ertapptseins steht Ihnen unvergleichlich! … Sie sind schön wie ein Engel; noch nie ist mir eine solche Nymphengestalt vor die Augen gekommen, wie die Ihre … Sie wissen recht gut, daß Sie mich bei unserer ersten Begegnung bereits zum Sclaven gemacht haben, der zu Ihren Füßen schmachtet … Welcher Nacken! … Welche Arme! und das Alles haben Sie bisher neidisch verhüllt.“

Ein Ausruf der höchsten Aufregung entrang sich Elisabeth’s Lippen.

„Wie können Sie es wagen,“ rief sie laut und heftig, „mich so zu beleidigen! … Haben Sie mich vorhin nicht verstanden, so sage ich Ihnen jetzt klar und deutlich, daß mir Ihre aufgedrungene Gesellschaft verhaßt ist und daß ich allein sein will.“

„Bravo, der befehlende Ton gelingt Ihnen vortrefflich!“ sagte er spöttisch. „Man sieht doch gleich, daß von der Mutter her ein Tröpflein adlig Blut in Ihren Adern rollt … Was habe ich Ihnen denn gethan, daß Sie so plötzlich die Entrüstete spielen? Ich habe Ihnen das Compliment gemacht, daß Sie schön sind, das aber lassen Sie sich des Tags unzählige Mal von Ihrem Spiegel sagen, und ich bezweifle sehr, daß Sie ihn dafür zertrümmern.“

Elisabeth wendete ihm verachtungsvoll den Rücken zu und schritt hastig weiter. Er hielt sich an ihrer Seite und schien durchaus nicht gesonnen zu sein, auf einen endlichen Sieg zu verzichten.

Sie hatten eben die Chaussee erreicht, als eine Equipage vorüberbrauste. Ein Männerkopf bog sich aus dem Wagenfenster, fuhr aber jäh, wie erschrocken, zurück – es war Herr von Walde. Noch einmal sah er heraus nach dem Waldweg, als ob er sich überzeugen wolle, daß er recht gesehen habe, dann verschwand der Wagen bei einer scharfen Biegung der Chaussee.

Elisabeth hatte unwillkürlich die Arme nach dem davonrollenden Wagen ausgestreckt, als möchte sie ihn zurückhalten; er, der da drinnen saß, wußte ja um ihre Abneigung gegen Hollfeld; nach ihrer vor wenig Stunden abgegebenen Erklärung durfte er keinen Augenblick im Zweifel sein, daß sie sich nicht freiwillig in dessen Gesellschaft befand. Konnte er nicht für einen Moment seine Reise unterbrechen, um sie von dem Zudringlichen zu befreien?

Hollfeld hatte ihre Bewegung gesehen.

„Ei,“ rief er unter boshaftem Lachen, „das sah ja beinahe zärtlich aus! … Müßte ich nicht an die siebenunddreißig Sommer meines Vetters denken, wahrhaftig, ich könnte eifersüchtig werden! … Ah, Sie dachten wohl, er solle sofort aussteigen und Ihnen galant den Arm bieten, um Sie nach Hause zu führen? Sie sehen, er ist zu tugendhaft, er verzichtet auf dies Glück und erfüllt lieber eine sogenannte heilige Pflicht. Er ist ein Eisblock, für den die Reize des schönen Geschlechts vergebens in der Welt sind … Daß er heute ausnahmsweise ritterlich gegen Sie war, das galt durchaus nicht Ihren bezaubernden Augen, schöne Gold-Else, es geschah lediglich, um meine Mama ein wenig zu ärgern.“

„Und scheuen Sie sich nicht, den Mann, dessen Gastfreundschaft Sie unausgesetzt genießen, einer so gemeinen Denkungsweise zu beschuldigen?“ rief Elisabeth empört. Sie hatte sich zwar vorgenommen, ihm mit keiner Sylbe mehr zu antworten, in der Hoffnung, daß sie ihn mit diesem Schweigen langweilen und endlich verscheuchen würde, allein die Art und Weise, wie er sich über Herrn von Walde äußerte, brachte ihr ganzes Innere in den heftigsten Aufruhr.

„Gemein?“ wiederholte er. „Sie reden in sehr starken Ausdrücken. Ich nenne es eine kleine Revanche, zu der er vollkommen berechtigt war… Und was die Gastfreundschaft betrifft, so genieße ich jetzt schon einfach von dem, was später doch einmal mein Eigenthum sein wird; ich sehe nicht ein, wie ich um deswillen das Urtheil über meinen Vetter ändern soll … Uebrigens bin ich derjenige, welcher sich aufopfert und Dank verdient; rechnen Sie meine Hingebung und Aufmerksamkeit für Fräulein von Walde gar nicht?“

„Es mag in der That eine schwere Aufgabe sein, hie und da einige Blumen zu pflücken, um sie einer armen Kranken zu bringen,“ sagte Elisabeth ironisch.

[198] „O, Sie sind über diese kleinen Huldigungen mißvergnügt, wie ich zu meiner großen Befriedigung bemerke,“ rief er triumphirend. „Haben Sie im Ernst geglaubt, ich könne da zärtlich fühlen, wo mein Schönheitssinn so stark beleidigt wird?… Ich schätze mein Mühmchen, aber deswegen vergesse ich doch keinen Augenblick, daß sie ein Jahr älter ist, als ich, einen Höcker und eine schiefe Hüfte hat und –“

„Abscheulich!“ unterbrach ihn Elisabeth, außer sich vor Entrüstung, und sprang hinüber auf die Chaussee. Er folgte ihr.

„‚Abscheulich‘ sage auch ich,“ fuhr er fort, indem er gleichen Schritt mit ihr zu halten suchte, „besonders, wenn ich Ihre Hebegestalt neben ihr sehe … Und nun laufen Sie nicht so, schließen Sie lieber Frieden mit mir und verzögern Sie nicht muthwillig das Glück, von welchem ich Tag und Nacht träume.“

Er legte plötzlich den Arm um ihre Taille und zwang sie, stehen zu bleiben, sein glühendes Gesicht mit den funkelnden Augen näherte sich dem ihrigen. Im ersten Augenblick starrte sie ihn an, wie gelähmt oder bewußtlos, dann flog ein Schauder durch ihre Glieder, und mit einer Gebehrde des tiefsten Abscheues stieß sie ihn von sich.

„Wagen Sie es nicht noch einmal, mich zu berühren!“ rief sie mit weithinklingender Stimme. In dem Augenblick scholl lautes Hundegebell in der Nähe. Elisabeth wandte freudig erschrocken den Kopf nach der Richtung.

„Hector, hierher!“ rief sie in den Wald hinein. Gleich darauf stürzte der Jagdhund des Oberförsters aus dem Dickicht und sprang mit einem Freudengeheul an ihr in die Höhe.

„Mein Onkel ist in der Nähe,“ wandte sie sich jetzt ruhig und kalt an den verdutzt Dastehenden, „er kann jeden Augenblick hier sein … Sie werden sicher nicht wünschen, daß ich ihn bitte, mich von Ihrer Begleitung zu befreien; ich rathe Ihnen deshalb, freiwillig den Rückweg anzutreten.“

Wirklich blieb er feige stehen, während sie sich mit dem Hunde entfernte, aber er stampfte wüthend mit dem Fuße auf und verwünschte seine rasende Leidenschaft, die ihn unvorsichtig gemacht hatte. Daß er dem jungen Mädchen in Wirklichkeit einen Widerwillen einflößen könne, das fiel ihm nicht im Entferntesten ein, ihm, dem Vielbegehrten, von dem ein karges Wort, eine Aufforderung zum Tanze in der gesammten L.’schen Damenwelt Sensation machte und oft zur Fackel der Zwietracht wurde, ihm konnte ein solcher Gedanke gar nicht kommen. Es lag viel näher, daß die Forstschreiberstochter eine Kokette war, die ihm die Eroberung so schwer wie möglich zu machen suchte. An die jungfräuliche Reinheit der Seele, die Elisabeth’s ganze Erscheinung so unwiderstehlich machte und deren Zauber gerade auf ihn, wenn auch von ihm unverstanden, hinreißend wirkte – an jenes keusche, unentweihte innere Leben glaubte er nicht, und deshalb konnte er auch nie zu dem Schluß gelangen, daß das junge Mädchen instinctmäßig vor seiner innern Zerrüttung und Verdorbenheit zurückbebe. Er machte sich heftige Vorwürfe, zu plump und stürmisch gewesen zu sein, wodurch er das heißbegehrte Ziel selbst wieder in unbestimmte Ferne gerückt hatte. Ueber eine Stunde lief er im Walde umher, um Herr seiner Aufregung zu werden, denn die dort drüben auf dem Festplatze, von welchem die heitern Klänge der Tanzmusik zu ihm herüberschallten, durften ja nie erfahren, daß hinter der interessant kalten, verschlossenen Außenseite ein solcher Vulcan tobte.

Elisabeth war scheinbar festen Fußes schnell weiter geschritten. Sie hütete sich jedoch, rechts oder links zu sehen, in der Furcht, sein verhaßtes Gesicht könne plötzlich wieder neben ihr auftauchen. Endlich wagte sie es, stehen zu bleiben und sich umzusehen – er war verschwunden. Aufathmend lehnte sie sich an einen Baumstamm, um vorerst ihre Gedanken wieder zu sammeln, während Hector ruhig und mit klugem Blick vor ihr stehen blieb, als wisse er genau, daß er heute die Rolle ihres Beschützers spiele. Er hatte ohne Zweifel einen Spaziergang auf eigene Faust durch den Wald gemacht, denn von seinem Herrn war keine Spur zu sehen. Elisabeth fühlte jetzt erst, wie ihre Kniee zitterten. Ihr Schrecken, als Hollfeld gewagt hatte, sie zu umschlingen, war ein unbeschreiblicher gewesen. In ihrer unschuldigen Seele war nicht einmal der Gedanke an eine solche Rohheit aufgetaucht; deshalb hatte der plötzliche Angriff sie momentan starr gemacht vor Entsetzen. Sie vergoß schmerzliche Thränen der Scham, als Herrn von Walde’s Bild vor ihr aufstieg, nicht mit dem milden Ausdruck der letzten Stunden, sondern in seiner ganzen Strenge und Unnahbarkeit; sie glaubte nicht zu ihm aufblicken zu dürfen, weil jener Mensch sie berührt hatte. Ihre ganze Glückseligkeit lag zertrümmert zu ihren Füßen. Die unselige Begegnung mit Hollfeld hatte sie schonungslos in die Gegenwart zurückgeführt; seine Aeußerungen über Herrn von Walde, wenn auch niederträchtig und verleumderisch, hatten doch Vieles wieder wachgerüttelt, was sie sich einst als Steuer gegen ihre wachsende Neigung eingeprägt … Sie dachte an seinen unerschütterlichen Ahnenstolz, an die sich selbst vergessende Liebe zu seiner Schwester und an die Meinung Aller, daß er ein völlig kaltes Herz habe gegenüber dem andern Geschlecht … All’ die bunten, schimmernden Träume, die sie umflattert hatten auf dem Weg durch den stillen Wald, sie legten jetzt die Flügel zusammen und starben einer nach dem andern unter dem prüfenden Blick des erwachten Auges … Sie war sich ja jetzt nicht einmal klar, worin jene Glückseligkeit bestanden. Daß er heute eine wunderbar weiche Stimmung ihr gegenüber gezeigt und sie gegen den Hochmuth seiner Verwandten hochherzig in Schutz genommen hatte, konnte dies nicht Alles aus dem einen Gefühl einer strengen Gerechtigkeitsliebe stammen? Hatte er nicht auch Miß Mertens geschützt und großmüthig das Unrecht auszugleichen gesucht, das ihr unter seinem Dache widerfahren war? Und der Glückwunsch … an den Glückwunsch und sein noch ungelöstes Ende durfte sie freilich nicht denken, wenn nicht alle die Traumleichen ein fröhliches Auferstehen feiern sollten.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 14, S. 221–223
Fortsetzungsroman – Teil 13


[221] Als Elisabeth in die Thür des Forsthauses trat, kam ihr Sabine mit angstbleichem Gesicht entgegen. Sie deutete stumm auf die Wohnstube. Der Onkel sprach drinnen laut und heftig, und man hörte deutlich, wie er dabei mit starken Schritten auf und ab ging.

„Ach, ach,“ flüsterte Sabine, „da drin geht’s schlimm her! … Die Bertha ist dem Herrn Oberförster in den letzten Wochen immer geschickt aus dem Wege gegangen; vorhin aber hat sie hier in der Hausflur gestanden und hat nicht gemerkt, daß er durch die Hofthür hereingekommen ist; das war ihm gerade recht. Er hat nicht lange Federlesens gemacht, hat sie von hinterrücks bei der Hand genommen und in die Stube gezogen. Sie sah aus wie eine geweißte Wand vor Schrecken, aber all’ ihr Sperren und Zerren hat nichts genutzt, sie hat mit gemußt… Herr meines Lebens, bei dem Herrn Oberförster möchte ich auch nicht zur Beichte gehen…“

Ein lautes Aufschluchzen, das fast wie ein erstickter Schrei klang, unterbrach Sabinens Geflüster.

„So recht!“ hörten sie jetzt den Oberförster mit bedeutend milderer Stimme sagen, „das ist doch wenigstens ein Zeichen, daß Du nicht gänzlich verhärtet und verdorben bist… Und nun sprich auch. Denke, daß ich hier an Stelle Deiner braven Eltern stehe. … Hast Du einen Kummer, so schütte ihn aus; ist er ohne Dein Verschulden über Dich gekommen, so kannst Du sicher sein, daß ich ihn redlich mit Dir tragen werde.“

Es erfolgte abermals ein leises Weinen.

„Du kannst nicht sprechen?“ frug der Oberförster nach einer kleinen Pause; „das heißt, ich weiß ganz genau, daß Dich kein körperliches Leiden verhindert, Deine Zunge zu gebrauchen, denn Du sprichst ja, wenn Du Dich unbeobachtet glaubst, mit Dir selbst; es ist also ein moralischer Zwang, dem Du Dich unterwirfst, wohl gar ein Gelübde?“

Jedenfalls mußte ein stummes Kopfnicken seine Vermuthung bestätigt haben, denn er fuhr heftiger fort: „Hirnverbrannte Idee! … Glaubst Du, dem lieben Gott eine Freude zu machen, wenn Du ihm seine herrliche Gabe, die Sprache, vor die Füße wirfst? … Und willst Du Deine ganze Lebenszeit hindurch schweigen? … Also nicht? Du wirst einmal wieder sprechen, auch wenn sich das nicht erfüllt, was Du durch Dein Gelöbniß zu erreichen suchst? … Nun gut; ich kann Dich nicht zwingen, zu reden, trage demnach allein, was Dich bedrückt und was Dich unglücklich macht; denn daß Du das bist, das steht leserlich genug auf Deinem Gesicht geschrieben… Aber das sage ich Dir, an mir hast Du einen unerbittlichen Richter, wenn es einmal klar werden sollte, daß Du etwas gethan hast, was das Licht scheuen und sich hüten muß, vor den Ohren rechtlicher Menschen laut zu werden; denn Du hast in Deinem grenzenlosen Hochmuth von vornherein jeden ehrlich gemeinten Rath, jede gute Lehre von Dir gewiesen und es mir unmöglich gemacht, Dir so zur Seite zu stehen, wie ich es als Vertreter Deiner Eltern gewünscht und gesollt hätte. … Ich will es noch einige Zeit mit Dir versuchen, aber sobald ich nur ein einziges Mal merke, daß Du Dich bei Nacht und Nebel aus dem Hause entfernst, dann kannst Du Dein Bündel schnüren… Noch Eines, morgen werde ich den Doctor hierher kommen lassen, er soll mir sagen, was Dir fehlt, denn Du bist in den letzten Wochen geradezu unkenntlich geworden. … Jetzt geh’!“

Die Thüre öffnete sich, und Bertha taumelte heraus. Sie bemerkte Elisabeth und Sabine nicht, und als sie die Thür hinter sich in’s Schloß fallen hörte, da streckte sie plötzlich in sprachloser Verzweiflung die gerungenen Hände gen Himmel und stürzte, wie von Furien gejagt, die Treppe hinauf.

„Die hat etwas auf dem Gewissen, es mag nun sein, was es will,“ sagte Sabine kopfschüttelnd. Elisabeth aber ging hinein zum Onkel. Er lehnte am Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die Scheiben, was er gewöhnlich that, wenn er aufgeregt war. Er sah sehr finster aus, allein es flog sogleich ein heller Schein über sein Gesicht, als Elisabeth eintrat.

„Gut, daß Du kömmst, Goldelse!“ rief er ihr entgegen. „Ich muß ein klares, reines Menschengesicht sehen, das thut mir noth… Die schwarzen Augen von der, die da eben hinausgegangen ist, sind mir ganz fürchterlich… Na, nun habe ich doch mein Hauskreuz wieder aufgenommen, um es ein Stück weiter zu schleppen… Kann nun einmal solch’ ein Wesen nicht weinen sehen, und wenn ich zehn Mal weiß, daß ich mit dieser Zerknirschung über den Löffel barbirt werden soll.“

Elisabeth war herzlich froh, daß das gefürchtete Zusammentreffen zwischen dem Onkel und Bertha so glimpflich abgelaufen war. Sie beeilte sich, seine Gedanken völlig abzuziehen von der Unglücklichen, indem sie ihm von der heutigen Festlichkeit und, wenn auch in etwas hastiger und flüchtiger Weise, von der schnellen Abreise des Herrn von Walde erzählte. Auch Linke’s schauerliches Ende theilte sie ihm mit, eine Nachricht, die ihn nicht sehr überraschte, denn er hatte diesen Ausgang vermuthet.

Er begleitete das junge Mädchen bis an die obere Gartenthür.

„Sei hübsch vorsichtig und läute nicht zu stark am Mauerpförtchen,“ mahnte er beim Abschied, „Deine Mutter hat heute Nachmittag einen Anfall ihrer Migraine bekommen, sie liegt zu Bett … ich war vorhin noch einmal droben.“

Erschrocken lief Elisabeth den Berg hinauf. Sie brauchte nicht zu läuten; Miß Mertens kam ihr, in Begleitung des kleinen Ernst, auf der Waldblöße entgegen und beruhigte sie sofort. Der Anfall war vorüber, die Mutter lag in einem erquickenden Schlummer, als das junge Mädchen leise an das Bett trat.

Es dämmerte bereits stark, und die tiefste Stille herrschte in der traulichen Wohnung; die Schlaguhren waren in ihrem Gang gehemmt worden, an den geschlossenen Fenstern verhallte das leise Geflüster der Blätter draußen, nicht einmal das Summen einer naseweisen Fliege wurde hörbar, denn der Vater hatte Alles, was die Ruhe der Kranken stören konnte, unerbittlich entfernt.

Hätte die Mutter jetzt auf ihrem Lehnstuhl in der einen Fensternische der Wohnstube gesessen, zwischen dem schützenden Vorhang und der grünen Buschwand vor dem Fenster, auf die der dunkelnde Abendhimmel schweigend niedersah, dann wäre heute die traute Fensterecke zum Beichtstuhl geworden; Elisabeth hätte, knieend auf dem Fußkissen, den Kopf auf die Kniee der Mutter gelegt, ihr übervolles Herz dem mütterlichen Auge erschlossen… Nun zog sich das süße Geheimniß wieder in den innersten Schrein ihrer Seele zurück; wer weiß, ob sie je wieder den Muth fand, das [222] auszusprechen, was unter den obwaltenden Verhältnissen die Mutter voraussichtlich erschrecken und mit großer Sorge um die Tochter erfüllen mußte.


13.

Die Ruinen von Gnadeck mochten wohl verwundert aufhorchen bei dem seltsamen Geräusch, das seit dem ersten Morgengrauen mit kleinen Unterbrechungen an ihre schiefen Mauern schlug. Das klang so ganz anders als das Zerstörungswerk der Regenfluthen, oder der Schneemassen, wenn sie in der Frühlingssonne schmolzen. Heute waren es Menschenhände, welche das Zerstörungswerk vollbrachten. Unglaublich schnell und rührig hoben sie Stein um Stein ab. Der Erker, der so kühn seinen Fuß vorgestreckt hielt und Jahrhunderte lang wie ein unerschütterlicher Wachtposten vor dem Flügel gestanden hatte, sah kläglich aus. Er hatte bereits ein beträchtliches Stück von seiner Höhe eingebüßt; sein Epheugewand war zerrissen, es wurden nun dunkle Fensterhöhlen und grünangelaufenes Mauerwerk sichtbar, dessen jetzt freilich verstümmelte und zerklüftete Steinzierrathen einst schön und kunstreich gewesen sein mochten. Die Arbeiter waren sehr fleißig. Es interessirte sie selbst, so halsbrechend auch die Aufgabe war, von oben herab in die dunklen Winkel und Ecken des alten Nestes sehen zu können, das der Gespensterglaube des Volkes mit zahllosen schauerlichen Erscheinungen bevölkerte.

Am Nachmittag saß nun wieder Frau Ferber mit Elisabeth und Miß Mertens auf dem Damm, als Reinhard, der sich stets Nachmittags zu einer bestimmten Stunde einfand, erschien und erzählte, daß Linke heute Morgen in aller Stille beerdigt worden sei. Währenddem rollte und prasselte es beinahe unaufhörlich drüben bei dem Erker. Bald darauf trat Ferber in den Garten. Er war im Forsthause gewesen und kam nun in Begleitung des Oberförsters zum Kaffeestündchen heim. Ernst lief ihm aufgeregt entgegen. Der Kleine hatte, obgleich den Cordon streng respectirend, den der Vater der Sicherheit wegen für ihn gezogen, bis dahin fast immer im Hauptweg gestanden und mit großem Interesse das Abtragen des Erkers verfolgt.

„Papa, Papa!“ rief er, „der Maurer will Dich sprechen, Du sollst hinaufkommen … er sagt, er habe etwas gesehen.“

Wirklich winkte einer der Arbeiter den beiden Männern eifrig zu, näher zu kommen.

„Wir sind auf eine Kammer, oder was es sein mag, gerathen,“ rief der Mann hinab, „und wenn ich recht sehe, so steht ein Sarg drin. Wollen Sie nicht erst einmal die Sache ansehen, Herr Ferber, ehe wir weiter arbeiten? … Sie können sich getrost heraufwagen; wir stehen auf einer noch recht festen Decke.“

Reinhard hatte den Zuruf gehört und kam eilends die Terrassenstufen herabgelaufen. Ein verborgener Raum, der einen Sarg enthielt, das klang fast berauschend für seine Alterthumsforscherseele.

Vorsichtig stiegen die drei Männer die Leiter hinauf.

Die Arbeiter standen da, wo der Erker aus dem Hauptgebäude hervorsprang, und zeigten auf eine ziemlich weite Oeffnung zu ihren Füßen. Bis dahin waren sie auf keinen verschlossenen Raum gestoßen. Dem Hauptgebäude fehlte ja zum Theil das Dach. Man sah, auf dem Erker stehend, nach allen Richtungen hin durch ein Wirrsal offener Zimmer, halb eingestürzter Gänge, und durch breite Spalten im Fußboden hinunter in die Schloßcapelle. Der Erker selbst sah ebenfalls in seinem Innern nicht halb so unheimlich aus, wie von draußen gesehen; der blaue Himmel lugte allerorten herein, und die frische Luft fegte hindurch, so viel sie Lust hatte … Und nun erschien plötzlich da unten ein Raum, umschlossen von scheinbar festen Wänden und geschützt durch einen ziemlich gut erhaltenen Plafond. So viel man von oben herab beurtheilen konnte, schob sich das Zimmer wie ein Keil zwischen die Capelle und den Raum, der hinter dem Erker lag. Jedenfalls mußte sich an der äußersten Spitze, welche die Wände bildeten und die in der Ecke des Erkers und des Hauptgebäudes mündete, ein Fenster befinden, denn von dort her fielen schwache Lichtreflexe durch gefärbtes Glas herein und huschten über den Gegenstand, den man nur zum Theil sah und den der Maurer für einen Sarg erklärt hatte.

Es wurde sofort eine Leiter von beträchtlicher Länge hinabgelassen, da das Zimmer eine bedeutende Höhe hatte, und in lebhafter Spannung stieg Einer nach dem Andern hinunter. Man hatte beim Herniedersteigen in nächster Nähe ein durch das Alter beinahe schwarzbraun gewordenes Wandgetäfel vor sich. Das Auge erschrak fast vor den wunderlichen Schnörkeleien, die hier aus der Hand des Holzschnitzers hervorgegangen waren. An der Decke hin lief eine schmale, kunstlose Holzleiste von viel späterem Datum, an der lange schwarze Tuchfetzen herabhingen; die andere Hälfte der Trauerbekleidung lag unten auf dem Boden, ein modernder, gestaltloser Klumpen.

Ohne Zweifel hatte der Raum vom Anbeginn den Zweck der Verborgenheit gehabt, denn es war auf seine Form nicht die mindeste Rücksicht genommen worden. Ein unregelmäßiges Dreieck, in dessen eine etwas abgestumpfte Spitze in der That das vermuthete, sehr schmale Fenster eingefügt war, schmiegte er sich so eng an die Capelle, daß Reinhard’s Vermuthung, man habe hier in alten, katholischen Zeiten die Kirchenkostbarkeiten verwahrt, sehr viel Wahrscheinlichkeit erhielt, um so mehr, als fünf bis sechs ausgetretene Steinstufen zu einer von innen vermauerten Thür in der Capellenwand hinabführten. Das Fenster lag hinter der Steineiche, die ihre dicken Aeste gerade hier fest andrückte; auch einige Epheuranken woben ein zartes Gespinnst über die Scheiben, trotzdem stahl sich die Sonne durch die zierlichen, farbenprächtigen Glasrosetten, welche auch nicht eine Spur der Zerstörung an sich trugen.

Es war in der That ein Sarg, ein kleiner, schmaler Zinnsarg, der, hell von der schwarzen Sammetdecke des Postaments sich absetzend, einsam und vergessen inmitten der drei Wände stand. Zu seinen Häupten erhob sich ein mächtiger Kandelaber, aus dessen Armen noch Reste von dicken Wachskerzen sichtbar waren; ihm zu Füßen aber stand ein Schemel, eine Mandoline lag darauf, die Saiten hingen zerrissen herab. Es war schon ein altes Instrument zu Lebzeiten des letzten Besitzers gewesen, denn das schwarze Griffbret zeigte viel helle, abgegriffene Stellen und der Resonanzboden war da leicht eingebogen, wo der Spielende den kleinen Finger aufzusetzen pflegt.

Die letzten Atome verdorrter Blumenspenden flogen bei Annäherung der Herabsteigenden vom Sarge nieder, auf dessen Deckel in vergoldeten Lettern der Name Lila stand.

An der tiefen Wand, zugleich auch der breitesten des Raumes, war ein großer, dunkler Schrank aus Eichenholz angebracht; zur Aufbewahrung der Meßornate bestimmt, meinte Reinhard im ersten Augenblick. Er schlug die beiden nur angelehnten Thüren zurück; infolge dieser Erschütterung rauschte und rieselte es drinnen, und kleine Staubwolken flogen aus den Falten einer Menge hier aufgehangener Frauengewänder … Es war das aber eine merkwürdig phantastische Garderobe; bunt und von fast leichtfertig kokettem Schnitt, contrastirten diese Maskeradenanzüge seltsam mit der Feierlichkeit und dem Ernst ihrer Umgebung.

Es mußte ein kleines, außerordentlich zartes Geschöpfchen gewesen sein, das diese Gewänder getragen hatte, denn die seidenen, meist mit einer reichen Goldstickerei bordirten Röckchen waren kurz wie ein Kinderkleid, und die Form der Mieder von purpurnem oder veilchenblauem Sammet mit den seidenen Bandschleifen und dem Latz von goldenem Zindel ließen auf eine bewunderswürdig biegsame, feine Mädchentaille schließen … Viele, viele Jahre mochten hier vorübergeglitten sein, ohne daß ein menschlicher Athemzug in dieser Abgeschiedenheit hörbar geworden wäre, eine lebenswarme Hand die hier eingeschlossenen Gegenstände berührt hatte. Die Haken im Schranke hatten allmählich die mürbe gewordenen Stoffe durchbohrt, und die Fäden, die einst Perlen und Goldflitter auf den seidenen Borden festgehalten hatten, hingen lose und zerrissen herab.

An eine der Seitenwände lehnte sich ein kleiner Tisch mit einer Marmorplatte. Er schien sich kaum noch auf den altersschwach gewordenen Füßen halten zu können und brachte durch seine schiefe Haltung einen auf seiner Platte stehenden Kasten in die Gefahr herabzustürzen. Dieser Kasten war ein wahres Meisterstück von eingelegter Arbeit in Metall und Elfenbein. Der Deckel schien nicht verschlossen zu sein, es sah vielmehr aus, als sei er nur lose niedergelegt, um ein breites Papier festzuhalten, das aus dem Kasten hervorragte und augenscheinlich mit großer Sorgfalt so placirt war, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war braun gefärbt vom Alter, auch lagerte, wie auf Allem, eine dicke Staubschicht darüber; aber die großen, steifen, schwarzen Schriftzüge schauten unvertilgbar darunter hervor und der Name „Jost von Gnadewitz“ war auch in weiterer Entfernung lesbar.

[223] „Potztausend, was steht denn da?“ rief der Oberförster, vor Ueberraschung kaum der Worte mächtig. „Jost von Gnadewitz, das ist ja der Held in Sabinens Geschichte von der Urahne!“

Ferber trat näher und hob behutsam den Deckel in die Höhe. Da lagen auf dunklem Sammetpolster Schmuckgegenstände von alterthümlicher Fassung, Armbänder, Nadeln, eine Schnur gehenkelter Goldstücke und mehrere Reihen echter Perlen.

„Das Papier war herabgefallen; Reinhard hob es auf und erbot sich, den Inhalt vorzulesen; er war, selbst für die damalige Zeit – vor ungefähr zwei Jahrhunderten – sehr unorthographisch und ungelenk geschrieben – der Verfasser hatte sicher das Schießgewehr besser zu führen verstanden, als die Feder – trotzdem wehte ein poetischer Hauch durch die Zeilen. Sie lauteten:

„Wer Du auch seiest, der diesen Raum betritt, bei Allem, was Dir heilig, bei Allem, was Du liebst und was je Dein Herz gerührt, störe ihre Ruhe nicht! … Sie liegt da, schlummernd wie ein Kind. Das süße Antlitz unter den dunklen Locken, es lächelt wieder, seit der Tod es berührt… Noch einmal, wer Du auch seiest, ob hochgeboren oder ein Bettler, ob Du ein Anrecht an die Todte hast oder nicht, lasse mein Auge das letzte sein, das auf ihr geruht!

Ich konnte sie nicht unter die schwere, dunkle Erde legen – hier spielen goldene Lichter um sie her, und draußen auf dem Baum läßt sich der Vogel nieder; auf seinen Flügeln ruht noch der Waldodem, und aus seiner Kehle strömen die Lieder, die ihre Wiegenlieder waren … Es sanken auch goldene Lichter in das Walddickicht herab, und die Vögel sangen droben auf den Zweigen, als das schlanke Reh das Gebüsch theilte und erschreckt die scheuen Augen auf den jungen Jäger richtete, der unter dem Busch ruhte. Da fuhr es jäh und heiß durch sein Herz, er warf das Geschoß weit von sich und folgte rastlos der Mädchengestalt, die vor ihm floh. Sie, das Kind des Waldes, eine Tochter jener Horden, die ein Fluch über die Erde treibt, die nirgends heimischen Boden unter den irrenden Füßen, nicht eine Scholle vaterländischer Erde haben, auf die sie das sterbende Haupt legen können, sie hatte das Herz des wilden, stolzen Junkers bezwungen … Um ihre Liebe bettelnd, streifte er Tag und Nacht um das Lager ihres Stammes, folgte ihren Schritten wie ein Hund und umschloß rasend vor Leidenschaft ihre Kniee, bis sie gerührt einwilligte, die Ihren zu verlassen und ihm heimlich zu folgen … Er trug sie in der Stille der Nacht hinauf auf sein Schloß – wehe – und wurde ihr Mörder! … Er achtete nicht ihr Flehen, als sie plötzlich die unbezwingliche Sehnsucht nach der Waldfreiheit erfaßte; wie der gefangene Vogel umherflattert und angstvoll sein zartes Köpfchen gegen die Stäbe des Käfigs stößt, so irrte sie verzweiflungsvoll zwischen den Mauern, die einst ihre berauschende Stimme, ihr wunderbares Saitenspiel gehört hatten und nun von ihren schmerzlichen Klagen und Seufzern wiederhallten. Er sah ihre Wangen bleich werden, sah, wie ihr Auge in Haß sich von ihm abwandte, sein Herz erlitt tausendfach den Tod, wenn sie ihn von sich stieß und vor seiner Berührung schauderte; er gerieth in Verzweiflung, aber er schob doppelte Riegel vor und bewachte in Todesangst die fest verschlossenen Thüren, denn er wußte, sie war für ihn verloren, wenn einmal ihr flüchtiger Fuß den Waldboden wieder berührte. … Da kam endlich eine Zeit, da wurde sie ruhiger; zwar glitt sie an ihm vorüber, als sei er ein Schatten, ein Nichts; sie hob keine Wimper, wenn er in ihre Nähe trat und bittend und schmeichelnd sie anredete; seit Tagen hatte sie kein Wort zu ihm gesprochen, und auch jetzt kam kein Laut über ihre Lippen, aber sie rüttelte nicht mehr wild an den Fenstern, die zarte Brust wund schlagend und in gellenden Tönen nach denen rufend, die draußen in goldener Freiheit durch den Wald zogen; sie jagte nicht mehr wie gehetzt durch Zimmer und Säle oder hinauf auf die Mauer, um den schönen Leib im trüben Grabenwasser zu betten. Unter der Eiche, neben dem Erker, saß sie geduldig mit dem lilienweißen Gesicht und sah still vor sich hin: sie wußte, daß sie Mutter werden sollte. Und wenn die Nacht hereinbrach, nahm er sie auf seine Arme und trug sie hinauf; sie litt es, aber sie wandte das Gesicht von ihm, daß sein Athem sie nicht berühre und kein Strahl seines heißen Auges auf sie falle.

Da klopfte eines Tages der Pfarrer von Lindhof an das Schloßthor. Das Volk fabelte, sein Beichtkind, der Jost, halte Verkehr mit dem Teufel, und da kam er, um die arme Seele zu retten. Er fand Einlaß und sah das Wesen, um dessen willen der wilde Jäger das lustige Leben im Walde und den Himmel vergessen hatte. Ihre Schönheit und Reinheit rührten ihn; er sprach zu ihr mit milder Stimme, und ihr in Schmerz erstarrtes Herz öffnete sich seinem Zuspruch. Um ihres Kindes willen ließ sie sich taufen und ließ es geschehen, daß jenes unselige Bündniß durch Priesterwort geheiligt wurde… Als ihre schwere Stunde vorüber war, da legte sie mühsam ihre Lippen auf die Stirn des Kindes, und mit diesem Kuß entfloh ihre Seele; sie war frei, frei, noch auf der entseelten Hülle strahlt der Abglanz dieses Triumphes! … Der Unselige sah ihre Wunderaugen brechen; er wand sich in den Schmerzen der Reue und Verzweiflung zu ihren Füßen und flehte vergebens um einen einzigen, letzten Liebesstrahl.

Der Knabe wurde getauft auf den Namen seines Vaters – auf meinen Namen… Ich sah schaudernd in seine Augen – er hat die meinen – er und ich haben sie gemordet… Mein alter Diener Simon hat den Kleinen fortgetragen; ich kann nicht für ihn leben. Simon sagt – der Pfarrer auch – es werde sich kein Weib entschließen, meinem Kind die Brust zu reichen, weil ich in den Augen des Volkes ein Verlorner, ein der Hölle Verfallener sei… Das Weib meines Forstwart Ferber nährt den Kleinen jetzt, ohne zu wissen, von wem er stammt –“

Der Vorleser hielt inne; und sah erstaunt über das Papier hinweg. Der Oberförster, der bis dahin, aufmerksam zuhörend, ihm gegenüber an der Wand gelehnt hatte, stand mittelst einer heftigen Bewegung plötzlich an seiner Seite und faßte krampfhaft seinen Arm. Sein braunes Gesicht war bleich geworden, als ob eine mächtige innere Erschütterung momentan seine Pulse stocken mache. Auch Ferber war mit allen Zeichen höchster Ueberraschung näher gekommen.

„Weiter, weiter!“ rief endlich der Oberförster mit fast erstickter Stimme.

„Simon hat ihn auf die Schwelle des Forsthauses gelegt, las Reinhard, „er hat heute gesehen, daß ihn die Ferberin herzt und pflegt, wie ihr eigenes Mägdlein… Nach den Gesetzen meines Hauses hat er keine Ansprüche an das Erbe Derer von Gnadewitz, aber mein mütterliches Erbtheil wird ihn vor dem Mangel schützen. Auf dem Rathhause zu L. liegen meine Verfügungen, die ihn als meinen Sohn und Erben bestätigen. Mag er als Hans von Gnadewitz ein neues Geschlecht begründen; der Allmächtige möge mitleidige Herzen lenken, daß sie seine Jugend beschützen! ich kann es nicht …

Alles, was jene liebliche Hülle in glücklichen Tagen geschmückt hat, es soll sie auch im Tode umgeben, soll mit ihr vermodern. Auf die Kleinodien hat ihr Kind Anspruch, aber Alles in mir empört sich, wenn ich denke, daß das, was auf ihrer glänzenden Stirn, ihrem reinen Nacken geruht hat, vielleicht durch treulose Hände auseinander gerissen und entweiht wird; eher soll es hier erblinden und verderben.

Noch einmal wende ich mich an Dich, den vielleicht der Zufall erst nach Jahrhunderten in dies Heiligthum führt: ehre die Todte und bete für mich!

Jost von Gnadewitz.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 15, S. 225–230
Fortsetzungsroman – Teil 14


[225] Als Reinhard seine Lectüre geendet, reichten sich die beiden Brüder wortlos die Hände und traten an den Sarg. In ihren Adern kreiste das Blut jenes Wunderwesens, das einst den wilden, stolzen Junker in Liebesraserei entflammte, jenes Weibes, dessen glühende Seele, nach Freiheit lechzend, jubelnd dem vergötterten Leib entfloh, der hier im engen zinnernen Schrein zu einem Häufchen Asche zusammensank… Da standen die zwei hohen Gestalten, die Abkömmlinge dessen, der, mit dem Weihekuß der sterbenden Mutter auf der Stirn, hinausgetragen wurde in den Wald, auf die niedrige Schwelle des Dieners, während sein hochgeborner Vater verzweifelnd in den Tod ging.

„Sie war unsere Stammmutter,“ sagte endlich Ferber tiefbewegt zu Reinhard. „Wir sind die Nachkommen jenes Findlings, dessen Abkunft ein Räthsel geblieben ist bis zu dieser Stunde; denn die Papiere, die das Kind in seine Rechte einsetzen sollten, sind mit dem Rathhause zu L. ungelesen verbrannt… Wir müssen die Arbeit für einige Tage unterbrechen,“ wandte er sich an den einen der Maurer, der in verzeihlicher Wißbegierde bis zur Mitte der Leiter herabgeklettert war und von diesem hohen Standpunkt aus in sprachloser Verwunderung die Aufklärung einer Geschichte mit anhörte, die noch in den Lindhofer Spinnstuben eine große Rolle spielte.

„Dafür aber sollt Ihr morgen auf dem Lindhofer Gottesacker ein Grab ausmauern,“ rief der Oberförster hinauf, „ich werde gleich nachher mit dem Pfarrer Rücksprache nehmen.“

„Er trat noch einmal an den Schrank und überblickte die Gewänder, die einst die feinen Glieder des Zigeunerkindes eingehüllt hatten und offenbar mit großer Genauigkeit in der Zusammenstellung aufgehangen waren, wie sie das entzückte Auge des Liebenden an der schönen Lila gesehen hatte. Ferber hatte unterdeß die Mandoline vom Staub gesäubert und schob sie vorsichtig unter den Arm, während Reinhard den Juwelenkasten verschloß und ihn an der im Deckel angebrachten zierlichen Handhabe vom Tisch hob. So stiegen die drei Männer die Leiter wieder hinauf. Droben wurden alle Breter, deren man habhaft werden konnte, zum einstweiligen Schutz gegen Wind und Wetter über die Oeffnung im Plafond gedeckt, und dann trat man den Rückzug an.

Die Damen, die unterdeß in großer Spannung am Fuße des Erkers gewartet hatten, waren nicht wenig erstaunt über den seltsamen Zug, der sich die Leiter herabbewegte. Sie erfuhren aber nicht eher ein Wort von dem, was sich droben ereignet hatte, als bis man unter den Linden angekommen war. Hier stellte Reinhard den Kasten auf den Tisch, beschrieb genau das verborgene Zimmer und dessen Inhalt, zog endlich das verhängnißvolle Papier hervor und wiederholte seinen Vortrag von vorhin, diesmal jedoch bei Weitem fließender.

Schweigend und athemlos lauschten die Damen den Ausbrüchen eines heißen, leidenschaftlichen Herzens. Elisabeth saß blaß und still da, aber als die Stelle kam, die so plötzlich ein grelles Licht auf das dunkle Stück Vergangenheit ihrer Familie warf, da fuhr sie jäh in die Höhe und ihr Auge richtete sich voll unsäglicher Ueberraschung auf das lächelnde Gesicht des Onkels, der sie erwartungsvoll beobachtete. Auch Frau Ferber blieb eine Weile, nachdem der Vorleser geendet hatte, wie betäubt. Für ihren klaren, gewöhnlich sehr ruhig erwägenden Geist war diese romantische Lösung einer Jahrhunderte alten Familienfrage im ersten Augenblick unfaßlich. Miß Mertens aber, der Ferber erst die ganze Tragweite der Entdeckung auseinandersetzen mußte, da sie ja um die Findlingsgeschichte nicht wußte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen über die wunderbare Fügung.

„Nun, und haben Sie auf dies Blatt hin Ansprüche auf Ihr Erbe?“ frug sie lebhaft und gespannt.

„Ohne Zweifel,“ entgegnete Ferber, „aber wie sollen wir wissen, worin jenes mütterliche Erbtheil bestanden hat? … Die Familie ist ausgestorben, der Name von Gnadewitz erloschen. Alles ist in fremde Hände übergegangen; wer kann uns sagen, was und wo wir beanspruchen sollen?“

„Nein, dahinein stören wir nicht,“ entschied der Oberförster, „solche Geschichten kosten Geld, und schließlich haben wir vielleicht das Vergnügen, auf einen Vergleich im Betrag von einigen Thalern eingehen zu müssen… Ei was, laß fahren dahin! … Wir sind bisher auch nicht verhungert.“

„Guck, Else,“ wandte er sich dann an Elisabeth, die in stillem Sinnen dagesessen hatte, „nun wissen wir auch, wo Du herkommst mit Deiner zerbrechlichen Taille und den Füßen, die über den Grashalm hinlaufen, ohne daß er sich biegt. Bist gerade solch’ ein Waldschmetterling wie Deine Urahne; würdest auch die Stirn an den Wänden zerstoßen, wenn man Dich einsperren wollte, ’s ist doch Zigeunerblut in Dir, und wenn Du zehnmal die Goldelse bist und eine Haut hast wie Schneewittchen… Da, ziehe einmal die Dinger an, Du wirst gleich sehen, daß Du drin tanzen kannst.“

Er hielt ihr ein Paar winziger Schuhe von verblichenem blauen Seidenstoff hin, die er auf dem Boden des alten Schrankes gefunden und mitgenommen hatte.

„O nein, Onkel!“ rief Elisabeth abwehrend, „das sind [226] Reliquien für mich! … Ich könnte sie nie in der Weise berühren, ohne zu fürchten, daß Jost’s schwarze, zornige Augen neben mir auftauchten.“

Frau Ferber und Miß Mertens waren derselben Ansicht, und Erstere meinte, der Schrank mit Allem, was er enthalte, müsse mit möglichster Vorsicht an einen ruhigen, trockenen Ort geschafft werden, wo er als Familienreliquie unangetastet stehen bleiben solle, bis sich auch sein Geschick, das der zeitlichen Zerstörung, erfülle.

„Nun, in dem Punkt will ich die Pietät gelten lassen,“ nahm Reinhard das Wort, „anders dagegen denke ich über diese Gegenstände.“

Er schloß den Kasten auf. Der Sonnenstrahl, der in das Innere glitt, kam in tausendfältigen Blitzen zurück und blendete Aller Augen. Reinhard nahm ein Halsband heraus, es war sehr breit und von bewundernswürdiger Arbeit.

„Das sind Brillanten vom reinsten Wasser,“ belehrte er die Umstehenden – das Collier war besäet mit den kostbaren Steinen – „und diese Rubinen hier müssen wundervoll aus den dunklen Locken der schönen Zigeunerin gestrahlt haben,“ fuhr er fort, indem er zwei Nadeln von dem Sammetpolster aufhob, deren Köpfe Blumenglocken aus rothen Steinen bildeten. Aus den Kelchen fielen zierliche Ketten, die in jedem beweglichen Glied einen kleinen Rubin hielten, wie ein buntfarbiger Regen nieder.

Elisabeth hielt lächelnd eine prächtige Agraffe über ihre Stirn.

„Sie meinen also, Herr Reinhard,“ frug sie, „hier sollten wir die Pietät bei Seite lassen und uns unbedenklich mit diesen Kostbarkeiten behängen? … Was wohl mein weißes Mullkleid dazu sagen würde, wenn ich ihm zumuthen wollte, eines Tages neben so vornehmer Gesellschaft zu erscheinen!“

„Die Steine stehen Ihnen unvergleichlich,“ erwiderte Reinhard lächelnd, „aber zum weißen Mullkleid würde mir ein Strauß frischer Blumen auch besser gefallen; deshalb rathe ich, diese Steinpracht beim Juwelier in klingende Münze umschmelzen zu lassen.“

Ferber nickte zustimmend.

„Wie, Reinhard,“ rief Miß Mertens, „Du glaubst, man solle diese Familienstücke verkaufen?“

„Ei freilich,“ erwiderte er. „Es wäre geradezu sündhaft und thöricht, ein solches Capital brach liegen zu lassen… Die Steine sind allein gegen siebentausend Thaler werth; dann sind noch die sehr schönen Perlen und das gehenkelte Gold zu berechnen, das giebt auch noch ein hübsches Sümmchen.“

„Potztausend!“ rief der Oberförster überrascht, „da wird nicht gefackelt, fort damit! … Guck, Adolph,“ fuhr er weicher fort und schlang den Arm um die Schulter seines Bruders, „nun hat’s Der da droben doch noch gut mit Dir gemacht… Ich hab’ Dir gleich gesagt, in Thüringen wird’s besser, wenn mir auch nicht eingefallen wäre, zu denken, daß Dir auf einmal so ein achttausend Thälerchen in’s Haus fallen würden.“

„Mir allein?“ rief Ferber erstaunt. „Hast Du nicht als Aeltester vor Allem Anspruch an den Fund?“

„Nichts da … was soll ich um Gotteswillen mit dem Mammon anfangen? Ich soll mich wohl in meinen alten Tagen noch damit beschäftigen, Capitalien auszuleihen? … Das könnte mir einfallen… Ich habe weder Kind noch Kegel, beziehe einen schönen Gehalt, und wenn es einmal mit den alten Knochen hapert, dann habe ich eine Pension, die ich nicht aufzehren kann, mit dem besten Willen nicht. Ich trete also mein Erstgeburtsrecht ab, und zwar an das Mädel da mit den goldnen Haaren und unseren Stammhalter, den Schelm, den Ernst; ich will nicht einmal ein Linsengericht dafür, denn dazu schmeckt das Wildpret nicht gut, sagt Sabine… Bleibt mir vom Halse!“ rief er, in komischer Weise seine Hände auf dem Rücken verbergend, als Frau Ferber mit feuchtem Auge sich erhob und ihm die Hand hinstreckte und sein Bruder bewegt ihm noch Vorstellungen machen wollte. „Sie thäten viel besser, Frau Schwägerin, wenn Sie für eine Tasse Kaffee sorgten, das ist ja himmelschreiend! … vier Uhr und noch keinen Tropfen des gewöhnten Labsals auf den Lippen, um deswillen ich doch einzig und allein den Berg herausgeklettert bin.“

Er erreichte seinen Zweck, den Danksagungen zu entgehen vollkommen; denn Frau Ferber eilte, von Elisabeth begleitet, in’s Haus, und die Anderen lachten. Bald saß die Gesellschaft auf der Terrasse, um den braunen, kräftig duftenden Trank versammelt.

„Ja, ja,“ sagte der Oberförster, sich behaglich in den Stuhl zurücklehnend, „hätte heute Morgen beim Aufstehen nicht gedacht, daß ich mich am Abend als Herr von Gnadewitz niederlegen würde. … Nun kann mir der ‚Oberforstmeister‘ nicht entgehen, hat mich auf einmal das braune Blättchen da mit seinen verzwickten Buchstaben geschickt dazu gemacht, was dreißig schwere Dienstjahre nicht zuwege gebracht haben. Werde, sobald Seine Durchlaucht in L. einrückt, meinen Kratzfuß machen und mich vorstellen mit dem neuen Namen… Potz Blitz, die werden die Augen aufreißen da drinnen!“

Ein eigenthümlicher Seitenblick huschte bei diesen Worten hinüber nach Elisabeth, zugleich aber that der Sprechende ein paar kräftige Züge aus der Pfeife und hüllte plötzlich sein Gesicht in eine dicke Rauchwolke.

„Onkel!“ rief das junge Mädchen, „stelle Dich wie Du willst, ich weiß doch, daß Dir nicht einfällt, das zerbrochene Wappen der Gnadewitze wieder zusammenzufügen.“

„Aber ich sehe nicht ein, es ist ein ganz hübsches Wappen mit Balken, Sternen –“

„Und einem Rade voller Blutflecken,“ unterbrach ihn Elisabeth. „Gott behüte uns, daß wir es machen wie Jene, welche die Sünden ihrer Vorfahren aufgraben, um das Alter ihres Geschlechts zu beweisen, und die den Adel dadurch unadelig machen; eine größere Widersinnigkeit hat die ganze Welt nicht… Mir ist, als müßten sich die Schatten aller derer, die jenes hochmüthige, erbarmungslose Geschlecht gequält und durch das Leben gehetzt hat, anklagend erheben, wenn der Name wieder aufleben sollte, unter dessen Deckmantel Jahrhunderte lang alle erdenklichen Gräuel verübt worden sind… Und wie viel Herzeleid hat jenes übermüthige Geschlecht meinem armen Mütterchen zugefügt!“

„Ja wohl, ja wohl,“ bekräftigte Frau Ferber mit einem Seufzer, „für’s Erste verdanke ich ihm eine stürmische, freudenlose Kindheit; denn meine Mutter war ein liebenswürdiges, schönes, aber bürgerliches Mädchen, das mein Vater gegen den Willen seiner Verwandten geheirathet hat. Diese sogenannte Mißheirath wurde eine Quelle endloser Kränkungen und Leiden für die arme Bürgerliche. Mein Vater war nicht willensstark genug, um mit jener stolzen Hauptlinie Derer von Gnadewitz zu brechen und nur für seine Frau zu leben. Aus dieser Schwäche entstanden zahllose Conflicte zwischen meinen Eltern, die mir nicht verborgen bleiben konnten. … Nun, und wir,“ sie reichte ihrem Mann die Hand über den Tisch hinüber, „wir werden wohl die Kämpfe nie vergessen, welche wir durchmachen mußten, ehe wir uns gehören durften… Ich möchte nie wieder in jene Kaste zurückkehren, die, um dem äußeren Glanz und der Form zu genügen, so oft das warme, menschliche Fühlen unbarmherzig zertritt.“

„Das sollst Du auch nicht, Marie,“ beruhigte lächelnd Ferber, indem er ihre Hand drückte. Er warf einen schelmischen Seitenblick auf seinen Bruder, der mächtige Dampfwolken vor sich herblies und sich vergebens bemühte, die Stirn in düstere Falten zu legen.

„Ach, meine schönen Aussichten!“ seufzte dieser endlich in komischer Wehmuth. „Else, Du bist grausam und thöricht. Du bedenkst nicht, was ich Dir für ein Herrenleben verschaffen kann, wenn ich Oberforstmeister bin … und Du ein gnädiges Fräulein – nun, lockt Dich das nicht?“

Elisabeth schüttelte lachend, aber energisch den Kopf.

„Und wer weiß,“ nahm Miß Mertens das Wort, „ehe man sich dessen versähe, klopfte irgend ein edler Ritter von tadellosem Geblüt an das alte Gnadeck und holte sich die hochgeborene Goldelse als gnädige Frau heim.“

„Und Sie glauben, ich würde mit ihm gehen?“ rief Elisabeth heftig, und ihre Wangen flammten in hoher Röthe.

„Ei, warum denn nicht? … wenn Sie ihn liebten…“

„Nie, niemals!“ entgegnete das junge Mädchen mit fast erstickter Stimme, „auch wenn ich ihn liebte… Ich würde dann nur um so unglücklicher sein in dem Gedanken, daß der Nimbus meines Namens schwerer in die Wagschale gefallen sei, als mein Herz; daß in den Augen jenes Mannes alles Streben nach geistiger Höhe und moralischer Tüchtigkeit werthlos zusammensinke vor einem Schemen, den erbärmliche Menschensatzungen mit trügerischem Goldschaum bekleiden!“

[227] Frau Ferber heftete einen erstaunten Blick auf ihre Tochter, in deren Zügen sich plötzlich alle Spuren einer tiefen Gemüthsbewegung zeigten. Der Oberförster dagegen klemmte seine Pfeife zwischen den Zähnen fest und klatschte in seine gewaltigen Hände.

„Else, Goldkind!“ rief er endlich. „Na, gieb Deine Hand her, bist ein wackerer Kämpe durch und durch! … Ja, auch ich sage, Gott behüte mich, daß ich die Zahl derer vermehre, die um ihres persönlichen Vortheils willen ihren ehrlichen Namen aufgeben… Gelt’, Adolph, wir machen das Kirchenbuch in der kleinen schlesischen Dorfkirche, wo wir getauft worden sind, nicht zu Schanden, wir schreiben unseren Namen fort und fort, wie er dort eingetragen ist?“

„Und wie er ein halbes Jahrhundert hindurch in Freud’ und Leid uns treulich begleitet hat,“ bekräftigte Ferber mit seinem ruhigen Lächeln. „Das Document werde ich für diesen hier,“ er legte seine Hand auf den Lockenkopf des kleinen Ernst, „unseren Stammhalter, aufheben, bis er selbst ein eigenes, reifes Urtheil hat. Ich kann und darf jetzt nicht für ihn entscheiden; aber ich werde ihn dahin zu lenken wissen, daß er es dereinst vorzieht, seinen Weg durch eigene Kraft zu gehen und nicht, träge auf dem Lotterbett alter Traditionen und Ungerechtigkeiten liegend, Vorrechte genießt, die allein nur das edle Streben krönen sollten … Die Gnadewitze haben auf ihrer langen Laufbahn der Welt nichts gegeben, dafür aber um so mehr genommen; sie mögen modern in ihrer Gruft, und ihr unverdient berühmter Name mit ihnen!“

„Sela!“ rief der Oberförster und klopfte seine Pfeife aus. Er stand auf. „Jetzt wollen wir gehen,“ sagte er zu seinem Bruder, „und Rücksprache mit dem Lindhofer Pfarrer nehmen. Der Platz unter den schönen Linden auf unserem Dorfkirchhof gefällt mir tausendmal besser, als die drei düstern Wände da droben, zwischen denen unsere Stammmutter lange Jahre hat ruhen müssen. Und damit die ‚schwere, kalte Erde‘ ihren Sarg nicht berühre, wollen wir das Grab ausmauern und mit einem Stein verschließen lassen.“

Er entfernte sich, von Ferber und Reinhard begleitet, und während die Mutter und Miß Mertens den Juwelenkasten in Sicherheit brachten, stieg Elisabeth die Leiter am Erker in die Höhe, schob die Breter hinweg und schlüpfte hinab in das verborgene Gemach. Ein feiner Strahl der Abendsonne fiel schräg durch einen rubinrothen Glasstreifen des Fensters und warf auf den Namen „Lila“ einen blutigen Schein. Lange stand das junge Mädchen mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen neben dem einsamen Todtenschrein, in welchem jenes heiße Herz schlief seit dem Augenblick, da sein Jammer ein Ende hatte und in Grabesstille verhallte. Jahrhunderte waren vorübergeflogen; sie hatten all den hinreißenden Zauber jenes kurzen Daseins, die stürmischen Gefühle, durch die es seinen Untergang fand, hinweggespült, als sei all’ das nie gewesen, und doch wähnte das junge Herz, das bang und unruhig inmitten der stillen Todtenkammer klopfte, sein inneres Stürmen könne nie, niemals verhallen.


14.

Das Ereigniß auf Gnadeck war schon im Lindhofer Schlosse ruchbar geworden, noch bevor Reinhard dasselbe betrat. Die Maurer hatten auf ihrem Nachhauseweg durch den Park einem Bedienten die wunderbare Geschichte erzählt, worauf diese, von Mund zu Mund laufend, mit Blitzesschnelle zu den Damen des Hauses gedrungen war und dort beinahe die Wirkung einer hereinfallenden Bombe gehabt hatte.

Es war ein Lieblingsthema der Frau Baronin, die Lehre vom blauen Blut in ihrer Untrüglichkeit zu beweisen. Sie behauptete, mittels einer sehr feinen, empfindlichen Organisation das Vorhandensein dieses bevorzugten Lebensstromes zu erkennen, herauszufühlen an Personen, deren Namen sie noch nicht einmal wußte. Es war somit ganz natürlich; daß sie auch jedes versprengte edle Tröpflein in plebejischen Adern scharfsichtig erkannte. Aus dem Grunde gab sie auch stets bereitwillig zu, daß die „kleine Ferber“ etwas Distinguirtes in ihrer Erscheinung habe, als das unleugbare Erbtheil ihrer adelig geborenen Mutter… Dem Oberförster gegenüber hatte sich jedoch jene untrügliche innere Stimme immer so mäuschenstill verhalten, daß es ihr nicht im Traume eingefallen wäre, ihm für seinen Gruß anders zu danken, als mit einem Kopfnicken nach der Schablone für Niedrigstehende. Ja, im edlen Zorn darüber, daß dieser ungeschliffene Mensch und Gottesverächter seiner Nichte Bertha die ferneren Schloß- und Bibelstundenbesuche verboten hatte, war sie zum Oefteren so weit gegangen, zu behaupten, man sähe ihm seine gemeine Abkunft auf hundert Schritt Distance an… Und nun sollte gerade er ihren hundertmal erprobten Spürblick für aristokratisches Blut zu Schanden machen! Er war der Abkömmling eines berühmten Geschlechts, war der Träger eines Namens, den der Nimbus feudalen Glanzes bis in die fernste Zeit zurück umschwebte!

Freilich lag eine große Beruhigung für sie in dem Gedanken, daß das edle Blut durch bürgerliche Heirathen während zweier Jahrhunderte unkenntlich geworden sei. Sie sprach dies in sehr lebhafter Weise gegen Fräulein von Walde aus, die, still auf ihrem Ruhebett liegend, mit einem feinen, spöttischen Lächeln die Aufregung der Baronin beobachtete. War es nun das persönliche Interesse für die Familie Ferber, oder ein vorurtheilsfreier Standpunkt der jungen Dame, von welchem aus sie ihrer Cousine die kleine Lehre gönnte, genug, sie richtete sich auf und sagte lebhaft, nicht ohne eine leichte Beimischung von Schärfe: „Verzeihe, aber das ist ein kleiner Irrthum, Amalie … Ich weiß ganz genau, daß die Frau des Forstschreibers nicht die einzige Adelige ist, die in die Familie Ferber geheirathet hat. Sie sind ein schönes, geistig hervorragendes Geschlecht immer gewesen, dessen persönliche Vorzüge mehrere Mal den Sieg über Geburtsvorurtheile davongetragen haben … Es dürfte leicht sein, daß sich nicht mehr bürgerliche Heirathen in jener Familie aufzählen lassen, als deren auf den Stammbaum des guten Lessen fallen, und Du wirst doch sicher nicht aufstellen wollen, daß kein reines Blut in Bella’s Adern fließe?“

Ein leichtes Roth flackerte über die fahlen Wangen der Baronin und der Blick war nichts weniger als liebevoll und sanftmüthig, der unter den halbgesenkten, weißbewimperten Augenlidern hervor nach dem jungen Mädchen zuckte. Aber es erschien fast ebenso schnell ein versöhnliches Lächeln um ihren Mund. Sie fühlte zu ihrem Entsetzen seit gestern öfter den Boden unter ihren Füßen wanken. Es war deshalb eine erschreckende Wahrnehmung für sie, plötzlich da auf Widerspruch zu stoßen, wo sie seit einem Jahr blinde Unterwerfung und völlige Hingebung zu sehen gewöhnt war.

Sie hatte übrigens ganz Recht, wenn sie den Grund der Veränderung in Helenens Benehmen nicht eigentlich in dem „unseligen“ Einfluß von deren Bruder suchte, sondern die Schuld bei Weitem mehr ihrem Sohn zumaß, der in den letzten Tagen eine so eigenthümliche Haltung angenommen hatte. Helene war zwar im Grunde eine durchaus edle Natur, befähigt, sich für Großes und Edles zu begeistern und, vom besten Willen beseelt, das Gute zu thun, aber sie war von Kindheit auf daran gewöhnt, sich als den Mittelpunkt allseitiger zärtlicher Fürsorge und Rücksicht zu betrachten. Sie hatte, trotz ihrer körperlichen Gebrechen, nie die Bitterkeit der Zurücksetzung empfinden müssen. Um sie die Verkürzung ihrer natürlichsten Rechte vergessen zu machen, war Jedes im Umgang mit ihr beflissen, sie doppelt auszuzeichnen. Wohl wissend, daß sie dem Beruf als Gattin entsagen müsse, hatte sie doch ihr an Zärtlichkeit so reiches Herz jubelnd der ersten Liebe geöffnet, und wenn sie auch im Stillen weinend die Natur ob der ihr widerfahrenen Vernachlässigung und somit der Zerstörung ihres Lebensglücks anklagte, so blieb ihr doch immer die beseligende Gewißheit, daß ihre Neigung erwidert werde. Die unausgesetzten Aufmerksamkeiten Hollfeld’s, sein stetes Verweilen in Lindhof, einzelne, hingeworfene zärtliche Worte waren freilich geeignet gewesen, diese Meinung zu einer unerschütterlichen zu machen … Nun war er plötzlich beleidigend zerstreut ihr gegenüber und vernachlässigte sie auf eine unerhörte Weise. Sie litt namenlos, ihr ganzes Innere empörte sich, die gekränkte weibliche Würde, ein nie gekannter heftiger Zorn und ihre unsägliche Liebe rangen miteinander, sie war noch weit entfernt von jenem Stadium, welches edle Naturen früher oder später stets erreichen müssen, das der Resignation und Verzeihung. Sie wurde bitter und heftig, und diese Empfindungen offenbarten sich weniger dem, der ihr wehe that, als daß sie sich mit einer Art von Genugthuung gegen diejenige richteten, deren Tyrannei das junge Mädchen um ihrer Liebe willen bis dahin widerstandslos ertragen hatte.

Hollfeld hatte gerade, als die alte Kammerfrau der Baronin einer unerheblichen Meldung wegen in das Zimmer trat und alsbald [228] mit geläufiger Zunge die merkwürdige Begebenheit auf Gnadeck mittheilte, den Damen die Zeitung vorgelesen. Hätten Helenens Blicke nicht überrascht an den Lippen der Erzählenden gehangen, so wäre ihr sicher die plötzliche Veränderung in den Zügen ihres Vetters nicht entgangen. Athemlos, mit dem Ausdruck höchster Befriedigung hörte er zu. Die gefundenen Kleinodien hatten sich auf dem Weg über die verschiedenen Lippen zu einem „unermeßlichen Werth“ gesteigert und der einfache Sarg der schönen Lila war zu purem Silber geworden.

Auch die Baronin hatte die auffallende Umwandlung in dem bisher so mürrischen Wesen ihres Sohnes nicht bemerkt und schleuderte ihm, infolge jener bitteren Zurechtweisung Helenens, logischer Weise einen von dem jungen Mädchen ungesehenen Zornblick zu. Sie war jedoch sehr erstaunt, ihn plötzlich Helenen näher rücken zu sehen. Er legte das gestickte Rouleau im Nacken der jungen Dame zurecht und schob das Bouquet in der Blumenvase näher zu ihr hin, damit sie den Blumenduft bequemer einathmen könne.

„Helene hat ganz Recht, Mama,“ sagte er, einen sehr freundlichen Blick auf das junge Mädchen werfend, der mit einem glückseligen Lächeln erwidert wurde. „Es kommt Dir am wenigsten zu, den guten Adel der Familie anzufechten.“

Obgleich es ihr ein entsetzlicher Gedanke war, daß die bisher so tief unter ihr Stehende jetzt neben ihr stehen und an Reichthum sie sogar bedeutend überragen sollte, war die Baronin doch klug genug, die bittere Entgegnung, die ihr auf den Lippen schwebte, zu unterdrücken und sich mit der Aeußerung zu begnügen, daß die Sache denn doch zu unglaublich und fabelhaft klinge, als daß man ihr so unbedingt Glauben schenken dürfe. Sie müsse erst einen competenteren Augenzeugen hören, als die beiden Maurer seien, bevor sie sich entschließen könne, zu glauben.

Dieser competente Augenzeuge schritt eben wie gerufen unter den Fenstern vorüber. Es war Reinhard, der von dem Berge zurückkehrte. Er lächelte, als er schleunigst zu Fräulein von Walde befohlen wurde, denn aus den neugierigen Fragen des Bedienten ersah er, daß der Fund auf Gnadeck im Schlosse bereits bekannt war und daß er nur zu den Damen gerufen werde, um berichten zu sollen.

Bei seinem Eintritt wurde er auch sofort von Helene mit Fragen bestürmt. Er erzählte in seiner ruhigen Weise und es belustigte ihn über die Maßen, hinter den scheinbar nachlässig und gleichgültig hingeworfenen Fragen und Bemerkungen der Baronin die gespannte Neugier und den tiefsten Verdruß zu bemerken.

„Und werden die Ferber auf jenen Zettel hin in der That Anspruch auf den alten Namen erheben dürfen?“ fragte sie, eine große Dahlia aus der Blumenvase ziehend und daran riechend.

„Ich möchte wissen, wer ihnen das Recht streitig machen wollte,“ erwiderte Reinhard. „Es bleibt einfach zu beweisen, daß sie die Abkömmlinge jenes ausgesetzten Hans von Gnadewitz sind, und das können sie zu jeder Stunde.“

Die Dame legte den Kopf an die hohe Rücklehne ihres Stuhles und ließ die Lider wie ermüdet oder gelangweilt halb über ihre Augen sinken.

„Nun, und jene entdeckten Schätze von Golkonda, sind sie wirklich so unermeßlich, wie Frau Fama wissen will?“ fragte sie. Ihr Ton sollte spöttisch klingen, allein Reinhard’s feines Ohr hörte mit großer Genugthuung eine unsägliche Spannung und etwas wie eine geheime Angst heraus.

Er lächelte.

„Unermeßlich?“ wiederholte er. „Nun ja, es kommt bei dergleichen Dingen sehr viel auf den Begriff dessen an, den sie berühren… Ich kann hier nicht urtheilen.“

Er hätte es sehr gut gekonnt, wie wir wissen, aber er meinte ungalanter Weise, die kleine Aufregung der Ungewißheit sei der Dame ganz gesund.

Das Examen würde höchst wahrscheinlich noch nicht so schnell sein Ende erreicht haben, wenn nicht plötzlich Bella in ihrer lebhaften, aufgeregten Weise in das Zimmer gestürzt wäre.

„Mama, die neue Gouvernante ist angekommen!“ rief sie athemlos und warf mit einer schüttelnden Bewegung ihres Kopfes ihre rothen Locken zurück, die vornüber gefallen waren. „Pfui, die ist noch häßlicher, als Miß Mertens!“ fuhr sie fort, ohne die mindeste Rücksicht auf den danebenstehenden Reinhard zu nehmen. „Auf ihrem Hut hat sie knallrothes Band und ihre Mantille ist noch altmodischer, als die von Frau von Lehr … Mit der gehe ich ganz gewiß nicht aus, darauf kannst Du Dich verlassen, Mama!“

Die Baronin fuhr mit beiden Händen nach den Ohren.

„Kind, ich bitte Dich um Gotteswillen, sei nicht so laut!“ stöhnte sie. „Deine Stimme geht mir durch Mark und Bein.“ Doch erhob sie sich und ging in Begleitung ihrer grollenden Tochter hinüber in ihre Gemächer, um die Angekommenen in Augenschein zu nehmen. Zugleich wurde Reinhard von Fräulein von Walde entlassen.

„Befiehlst Du, daß ich weiter lese, Helene?“ fragte Hollfeld, nachdem die Drei das Zimmer verlassen hatten, in sehr verbindlicher Weise, während er die Zeitung wieder aufnahm.

„Später,“ entgegnete sie zögernd und richtete forschend, aber doch mit einer Art schüchterner Beklommenheit ihre Augen auf ihn. „Ich wollte Dich eigentlich bitten, da wir für einen Augenblick allein sind, mir endlich zu sagen, was Dich in den letzten Tagen so sehr verstimmt hat … Du weißt, Emil, daß es mich unsäglich schmerzt, wenn Du mir verweigerst, an dem, was Dich freut oder bedrückt, Theil zu nehmen. Du weißt auch, daß es nicht müßige Neugier ist, die in Deine Angelegenheiten eindringen will, sondern wahres, warmes Interesse für Dein Wohl und Wehe … Du siehst, daß ich schmerzlich unter Deiner kalten Verschlossenheit leide; sage mir offen, habe ich unwissentlich etwas gethan, um deswillen Du mich Deines Vertrauens nicht mehr für würdig hältst?“

Sie streckte wie flehend die Hände nach ihm aus; ein Stein hätte sich erbarmen mögen bei dem unsäglich weichen, trauervollen Klang ihrer Stimme.

Hollfeld bog das knisternde Zeitungsblatt zwischen seinen Fingern hin und her. Er hielt den Kopf gesenkt und vermied es consequent, dem reinen, offenen Blick des jungen Mädchens zu begegnen. Ein feiner Menschenkenner würde in dieser Haltung und den unter den gesenkten Lidern rastlos hin und her irrenden Augäpfeln wohl keinen Moment den Duckmäuser verkannt haben, der zögernd überlegt, wie er wohl am schlauesten handelt. Für ein arglos liebendes Mädchenherz dagegen mochte diese hohe, ein wenig nach vorn gebeugte Gestalt mit dem schönen Gesicht unter den prächtigen, blonden Haarwellen weit eher ein sinnender Apoll sein.

„Mein Vertrauen hast Du noch, Helene,“ unterbrach endlich der Angeredete das minutenlange Schweigen, „Du bist ja die Einzige in der Welt, der ich vertraue,“ – Helenens Augen leuchteten auf bei diesen Worten, die Arme war ja so stolz auf diese Auszeichnung – „aber es giebt herbe Nothwendigkeiten, die wir uns selbst zuerst nicht einmal eingestehen mögen, geschweige denn, daß wir den Muth haben, sie auszusprechen.“

Die junge Dame richtete sich betroffen und in unaussprechlicher Spannung in die Höhe.

„Ich bin gezwungen,“ fuhr Hollfeld stockend fort, „einen Entschluß zu fassen, der mir sehr, sehr schwer wird, und das lastet seit einigen Tagen auf mir.“

Er erhob jetzt den Blick, um zu sehen, welchen Eindruck seine Worte hervorgebracht hatten.

Helene schien offenbar keine Ahnung von dem zu haben, was er sagen wollte, denn sie veränderte ihre Haltung nicht im Geringsten und schien die Worte von seinen Lippen lesen zu wollen. Er sah sich also genöthigt, weiter zu operiren, ohne daß sie ihm zu Hülfe kam.

„Du weißt, Helene,“ sprach er langsam weiter, „daß ich seit einem Jahr unsäglichen Verdruß mit meinen Wirthschafterinnen gehabt habe. Sie laufen mir auf und davon, ehe ich mich dessen versehe, und ich vermag nichts, diesem Unwesen zu steuern. … Vorgestern hat mir die letzte, die kaum vor zwei Wochen den Dienst angetreten hat, wieder gekündigt … Ich bin außer mir, denn der bitterste Schaden erwächst mir aus dem ewigen Wechsel; meine Besitzung ist mir dadurch vollständig verleidet.“

„Ah, Du willst Odenberg verkaufen?“ unterbrach ihn Helene lebhaft.

„Nein, das würde Thorheit sein, denn es ist eines der schönsten Guter in Thüringen, aber ich bin gezwungen, einen andern Ausweg zu suchen; es wird mir nichts Anderes übrig bleiben als – mich zu verheirathen.“

Wenn eine plötzliche Gewalt die junge Dame gepackt hätte, um sie in einen fürchterlichen Abgrund zu schleudern, ihr Gesicht [229] würde sicher nicht mehr schreckensvolle Ueberraschung und Entsetzen ausgedrückt haben, als in diesem Augenblick. Sie öffnete die schneebleich gewordenen, zuckenden Lippen, aber kein Laut kam hervor, und unfähig, ihren Schmerz zu bewältigen, schlug sie plötzlich beide Hände vor das Gesicht und sank mit einem leisen Weheruf in die Kissen zurück.

Hollfeld eilte sofort an ihre Seite und nahm ihre beiden Hände in die seinigen.

„Helene,“ flüsterte er leise, aber zärtlich – der Ton gelang ihm vortrefflich – „willst Du, daß ich rede und Dir eine wunde Stelle in meinem Herzen zeige? … Du weißt es nur zu gut, daß ich liebe und daß diese Liebe meine erste und einzige durch mein ganzes Leben hindurch bleiben wird.“

Die Zunge verdorrte ihm nicht bei dieser abscheulichen Lüge ja, sie vermochte sogar, mit einer ihr sonst fremden Geschmeidigkeit tiefinnige Klänge anzuschlagen, welche die ganzen Gefühle des jungen Mädchens aufstürmten und in einen unaussprechlichen Taumel versetzten. Hätte ein guter Engel der Armen zugeflüstert, sie möge nur ein einziges Mal die Augen aufschlagen, so wäre freilich der furchtbare Schmerz der Enttäuschung unausbleiblich für sie gewesen, denn der Blick, der bei jener Versicherung über ihre verkrüppelte Gestalt hinglitt, war ein überaus spöttischer; aber sie hätte doch vielleicht in ihrer Entrüstung die Kraft gefunden, sich den Schlingen des erbärmlichen Egoisten zu entziehen. Ihre Augen blieben jedoch geschlossen, als wolle sie die ganze Außenwelt von sich weisen, um einzig in dem Klang der Stimme zu schwelgen, die zum ersten Mal das Wort der Liebe aussprach.

„Wollte Gott,“ fuhr er fort, „ich dürfte meinem Herzen folgen und nur dieser Neigung leben, denn wenn auch meine höchsten Wünsche unerfüllt bleiben, müssen, so bin ich doch glücklich neben Dir, in Deinem Umgang, Helene .… Aber, Du weißt, ich bin der letzte Hollfeld, schon aus dem Grunde bin ich gezwungen, mich zu vermählen … Es bleibt nur ein Mittel, mir dieses Opfer zu erleichtern: ich muß eine Frau wählen, die Dich kennt –“

„O, sag’ es nur schnell!“ rief Helene in ausbrechendem Schmerz, während unaufhaltsame Thränenströme aus ihren Augen stürzten, „Du hast bereits gewählt, meine Ahnung hat mich nicht betrogen, es ist Cornelie!“

„Die Quittelsdorf?“ rief er lachend, „dieser Irrwisch? … [230] Nein, da will ich doch lieber mein Hab und Gut in den Händen widerspenstiger Wirthschaftsmamsellen wissen! … Wo käme ich hin bei meinem ohnehin nicht sehr bedeutenden Einkommen mit solch’ einer putzsüchtigen, leichtsinnigen Frau! … Uebrigens sage ich Dir ja, und ich wiederhole es ausdrücklich, daß ich noch nicht gewählt habe; lasse mich denn ausreden, süße Helene, und weine nicht so schrecklich, Du zerschneidest mir das Herz. Ich muß also eine Frau haben, die Dich kennt und lieb hat, die einfachen Sinnes und so verständig ist, daß ich ihr sagen kann: mein Herz gehört einer Andern, die ich nicht besitzen kann, sei mir und dieser Anderen eine Freundin.“

„Und glaubst Du, dazu würde sich irgend Eine verstehen?“

„Gewiß, wenn sie mich lieb hätte.“

„Nun, ich könnte es nicht, nie, nie!“ Sie vergrub, convulsivisch schluchzend, ihr Gesicht in die Kissen.

Auf Hollfeld’s wachsbleicher, glatter Stirn erschienen plötzlich zwei häßliche Falten. Seine Lippen preßten sich aufeinander und die Farbe trat für einen Augenblick aus seinen Wangen. Er war offenbar sehr zornig. Ein Ausdruck des Hasses glühte in seinem Auge auf, als es auf der jungen Dame haftete, die ihm das Spiel, das er sich so leicht gedacht hatte, wider alles Erwarten erschwerte. Er beherrschte sich jedoch und hob mit sanfter, liebkosender Hand ihr Gesicht in die Höhe. Das arme Wesen zuckte und zitterte unter dieser heuchlerischen Berührung und ließ willenlos sein zartes Köpfchen auf seiner Hand liegen.

„Du würdest mich also verlassen, Helene,“ frug er traurig, „wenn ich den schweren Schritt thun müßte? würdest Dich von mir abwenden und mich einsam lassen mit einer ungeliebten Frau?“

Sie hob die vom Weinen gerötheten Lider in die Höhe und ein Strahl unsäglicher Liebe brach aus ihren Augen. Er hatte seine Rolle vortrefflich gespielt und erkannte aus diesem einen Blick sofort, daß er gewonnenen Boden unter den Füßen habe.

„Du kämpfst jetzt denselben Kampf,“ fuhr er fort, „den ich in den letzten Tagen durchmachen mußte, ehe ich zu dem festen Entschluß kam … Im Augenblick mag auch Dir der Gedanke schrecklich sein, daß eine dritte Person in unser schönes Verhältniß eintreten soll; ich gebe Dir aber mein Wort, daß dies durchaus nicht auf störende Weise geschehen wird … Bedenke, Helene, daß ich dann viel mehr für Dich thun, für Dich leben kann, als jetzt … Du kannst zu mir nach Odenberg ziehen, und ich will die Hände unter jeden Deiner Schritte legen, will Dich behüten und halten wie meinen Augapfel.“

Hollfeld besaß nicht Geist, dafür aber einen hohen Grad von Schlauheit, wie wir sehen, mit der er wirksamer agirte, als vielleicht ein Anderer mit bedeutenden Gedanken. Sein armes Opfer ging mit blutendem, zerrissenem Herzen und völlig zerstörter Willenskraft in sein Netz.

„Ich will es versuchen, den Gedanken zu ertragen,“ flüsterte Helene endlich fast unhörbar. „Was aber müßte das für ein Wesen sein, das mich duldete und das ich endlich als Schwester lieben lernte … Kennst Du wohl solch’ ein opfermuthiges, hochstehendes weibliches Gemüth?“

„Ich habe eine Idee … sie kam mir vorhin ganz plötzlich … sie ist aber ganz flüchtig und unausgebildet. Ich behalte mir vor, sie Dir nach reiflicher Ueberlegung mitzutheilen… Aber Du mußt erst ruhiger werden, theure Helene. Bedenke, ich lege ja die Wahl meiner künftigen Gattin einzig und allein in Deine Hände; es hängt von Dir ab, das zu verwerfen oder anzuerkennen, was ich Dir vorschlagen werde.“

„Und fühlst Du Dich stark genug, neben einem Weib zu leben, dem Dein Herz nicht gehört?“

Er unterdrückte weislich ein spöttisches Lächeln, denn Helenens Augen hingen an seinem Munde.

„Ich kann Alles, was ich will,“ antwortete er, „und Deine Nähe wird mir Kraft geben… Um Eines aber will ich Dich bitten, sage meiner Mutter noch nichts von dieser wichtigen Angelegenheit. Sie will, wie Du weißt, ihre Hände stets in Allem haben, und ich dulde nun einmal ihre Bevormundung nicht; sie erfährt die Sache noch zeitig genug, in dem Moment, wo ich ihr meine Braut vorstelle.“

Zu jeder anderen Zeit würde dieser herzlose, unkindliche Ausspruch Helenen empört haben, aber in diesem Augenblick hörte sie ihn kaum; denn ihr ganzes Fühlen und Denken wirbelte abermals in einem wilden Aufruhr durcheinander bei dem einzigen Wort „Braut“, das nun einmal – obgleich es sehr oft namenlos unglückliche Bräute giebt – den Begriff von Liebesseligkeit und Maiwonne an sich knüpft.

„O mein Gott!“ seufzte sie und rang die fest zusammengeballten Hände, die auf ihren Knieen lagen, in namenloser Qual. „Ich habe immer gehofft, das nicht erleben zu müssen… Nicht, daß ich so selbstsüchtig gewesen wäre, zu denken, Du solltest um meinetwillen einsam durch’s Leben gehen, aber ich glaubte, die voraussichtlich kurze Dauer meines Daseins würde Dich bestimmen, diesen Schmerzenskelch an mir vorübergehen zu lassen, Du würdest warten, bis meine Augen das Schreckliche nicht mehr sehen könnten.“

„Aber, Helene, wo geräthst Du hin?“ rief Hollfeld, nur noch mühsam seine Ungeduld unterdrückend. „Wer wird in Deinen Jahren an den Tod denken! … Leben, leben wollen wir und mit der Zeit noch recht glücklich werden, das hoffe ich ganz gewiß… Ich will Dich jetzt allein lassen. Ueberlege Dir die Sache, und Du wirst zu demselben Schluß kommen wie ich.“

Er drückte ihre Hände zärtlich an seine Lippen, hauchte einen Kuß auf ihre Stirn – was er bis dahin nie gethan hatte – nahm seinen Hut und verließ leise das Zimmer.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 16, S. 241–246
Fortsetzungsroman – Teil 15


[241] Draußen, nur durch die Thür von der armen getäuschten Helene geschieden, schlug Hollfeld verschmitzt lächelnd ein Schnippchen; wie gemein und bubenhaft sah er in diesem Augenblick aus! Er war über die Maßen zufrieden mit sich selbst… Noch vor einer Stunde war sein Herz von Grimm erfüllt gewesen. Seine Leidenschaft für Elisabeth, durch den Widerstand des jungen Mädchens zu einer rasenden angefacht, war in hellen Flammen über seinem eigenen Haupte zusammengeschlagen und hatte ihn seit gestern um alle seine gerühmte Selbstbeherrschung gebracht. Inmitten dieser Liebesraserei war ihm aber trotzdem nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, dem heißbegehrten Mädchen seine Hand zu bieten, um in ihren Besitz zu gelangen; er würde sich selbst für wahnsinnig gehalten haben, wenn eine solche Idee durch seinen Kopf geflogen wäre. Dafür aber zermarterte er sein Gehirn in niederträchtigen Plänen und Anschlägen, wie er den Widerstand der Forstschreiberstochter besiegen könne… Das Ereigniß auf Gnadeck lenkte plötzlich seine Gedanken in eine ganz andere Bahn. Das junge Mädchen war jetzt eine begehrenswerthe Partie, von altem Adel und reich. Kein Wunder, daß er innerlich aufjubelte bei der Nachricht und sofort den großmüthigen Entschluß faßte, die liebreizende Blume auf Gnadeck mit einem Heirathsantrag zu beglücken… Daß sie ohne Zögern die Ehre annehmen würde, lag natürlich außer allem Zweifel; denn wenn sie auch aus Koketterie seinen Liebesanträgen auf eine Zeit zu widerstehen vermocht hatte, so war das doch nicht denkbar der Aussicht gegenüber, vielbeneidete Frau von Hollfeld zu werden. Ueber diesen Punkt war er so vollkommen klar und sicher, daß auch nicht ein Wölkchen der Befürchtung ihm die lockende Aussicht verdunkelte… Es war indeß nicht der glühende Wunsch allein, Elisabeth zu besitzen, der ihn antrieb, so rasch wie möglich zu handeln; er mußte sich sagen, daß, wenn der Fund in den Ruinen bekannt wurde, auch noch andere Freier bei der ihrer Schönheit wegen bereits vielgenannten Goldelse anklopfen würden – schon der Gedanke machte ihm das Blut sieden.

Der Ausführung seines Entschlusses stand indeß noch ein Hinderniß entgegen, und das war Helene. Nicht etwa, weil ihm eine mitleidige Regung gekommen wäre darüber, daß das heißliebende Mädchen namenlos leiden müsse in Folge dieses Schrittes – was das betraf, so kannte er kein Erbarmen – wohl aber hatte er zu bedenken, daß er möglicherweise durch die plötzliche Heirath um die Erbschaft kommen könne, die er von Helene erwartete. Es galt also, vorsichtig und schlau zu sein. Wir haben gesehen, wie er kalten Blutes die tiefe, blinde Liebe der Unglücklichen ausbeutete und sie dadurch, daß er sich in seiner höchsten Lebensfrage ihr scheinbar unterwarf, unauflöslich an sich kettete.

Sobald er das Zimmer verlassen hatte, schwankte Helene nach der Thür und schob den Riegel vor. Jetzt erst überließ sie sich völlig ihrer Verzweiflung.

Wer sie nicht kennt, jene qualvollen Stunden, die auf eine ungeahnte, plötzlich wie aus der Luft herniederstürzende, zermalmende Nachricht folgen, jene Stunden, in denen der Mensch seinen Schmerz in die Welt hinausschreien möchte und wo er, der Stütze und des Trostes Anderer so bedürftig, doch scheu und wie gehetzt Dunkel und Einsamkeit aufsucht, als seien Licht und Klang tödtliches Gift für seine brennende Wunde; wem sie erspart wurden, jene Qualen, die plötzlich ein harmonisch geordnetes Gemüths- und Gedankenleben völlig aus den Fugen zu reißen vermögen: der wird freilich nicht begreifen, daß Helene auf dem Fußteppich zusammensank und verzweiflungsvoll in ihren Locken wühlte, während ihre kleine, gebrechliche Gestalt wie im Fieber hin und her geschüttelt wurde… Sie lebte und athmete ja nur in dieser glühenden Neigung! Hatten doch schon einige finstere Blicke, eine mehrtägige düstere Zurückhaltung des geliebten Mannes hingereicht, sie in den tiefsten Kummer zu versenken und sie sogar theilnahmlos zu machen für ein Ereigniß, das in früherer Zeit ihr schwesterliches Herz tief erschüttert haben würde; um wie viel mehr mußte sie jetzt leiden in der Ueberzeugung, daß sie ihn verlieren werde.

Obwohl ein wildes Chaos von Gedanken in ihrem Kopfe kreiste, so war sie doch unfähig, einen einzigen klaren, sichtenden zu erfassen. Das demüthigende Bewußtsein ihrer körperlichen Gebrechen, um deren willen sie aus ihrem geträumten Paradies gestoßen wurde, Hollfeld’s heutiges Bekenntniß seiner Liebe, das ihr zugleich Himmel und Hölle erschlossen hatte, eine wahnsinnige Eifersucht auf Diejenige, die sie noch gar nicht einmal kannte, welche aber dereinst an seiner Seite mit allen Rechten der Gattin stehen sollte, das Alles wogte und stürmte in ihr und drohte den schwachen Faden zu zerstören, der ihre Seele an den hinfälligen Körper fesselte.

Erst spät, nachdem die Nacht bereits hereingebrochen war, öffnete sie der besorgten Kammerfrau die Thür und ließ sich auf vieles Bitten derselben zu Bett bringen. Sie verbat sich streng den Besuch des Arztes, den die Zofe vorschlug, ließ der Baronin, die ihr persönlich gute Nacht wünschen wollte, hinaussagen, daß sie der größten Ruhe bedürfe und nicht gestört sein wolle, und verbrachte dann einsam die schrecklichste Nacht ihres Lebens.

Sie wurde erst ein wenig ruhiger, das heißt die furchtbare Spannung ihrer Nerven ließ nach, als das Morgenlicht durch [242] eine Spalte des Vorhanges in das Zimmer huschte. Es war, als glitte der dünne, goldene Strahl auch in ihre umnachtete Seele und werfe ein Streiflicht auf das, was ihre Gedanken im tollen Kreislauf unberührt gelassen hatten. Sie fing an zu überlegen, daß Hollfeld ja völlig selbstlos handele. Wenn auch die Nothwendigkeit, daß er sich vermählen müsse, stets wie ein Schreckbild vor ihr aufgestiegen war, so hatte sie dieselbe doch nie wegzuleugnen vermocht; und mußte sie es nicht anerkennen, daß ihr Gedanke, er werde warten, bis sie aus dieser Welt geschieden sei, in ihm keinen Raum gefunden hatte? Brachte er nicht auch ein schweres Opfer? denn er liebte ja sie, nur sie allein, und mußte sich entschließen, einer Anderen anzugehören; durfte sie ihm die Erfüllung einer heiligen Pflicht noch schwerer machen durch ihren Jammer? … Er forderte sie auf, einen mühevollen Weg mit ihm zu gehen; sollte sie sich da feig und muthlos zeigen, wo er eine große Willensstärke bei ihr vorausgesetzt hatte? … Und fand er ein Weib, das sich mit der Freundschaft begnügte, da, wo es mit vollstem Recht Liebe heischen konnte, wie hätte sie sich von ihr an Selbstverleugnung übertreffen lassen mögen?

In fieberhafter Hast griff sie nach der silbernen Glocke auf dem Nachttisch und berief die Kammerfrau, um sich ankleiden zu lassen. Ja, sie wollte entsagen, wollte stark sein; aber sie meinte auch, nur der ganzen, vollen Gewißheit gegenüber werde sie Muth und Stärke finden, und deshalb mußte sie vor Allem den Namen Derjenigen wissen, welche Hollfeld für geeignet hielt, die schwere Mission zu übernehmen. Sie hatte freilich bereits alle unverheiratheten weiblichen Wesen ihrer Bekanntschaft prüfend an sich vorübergehen lassen, doch da war auch nicht eine Einzige, die sie nicht sofort ungeduldig und heftig verworfen hätte.

Es war zwar noch nicht die Stunde, in welcher sie jeden Morgen mit der Baronin und Hollfeld zu frühstücken pflegte – ihr Bruder blieb diesen frühen Zusammenkünften stets fern – aber sie hielt es nicht länger aus in ihrem einsamen Zimmer und ließ sich, da sie sich sehr schwach fühlte, im Rollstuhl nach dem Eßsalon fahren. Zu ihrer Verwunderung hörte sie von dem Bedienten, der Alles zum Frühstück vorbereitete, daß die Baronin schon vor einer halben Stunde spazieren gegangen sei; das war ein seltener Fall, aber er kam der jungen Dame sehr erwünscht, denn in dem Augenblick, als sie sich in eine der Fenstervertiefungen rollen ließ, erblickte sie Hollfeld, der draußen auf dem großen Kiesplatze vor dem Schlosse auf und ab promenirte. Er schien keine Ahnung zu haben, daß er beobachtet wurde. Den breiten, schöngebauten Oberkörper elastisch auf den Hüften hin und her wiegend, schritt er rasch und leicht dahin. Dann und wann führte er mit sichtlichem Wohlbehagen die Cigarre an den Mund, deren feiner Duft durch das geöffnete Fenster bis zu Helene drang. Die junge Dame war zuerst schmerzlich betroffen und wollte es sich durchaus nicht eingestehen, daß das Aussehen des Geliebten ein auffallend frisches war und von heiterster Laune zeugte, aber es war ihr unmöglich, in seiner Haltung, in jeder Bewegung, ja, selbst in dem halb unbewußten Lächeln, das seine Lippen öffnete und die wunderschönen Zähne sehen ließ, einen anderen Ausdruck zu finden, als den eines kecken, jugendlichen Uebermuthes, der Lebenslust und eines unendlichen Behagens… Da war auch nicht eine Spur jener Kämpfe zu entdecken, in denen sie die Nacht verbracht hatte; wie ein Opfer grausam gebieterischer Verhältnisse sah er ganz gewiß nicht aus … Oder wirkte hier eine große, geistige Kraft, der starke, männliche Wille? Dann mußten beide einen Höhepunkt erreicht haben, der an das Uebermenschliche streifte.

Die junge Dame zog finster die Augenbrauen zusammen.

„Emil!“ rief sie heftig, mit fast rauher Stimme hinab.

Hollfeld erschrak sichtlich, aber mit einem Satz stand er unter dem Fenster und schwenkte grüßend den Hut.

„Wie?“ rief er, „Du bist schon hier? … Darf ich hinaufkommen?“

„Ja!“ klang es in bereits milderem Ton herab.

Nach wenig Augenblicken trat er in den Salon. Helene hatte jetzt eher Grund, mit seinem Aussehen zufrieden zu sein; denn es lag ein tiefer Ernst auf seiner Stirn. Er warf seinen Hut auf den Tisch und rückte einen Stuhl neben die junge Dame. Ihre beiden Hände zärtlich an sich ziehend, sah er ihr in’s Gesicht; er schien selbst betroffen zu sein über ihre aschbleichen Wangen und den erloschenen Blick, der dem seinen begegnete.

„Du siehst sehr übel aus, Helene,“ bemerkte er theilnehmend.

„Und nimmt Dich das Wunder?“ fragte sie, unfähig, ihre Bitterkeit zu unterdrücken. „Mir ist leider jene glückliche Gabe des Gleichmuths versagt, mittels der man schon wenige Stunden nach einer herben Prüfung wieder heiter und lebensfroh in die Welt blicken kann… Ich beneide Dich.“

Ihr Auge streifte vorwurfsvoll sein blühendes Gesicht. Er verwünschte innerlich seine Morgenpromenade, oder vielmehr die Unvorsichtigkeit, mit der er seine Gedanken an Elisabeth und den Sieg, welchen er über das spröde Mädchen feiern werde, zur Schau getragen hatte.

„Du bist ungerecht, Helene,“ entgegnete er lebhaft, „wenn Du mich nach meiner äußeren Haltung beurtheilst… Soll denn der Mann, wenn er sich in das Unvermeidliche fügen muß, weinen und wehklagen?“

„Nun, davon schienst Du vorhin auch sehr weit entfernt zu sein.“

Ein unaussprechlicher Aerger bemächtigte sich seiner. Das armselige Wesen da vor ihm, das bei seinem mißgestalteten Körper Gott danken mußte, wenn ein Mann ihm gegenüber sich überwand, nicht gerade unfreundlich und abstoßend zu sein, und das auch wirklich früher jede kleine Aufmerksamkeit mit unsäglicher Dankbarkeit aufgenommen hatte – es wurde plötzlich so anmaßend, ihm Vorwürfe zu machen. Obgleich er Alles daran gesetzt hatte, sie an seine feurige Liebe glauben zu machen, meinte er doch innerlich, es sei eine grenzenlose Eitelkeit von der kleinen Buckligen, sich einzubilden, sie könne in der That eine solche Neigung einflößen; auch erkannte er voll Ingrimm, daß er es hier mit dem „hartnäckigsten Eigensinn und einer widerwärtigen Sentimentalität“ zu thun habe. Es kostete ihm unsägliche Mühe, sich zu beherrschen, aber er that es, und es glückte ihm sogar ein Lächeln mit einem Anstrich von Melancholie, was ihn in diesem Augenblick sehr interessant erscheinen ließ.

„Wenn Du hörst, weshalb ich vorhin heiter ausgesehen habe, so wirst Du Deinen Vorwurf gewiß bereuen,“ sagte er. „Ich vergegenwärtigte mir nämlich den Moment, wo ich vor Deinen Bruder hintreten und sagen darf: ‚Helene hat sich entschlossen, künftig in meiner Familie zu leben,‘ und ich leugne nicht, daß ich das mit einer Art von Genugthuung dachte; denn er hat ja von jeher meine Liebe zu Dir mit scheelen Augen angesehen.“

Helene bemühte sich, das, was er vorgab, mit seinem Aussehen von vorhin in Einklang zu bringen, und es harmonirte denn auch vortrefflich. Sie reichte ihm aufathmend die Hand.

„Ich glaube Dir,“ sagte sie innig, „der Verlust dieses Glaubens wäre ja auch mein Todesurtheil … Ach, Emil, Du darfst mich nie, niemals hintergehen; auch nicht, wenn Du denkst, daß es zu meinem Heile sei – ich will lieber eine schlimme Wahrheit hören, als den qualvollen Verdacht mit mir schleppen, daß Du nicht wahr gegen mich seiest … Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt, aber jetzt bin ich gefaßter und bitte Dich, mir die Idee mitzutheilen, von der Du gestern sprachst. Das fühle ich klar, ich werde nicht eher mein inneres Gleichgewicht wieder erlangen, als bis ich das Gesicht kenne, das für die Zukunft zwischen uns stehen soll. Bis jetzt ist dieses Wesen nur noch ein Phantom für mich, und ich glaube, eben in dieser Unsicherheit liegt die quälende Unruhe, die mich verzehrt … also den Namen, Emil, ich bitte Dich inständig!“

Hollfeld’s Augen irrten wieder am Boden. Die Sache schien ihm sehr mißlich in diesem Augenblick.

„Weißt Du auch, Helene“ begann er endlich, „daß ich großes Bedenken trage, heute die Angelegenheit mit Dir zu besprechen? … Du bist sehr angegriffen; ich fürchte, ein eingehendes Gespräch macht Dich krank. Und dann muß ich sagen daß mir mein gestriger Gedanke, je öfter ich ihn beleuchte, immer praktischer erscheint; es sollte mir deshalb sehr leid thun, wenn Du in der Aufregung seine vortheilhaften Seiten übersähest.“

„Das werde ich ganz gewiß nicht!“ rief Helene, sich lebhaft emporrichtend, ihr Auge hatte einen fieberhaften Glanz. „Ich habe mich überwunden und bin bereit, mich in das Unvermeidliche zu fügen … Ich verspreche Dir, so völlig unparteiisch zu sein, als ob – ich nicht liebte.“ Sie erröthete, denn zum ersten Mal sprach sie das Wort aus.

„Nun denn,“ sagte Hollfeld zögernd – er vermochte nicht ganz seine innere Erregung zu beherrschen – „was meinst Du zu dem jungen Mädchen auf Gnadeck?“

[243] „Elisabeth Ferber?“ rief Helene auf’s Höchste überrascht.

„Elisabeth von Gnadewitz,“ verbesserte Hollfeld rasch. „Gerade die plötzliche Veränderung ihrer Stellung hat mich auf die Kleine aufmerksam gemacht. Bis dahin habe ich sie wenig beachtet und ist mir nur ihr bescheidenes Wesen und die große Ruhe in ihren Gesichtszügen aufgefallen.“

„Wie, an der reizenden, wunderbar beseelten Erscheinung wäre Dir nichts bemerkenswerth vorgekommen, als die Ruhe und Bescheidenheit?“

„Nun ja,“ entgegnete er gleichgültig. „Ich erinnere mich, daß Du manchmal über Deine eigenen Finger ärgerlich wurdest, während sie nie eine Miene verzog und geduldig immer wieder von vorn anfing, bis Du ihr folgen konntest. Das gefiel mir schon damals. Ich halte sie für einen sehr ruhigen Charakter, und den muß vor Allem meine künftige Frau haben. Auch ist es nicht zu verkennen, daß sie Dich verehrt; damit wäre die Hauptbedingung erfüllt. Ferner ist sie in engen, beschränkten Verhältnissen aufgewachsen; sie wird keine Ansprüche machen und sich leicht in die Stellung Dir und mir gegenüber finden. Ich glaube, sie hat Tact, ist sehr häuslich erzogen, ein großer Vorzug, und –“

Helene war in das Kissen zurückgesunken und legte die Hand über die Augen.

„Nein, nein!“ rief sie, sich rasch wieder aufrichtend und seinen eifrigen Redefluß unterbrechend. „Nicht das arme, liebliche Kind! Elisabeth verdient, geliebt zu werden.“

Ein plötzliches Hundegeheul unterbrach sie und ließ sie selbst einen Schrei des Schreckens ausstoßen. Hollfeld hatte seiner Diana, die mit hereingekommen war und zu den Füßen ihres Herrn hingestreckt lag, auf die Pfote getreten. Dieser Zwischenfall kam ihm sehr gelegen, denn Helenens letzte Worte klangen, seinen eigenen glühenden Wünschen gegenüber, so komisch, daß er lachen mußte. Er öffnete die Thür und jagte das hinkende Thier hinaus. Als er zu dem jungen Mädchen zurückkehrte, waren seine Züge wieder völlig ruhig und beherrscht.

„Lieben wollen wir ja die Kleine auch, Helene,“ sagte er anscheinend gleichmüthig, während er seinen Platz wieder einnahm – Helene war zu sehr erregt und wohl auch zu reinen Sinnes, um die leichte Beimischung von Frivolität in seinem Ton herauszuhören – „sie soll Dir nur den Vorrang lassen in meinem Herzen, und das wird sie auch gewiß … Sie besitzt sehr viel ruhige Ueberlegung und Kaltblütigkeit, das hat sie vorgestern vollständig bewiesen, als sie Rudolph rettete.“

„Wie so?“ rief Helene, die Augen voll unsäglichen Erstaunens weit öffnend.

Der Diener, welchem gestern wider Willen das Ereigniß im Walde entschlüpft war, hatte, erschrocken über sein Versehen, alle näheren Umstände des Attentates unerörtert gelassen und war einfach dabei stehen geblieben, daß der beabsichtigte Schuß Herrn von Walde glücklicherweise nicht getroffen habe. Auch Hollfeld hatte den Sachverhalt erst vor einer Stunde ausführlicher vom Gärtner erfahren. Das unerschrockene Benehmen Elisabeth’s verlieh ihr, wie man denken kann, in seinen Augen einen neuen Reiz und stachelte seine Sehnsucht, sie so rasch wie möglich zu gewinnen, auf’s Höchste. Er theilte Helene jetzt Alles mit, was er über die Begebenheit erfahren hatte, und schloß mit den Worten: „Du hast jetzt einen Grund mehr, das Mädchen zu lieben, und mich bestärkt ihre Handlungsweise in dem Glauben, daß sie die Einzige ist, die in die Verhältnisse paßt.“

Hiermit hatte er sein letztes Pulver verschossen. Er strich mit seiner weißen, schlanken Hand langsam das Haar von der Stirn zurück und beobachtete dabei hinter dem vorgehaltenen Arm gespannt die junge Dame, die den Kopf so in das Kissen gedrückt hatte, daß er nur ihr Profil sehen konnte. Aus ihren geschlossenen Lidern quollen Thränen; sie sprach kein Wort mehr, vielleicht rang sie zum letzten Male mit sich selbst.

Warum sie aber nicht ein einziges Mal die Frage aufwarf, ob auch Elisabeth in der That Hollfeld ihre Neigung zuwenden werde? Das wird sich vielleicht manche Leserin selbst beantworten können, sobald sie bedenkt, daß das liebende Herz gewöhnlich den Gegenstand seiner Leidenschaft für unwiderstehlich hält und es schwer begreift, wenn er nicht allen andern Menschenkindern ebenso begehrenswerth erscheint.

„Das Schweigen, das peinlich zu werden anfing, wurde durch das Eintreten der vom Spaziergang zurückkehrenden Baronin unterbrochen. Helene fuhr in die Höhe und trocknete rasch ihre Thränen. Mit sichtlicher Ungeduld ließ sie sich die Liebkosungen gefallen, mit denen sie von der augenscheinlich sehr echauffirten Dame förmlich überschüttet wurde, und antwortete sehr einsilbig auf die Fragen nach ihrem Befinden.

„Nun,“ sagte die Baronin, nachdem sie schwerfällig in einen Fauteuil gesunken war, „da hat uns der einfältige Reinhard gestern schön blau anlaufen lassen … Ich begegnete auf meiner Promenade zufälliger Weise dem Forstschreiber Ferber droben bei den Ruinen … ich gratulirte ihm auch wegen der gefundenen Kostbarkeiten, und da sagte er mir, aus was sie beständen, und erzählte mir auf mein Befragen ohne Umstände, daß sie ungefähr achttausend Thaler werth seien; und das nennt der Mensch, der Reinhard, einen unermeßlichen Werth … Einstweilen aber Gott befohlen. Ich muß mich umkleiden, bin jedoch in wenigen Augenblicken wieder hier.“

Aus Hollfeld’s Gesicht war das spöttische Lächeln verschwunden, mit dem er die Erzählung seiner Mutter angehört, und hatte einem unverkennbaren Ausdruck der Enttäuschung Platz gemacht; es war ihm plötzlich zu Muthe, als ob ein kaltes Sturzbad sich über ihn ergossen habe.

Kaum hatte sich die Thür hinter der Baronin geschlossen, als Helene aus ihrer bisherigen scheinbaren Apathie erwachte und Hollfeld beide Hände entgegenstreckte.

„Emil,“ sagte sie rasch, wenn auch mit etwas verschleierter Stimme und bebenden Lippen, „wenn es Dir gelingt, Elisabeth’s Herz zu gewinnen, was ich nicht bezweifle, dann gehe ich auf Deinen Plan ein; aber es bleibt dabei, daß ich bei Euch in Odenberg wohne.“

„Das versteht sich,“ entgegnete er, wenn auch etwas zögernd; sein Ton hatte bei Weitem nicht mehr die Festigkeit von vorhin, „aber ich mache Dich vorher darauf aufmerksam, daß Du eine etwas schmale Küche finden wirst … Meine Einkünfte sind nicht besonders glänzend, und daß Elisabeth so gut wie gar nichts besitzt, hast Du eben gehört.“

„Sie soll nicht arm in Dein Haus kommen, Emil, darauf verlasse Dich,“ antwortete das junge Mädchen mit weichem Ton und unnatürlich glänzenden Augen. „Von dem Augenblick an, wo sie erklärt, die Deine sein zu wollen, ist sie meine Schwester… Ich will redlich mit ihr theilen … ich weise ihr vorläufig die Einkünfte von meinem Gut Neuborn in Sachsen zu und werde über diesen Punkt mit Rudolph sprechen, sobald er zurückkehrt… Und wenn ich die Augen schließe, so gehört Euch Beiden dann Alles, was ich besitze … Bist Du zufrieden mit mir?“

„Du bist ein Engel, Helene!“ rief er. „Niemals sollst Du Deine Großmuth und aufopfernde Liebe bereuen!“

Diesmal war sein Feuer, seine Ekstase nicht erheuchelt, denn die Einkünfte von Neuborn machten Elisabeth zu einer sehr reichen Braut.


15.

Zwei Tage waren vergangen seit dem Morgen, an welchem Helene, wie sie wähnte, den vollständigen Sieg über sich selbst errungen hatte, wo sie fest überzeugt war, der unumstößlichen Gewißheit gegenüber werde das Stürmen und Wogen ihrer aufgeregten Gefühle sich beruhigen … Wie wenig war sie im Stande gewesen, die Tiefe ihrer Leidenschaft zu bemessen! Sie hatte nach einem Strohhalm in der empörten Fluth gegriffen und er war treulos mit ihr gesunken … Nur zwei Tage! … aber sie wogen ihr ganzes bisheriges Leben an Seelenschmerzen auf. Sie sagte sich unaufhörlich, daß das Ziel ihrer Tage, die heißersehnte Ruhe, nicht fern sei, und doch schauderte sie vor dem kurzen Stück irdischen Daseins, das noch vor ihr lag, wie die nichtgläubige Seele angesichts des Grabes. Sie fühlte immer deutlicher, daß ihr Versprechen, in Odenberg leben zu wollen, ihr Opfer erst recht zu einem übermenschlichen mache; aber um keinen Preis hätte sie auch nur ein Jota an dem ändern mögen, was sie Hollfeld gelobt hatte, sie wollte seiner Liebe würdig sein, wollte seine Achtung verdienen durch die ungeheuerste Selbstüberwindung – Arme Verblendete!

Ihr schwaches Nervenleben litt unbeschreiblich unter den fortgesetzten innern Kämpfen. Sie fieberte beständig und wurde von einer quälenden Unruhe fast aufgerieben. Fort und fort drängte sich das, womit sich ihr ganzes Denken und Empfinden ausschließlich [244] beschäftigt, auf ihre Lippen, aber sie schwieg pflichtschuldigst, weil Hollfeld es wünschte. Ebensowenig hatte er erlaubt, daß sie Elisabeth in den ersten Tagen zu sich berufen durfte, denn er fürchtete, vielleicht nicht mit Unrecht, sie möchte ihm in ihrer Aufregung das Spiel bei dem jungen Mädchen verderben. Er selbst hatte bereits die ersten Schritte gethan, um sich Elisabeth wieder zu nähern. Er war schon zweimal vor dem Mauerpförtchen erschienen, um „der Familie von Gnadewitz“ seine Aufwartung zu machen, aber, ob er auch den Klingelgriff fast abgerissen hatte, es war ihm doch nicht aufgethan worden. Das erste Mal war in der That Niemand zu Hause gewesen; gestern jedoch hatte Elisabeth ihn kommen sehen. Die Eltern waren mit Ernst im Forsthause, und Miß Mertens erklärte sich mit der Absicht des jungen Mädchens, den Besuch nicht einzulassen, völlig einverstanden. Die Beiden saßen lachend oben in der Wohnstube, während die kleine Mauerglocke sich fast heiser läutete. Von diesem Complot hatte der Untenstehende freilich keine Ahnung. –

Es war sieben Uhr Morgens. Helene lag bereits angekleidet auf ihrem Ruhebett; sie hatte sich die ganze Nacht schlummerlos auf ihrem Lager umhergeworfen. Die Baronin schlief noch, Hollfeld war ebensowenig sichtbar, allein sein konnte und wollte die junge Dame um keinen Preis, deshalb hatte die Kammerfrau eine Handarbeit nehmen und sich zu ihr setzen müssen. Was das Mädchen plauderte, es flog unverstanden an ihren Ohren vorüber, aber nichtsdestoweniger hatte der Klang einer menschlichen Stimme nach der einsamen, fieberhaften Nacht etwas Beschwichtigendes für sie.

Das Geräusch eines näherkommenden Wagens ließ plötzlich die Erzählerin verstummen. Helene öffnete das Fenster und bog sich hinaus. Eben verließ die zurückkehrende Equipage ihres Bruders die Chaussee und ihre Räder sanken tief ein in den hochaufgeschichteten, knirschenden Kies des breiten Parkfahrweges. Der Wagen war leer.

„Wo ist Dein Herr?“ rief Helene dem Kutscher zu, als er ziemlich nahe vorüberfuhr.

„Der gnädige Herr sind auf der Chaussee ausgestiegen,“ antwortete der alte Mann, seinen Hut abnehmend, „und kommen zu Fuße über den Berg, bei dem Gnadecker Schloß vorüber.“

Die junge Dame schlug das Fenster zu und schauerte zusammen, als fröstele sie; das einzige Wort „Gnadeck“ hatte ihre Nerven berührt, wie ein elektrischer Schlag. Sie konnte nichts mehr hören, was sie an Elisabeth erinnerte, ohne jenen jähen Schrecken zu empfinden, den z. B. eine plötzlich erscheinende Spukgestalt unserer Einbildungskraft verursacht.

Sie erhob sich und ging, gestützt auf die Kammerfrau, hinunter in die Zimmer ihres Bruders. In dem Salon, dessen Glasthüren auf die Freitreppe mündeten, ließ sie ein Frühstück serviren und setzte sich, den Zurückkehrenden erwartend, in einen Lehnstuhl. Sie nahm eines der prachtvoll gebundenen Albums, die auf den Tischen umherlagen, auf den Schooß; mechanisch wendete ihre Hand die Blätter um, ihre Augen ruhten wohl auf den feinen Stahlstichen, aber sie hätte um Alles nicht zu sagen gewußt, ob sie ein Portrait oder eine Landschaft ansehe.

Nach halbstündigem Warten erschien endlich die hohe Gestalt ihres Bruders in der Glasthür. Sie ließ das Buch von ihrem Schooß heruntergleiten und streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. Er schien überrascht von dem Empfang, aber es berührte ihn offenbar sehr wohlthuend, die Schwester nach so langer Zeit wieder einmal allein und für seine Bequemlichkeit zärtlich besorgt zu sehen. Rasch eilte er zu ihr hin, allein ein zweiter Blick, den er auf ihr Gesicht warf, machte ihn stutzen.

„Fühlst Du Dich kränker, Helene?“ fragte er besorgt, indem er sich neben sie setzte. Er schob seinen Arm unter ihren Rücken und hob sie sanft ein wenig höher, um besser in ihr Gesicht sehen zu können. Es lag so viel Bekümmerniß und zärtliche Theilnahme in seinem Blick und Ton, daß es ihr war, als zöge plötzlich eine milde Frühlingsluft schmelzend durch ihr schmerzerstarrtes Innere. Zwei schwere Thränen rollten über ihre Wangen und sie drückte ihr Gesicht fest an die Schulter ihres Bruders.

„Hat Fels in diesen Tagen nicht nach Dir gesehen?“ fragte er beklommen. Das Aussehen des jungen Mädchens versetzte ihn offenbar in heftige Sorge.

„Nein – und ich habe auch ausdrücklich befohlen, daß man ihn nicht rufen solle. Ich nehme die Tropfen, die er mir für meine Nervenanfälle verschrieben hat; mehr können er und ich nicht thun… Aengstige Dich nicht, Rudolph, es wird wohl auch einmal wieder besser mit mir … Du hast eine schwere Zeit in Thalleben durchmachen müssen?“

„Ja,“ entgegnete er, während sein Auge noch immer ängstlich auf den merkwürdig veränderten Zügen der Schwester ruhte. „Ich fand den armen Hartwig nicht mehr am Leben; ein Schlagfluß hatte seinen unaussprechlichen Qualen rasch ein Ende gemacht … Gestern Abend wurde er beigesetzt. Seine unglückliche Frau würdest Du nicht wiedererkennen, Helene, sie ist über Nacht zur Matrone geworden.“

Er theilte ihr noch Näheres mit über den Unglücksfall, dann strich er mit der Hand über die Augen, als wolle er damit all’ den Jammer, den er in den letzten Tagen mit angesehen, wegwischen.

„Nun, und finde ich hier Alles beim Alten wieder?“ frug er nach einem kurzen Schweigen.

„Nicht ganz,“ antwortete Helene zögernd, „Möhring hat gestern unser Haus verlassen … und auf dem Berge, bei den Ferbers, ist das Glück eingekehrt,“ fuhr sie mit gepreßter Stimme und abgewendetem Gesicht in ihrem Bericht fort.

Der Fauteuil, auf welchem sie saß, erhielt plötzlich einen Ruck an der Seite, wo ihr Bruder seinen Arm aufgestützt hatte. Sie sah nicht auf, und deshalb bemerkte sie nicht, wie das Gesicht neben ihr für einen Augenblick mit einer fahlen Blässe überzogen wurde und wie die bebenden Lippen zweimal vergebens sich mühten, um endlich das einzige Wörtchen „nun?“ hervorzubringen.

Helene erzählte die Begebenheit in den Ruinen, während ihr Bruder aufathmend zuhörte. Mit jedem Wort weiter schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen; er ahnte freilich nicht, daß jedes dieser Worte wie ein zweischneidiges Schwert in dem Herzen der Erzählerin wühlte und daß diese Mittheilung bereits der Anfang eines furchtbaren Opfers war, das sie bringen sollte.

„Das ist in der That eine wunderbare Lösung alter Räthsel,“ sagte er, nachdem Helene geendet hatte. „Ob aber die Familie es für ein Glück hält, dem Geschlecht der Gnadewitz anzugehören, bezweifle ich.“

„Ah, Du meinst,“ unterbrach ihn Helene rasch, „weil das junge Mädchen einst sehr viel an dem Namen auszusetzen hatte? … Ich kann mir nicht helfen, aber ich denke bei dergleichen Dingen manchmal unwillkürlich an die Trauben, die dem Fuchs zu sauer sind.“ Sie sprach die letzten Worte mit einer schneidenden Schärfe. Soweit ging ihre leidenschaftliche Aufregung und Bitterkeit, daß sie ihre bessere Einsicht verleugnete und die Gesinnungen eines Wesens verdächtigte, das sie nie beleidigt und welches sie früher bei unparteiischer Anschauung als eines der reinsten bezeichnet hatte.

Ein Ausdruck des höchsten Erstaunens erschien in Herrn von Walde’s Zügen. Er bog sich nieder und sah forschend in das gesenkte Gesicht der Schwester, als wolle er sich überzeugen, ob es wirklich ihr Mund gewesen sei, der diese herben Worte gesprochen hatte.

In diesem Augenblick sprang Hollfeld’s Jagdhund die Stufen herauf, machte einige täppische Sprünge durch das Zimmer und verschwand sofort wieder auf einen grellen Pfiff, der über den breiten Kiesplatz herüberscholl. Sein Herr ging drüben vorüber. Er schien nicht zu wissen, daß Herr von Walde zurückgekehrt war, sonst würde er doch gewiß gekommen sein, ihn zu begrüßen. Er schritt eilig vorwärts und bog in den Weg ein, der hinauf nach Gnadeck führte. Helenens Blicke folgten der Gestalt, bis sie verschwunden war, dann sank sie mit krampfhaft gefalteten Händen in den Stuhl zurück; es sah aus, als versagten ihr momentan die Kräfte.

Herr von Walde schenkte ein wenig Rothwein in ein Glas und hielt es an ihre Lippen. Sie sah dankbar auf und versuchte zu lächeln.

„Ich bin noch nicht zu Ende mit meinem Bericht,“ begann sie wieder und richtete sich auf aus ihrer halbliegenden Stellung. „Ich mache es, wie der Romandichter, der den Haupteffect bis zuletzt aufhebt;“ es war nicht zu verkennen, daß sie während dieser Vorrede, die scherzhaft klingen sollte, nach Kraft und Festigkeit rang, um das, was sie sagen mußte, ruhig vorzubringen. Ihr Auge haftete angestrengt auf einem der gegenüberliegenden Bosquets, während sie fortfuhr: „Unserem Hause steht ein glückliches Ereigniß bevor, Emil – wird sich verloben.“

Sie hatte sicher erwartet, ihr Zuhörer werde sofort seine [246] höchste Ueberraschung aussprechen, denn nach einem augenblicklichen, tiefen Schweigen drehte sie sich erstaunt nach ihm um. Er hatte die Hand auf Stirn und Augen gepreßt und der Theil des Gesichts, den sie nicht bedeckte, war aschbleich. Bei Helenens Bewegung, jedoch ließ er die Hand sinken, erhob sich rasch und trat an das offene Fenster, um frische Luft einzuathmen.

„Bist Du unwohl, Rudolph?“ rief sie ängstlich hinüber.

„Ein vorübergehender Schwindel, weiter nichts,“ antwortete er und näherte sich ihr wieder. Seine Züge sahen entstellt aus. Er ging einigemal im Zimmer auf und ab und nahm dann seinen Platz wieder ein.

„Ich habe Dir gesagt, daß Emil sich verloben will, Rudolph,“ begann Helene wieder, jedes Wort markirend.

„Das hast Du gesagt,“ wiederholte er tonlos und mechanisch.

„Du billigst diesen Schritt“

„Der geht mich nichts an. Hollfeld ist sein eigener Herr; er kann thun, was ihm beliebt.“

„Ich glaube, er hat gut gewählt. Dürfte ich, so wollte ich Dir den Namen des jungen Mädchens nennen.“

„Ist nicht vonnöthen … Ich werde ihn früh genug hören, wenn er von der Kanzel herab verkündigt wird.“

Sein Gesichtsausdruck war eisig, die Stimme klang rauh und abweisend und aus den Wangen schien auch der letzte Blutstropfen entwichen zu sein.

„Rudolph, ich bitte Dich, sei nicht so entsetzlich schroff!“ bat Helene flehentlich. „Ich weiß ja, daß Du die vielen Worte nicht liebst, und bin an Deine lakonischen Antworten gewöhnt; aber in diesem Augenblick bist Du geradezu abstoßend, und gerade jetzt, wo ich eine Bitte an Dich richten möchte.“

„Sprich nur; soll ich vielleicht die Ehre haben, Brautführer des Herrn von Hollfeld zu sein?“

Helene zuckte zusammen vor dem schneidenden Hohn, mit welchem diese Worte gesprochen wurden.

„Du bist dem armen Emil abgeneigt, und das macht sich heute wieder einmal recht geltend,“ sagte sie vorwurfsvoll nach einer kleinen Pause, während welcher Herr von Walde aufgestanden war und mit raschen Schritten einigemal das Zimmer durchmessen hatte. „Ich bitte Dich inständigst, lieber Rudolph, höre mich ruhig an; ich muß heute mit Dir über die Angelegenheit sprechen!“

Er lehnte sich mit verschränkten Armen an einen Fensterpfeiler in der Nähe und sagte kurz: „Du siehst, ich bin bereit, zu hören.“

„Das junge Mädchen,“ hob sie stockend an, diesmal weniger infolge eigener Gemüthsbewegung, als weil sie der eiskalte Blick ihres Bruders einschüchterte, „das junge Mädchen, das Emil gewählt hat, ist arm.“

„Sehr uneigennützig in der That; weiter!“

„Emil’s Einkünfte sind nicht sehr bedeutend –“

„Der arme Mann hat nur sechstausend Thaler Revenüen; er muß nothwendig dabei verhungern.“

Sie schwieg, sichtlich betroffen. Ihr Bruder übertrieb nie; die Summe, die er aufstellte, war sicher bis auf den Groschen richtig angegeben.

„Nun, er mag schon reicher sein, als ich glaubte,“ hob sie nach einer kurzen Pause wieder an; „das kommt übrigens hier ganz und gar nicht in Betracht … Ich habe die Erwählte sehr, sehr gern“ – mit welcher Anstrengung sie sprach! – „sie hat etwas gethan, wofür ihr mein schwesterliches Herz ewig dankbar sein wird.“ Herrn von Walde’s verschränkte Arme lösten sich; er trommelte mit den Fingern der Linken so heftig gegen die Fensterscheibe, daß Helene meinte, das Glas müsse zerspringen.

„Sie soll mir eine Schwester sein,“ fuhr sie fort; „ich will nicht, daß sie Emil’s Haus arm betrete, und möchte ihr sehr gern die Einkünfte von Neuborn zuweisen … darf ich?“

„Das Gut gehört Dir, Du bist majorenn, ich habe hier durchaus nicht das Recht, zu verweigern, oder zu erlauben.“

„O ja, Rudolph, insofern, als Du die nächsten Ansprüche an mich und mein Erbe hast… Also bin ich Deiner Zustimmung gewiß?“

„Vollkommen; wenn Du denn durchaus der Ansicht bist, daß sie dazu gehöre –“

„Dank, vielen Dank!“ unterbrach sie ihn und bot ihm die Hand; aber er schien es nicht zu bemerken, obgleich sein Blick auf sie gerichtet war… „Verdenkst Du mich darum?“ fragte sie nach einer Weile beklommen.

„Darum nicht, daß Du den Wunsch hast, Menschen glücklich zu machen, Du wirst Dich erinnern, daß ich Dir stets bei dergleichen Gelegenheiten rückhaltslos die Hand geboten habe. Wohl aber mache ich Dir den Vorwurf der Uebereilung; Du bist sehr schnell bereit, jenes junge Wesen in’s Unglück zu stoßen.“

Sie fuhr wie von einer Viper gestochen in die Höhe. „Das ist ein harter Ausspruch!“ rief sie heftig, „Dein Vorurtheil gegen den beklagenswerthen Emil, Gott mag wissen, auf was es sich begründet, geht denn doch zu weit… Du kennst den armen Menschen viel zu wenig –“

„Ich kenne ihn viel zu gut, als daß ich ihn noch näher kennen lernen möchte… Er ist ein ehrloser Schmarotzer, ein erbärmlicher Bursche ohne allen Charakter, an dessen Seite ein Weib, selbst wenn es nur geringe Anforderungen an männliche Ehrenhaftigkeit stellt, elend werden muß … wehe der Armen, wenn sie zur Erkenntniß kommt!“ … Seine Stimme wankte im verhaltenen Schmerz. Helene hörte jedoch nur Groll und Ingrimm heraus.

„Gott, wie ungerecht!“ rief sie, ihre weinenden Augen nach der Zimmerdecke richtend. „Rudolph, Du versündigst Dich schwer. … Was hat Dir nur Emil gethan, daß Du ihn so unversöhnlich verfolgst?“

„Muß man erst persönlich beleidigt werden, um zu wissen, was man von dem Charakter eines Anderen halten soll?“ frug er zürnend zurück. „Kind, Du bist die Schwerbeleidigte, aber Du bist verblendet… Es wird eine Zeit kommen, wo Du das, tief gedemüthigt, erkennst. Wenn ich Dir auch diesen Schmerzenskelch von den Lippen nehmen wollte, es würde, zu Nichts fuhren; Du wehrst Dich verzweifelt und siehst in mir einen Barbaren, der Dich in Deinen heiligsten Gefühlen kränkt… Du zwingst mich selbst, Dich Deinen Weg allein gehen zu lassen bis zu dem Augenblick, wo Du trostbedürftig an mein Herz zurückflüchten wirst… Dir ist dann die Umkehr möglich; was aber bleibt jener Anderen übrig, die unauflöslich gebunden ist?“

Er ging in das Nebenzimmer und ließ die Thür hinter sich in’s Schloß fallen. Helene saß eine Zeitlang wie betäubt; dann erhob sie sich mühsam und verließ, sich an Wänden und Möbeln festhaltend, so schnell es ihr möglich war, den Salon.

Eine unsägliche Bitterkeit, ja, beinahe ein Gefühl von Haß erfüllte sie gegen den Bruder, der heute zum ersten Mal das, was jede Faser ihres Herzens liebend umschloß, so rücksichtslos und rauh antastete. Ihr Herz brach fast vor Leid, indem sie sich alle vermeintliche Aufopferung des Geliebten lebendig zurückrief; ja, es war ihr, als habe sie sich ihm gegenüber schon dadurch der größten Sünde schuldig gemacht, daß jene abscheulichen Schmähungen ihr Ohr berührt hatten. Er sollte nie, niemals erfahren, zu welchen Beschuldigungen ihr Bruder sich hatte hinreißen lassen. Keines, auch nicht das größte Opfer sollte ihr jetzt zu schwer werden, um das Unrecht zu sühnen, das er, wenn auch unbewußt, erdulden mußte. Freilich nun, nachdem ihr Bruder so unumwunden seine schlimme Meinung über Hollfeld ausgesprochen hatte, durfte sie nicht mehr leiden, daß Letzterer die Gastfreundschaft in Lindhof genieße. Sie wollte – natürlich ohne Angabe der Gründe – ihn selbst veranlassen, nach Odenberg zurückzukehren; vorher aber sollte er sein Verhältniß zu Elisabeth feststellen.

Mit diesen Gedanken betrat sie das Eßzimmer, und als Hollfeld sich kurze Zeit darauf auch einfand, empfing sie ihn mit einem ruhig freundlichen Lächeln und verkündete ihm, daß ihr Bruder, ohne den Namen der Erwählten erfahren zu haben, ihren Entschluß bezüglich der Mitgabe für die Braut billige. Sie verlangte nun aber auch, Elisabeth heute bei sich sehen zu dürfen, und Hollfeld, sehr erfreut über die ruhige Art und Weise, mit welcher sie sprach, ging darauf ein. Nachmittag um vier Uhr sollte die Zusammenkunft im Pavillon stattfinden. Hollfeld verließ sofort das Zimmer, um einem Bedienten in Helenens Namen den Auftrag zu geben. Wie würde die junge Dame erstaunt gewesen sein, hätte sie hören können, daß dem Diener ganz ausdrücklich die Weisung gegeben wurde, Fräulein Ferber auf drei Uhr einzuladen, während der Haushofmeister den Befehl erhielt, bis zu der genannten Stunde alles Erforderliche im Pavillon zu arrangiren, ja nicht später!

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 17, S. 257–262
Fortsetzungsroman – Teil 16


[257]
16.

Als der Diener aus Lindhof am Mauerpförtchen läutete, saß Elisabeth in der großen Halle. Sie wand aus Immergrün und Epheu eine lange Guirlande, während Miß Mertens, ihr zur Seite sitzend, einen halbfertigen bunten Asternkranz in den Händen hielt. Das Grab auf dem Lindhofer Gottesacker war vollendet. Heute Nachmittag, zwischen fünf und sechs Uhr, sollte der Zinnsarg mit den sterblichen Ueberresten der schönen Lila der Erde feierlich übergeben werden. Hätten Jost’s gefürchtete Augen neben den Kranzwinderinnen auftauchen können, sie würden gewiß mild und versöhnt geruht haben auf seinem lieblichen Urenkelkind,[WS 2] welches die frisch vom Waldboden abgeschnittenen, grünen Ranken als letzten Schmuck auf den Todtenschrein legen wollte.

Nach Rücksprache mit der Mutter nahm Elisabeth die Einladung an, um so mehr, da sie nur „auf ein Plauderstündchen“ lautete. Bald nachdem der Diener sich entfernt hatte, kam auch Reinhard. Er sah sehr ernst aus und erzählte auf Miß Mertens’ Befragen, daß sein Herr in einer nicht zu beschreibenden Gemüthsstimmung aus Thalleben zurückgekehrt sei.

„Die Eindrücke im Trauerhause müssen schrecklicher Art gewesen sein,“ bemerkte er, „denn ich erkenne Herrn von Walde nicht wieder. Ich hatte ihm nothwendig verschiedene Meldungen zu machen, allein im Lauf meines Vortrags merkte ich wohl, daß ich umsonst sprach … Er saß vor mir wie gebrochen, wie völlig verloren in qualvolle Gedanken. Merkwürdigerweise fuhr er heftig auf, als ich ihm zum Schluß die Entdeckung hier oben in den Ruinen mittheilen wollte; ‚ich habe die Sache bereits zur Genüge gehört,‘ unterbrach er mich zornig und ungeduldig, ‚bitte, lassen Sie mich allein!‘“

Es entging Miß Mertens nicht, daß Reinhard sich verletzt fühlte durch die Art und Weise, wie sein Gebieter ihn angelassen hatte.

„Lieber Freund,“ sagte sie beschwichtigend, „in einem Augenblick, wo ein großer Seelenschmerz uns beherrscht, berührt uns die Außenwelt entweder gar nicht, oder sie wird uns peinlich; wir fühlen uns abgestoßen dadurch, daß in ihr sich Alles nach wie vor unbeirrt abwickelt, während unsere innere Welt schwankt und aus dem Geleise getrieben ist. Herr von Walde mag den Verunglückten wohl sehr geliebt haben … Aber mein Gott, Elisabeth, was thun Sie denn?“ unterbrach sie sich selbst. „Meinen Sie wirklich, daß das hübsch aussieht?“

Sie deutete aus die Guirlande. Elisabeth hatte nämlich, während Reinhard sprach, mit zitternden Händen einige dickköpfige Dahlien ergriffen und dieselben dem schlanken, bis dahin einförmig grünen Gewinde einverleibt. Es war in der That ein arger Mißgriff, auf den sie selbst mit erstaunten Augen und hochgerötheten Wangen niedersah. Die armen Dinger wurden sofort wieder von dem weichen, grünen Pfühl entfernt, an den sie sich behaglich geschmiegt hatten, und mit einer Strenge behandelt, als hätten sie sich eigenmächtig vorgedrängt.

Es hatte schon längst auf dem Lindhofer Kirchthurm drei geschlagen, als Elisabeth den Berg hinabeilte. Der Onkel hatte sie im Gespräch festgehalten; er war unwirrsch geworden darüber, daß sie der Einladung folgen wollte. „Denn,“ meinte er, und zwar nicht mit Unrecht, „das arme Wesen, welches heute eingesenkt werden soll, verdiene es schon, daß man wenigstens einen Tag seinem Andenken allein weihe.“ Er hatte freilich keine Ahnung von dem, was in dem Herzen des jungen Mädchens vorging. Er wußte nicht, daß sein kleiner Liebling in den letzten Tagen sehnsüchtig Stunde auf Stunde gezählt hatte, deren jede den Augenblick ja näher rücken mußte, da es heißen würde: „Er ist wieder da!“ und mußte es erleben, daß sein sonst so gehorsames Herzblatt unter seinen Händen wegschlüpfte und wie ein Sturmwind durch das Mauerpförtchen flog.

Ihre Füße berührten kaum die Erde. Sie hoffte, durch rasches Laufen den Zeitverlust einigermaßen zu ersetzen, aber beinahe hätte sie Thränen der Ungeduld vergossen, als zum Ueberfluß auch noch ihr leichtes Kleid an einer wilden Rosenhecke hängen blieb und mit sehr vorsichtiger Hand und vieler Langmuth losgemacht werden mußte. Fast athemlos erreichte sie den Pavillon. Beide Flügel der Thür standen offen, der Salon war noch leer. Auf dem Tische war eine Auswahl von Erfrischungen und die eine Ecke im Sopha für Helene bequem hergerichtet.

Mit erleichtertem Herzen trat Elisabeth ein und lehnte sich an eines der hinteren Fenster, vor welchem sich die dichte Buschwand hinzog, als sie ein leises Geräusch hinter sich hörte .... Hollfeld hatte hinter einem der vorstehenden Thürflügel gestanden und näherte sich ihr. Sie wollte sofort den Salon wieder verlassen, ohne den Verhaßten eines Blickes zu würdigen; er trat ihr jedoch in den Weg, wenn auch durchaus nicht in unbescheidener Weise, es lag vielmehr etwas Unterwürfiges und Ehrerbietiges in seiner Haltung, und versicherte, die Damen würden gleich erscheinen. Elisabeth sah erstaunt auf, da war auch nicht der leiseste Rest jenes frechen Tons in seiner Stimme zu bemerken, der ihr neulich jeden Blutstropfen empört hatte.

„Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Fräulein von Walde jeden [258] Augenblick kommen mußt“ betheuerte er, als sie abermals den Versuch machte, in die Thür zu treten. „Ist Ihnen denn meine Gegenwart hier gar so schrecklich?“ fügte er leiser mit einem Anflug von Trauer hinzu.

„Allerdings,“ entgegnete Elisabeth kalt und rückhaltlos. „Wenn Sie sich Ihres neulichen Benehmens gegen mich erinnern, so werden Sie wissen, daß es mir unerträglich sein muß, auch nur einen Augenblick mit Ihnen allein zu sein.“

„Wie hart und unversöhnlich klingt das! … Soll ich den kleinen, unbedachten Scherz wirklich so grausam büßen?“

„Ich rathe Ihnen, künftig vorsichtiger zu sein in der Wahl der Leute, mit denen Sie scherzen wollen.“

„Mein Gott, ich sehe ja ein, daß es ein Mißgriff war, ich schäme mich dieser Uebereilung … wie hätte ich aber auch ahnen können –“

„Daß man mir Achtung schuldig sei?“ unterbrach ihn Elisabeth mit flammenden Augen.

„Nein, nein … das habe ich ja gar nicht bezweifelt. Gott, wie Sie heftig werden können! Aber ich konnte doch wahrhaftig nicht wissen, daß Ihnen das Recht zusteht, weit, weit mehr zu beanspruchen.“

Elisabeth sah ihn fragend an; sie verstand ihn offenbar nicht.

„Kann ich mehr thun, als Sie kniefällig um Verzeihung zu bitten?“ fuhr er fort.

„Die soll Ihnen werden unter der Bedingung, daß Sie mich sofort allein lassen.“

„Hartnäckiger Trotzkopf, der Sie sind! … Ich wäre ein Thor, wenn ich den kostbaren Augenblick vorübergehen lassen wollte … Elisabeth, ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich Sie glühend liebe, liebe bis zum Sterben!“

„Und ich bin mir bewußt, Ihnen sehr deutlich erklärt zu haben, daß mir dies sehr gleichgültig ist.“ Sie fing an zu zittern; nichtsdestoweniger blieb ihr Blick fest und ruhig.

„Elisabeth, treiben Sie mich nicht zum Aeußersten!“ rief er aufgeregt.

„Vor Allem muß ich Sie ersuchen, die einfachste Höflichkeitsform festzuhalten, die uns gebietet, Fremde nicht mit dem Eigennamen anzureden.“

„Sie sind ein Satan an Kälte und Bosheit!“ rief er bebend vor Zorn. „Nun, ich gebe zu, daß Sie einen Schein von Berechtigung haben, mich zu quälen,“ fügte er, sich mühsam bezwingend, hinzu, „ich habe mich gegen Sie vergangen, aber ich will ja Alles wieder gut machen … Hören Sie mich nur einen Augenblick ruhig an, und Sie werden mir Ihre Härte sicher abbitten. … Ich biete Ihnen hiermit meine Hand. Sie werden wissen, daß ich im Stande bin, meiner künftigen Frau, was Rang und Vermögen betrifft, eine glänzende Existenz zu bereiten.“

Mit einem triumphirenden Lächeln sah er auf sie nieder. Es war ja so natürlich, daß seine schöne Widersacherin diese beglückende Wendung nicht vermuthet hatte, sie mußte wohl starr sein vor freudiger Ueberraschung; aber das geschah unerhörterweise nicht, Elisabeth richtete sich vielmehr stolz auf und trat einen Schritt zurück.

„Ich bedaure, Herr von Hollfeld,“ sagte sie mit ruhiger Würde; „Sie hätten sich selbst einen unangenehmen Moment ersparen können. Nach Allem, was ich Ihnen bis jetzt gesagt habe, fasse ich kaum, daß Sie noch ein solches Wort aussprechen mögen. … Da Sie mich denn durchaus zwingen, so erkläre ich Ihnen hiermit, daß unsere Wege weit auseinander gehen –“

„Wie!“

„Und daß ich mich nie entschließen könnte, an Ihrer Seite zu leben.“

Er starrte sie einen Moment an, wie geistesabwesend, oder wie gänzlich unfähig, ihre Worte aufzufassen. Seine Gesichtsfarbe wurde grünlich, und seine weißen Zähne gruben sich in die Unterlippe.

„Und Sie treiben wirklich die Komödie so weit, mir eine solche Antwort zu geben?“ frug er endlich mit ungewisser, fast heiserer Stimme.

Elisabeth lächelte verächtlich und wandte sich ab. Diese Bewegung brachte ihn fast zur Wuth.

„Die Gründe, die Gründe will ich wissen!“ stammelte er und trat abermals zwischen Elisabeth und die Thür, nach der sie zustrebte. Er haschte mit der Hand nach ihrem Kleid, um sie fest zuhalten. Sie erschrak heftig vor dieser Bewegung und wich einige Schritte tiefer in’s Zimmer zurück.

„Lassen Sie mich!“ rief sie mit fliegendem Athem; die Angst erstickte ihr fast die Stimme, trotzdem raffte sie ihren ganzen Muth noch einmal zusammen und hob den Kopf stolz und gebieterisch. „Wenn denn nicht ein Funke von Ehre in Ihnen ist, an den ich appelliren kann, so sehe ich mich gezwungen, auch meine Waffen zu gebrauchen, indem ich Ihnen sage, daß ich Sie tief, tief verachte, daß ich Ihren Anblick hasse; nicht das Zischen einer Schlange könnte mir mehr Abscheu und Schrecken einflößen, als Ihre Worte, mit denen Sie meine Zuneigung zu erringen hoffen … Niemals hat auch nur die leiseste Regung in mir zu Ihren Gunsten gesprochen; aber selbst, wenn es der Fall gewesen wäre, sie hätte sofort erstickt werden müssen durch Ihr verachtungswürdiges Betragen gegen mich … Lassen Sie mich jetzt ruhig gehen und –“

Er ließ sie den Satz nicht vollenden. „Das werde ich wohl bleiben lassen,“ knirschte er wüthend. Sein vorher so bleiches Gesicht glühte, die Augen rollten, er war außer sich vor Leidenschaft und stürzte auf sie zu wie ein Raubthier. Sie floh zu dem Fenster, weil sie die Thür nicht zu erreichen vermochte, und versuchte den Flügel aufzureißen, um über die sehr niedrige Brüstung hinauszuspringen, aber wie angefesselt vor Schrecken haftete plötzlich ihr Fuß am Boden. Draußen aus dem Buschwerk, dicht an den Scheiben, starrte ein schreckliches Gesicht. Die todtbleichen Züge verzerrten sich in einem höhnischen Grinsen, und aus dem Auge, das sich stier in das Gesicht des jungen Mädchens bohrte, glühte der Wahnsinn … Elisabeth erkannte mit Mühe die stumme Bertha; sie schüttelte sich vor Entsetzen und wich zurück, Hollfeld’s Arme fingen sie auf und umklammerten sie mit eiserner Gewalt; blind vor Aufregung, bemerkte er die Erscheinung vor dem Fenster nicht. Elisabeth drückte die eiskalten Hände auf ihre Augen, um das entsetzliche Gesicht draußen nicht zu sehen; sie fühlte den heißen Athem ihres Peinigers über ihre Finger hinstreifen, sein Haar berührte ihre Wange, sie schauderte, aber alle physischen Kräfte versagten ihr buchstäblich; das zwiefache Entsetzen hatte sie momentan gelähmt, nicht einmal ein Laut entrang sich ihrer Kehle … Bei Hollfeld’s Anblick erhob Bertha drohend die festgeballten Hände und richtete sie gegen die Scheiben, um das Glas zu zerschmettern; doch plötzlich wandte sie den Kopf seitwärts, als lausche sie auf ein Geräusch; sie ließ die Hände sinken, stieß ein grelles Lachen aus und entfloh in das Gebüsch.

Das Alles war das Werk weniger Augenblicke gewesen. Infolge des häßlichen Geschreis sah Hollfeld erschreckt auf. Einen Moment versuchte sein Auge in das Gebüsch zu dringen, wo Bertha verschwunden war, aber gleich darauf kehrte es wieder zurück auf die Gestalt, die er in seinen Armen hielt und die er nur um so fester an seine Brust drückte. Seine ängstliche Vorsicht, sein heuchlerisches Bestreben, seine niedrigen Neigungen vor dem Auge der Welt zu verbergen, waren in diesem Augenblick völlig von ihm gewichen. Er dachte nicht daran, daß die Zeit da war, wo Helene kommen sollte; durch die weit offene Thür konnten jeden Moment der Gärtner oder Einer von der Dienerschaft hereinsehen, er lag völlig im Bann seiner Leidenschaft und bemerkte deshalb nicht, daß Fräulein von Walde in der That am Arme ihres Bruders auf der Thürschwelle stand; hinter ihnen erschien die Baronin mit langem Halse und einem nicht zu verkennenden Ausdruck heftigen Unwillens.

„Emil!“ rief sie mit zornbebender Stimme. Er fuhr empor und sah mit wirren Blicken um sich; unwillkürlich öffneten sich seine Arme, Elisabeth ließ die Hände von den Augen fallen und faßte taumelnd nach der nächsten Stuhllehne. Diesmal klang ihr die harte, abscheuliche Stimme der Baronin süß wie Musik, denn von ihr kam ja die Hülfe .... Und dort stand die hohe, männliche Gestalt, deren Anblick sofort ihre stockenden Pulse lebendig klopfen machte. Sie hätte sich ihm zu Füßen werfen und bitten mögen: „Schütze mich vor Jenem dort, den ich fliehe und verabscheue wie die Sünde!“ Aber welch’ ein Blick fiel auf sie! … Kam dieser niederschmetternde Strahl in der That aus jenem Auge, das erst vor wenig Tagen mit so wunderbar süßinnigem Ausdruck das ihre gesucht hatte? War jene Erscheinung mit dem streng zurückgeworfenen Kopfe und der todtbleichen, eisernen Stirn jener Mann, der sich damals über sie geneigt und in unsäglich weichem Klang die Worte gesprochen hatte: „Ihnen möge unterdeß mein guter Engel den Namen jenes Wunderreiches zuflüstern!“ [259] … Er selbst stand dort wie ein böser Engel, der gekommen ist, zu rächen, zu vernichten und ein armes, zuckendes Menschenherz zu zertreten.

Helene, die wie angemauert oder leblos auf die Scene in der Tiefe des Zimmers geblickt hatte, zog plötzlich hastig ihren Arm aus dem ihres Bruders und wankte auf Elisabeth zu; sie war keinen Augenblick im Zweifel, daß Hollfeld’s Werbung geglückt und der Bund geschlossen sei.

„Seien Sie mir tausendmal willkommen, liebe Elisabeth!“ rief sie in heftiger Bewegung, während Thränenströme aus ihren Augen stürzten; sie nahm die zitternden Hände des jungen Mädchens zwischen die ihren. „Emil führt mir in Ihnen eine liebe Schwester zu; haben Sie mich lieb wie eine solche, ich werde Ihnen lebenslänglich dafür dankbar sein … Sei nicht so finster, Amalie,“ wandte sie sich bittend zurück nach der Baronin, die noch immer wie eine Bildsäule außerhalb des Pavillons stand, „es gilt ja Emil’s ganzes Lebensglück … Sieh Dir Elisabeth an. Kann sie nicht alle Ansprüche erfüllen, die Du mit Recht an Diejenige stellst, welche Dir in Zukunft so nahe stehen soll? Jung, von der Natur reich ausgestattet, aus alter Familie mit berühmtem Namen.“

Sie hielt erschrocken inne. Es war, als kehre erst jetzt das Leben in Elisabeth’s erstarrte Glieder zurück, als sei sie erst in diesem Moment fähig, das, was gesprochen wurde, aufzufassen. Mittels einer raschen Bewegung hatte sie Helenen beide Hände entzogen und stand plötzlich hoch ausgerichtet neben ihr.

„Sie irren, gnädiges Fräulein,“ sagte sie in eigenthümlich vibrirendem Ton, „ich bin eine Bürgerliche.“

„Wie, haben Sie nicht das festbegründete Recht, den Namen von Gnadewitz zu führen?“

„Ja, unzweifelhaft, aber wir lassen dieses Recht fallen.“

„Sie würden in Wirklichkeit ein solches Glück mit dem Fuße fortstoßen?“

„Ich kann nicht einsehen, wie das wahre Glück sich an einen Klang, einen Schall knüpfen sollte.“ Man hörte deutlich, wie sie rang, um ihrer treulosen Stimme Festigkeit zu geben.

Die Baronin war indessen näher getreten. Sie fing an, zu begreifen, was hier vorging. Innerlich war sie wüthend, daß ihr Sohn eine Wahl getroffen hatte, ohne auch nur im Entferntesten um ihren mütterlichen Rath, ihre Einwilligung zu fragen; ferner war und blieb der Gegenstand dieser Wahl für sie ein verhaßtes Wesen. Allein sie wußte recht gut, daß ihr Einspruch höchstens ein mitleidiges Achselzucken, eine spöttische Miene ihres Sohnes hervorrufen und ihn erst recht in seinem Vorhaben bestärken würde; auch fiel es für sie und ihre eigenen Interessen schwer in’s Gewicht, daß Helene die Sache in die Hand genommen hatte und dieselbe mit einer Art von enthusiastischem Opfermuth durchführen zu wollen schien. Wenn auch völlig im Unklaren über die Motive dieser höchst merkwürdigen Thatsache, fühlte sie doch instinctmäßig, daß hier kein Nachtheil zu befürchten sei, und deshalb entschloß sie sich rasch, obschon mit grollendem Herzen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und die Rolle der verzeihenden und segnenden Mutter zu spielen. Elisabeth’s Antworten verschlossen ihr jedoch plötzlich wieder den Mund. Die Hoffnung tauchte in ihr auf, daß das Mädchen durch seinen Eigensinn die Sache selbst verderben würde, und dann galt es, Oel in’s Feuer zu gießen.

„Da stoßen wir auf einen spießbürgerlichen Begriff, meine Liebe,“ sagte sie spitz zu Helene, die Elisabeth’s Erwiderung ganz bestürzt gemacht hatte. „Sie mögen indeß jedenfalls Ihre triftigen Gründe haben, das Licht der höheren Regionen zu scheuen,“ fuhr die Dame in beißendem Ton zu Elisabeth gewendet fort.

„Ich habe durchaus keine Ursache, dies Licht zu fliehen,“ entgegnete diese, bei Weitem ruhiger und beherrschter sprechend, als zuvor, „es müßte mir denn plötzlich unvermuthete häßliche Fehler meines Charakters zeigen, wie es die Flecken auf jenem Wappenschild grell beleuchtet… Aber wir lieben unseren Namen, weil er rein und ehrlich ist, und wollen dies fleckenlose Erbtheil nicht vertauschen gegen ein Gut, das sich aus den Thränen und dem Schweiß Anderer groß genährt hat!“

„Gott, wie erhaben!“ rief die Baronin höhnisch lachend.

„Das kann Ihr Ernst nicht sein, Elisabeth,“ sagte Helene. „Vergessen Sie nicht, daß an diesem Ausspruch das Lebensglück zweier Menschen hängt.“ Sie warf dem jungen Mädchen einen vielsagenden Blick zu, der aber begreiflicher Weise nicht verstanden wurde. „Sie müssen nun einmal in die Sphäre, der Sie von nun angehören sollen, einen adeligen Namen mitbringen; das wissen Sie so gut wie ich und werden um einer Grille willen nicht Ihre eigenen Hoffnungen und die Anderer zerstören wollen.“

„Aber ich bin völlig unfähig, Sie zu verstehen!“ rief Elisabeth aufgeregt. „Es fällt mir gar nicht ein, irgend eine Hoffnung mit jenem Namen in Verbindung zu bringen; am allerwenigsten aber begreife ich, wie die Wünsche oder das Geschick Anderer abhängen sollten von dem Entschluß eines so unbedeutenden, armen Mädchens, wie ich bin.“

„Sie sind nicht arm, liebes Kind,“ erwiderte Helene. „Kommen Sie,“ fuhr sie tief bewegt fort, „wir sind von heute an treue Schwestern! … Nicht wahr, lieber Rudolph,“ wandte sie sich nicht ohne Verlegenheit an ihren Bruder, „auch Du heißest Emil’s Braut willkommen in unserer Familie und erlaubst, daß ich schwesterlich mit ihr theile?“

„Ja,“ klang es dumpf, aber fest herüber.

Elisabeth fuhr mit der Hand nach der Stirn, es klang so unglaublich, was sie eben gehört hatte… „Emil’s Braut“ hatte Fräulein von Walde gesagt, und das sollte sie, sie sein – es war unmöglich. Hatten sich diese Menschen verschworen, ihr einen fürchterlichen Schrecken einzujagen? … Und er, der wußte, daß sie Hollfeld verabscheue, er hielt zu Jenen; er stand dort drüben mit untergeschlagenen Armen, ein Bild unerbittlicher Strenge und Zurückweisung. Er hatte die ganze Zeit unbeweglich gestanden und jetzt nur die Lippen geöffnet, um das Ja auszusprechen, das von beinahe zermalmender Wirkung für das junge Mädchen war. Hatte er nicht früher selbst in der rauhesten Weise ein Entgegenkommen seines Vetters ihr gegenüber zu verhindern gesucht? … Wie ein erleuchtender Blitz fuhr es plötzlich bei diesem Gedanken durch ihre Seele: Sie war ja jetzt von Adel, das erklärte Alles. Hollfeld’s Stammbaum wurde nicht mehr verunehrt durch die bürgerlich Geborene; daher die Bereitwilligkeit der Verwandten, ihn in seiner Werbung zu unterstützen; daher Helenens Betroffenheit bei ihrer Erklärung, daß sie den ihr zugefallenen adligen Namen verschmähe… Wie es aber zusammenhing, daß Alle bereits ein völliges Einvernehmen zwischen ihr und dem Verhaßten voraussetzten, das zu ergründen war ihr im Augenblick unmöglich; denn ihre Gedanken wirbelten in einem unaussprechlichen Aufruhr durcheinander. Nur Eines war ihr klar: daß sie augenblicklich, ohne Rückhalt jenes Ansinnen zurückweisen müsse.

„Ich sehe mich einem Mißverständniß gegenüber, dessen Entstehen ich mir nicht enträthseln kann,“ nahm sie das Wort in fliegender Hast. „Es wäre wohl Herrn von Hollfeld’s Pflicht, hier Aufklärung zu geben; da er es jedoch vorzieht, zu schweigen, so sehe ich mich genöthigt, auszusprechen, daß er nie und nimmer irgend welches Versprechen von mir erhalten hat!“

„Aber, liebes Kind,“ sagte Helene zögernd und verlegen, „haben wir nicht vorhin bei unserem Eintritt mit eigenen Augen gesehen, daß –“ sie brach ab.

Wie ein Donnerschlag trafen Elisabeth diese Worte. In ihrer reinen, unschuldigen Seele war auch nicht einen Moment die Furcht aufgetaucht, daß jener Augenblick des Schreckens und der Hülflosigkeit mißverstanden werden könne, und nun mußte sie zu ihrem höchsten Schmerz erfahren, daß er ein abscheuliches Licht auf sie geworfen hatte… Sie wandte sich noch einmal rasch um nach Hollfeld; doch schon der eine Blick auf ihn belehrte sie, daß sie von dieser Seite keine Genugthuung, keine Ehrenrettung zu hoffen habe. Er lehnte, den anderen Anwesenden den Rücken halb zuwendend, wie ein ertappter Schulknabe am Fenster. Wären die Damen allein gewesen, so hätte er sich ohne Zweifel durch ein freches Lügengewebe zu helfen gesucht; allein Herrn von Walde’s Anwesenheit lähmte ihn vollständig. Er begnügte sich, in einem zweifelhaften Schweigen zu verharren, welches die verschiedenartigsten Deutungen zuließ.

„Gott im Himmel, wie schrecklich!“ rief das junge Mädchen außer sich und rang die Hände. „Sie haben gesehen,“ fuhr sie, das Gesicht schamhaft senkend, nach einem tiefen Athemholen fort, „wie ein wehrloses Mädchen vergebens gestrebt hat, die Zudringlichkeiten eines Ehrlosen zurückzuweisen… Die Versicherung meiner tiefsten Verachtung, meiner völligen Abneigung vermochten nicht, ihn zu verscheuchen. Ich habe Herrn von Hollfeld diese Gesinnungen stets unverhohlen gezeigt, trotzdem –“

Ein starkes Geräusch hinter ihr ließ sie plötzlich verstummen. [260] Helene war in das Sopha zurückgesunken, ihre Rechte klammerte sich krampfhaft um die Tischecke und zitterte so heftig, daß das auf der Platte stehende Porcellangeschirr aneinander klirrte. Das Gesicht der jungen Dame war aschfarben; ihr erlöschender Blick irrte hinüber zu Hollfeld… Vergebens bemühte sie sich, ihrer tödtlichen Bestürzung Herr zu werden, das Licht, das plötzlich auf ein Netz häßlicher Intriguen fiel, war zu grell; sein Strahl hatte etwas von der vernichtenden Gewalt des Blitzes für das bis dahin arglos vertrauende Gemüth Helenens.

Obgleich selbst in höchster Aufregung und im Begriff, ihrer Entrüstung noch weiteren Ausdruck zu geben, fühlte Elisabeth doch sofort ihr Herz in innigem Mitleiden schmelzen bei dem Anblick der jungen Dame. Sie hatte, indem sie ihre Ehre vertrat, der Unglücklichen die Binde von den Augen gerissen, das that ihr schmerzlich leid um Helenens willen, wenn sie auch wußte, daß diese Enttäuschung doch früher oder später hätte erfolgen müssen. Rasch trat sie zu ihr und nahm die eiskalten Hände, die langsam vom Tisch niederglitten, zwischen die ihrigen.

„Vergeben Sie mir, wenn ich Sie durch meine heftigen Worte erschreckt habe,“ sagte sie bittend, aber fest. „Es wird Ihnen nicht schwer werden, sich in meine Lage zu versetzen. … Einige erklärende Worte des Herrn von Hollfeld würden genügt haben, den unwürdigen Verdacht von mir zu nehmen. Ich würde dann nicht gezwungen gewesen sein, meine Ansicht über seinen Charakter und seine Handlungsweise so unumwunden auszusprechen. … Ich bedaure, daß es geschehen mußte, aber ich kann kein Jota davon zurücknehmen.“

Sie küßte Helenens Hände und verließ schweigend den Pavillon. Es war ihr, als strecke Herr von Walde hastig die Hand nach ihr aus, als sie an ihm vorüberschritt, aber sie sah nicht auf.

Draußen verfolgte sie den schmalen, gewundenen Pfad, der durch ein kleines Gehölz nach dem Teich mündete; sie schritt über den großen Kiesplatz am Schlosse vorüber und betrat den engen Waldweg, der nach dem Nonnenthurm führte, ohne zu wissen, wo sie sich befand, ohne daran zu denken, daß sie sich immer weiter vom Heimweg entfernte.

Sie war in einer unaussprechlichen Gemüthsaufregung. Wie ein Sturm brauste es durch ihr Gehirn… Hollfeld’s Heirathsantrag, seine maßlose Leidenschaft, Bertha’s plötzliche Erscheinung am Pavillonfenster, die unbegreifliche Thatsache, daß Helene sie freudig als die Braut dessen begrüßt hatte, den sie selbst leidenschaftlich liebte, dies Alles flog immer und immer wieder an ihr vorüber, und dazwischen klang schneidend das „Ja“ des Herrn von Walde… Er hätte sie also willkommen geheißen als Hollfeld’s Braut … es würde ihm nicht die geringste Ueberwindung gekostet haben, sie an der Seite seines Vetters zu sehen! … Diese Heirath war ohne Zweifel im Familienrath beschlossen worden. Herr von Walde hatte mit kalt prüfendem Verstand das Für und Wider erwogen und war schließlich mit seiner Schwester darin übereingekommen, daß Emil’s Auserwählte jetzt die Geschlechtstafel Derer von Hollfeld nicht mehr verunehre; man wollte sie in Gnaden annehmen und einem Mangel der Braut, ihrer Armuth, großmüthig aus eigenen Mitteln abhelfen.

Bei diesen Gedanken biß Elisabeth die Zähne heftig aufeinander wie bei einem starken körperlichen Schmerz. Eine unaussprechliche Bitterkeit erfüllte ihr Gemüth, dessen tiefinnige Neigung unverstanden zertreten worden war von jenen kalt berechnenden, eingefleischten Aristokraten… Wie hatte sie nur hoffen können, daß er je Sympathie fühlen könne für ein warmpulsirendes weibliches Herz, für eine junge Seele, die, nach Freiheit ringend, keinen Raum gab jenen engherzigen, oft so lächerlichen Satzungen der Menschen? … er, der nur in Moder und Schutt alter Geschlechter den Nimbus und die Vorzüge der Frau suchte?

Sie blieb manchmal in Gedanken versunken stehen; dann schritt sie wieder hastig, wie von ihrem Gedankenstrom getrieben, weiter, ohne zu bemerken, daß sie denselben Weg verfolgte, den sie vor wenigen Tagen an seiner Seite voll Scheu und Angst betreten hatte. Die vorstehenden Zweige der Büsche schlugen an ihre Stirn, sie dachte nicht daran, daß er sie neulich vorsorglich weggebogen hatte, wenn sie ihr Gesicht bedrohten… Noch war das Buschwerk eingeknickt, und abgestreifte Blätter lagen welkend am Boden, da, wo Fräulein von Quittelsdorf und Hollfeld sich Bahn gebrochen hatten zu den zwei einsam Wandelnden. Das war auch die Stelle, wo der halbvollendete Glückwunsch soufflirt worden war, Elisabeth glitt achtlos vorüber, und das war gut; denn ihr heißes Auge hatte keine Thränen, und hier war der Ort, wo sie sicher ihr ganzes Herz hätte ausweinen mögen.

Endlich sah sie sich erstaunt um. Sie stand vor dem Nonnenthurm. Sie war vielleicht das erste menschliche Wesen, das den Festplatz wieder betrat, seit ihn die letzten Gäste oder die müde Schloßdienerschaft neulich Nachts verlassen hatten.

Es sah wüst und unordentlich aus auf dem kleinen Plan, der auch nicht ein aufrechtstehendes Grashälmchen mehr zeigte; Alles war niedergetreten worden beim Tanz, der sonach kein Elfenreigen gewesen sein mochte. Die zwei Tannen, die das Marketenderzelt getragen hatten, lagen hingestreckt am Boden, auf einem Gemisch von Flaschenscherben und den Ueberresten eines in der Nähe abgebrannten Feuerwerkes, und droben hingen noch die zusammengeschrumpften Guirlanden zwischen Thurm und Eichen, ein leiser Luftzug strich flüsternd über die dürren Blumenhäupter, die, fest aneinandergepreßt und hoch in der Luft schwebend, über einem Zusammenfluß von Genüssen hatten verschmachten müssen.

Eine leichte Dämmerung webte bereits unter den Eichen, wenn auch noch ein goldiger Schein auf ihren Wipfeln und über der grauen Zinne des Thurmes gaukelte.

Elisabeth fühlte plötzlich, leicht zusammenschauernd, ihr Alleinsein mitten im Herzen des todtenstillen, dunkelnden Waldes, trotzdem zog es sie noch einmal unwiderstehlich nach jener Stelle, wo Herr von Walde von ihr Abschied genommen hatte. Sie schritt über den zerstampften Rasenplatz, blieb aber einen Augenblick wie festgewurzelt stehen; denn der Abendwind trug einzelne, abgebrochene Töne einer menschlichen Stimme zu ihr herüber. Anfänglich klang es wie ein ferner, vereinzelter Hülferuf, aber allmählich reihten sich die Töne aneinander, sie kamen rasch näher. Es war eine schneidend scharfe, gellende weibliche Stimme, die ein geistliches Lied mehr schrie, als sang. Elisabeth hörte deutlich, daß das Wesen während des Singens schnell vorwärts lief.

Plötzlich zerriß die Melodie, und an ihre Stelle trat ein entsetzliches Gelächter, oder vielmehr ein Geschrei, das eine Scala von Hohn, Triumph und bitteren Qualen bildete.

Eine schlimme Ahnung stieg in Elisabeth auf. Ihr Blick tauchte erschreckt in das Baumdunkel nach der Richtung hin, wo der Lärm sich näherte. Er verstummte in diesem Augenblick jedoch wieder, und die Stimme begann das Lied von Neuem … jetzt aber kam sie wie im Sturmschritt heran.

Elisabeth trat in die offene Thür des Thurmes, denn sie mochte der wandernden Sängerin, die offenbar ein unheimliches Wesen sein mußte, nicht in den Weg treten; allein kaum hatte sie die Schwelle überschritten, als das Gelächter abermals und zwar sehr nahe erscholl.

Jenseits des Rasenplanes stürzte Bertha aus dem Walddickicht hervor, ihr zur Seite lief Wolf, der grimmige Hofhund des Oberförsters.

„Wolf, faß an!“ kreischte sie, beide Hände nach Elisabeth ausstreckend. Das Thier jagte heulend über den Platz.

Elisabeth warf die Thür in’s Schloß und lief die Treppe hinauf. Sie gewann einen Vorsprung, aber noch ehe sie die Zinne des Thurmes erreicht hatte, wurde drunten die Thür aufgestoßen. Der keuchende Hund stürzte herauf, ihm nach die Wahnsinnige, indem sie unausgesetzt ihren hetzenden Zuruf wiederholte.

Athemlos erreichte die Verfolgte die letzte Stufe, sie hörte das Schnauben des ungeberdigen Thieres hinter sich – es war ihren Fersen nahe – warf mit der letzten Kraftaufwendung die eichene Thür zu, die auf das Plateau führte, und stemmte sich dagegen.

Einen Augenblick darauf rüttelte Bertha drinnen am Thürschloß, es wich nicht. Sie tobte und warf sich wüthend mit der ganzen Schwere ihres Körpers gegen die eichenen Bohlen, während Wolf abwechselnd heulend und knurrend an der Schwelle kratzte.

„Bernsteinhexe da draußen!“ schrie sie. „Ich drehe Dir den Hals um… Ich werde Dich bei Deinen gelben Haaren nehmen und Dich durch den Wald schleifen! … Du hast mir sein Herz gestohlen, Du Mondscheingesicht, Du Tugendspiegel, Scheinheilige! Wolf, faß an, faß an!“

Der Hund winselte und schlug mit den Tatzen gegen die Thür.

„Zerreiße sie in Stücken, Wolf, schlage Deine Zähne in ihre weißen Finger, die ihn behext haben mit der Musik, die vom Teufel kömmt! … Wehe, wehe! Verdammt seiest Du da [261] draußen, verdammt seien die Töne, die Deine Finger hervorbringen; sie sollen zu giftigen Mordspitzen werden, die sich gegen Dein eigenes Herz wenden und es zerfleischen!“

Abermals warf sie sich gegen die Thür. Das alte Bretergefüge erzitterte und ächzte, aber es wich nicht unter den Stößen des kleinen, ohnmächtigen Fußes.

Elisabeth lehnte währenddem mit festgeschlossenen Lippen und bleichem Gesicht draußen. Sie hatte ein Stück Holz, das zu ihren Füßen lag, ergriffen, um sich nöthigenfalls gegen den Hund zu vertheidigen. Bei den Flüchen und Verwünschungen, die Bertha ausstieß, erbebte ihr ganzer Körper, doch sie richtete sich um so entschlossener und trotziger auf.

[262] Hätte sie einen prüfenden Blick auf das Thürschloß geworfen, so würde sie bemerkt haben, daß das Anstemmen ihrer zarten Gestalt ganz unnöthig sei, denn ein mächtiger Riegel war vorgesprungen, gegen den die schwache Kraft der Wahnsinnigen nichts auszurichten vermochte.

„Wirst Du wohl aufmachen?“ tobte sie wieder drinnen. „Du durchsichtiges, zerbrechliches Ding! … Ha, ha, ha! Goldelse nennt sie der alte Brummbär, den ich hasse, wie das Gift; der Alte will durchaus nicht fromm werden, er mag zur Hölle fahren, aber ich werde selig sein, selig! … Gold-Else nennt er sie, weil sie bernsteingelbes Haar hat! Pfui, wie bist Du häßlich, Du Füchsin! … Mein Haar ist schwarz, wie ein Rabenflügel, ich bin schön, tausendmal schöner, als Du! Hörst Du das, Du Affengesicht da draußen?“

Sie schwieg erschöpft, und auch Wolf unterbrach sein Zerstörungswerk an der Schwelle.

In demselben Augenblicke zog fernes Glockengeläute durch die abendstillen Wipfel des Waldes. Elisabeth wußte, was es bedeutete. Aus den Ruinen der alten Burg Gnadeck bewegte sich eben ein Leichenzug den Berg herab. Lila’s sterbliche Ueberreste verließen das Haus, gegen dessen Mauern einst das schöne Zigeunerkind verzweifelnd die Stirn geschlagen hatte. Sie wurde durch den grünen Wald getragen, um deswillen vor zwei Jahrhunderten ihr Herz gebrochen war.

Auch Bertha schien den Glockentönen zu lauschen. Sie regte sich nicht.

„Sie läuten!“ schrie sie plötzlich. „Komm’, Wolf, wir wollen in die Kirche gehen .... Sie muß droben bleiben bei den Wolken, die werden des Nachts über sie herstürzen, der Sturm reißt an ihren Haaren und die Raben werden kommen und nach ihren Augen hacken, denn sie ist verflucht, verflucht!“

Gleich darauf begann sie das Lied wieder. Ihre schreckliche Stimme schlug grauenhaft gegen die engen Wände des Treppenhauses. Polternd lief sie hinab und trat unten aus der Thür. Sie sprang singend über den Plan, nach derselben Richtung, woher sie gekommen war, der Hund trabte nebenher. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich um nach dem Thurm; nun sie ihn im Rücken hatte, schien sie bereits nicht mehr zu wissen, daß da droben hinter dem grauen Steingeländer der Gegenstand ihres Hasses stehe. Noch einmal tauchte ihr hochrother Rock aus dem dunkelnden Gebüsch auf, dann verschwand die Gestalt sammt ihrem schrecklichen Begleiter. Allmählich verhallte auch ihr Gesang, und bald trug die weiche Luft nur noch das Geläute zu der Einsamen auf der Thurmzinne.

Sie verließ aufathmend ihren Vertheidigungsposten, den sie mechanisch noch inne behalten hatte, und griff nach dem Thürschloß, aber der alte, eingerostete Knauf blieb so unbeweglich, wie unter Bertha’s Händen. Mit Schrecken entdeckte sie den vorgesprungenen Riegel, er hatte sie freilich wacker geschützt und vertheidigt, indeß nun hielt er sie auch gefangen. Er rührte sich nicht von der Stelle bei allen Versuchen und Anstrengungen; ermattet und muthlos ließ das junge Mädchen endlich die Hände sinken.

Was nun anfangen? Angstvoll dachte sie an ihre Eltern, die gewiß schon in diesem Augenblick sich um ihr Ausbleiben beunruhigten, denn sie hatte ja selbstverständlich der Beisetzung beiwohnen wollen.

Um sie her schaarten sich die gewaltigen Häupter des Waldes, hie und da noch rosig betupft von einem verblassenden, letzten Sonnenstrahl. Weit, weit da drüben schloß sich erst ein lichter Streifen an die dunklen Massen, dort lag L. mit seinem stolzen, hochgelegenen Schlosses dessen lange Fensterreihe eben noch einmal feurig aufblitzte und dann erlosch … Und dort thürmte sich der Berg mit den Gnadecker Ruinen, aber der Wald verbarg die traute Heimath; nicht einmal die weithin sichtbare Fahnenstange war von hier aus zu entdecken.

Die Hoffnung, gesehen zu werden, gab Elisabeth sofort auf, und ihr schwacher Hülferuf, das sagte sie sich ebenfalls, mußte ungehört verhallen, denn der Thurm lag ja so tief versteckt im Forst, keine belebte Fahrstraße führte in der Nähe vorüber, und wer betrat wohl bei hereinbrechendem Abend noch die stillen Wege, die kein anderes Ziel hatten, als den Nonnenthurm?

Trotzdem machte sie einen Versuch und schickte einen Ruf hinaus in die Lüfte. Wie schwach klang er! Es kam ihr vor, als hätten ihn schon die nächsten Baumkronen eingesogen; er hatte nur einige Raben in der Nähe aufgeschreckt, die nun krächzend über dem Haupt des jungen Mädchens wegflogen, dann war es wieder still, schaurig still. Die Lindhofer Kirchenglocken waren verstummt. Im Westen glimmte noch ein schwaches Roth, einige kleine Wölkchen zart besäumend, der Wald aber lag bereits im tiefen Abendschatten.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 18, S. 273–276
Fortsetzungsroman – Teil 17


[273] Rathlos schritt Elisabeth auf dem Plateau des Nonnenthurmes hin und her. Manchmal blieb sie an der Ecke stehen, in deren Richtung das Lindhofer Schloß liegen mußte – denn das war dem Nonnenthurme noch am nächsten – und erhob ihre Stimme zu erfolglosen Hülferufen. Endlich gab sie die Bemühung auf und setzte sich auf die Bank, welche, in die äußere Mauer des Treppenhauses eingefügt, von dem überstehenden Schieferdach desselben so ziemlich gegen Wind und Wetter geschützt wurde.

Sie fürchtete nicht, die Nacht hier oben zubringen zu müssen, denn es lag wohl auf der Hand, daß man sie im Walde suchen würde. Bis man sie aber in ihrer Haft entdeckte, welche Stunden qualvoller Ungewißheit und Befürchtungen mußten die Ihrigen durchleben!

Dieser Gedanke ängstigte sie unbeschreiblich und steigerte ihre nervöse Aufregung. Alle heute empfangenen Eindrücke waren ja so schrecklicher Art gewesen, und sie mußte Alles allein, ohne jedwede andere Stütze, als die ihrer eigenen moralischen Kraft, durchkämpfen… Noch zitterten ihre Kniee infolge des letzten Angstmomentes … Was mochte Bertha’s plötzlichen Wahnsinn zum Ausbruch gebracht haben? Sie hatte von einem Herzen gesprochen, das Elisabeth ihr geraubt habe; war wirklich, wie die Mutter in der letzten Zeit öfters die Vermuthung ausgesprochen hatte, Hollfeld in die dunkle Geschichte verwebt?

Bei dem Gedanken an ihn tauchten alle die schmerzlichen Empfindungen wieder auf, die ihr Inneres heute durchstürmt hatten. Jetzt aber, wo sie still und unbeweglich an die Mauer gedrückt da saß, dem dunkelnden Himmel näher gerückt, kein Zeichen des Lebens um sich fühlend als das Wehen der feuchten Nachtluft, die schmeichelnd über ihr heißes Gesicht strich, jetzt brach der finstere Trotz, mit welchem ihr zertretenes Herz sich zu waffnen gesucht hatte, und ihre Augen wurden feucht… Es war nun Alles, Alles vorüber; sie hatte heute mit den Bewohnern von Lindhof gebrochen für alle Zeiten! Helenen hatte sie ihr Ideal geraubt und Herrn von Walde, der gewähnt hatte, sie mit seiner in Gnaden gewährten Einwilligung zu beglücken, ihm hatte sie diese Gabe vor die Füße geworfen … sie hatte ohne Zweifel seinen Stolz tief verwundet. Wahrscheinlicherweise sah sie ihn nie wieder; er reiste fort und war froh, draußen den unangenehmen Eindruck los zu werden, welchen ihm das undankbare Benehmen der armen Clavierspielerin gemacht hatte.

Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und die Thränen drangen zwischen den schmalen, weißen Fingern hervor.

Inzwischen dämmerte die Nacht herein; es wurde jedoch nicht völlig dunkel. Die schmale Mondsichel stand am Himmel und die anderen leuchtenden Wanderer traten hervor und wandelten ihre Bahn, nicht ahnend, daß der mit ihnen im All kreisende Planet, die Erde, Millionen kleiner Welten in sich schließt, deren jede ihre Höhen und Tiefen, ihre brausenden Meereswogen mit Ebbe und Fluth, ihre gewaltigen Stürme, selten aber die heilige Stille des Friedens hat.

Im Thurme wurde es lebendig. Aengstliches Stöhnen und leise Klagelaute drangen heraus. Es polterte schwerfällig auf der Treppe, schlug klatschend gegen die inneren Wände und klopfte an die Thür: die Eulen und Fledermäuse wollten ihre Abendbesuche machen und suchten vergebens den gewohnten Ausweg. Auch drunten im Walde knisterte und rauschte es; das Wild brach aus dem Dickicht und schritt in vollkommener Sicherheit über die Lichtung. … Aus weiter Ferne, von Osten her, da, wo der Wald fast noch in unberührter Urwüchsigkeit und Wildheit in tiefe Thäler hinabstieg und an den jenseitigen Bergen ungebändigt wieder hinaufkletterte, klang bisweilen ein schwacher Knall herüber. Elisabeth schmiegte sich dann jedesmal leise erbebend fester an die Mauer, unter das schützende Vordach, als könne irgend ein unheimliches Augenpaar von dort herüber bis zu ihr dringen; die dort jagten, hatten gebrochen mit dem Gesetz.

Noch kam keine Hülfe. Ihre Sorge, daß sich die Eltern ängstigen könnten, war sonach ganz unbegründet gewesen. Auf alle Fälle vermutheten sie die Tochter noch im Schlosse, waren vielleicht sehr ungehalten über ihr Ausbleiben und warteten möglicherweise bis um zehn Uhr auf ihre Heimkehr. So konnte Mitternacht herankommen, bis man sie erlöste.

Es wurde empfindlich kühl. Fröstelnd zog sie die leichte Mantille über der Brust zusammen und schlang das Taschentuch um den Hals. Sie sah sich genöthigt, die Bank zu verlassen und auf der Plattform hin und her zu gehen, um sich vor Erkältung zu schützen. Oefters bog sie sich über das Geländer und sah hinab.

Ueber der Lichtung wogten und wallten weißliche Streifen, wirbelten zusammen und flatterten zerrissen wieder auseinander; es waren die Nebel, die dem feuchten Waldboden entstiegen… Elisabeth dachte nicht mehr, wie bisher, an die buntschimmernde Pracht, an die Anmaßung und Eitelkeit, die sich vor wenig Tagen da drunten gebläht hatten, nicht mehr an die vielen nichtigen Worte, die da gefallen sein mochten und die ein Geschwirr hervorgebracht hatten, als stehe der Nonnenthurm nicht auf altehrwürdigem, thüringischem Waldboden, sondern erhebe sich himmelstürmend an den [274] Ufern des Euphrat. Aus den Dunstwogen tauchten die Schatten der Klosterfrauen auf mit starren, leidenschaftslosen Zügen, das ausgeglühte Herz unter dem lang herabfließenden Gewande und die wächserne Stirne hinter der mattschimmernden Binde befreit von den unruhigen, marternden Gedanken, die den Weg zwischen Himmel und Welt unausgesetzt durchlaufen hatten und störrig immer wieder zurückgesunken waren auf die enge Erde voll Sünde und böser Lust…

Elisabeth dachte an jene finstere Zeit, da hier dunkle Mauern in die Lüfte stiegen, die Verbrechen eines adeligen Mörders zu sühnen – ein Fräulein von Gnadewitz hatte das Kloster gestiftet, um mit noch zwölf anderen Jungfrauen für das Seelenheil ihres Bruders zu beten, der von Henkershand unter dem Rade geendet hatte – kalte, starre Mauern, um den zu versöhnen, der uns das lebendige Wort gegeben hat, der der Urquell der warmen, ewigen Liebe ist! … Ob wohl all’ die geflüsterten Gebete der lebendig Begrabenen, all’ der Meßgesang und Orgelklang vermocht hatten, die Blutflecken hinwegzuspülen, die der Verbrecher hinauftrug zu den Füßen des Ewigen? … Nein, und abermals nein. Er läßt sich nicht Weihrauch streuen im Baalsdienst und ändert niemals seine ewigen Beschlüsse nach dem einsichtslosen Begehr seiner Creaturen! …

Welch’ grauenvolles Stück Familiengeschichte Derer von Gnadewitz erzählten die zerbröckelnden Mauerreste da drunten! … Und doch sollte ein Wesen, das sich seines Ringens und Strebens nach Tugend und geistigem Fortschreiten wohl bewußt war, erst Geltung erhalten in dem Augenblick, da es jenen Namen tragen durfte? Es mußte erfahren, daß sein reines Leben als ein Nichts galt menschlicher Satzung gegenüber, die in der That ein Hirngespinnst, ein Nichts war?

War der Aberglaube, der Hexen verbrannte, finsterer, als der Wahn der Geburtsbevorrechtigung, der, in seinen Consequenzen wahrlich nicht weniger grausam als die Flamme des Scheiterhaufens, manche schöne, reiche Menschenseele erstickt? Jener Wahn, der schnöde entgegentritt der Absicht des Allgütigen, nach welcher alle seine Kinder gleich aus seiner Hand hervorgehen, gleich in der äußeren Gestalt, in ihrem Bau, in der Ausrüstung ihrer Sinneswerkzeuge, mit denen der König wie der Bettler auf gleiche Weise genießt oder leidet, gleich in der Beschaffenheit des Lichtfunkens, der diese äußere Hülle beseelt, oder wo wäre eine Seele, die selbst auf dem Gipfel menschlicher Vollkommenheit nicht ihre Schwächen hätte, und wo der gesunkenste Mensch, bei welchem unter dem Schutt der Verkommenheit nicht noch wenigstens Eine gute Eigenschaft auftauchte? … Und er, der das Gepräge eines denkenden Geistes auf der ernsten Stirn trug, dessen Blick und Stimme, wenn auch selten, doch in einer Weichheit schmelzen konnten, wie sie nur aus einem Gemüth kommt, welches tiefen Gemüthserschütterungen zugänglich ist, auch er stand unter dem Einfluß jener starren Vorurtheile? Die zerbrechliche Form stellte er über das unsterbliche Recht des Menschengeistes, nach welchem wir frei denken und handeln sollen? … Und war es nicht gerade das höchste und heiligste Gefühl des menschlichen Herzens, die Liebe, das so oft von jenem System erbarmungslos zermalmt wurde? Hätte Elisabeth in der That Hollfeld geliebt, was wäre ihr Loos gewesen ohne jene Entdeckung? … Und wäre – ein schneidender Zug flog um die zuckenden Lippen des jungen Mädchens – in Herrn von Walde’s Brust je eine Neigung für sie aufgetaucht und er käme jetzt und böte ihr seine Hand? Schrecklicher Gedanke! Nie und nimmer würde sie neben ihm leben können in dem Bewußtsein, daß ihre unsägliche Liebe nur insoweit erwidert werde, als es die Convenienz, alterssteife, verknöcherte Gesetze gestatteten! Einer solchen fortgesetzten Qual gegenüber verlor der Schmerz der Entsagung viel von seiner Furchtbarkeit.

Mit verfinstertem Blick trat Elisabeth in die Ecke des Geländers und sah hinüber nach dem Lindhofer Schlosse. Dort herrschte das tiefste Schweigen. Ueber der ärmlichsten Hütte des Dorfes, wie über dem stolzen Schloßbau, flimmerte ein und derselbe Stern und schickte seinen milden Schein unparteiisch hernieder, oder fiel wirklich ein vereinzelter Strahl des rothen Lichtes dort auf die Stelle, wo der Wald sich lichtete und in den Park auslief? Nein, der Schimmer stieg vom Boden auf und färbte, rasch in den dichten Wald eindringend und fortlaufend, schwach röthlich die Wipfel. Es war ohne Zweifel eine Fackel, die den schmalen Weg entlang getragen wurde, auf welchem auch Elisabeth bis zum Nonnenthurm gelangt war.

Einmal blieb das Licht unbeweglich stehen, und in demselben Augenblick drang ein ferner Ruf bis zu Elisabeth herüber. Sie sagte sich freudig, daß sich Hülfe nahe, daß sie gesucht werde, und erhob ihre Stimme zu einer Antwort, obwohl sie wußte, daß der schwache Laut die Rufenden nicht erreichen könne. Noch einen Augenblick verweilte der Schimmer, dann kam er in fliegender Eile näher und näher. Das junge Mädchen unterschied bald die Flamme und sah, wie beim Niederstoßen auf den Boden ein Funkenregen umhersprühte.

„Elisabeth!“ scholl es plötzlich durch den Wald.

Die Stimme ging ihr durch Mark und Bein, denn es war seine Stimme; Herr von Walde rief nach ihr in den Tönen unbeschreiblicher Angst.

„Hier,“ rief sie hinab, „hier bin ich, auf dem Thurme!“

Der Fackelträger stürzte durch das Dickicht, über die Waldblöße hinweg. In wenigen Augenblicken stand er drinnen auf den obersten Treppenstufen und rüttelte mit gewaltiger Hand an der Thür. Unmittelbar darauf erfolgten einige kräftige Fußstöße, und das alte Bretergefüge barst krachend auseinander.

Herr von Walde trat heraus auf die Plattform. In der Linken hielt er die Fackel und mit der Rechten zog er Elisabeth in das Bereich der Flamme. Er war ohne Kopfbedeckung, das dunkle Haar fiel ungeordnet auf die Stirn, und eine tiefe Blässe bedeckte sein Gesicht. Sein Blick lief wie ein Blitz über ihre Gestalt, als wolle er sich überzeugen, daß sie auch wirklich unverletzt vor ihm stehe. Er schien in einer unbeschreiblichen Aufregung zu sein; die Hand, die ihren Arm umklammerte, zitterte heftig, er war im ersten Augenblick keines Wortes mächtig.

„Elisabeth, armes Kind!“ stieß er endlich seufzend hervor. „Hierher, in die dunkle Nacht, auf dies unheimliche Gemäuer, hat Sie die Schmach getrieben, die Sie heute in meinem Hause erdulden mußten?“

Elisabeth erklärte ihm, daß ihr Verweilen hier oben kein freiwilliges gewesen sei, wie ja die geschlossene Thür beweise, und erzählte in flüchtigen Worten den Verlauf der Sache. Dabei schritt sie die Treppe hinab. Er ging ihr voraus und bot ihr die Hand, um sie zu stützen; aber sie faßte nach dem Strick, der als Treppengeländer diente, und wandte die Augen weg, um seine Bewegung ignoriren zu können.

In diesem Augenblick erlosch die Fackel, die ohnehin nur noch schwach brannte, in einem starken Luftzug, der durch eine offene Luke einströmte; tiefe Finsterniß umgab die Hinabsteigenden.

„Geben Sie mir jetzt die Hand!“ sagte er, in den befehlenden Ton von früher verfallend.

„Ich halte mich am Geländer und brauche keine andere Stütze,“ entgegnete sie abwehrend.

Kaum war das letzte Wort über ihre Lippen, als sie sich von zwei Armen umschlungen fühlte, die sie ohne Weiteres wie eine Feder vom Boden aufhoben und die Treppe hinabtrugen.

„Thörichtes Kind,“ sagte er, indem er sie draußen auf dem Rasenplatz niederließ, „ich werde doch nicht leiden, daß Sie sich auf den Steinfließen des Thurmes die Glieder zerschmettern!“

Sie schlug den Weg ein, der direct nach dem Lindhofer Schlosse führte; er war ja der kürzeste. Herr von Walde schritt schweigend neben ihr her.

„Sie haben die Absicht, heute von mir zu gehen, ohne mir ein versöhnliches Wort zu sagen?“ fragte er plötzlich stehen bleibend. In seinem Ton stritten Schmerz und verhaltener Groll. „Ich habe das Unglück gehabt, Sie zu beleidigen?“

„Ja, Sie haben mir wehe gethan.“

„Weil ich meinen Vetter nicht sofort zur Rechenschaft zog?“

„Das konnten Sie ja nicht, seine Werbung geschah mit Ihrer Genehmigung. Sie so gut, wie die Anderen, wollten mich zwingen, Herrn von Hollfeld meine Hand zu reichen.“

„Ich Sie zwingen? … Kind, wie schlecht verstehen Sie sich auf die Erforschung eines männlichen Herzens! … Ich war von einem finsteren Irrthum befangen, oder richtiger, ich wollte diesen Irrthum vollends von mir werfen, wollte prüfen, als ich ‚ja‘ sagte. … Sie sollen im Gegentheil erfahren, daß ich Alles entfernen werde, was Sie an den heutigen Vorfall erinnern könnte… Sie sind gern in Lindhof“?“

„Ja.“

„Die Baronin Lessen wird das Schloß verlassen, und ich will Sie bitten, meiner Schwester Stütze und Umgang zu sein, wenn [275] – wenn ich wieder in die weite Welt hinausziehen werde, wollen Sie?“

„Das kann ich Ihnen nicht versprechen.“

„Und warum nicht?“

„Fräulein von Walde wird meine Gesellschaft nicht wünschen, und wenn auch … ich habe heute schon einmal erklärt, daß ich den neuen Namen nicht führen werde.“

„Wunderliche Antwort! … Das gehört nicht hierher… Ah, jetzt verstehe ich! Endlich wird es hell vor meinen Augen! Sie glauben also, ich habe Hollfeld’s Wahl gebilligt, weil Ihnen plötzlich ein adeliger Name zugefallen ist … wie, ist’s nicht so?“

„Ja, das glaube ich.“

„Und folgern weiter, daß ich Sie aus dem Grunde auch jetzt als Umgang für meine Schwester wünsche? … Sie sind überhaupt der Ansicht, daß der Aristokrat bei Allem, was ich thue und denke, die erste Stimme hat?“

„Ja, ja!“

„Nun, dann frage ich Sie, welchen Namen führten Sie, als ich hier, auf diesem Wege, Sie um einen Glückwunsch für mich bat?“

„Damals wußten wir noch nicht, welches Geheimniß der Erker enthielt,“ flüsterte Elisabeth kaum hörbar.

„Haben Sie die Worte vergessen, die Sie mir an jenem Tag nachsprechen mußten?“

„Nein, ich habe jede Silbe klar und fest im Gedächtniß,“ entgegnete das junge Mädchen rasch.

„Nun, und halten Sie es für möglich, daß solche Worte enden könnten mit einem ‚und bleiben Sie gesund im neuen Jahr‘ oder dergleichen?“

Das junge Mädchen antwortete nicht, sah aber tieferröthend zu ihm auf.

„Hören Sie mich einen Moment ruhig an, Elisabeth,“ fuhr er fort; er selbst aber war so wenig ruhig, daß man das Klopfen seines Herzens in der schwankenden, von innerer Bewegung fast erstickten Stimme hören konnte. „Ein Mann, den das Glück bevorzugte, indem es ihm eine höhere Lebensstellung und Reichthum in die Wiege legte, mißtraute diesen Vorzügen, als er anfing, selbstständig zu denken. Er fürchtete, daß gerade an ihnen das scheitern könne, was er Lebensglück nannte. Er schuf sich deshalb im Bezug auf die Wahl seiner Lebensgefährtin ein Ideal, nicht, daß er außerordentliche geistige und körperliche Vorzüge beansprucht hätte, er suchte einfach ein Wesen im Besitz eines reichen und reinen Herzens, das kein Verständniß habe für die Vortheile des Ranges und Reichthums und sich ihm, nur ihm, ohne jedwede Nebenrücksicht, hingeben würde… Er kam allmählich zu der Ueberzeugung, daß sein Ideal ein Ideal bleiben werde; denn er war über seiner Erforschung nachgerade siebenunddreißig Jahre alt geworden… Wenn die Hoffnung bereits die Flügel zusammenfaltet, wenn es dunkel werden will, dann hat das in der zwölften Stunde noch plötzlich aufglühende Morgenroth etwas Ueberwältigendes für die Menschenseele. Sie wird aus dem Geleise gerissen, und eben die Verspätung, das so lange erfolglose Harren stürzen sie in ein Meer von Zweifeln und lassen sie nicht recht mehr an das unerwartete Glück glauben… Elisabeth, er fand ein solches Herz, das, unterstützt von einem klar erwägenden, reich ausgestatteten Geist, hoch stand über jenen kleinlichen Interessen; aber es schlug in einer jungen, mit dem höchsten Liebreiz geschmückten Hülle… War es da wohl ein Wunder, wenn der gereifte Mann, der, wie er wohl wußte, nichts Bestechendes in seinem Aeußeren hatte, mißtrauisch und voll Angst auf einen Anderen blickte, der Jugend und eine schöne Gestalt in die Wagschale legen durfte? … War es ein Wunder, wenn er durch einen Blick, eine Versicherung, eine Handlung des jungen Mädchens sich einen Augenblick zu den kühnsten Hoffnungen hinreißen ließ, um im nächsten der tiefsten Muthlosigkeit zu verfallen, wenn er Jenen um sie bemüht sah? War es nicht ganz begreiflich, daß er fürchtete, die Jugend werde sich zur Jugend gesellen? … Nie hat wohl ein männliches Herz glühender die Erfüllung seiner Wünsche herbeigesehnt, als das seinige, nie aber auch mag feiger gezweifelt worden sein an einem Erfolg, als er in namenloser Qual gezweifelt hat! … Und als man ihm sagte, daß sein kleiner, vergötterter Liebling jenem Anderen angehören werde, da leerte er den Schmerzenskelch und sagte ‚ja‘, weil er wähnte, er handle in ihrem Sinn… Elisabeth, ich stand heute völlig vernichtet und verzweifelnd an der Schwelle des Pavillons. Sie wissen nicht, was es heißt, wenn der Schiffer alle seine besten Schätze, seine Kleinodien auf ein einziges Schiff häuft und dies vor seinen Augen versinkt… Soll ich Ihnen beschreiben, was ich empfand, als Sie so entschieden die Standeserhöhung von sich wiesen und somit eine Verbindung mit Hollfeld unmöglich machten? Soll ich Ihnen sagen, daß mich nur der Zustand meiner Schwester und die Rücksicht auf Sie selbst abhalten konnten, den ehrlosen Buben vor Ihren Augen zu züchtigen? … Er hat bereits Lindhof verlassen und wird nie wieder Ihren Weg kreuzen… Wollen Sie die Beleidigung vergessen, die Ihnen heute in meinem Hause widerfahren ist?“

Er hatte längst ihre beiden Hände ergriffen und hielt sie gegen seine Brust. Sie ließ es widerstandslos geschehen und bejahte mit bebenden Lippen seine Frage.

„Und wollen wir nicht überhaupt Alles vergessen, meine süße, kleine Goldelse, was sich zwischen Anfang und Schluß des Glückwunsches gedrängt hat? … Mein liebliches, blondes Mädchen, die Wonne meiner Augen, meine kleine Elisabeth Ferber steht wieder vor mir und sagt folgsam Wort für Wort nach, nicht wahr? … Der letzte Satz, der so grausam unterbrochen wurde, lautete?“

„Hier ist meine Hand als Bürge eines unaussprechlichen Glückes,“ stammelte Elisabeth.

„Ich will die Deinige sein im Leben und Sterben bis in alle Ewigkeit!“

Aber sie öffnete vergebens die Lippen, um die Worte, die er feierlich, in tiefster Bewegung sprach, zu wiederholen. Thränen stürzten aus ihren Augen, und sie schlang ihre Arme um den Hals dessen, der sie jubelnd an seine Brust zog…

„Nun flieht mein himmlischer Traum wieder von mir,“ sagte er mit einem Seufzer, als sich Elisabeth endlich leise aus seinen Armen wand. „Lasse mir wenigstens Deine Hand, Elisabeth; ich muß erst lernen, an mein Glück zu glauben. Wenn Du heute von mir gehst, werde ich in die Nacht der Zweifel zurückfallen. … Du bist Dir klar und fest bewußt, daß Du jetzt unwiderruflich mein bist? Du weißt doch, daß Du nun Vater und Mutter und die traute Heimath auf dem Berge verlassen mußt um meinetwillen?“

„Ja, das weiß ich und das will ich, Rudolph,“ sagte sie lächelnd, aber fest.

„Sei gesegnet, mein Liebling, für diese Worte… Aber, Du sollst die ganze Schwäche meines Unglaubens kennen lernen. War es nicht nur Erbarmen mit meiner grenzenlose Liebe, was Dich bewog, meiner ungestümen Werbung nachzugeben?“

„Nein, Rudolph, es war die Liebe, die in meinem Herzen lebt, seit ich – klingt das nicht seltsam – in Deine zürnenden Augen sah, seit ich Deine Stimme gehört hatte, wie sie menschliche Grausamkeit und Härte unerbittlich richtete. Und sie ist seit jenem Augenblick auch nie wieder von mir gewichen; sie ist im Gegentheil groß gewachsen und immer mächtiger geworden, trotz all’ meines Bestrebens, sie zu vernichten, trotz aller rauhen Worte, die sie oft genug tödtlich verwundeten.“

„Wer hat das gethan?“

„Du selbst, Du warst heftig, abstoßend gegen mich.“

„O Kind, das waren die Ausbrüche einer wahnsinnigen Eifersucht! Ich habe mich mein ganzes Leben hindurch in der Selbstbeherrschung geübt; aber jene schrecklichste aller Qualen ließ sich nicht hinter den Schild zwingen… Und deshalb wollte mein kleines Mädchen den Himmel zerstören, den sie mir jetzt eröffnet?“

„Deshalb nicht, das wäre auch ganz vergebliche Mühe gewesen, denn ein warmer Blick von Dir machte Alles wieder gut; aber es trat ein anderer hartnäckiger Streiter in die Schranken – das war der Verstand. Er hatte sich die allgemein verbreitete Sage von Deinem unglaublichen aristokratischen Hochmuth wacker eingelernt und wiederholte mir bei jeder Aufwallung meines Herzens eindringlich den Grund, weshalb Du die Hand einer fürstlichen Hofdame zurückgewiesen haben solltest.“

„Ah, die sechszehn Ahnen!“ rief Herr von Walde lächelnd. „Siehst Du, kleine Goldelse, das ist das Walten der Nemesis!“ fuhr er ernster fort. „Um Widerwärtigkeiten zu entgehen, griff ich ohne weitere Ueberlegung zu dem ersten, besten Mittel, das, wie ich jetzt merke, mich um ein Haar mein ganzes Lebensglück gekostet hätte… Ich verkehre sehr gern mit dem Fürsten von L., [276] aber der Aufenthalt an seinem Hofe wurde mir eine Zeitlang gründlich verleidet durch die Heirathspläne, mit denen mich besonders die Prinzessin Katharine verfolgte. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, aus einer ihrer Hofdamen und mir ein Paar zu machen. Daß mir das Mädchen völlig gleichgültig sein könne, hielt man für unmöglich, da sie für eine der ersten Schönheiten galt und Vieler Herzen bestrickt hatte. All’ mein Protestiren half nichts, man spann die kleine Intrigue immer weiter, und so schnitt ich sie eines Tages kurz ab, indem ich Ihrer Durchlaucht erklärte, daß mich eine derartige Wahl eines meiner Güter kosten würde, denn es falle, laut Testament meines Onkels, dem Staat anheim, wenn ich eine Gattin heimführen sollte, die nicht ihre sechszehn Ahnen habe… Mit jener Erklärung hatten alle Quälereien ein Ende; im ganzen, kleinen Lande ist ja kein solcher Stammbaum zu finden, und man begriff völlig, daß ich mein Gut zu behalten wünschte.“

„Und um meinetwillen erleidest Du jetzt einen solchen Verlust?“ rief Elisabeth betroffen.

„Es ist kein Verlust, Elisabeth, es ist nur ein Tausch, ein Tausch, bei welchem ich einen unermeßlichen Schatz, des Lebens höchste Glückseligkeit, gewinne.“

Eine Fackel tauchte seitwärts im Dickicht auf.

„Halt, hierher!“ rief Herr von Walde.

Einer seiner Diener stand alsbald vor ihm. Er beauftragte denselben, so rasch, wie möglich hinauf nach Gnadeck zu eilen und Fräulein Ferber’s Zurückkunft anzumelden.

Der Bediente eilte spornstreichs davon.

„Ich bin sehr egoistisch gewesen, Elisabeth,“ sagte Herr von Walde, indem er ihren Arm in den seinen legte und nun ungesäumt mit ihr vorwärts schritt. „Ich wußte, daß Deine Verwandten in großer Angst und Unruhe um Dich sind; Vater und Onkel suchen Dich drüben im fürstlichen Waldrevier; meine sämmtlichen Leute und die Lindhofer Bauern durchstreifen Deinetwegen die Gegend nach allen Richtungen hin, und ich vergaß Alles in dem Augenblick, als ich Dich fand.“

„Meine armen Eltern!“ seufzte Elisabeth nicht ohne Gewissensbisse; auch für sie war ja die ganze Welt versunken, als er gekommen war, sie zu befreien.

„Friedrich hat flinke Füße,“ tröstete Walde, „er wird lange vor uns auf dem Berge sein und die Deinen beruhigen.“

Sie traten in den Park ein und schritten am Schloß vorüber. Es lag finster und schweigend da. Nur aus Helenens Schlafzimmer schimmerte gedämpftes Lampenlicht.

„Dort wird jetzt ein Kampf auf Leben und Tod gekämpft,“ murmelte Herr von Walde hinüberblickend. „Sie hat den Elenden wahrhaft fanatisch geliebt; wie furchtbar muß die Erkenntniß sein!“

„Gehe hinauf und tröste sie,“ bat Elisabeth.

„Trösten? In solchem Augenblick? … Kind, mir hätte einer mit Trostgründen kommen sollen, als ich Dich zu verlieren glaubte! … Helene hat sich eingeschlossen, seit ich den Befehl gegeben habe, man möge Herrn von Hollfeld’s Pferd vorführen, aber die Kammerfrau ist in ihrer Nähe. Es wird einer längeren Zeit bedürfen, ehe sie mich sucht und meinen Anblick wünscht, denn sie hat sich um jenes Erbärmlichen willen von mir losgerissen; ein Mensch aber, der so schwer getäuscht wurde, kehrt selten augenblicklich zurück zu denen, die ihn gewarnt haben.… Uebrigens werde ich heute mein Haus nicht wieder betreten, ohne mich versichert zu haben, daß Deine Eltern Dich mir nicht entreißen wollen.“

Seitwärts zweigte sich der Weg ab, an welchem die bewußte Gartenbank stand.

„Weißt Du noch?“ fragte Elisabeth lächelnd und deutete hinüber.

„Ja, ja. Dort sprachst Du den kühnen Entschluß aus, als Erzieherin in die weite Welt zu gehen, und ich nahm mir die Freiheit, zu denken, daß ich dies nun und nimmer zugeben würde. Es bedurfte all meiner Selbstbeherrschung, daß ich den kleinen, verwegenen Zugvogel nicht sofort in meine Arme nahm und sein goldenes Köpfchen voll trotziger, stolzer Gedanken an meine Brust drückte… Dort entlockte ich Dir das unbewußte, naive Geständniß, daß Deine Eltern noch den ersten Platz in Deinem Herzen behaupteten. Aber Du nahmst auch eine abweisende, kühle Haltung an, als ich mich unterfangen wollte, vertrauensvoll zu sprechen.“

„Das war Schüchternheit … und ich bin noch nicht sicher, ob ich nicht morgen, wenn ich Deine strenge Stirn bei Tagesbeleuchtung sehe, in meine Verzagtheit zurückfalle.“

„Sie wird nicht mehr streng aussehen, mein Kind, das Glück hat sie mit weichem Finger berührt.“ –

Bald nachher erlebten die alten Buchen, die über die Waldblöße hinweg in das hellerleuchtete Ferber’sche Wohnzimmer sehen konnten, ein seltenes Schauspiel. Ein hoher Mann, dessen Gesicht die Blässe tiefer, innerer Bewegung bedeckte, führte die Tochter den Eltern zu, um sie in demselben Augenblick zurückzufordern als sein künftiges Weib, sein zweites Ich. Die alten Buchen sahen, wie er die junge Braut in die Arme nahm und so den Segen der erschütterten Eltern empfing, sahen, wie ein unter Thränen lächelndes Muttergesicht dankend zum Himmel aufblickte und wie der kleine Ernst an Hänschens Käfig rüttelte, um dem verschlafenen Sänger im gelben Frack feierlich zu verkünden, daß die Else merkwürdigerweise Braut sei.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum Anfang
Autor: E. Marlitt
Titel: Goldelse
aus: Die Gartenlaube 1866, Heft 19, S. 289–292
Fortsetzungsroman – Teil 18


[289]
17.

Während im Zwischenbau auf dem alten Gnadeck Glück und Freude einzogen, ereignete sich ein Fall trauriger Art unten im Thale.

Zwei Lindhofer Bauern, die, mit Fackeln versehen, nach Elisabeth suchten, hörten, als sie von ihrem Dorfe her nach dem Walde zu schritten, vor sich plötzlich ein heftiges Knurren, es klang wie das Knurren eines gereizten Hundes. Nicht weit von ihnen lag eine Gestalt quer über den Weg hingestreckt; ein großer Hund stand daneben und hatte, wie zur Vertheidigung, beide Vorderpfoten auf das am Boden liegende Wesen gestellt. Das Thier wurde wüthend bei Annäherung der Männer, fletschte die Zähne und machte Miene auf sie loszuspringen. Sie wagten sich nicht weiter und liefen in das Dorf zurück, wo sich in demselben Augenblick mehrere Fackelträger zusammenfanden, unter ihnen der Oberförster, der so eben durch Herrn von Walde’s Bedienten erfahren hatte, daß Elisabeth gefunden sei.

Sofort eilten Alle nach der bezeichneten Stelle. Diesmal knurrte der Hund nicht. Er winselte und kroch schwanzwedelnd bis zu den Füßen des Oberförsters; es war Wolf, sein Hofhund, und dort lag, anscheinend leblos, Bertha. Sie blutete aus einer Kopfwunde, und das Gesicht hatte die Blässe des Todes.

Der Oberförster sagte kein Wort. Er vermied es, den mitleidigen Blicken der Umstehenden zu begegnen; in seinen Zügen kämpften Groll und Schmerz. Er hob Bertha vom Boden auf und trug sie in das letzte Haus des Dorfes; es war das Weberhäuschen. Von dort aus schickte er einen Boten nach Sabine. Zum Glück verweilte der Wahlheimer Arzt noch bei einem Patienten im Dorfe. Er wurde herbeigeholt und brachte die Ohnmächtige sehr bald wieder zu sich. Sie erkannte ihn und verlangte nach einem Trunk Wasser. Ihre Wunde war ungefährlich; aber der Arzt schüttelte den Kopf und warf einen seltsamen Blick auf den Oberförster, der mit besorgter Miene seine Manipulationen verfolgte.

Der Doctor war ein gerader Mann von etwas rauhen, derben Manieren. Er trat plötzlich auf den Oberförster zu und sagte ihm mit nicht sehr unterdrückter Stimme einige Worte. Wie von einem tödtlichen Schuß getroffen, taumelte der alte Mann zurück, starrte den Doctor an wie geistesabwesend, und ohne auch nur eine Silbe zu erwidern, ohne einen Blick auf die Kranke zu werfen, schritt er zur Thür hinaus.

„Onkel, Onkel, verzeihe mir!“ schrie das Mädchen mit herzzerreißender Stimme auf, aber er war schon verschwunden in der dunklen Nacht draußen.

Dafür erschien Sabine athemlos auf der Schwelle. Eine Magd folgte ihr und trug ein ungeheures Bündel Bettstücken auf dem Kopfe und einen Handkorb voll Verbandzeug, Erfrischungen und aller möglichen praktischen und nöthigen Dinge am Arme.

„Gott im Himmel, was machen Sie für Streiche, Berthchen?“ rief die Alte mit Thränen in den Augen, als sie das entfärbte Gesicht mit dem Verband über der Stirn auf dem Kissen liegen sah. „Und gerade heute Mittag, wie Sie fortgingen, kamen Sie mir munterer vor; Sie hatten so schöne, rothe Backen.“

Das Mädchen vergrub das Gesicht in das Bett und verfiel in ein convulsivisches Schluchzen.

Der Arzt gab Sabinen einige Verhaltungsmaßregeln, verbot der Kranken streng alles Reden und verließ das Zimmer.

„Nicht sprechen soll ich!“ rief Bertha, indem sie sich im Bett [290] aufsetzte. „Solch’ einem alten Mann mit dem kühlen Blut in den Adern und den abgemessenen Gedanken unter den weißen Haaren, dem mag das Schweigen freilich leicht werden. Aber ich, ich muß sprechen, Sabine, und wenn es mir den Tod bringt, desto besser!“

Sie zog die Haushälterin auf den Bettrand und beichtete bitterlich weinend ihre Schuld.

Sie hatte ein Liebesverhältniß mit Hollfeld gehabt. Er hatte ihr versprochen, sie zu heirathen; sie dagegen hatte ihm feierlich schwören müssen, daß sie das Verhältniß geheim halten und ihre Rechte auch nicht eher öffentlich geltend machen wolle, als bis er sie dazu autorisire, denn er mußte, wie er vorgab, seine Mutter und die Verwandten in Lindhof berücksichtigen, die er erst ganz allmählich seinen Wünschen geneigt machen könne. Die Unbesonnene schwur, und, exaltirt wie sie war, fügte sie das Gelübde hinzu, daß Anderen gegenüber nicht eher wieder ein Wort über ihre Lippen kommen solle, als bis sie der Welt ihr stolzes Geheimniß mittheilen dürfe. Die Zusammenkünfte Beider fanden gewöhnlich im Nonnenthurm oder im Pavillon des Lindhofer Parkes statt. Niemand kam ihnen auf die Spur. Nur die Baronin Lessen hatte eines Tages Verdacht geschöpft, in Folge dessen sie in den heftigsten Zorn gerieth und dem Mädchen den ferneren Zutritt im Lindhofer Schlosse verbot.

Das erschütterte Bertha’s kühne, hochstrebende Hoffnungen nicht, denn Hollfeld tröstete sie und verwies sie auf die Zukunft. … Aber da kam Elisabeth Ferber, und von jenem Augenblick an war er ein Anderer. Er vermied sie, und wenn sie ihn endlich durch Drohungen zu einer Zusammenkunft zwang, zeigte er ihr eine höhnische Kälte, eine Nichtachtung, die ihr das Herz umwendeten und ihr leidenschaftliches Gemüth bis zur Wuth empörten.

Als sie endlich erkannte, daß sie es mit einem Ehrlosen zu thun habe, da wurden ihr die ganzen Schrecken ihrer Lage klar. Sie gerieth in Verzweiflung, und von da an begannen ihre nächtlichen Wanderungen. Kein Schlaf berührte ihre Augen, und nur draußen im nachtstillen, einsamen Wald, wo sie ihren heißen Schmerz, ihre Seelenangst ausschreien durfte, ward sie momentan ruhiger.

Endlich fand das Drama seinen Schluß, wie dergleichen Liebesdramen schon unzählige Mal geschlossen haben und wohl noch eben so oft schließen werden, denn das warnende Exempel hat wohl Kraft für den Verstand, nie aber für ein arglos liebendes weibliches Herz; Hollfeld bot der Bethörten eine Summe Geldes, wenn sie ihre Ansprüche aufgeben und sich in eine entfernte Stadt zurückziehen wolle. Er gab vor, daß seine Mutter und die Lindhofer Verwandten ihn zwängen, das „neugebackene Fräulein von Gnadewitz“ zu heirathen. Sie schalt ihn einen ehrvergessenen Lügner und stürzte wie rasend fort… Zornflammend und rachedürstend drang sie in das Zimmer seiner Mutter und sagte ihr Alles.

Bis dahin hatte Bertha unter heftigen Gesticulationen, mitunter von Schluchzen und Weinen unterbrochen, in geordneter Reihenfolge erzählt. Jetzt aber schwieg sie einen Augenblick und ein Ausdruck von unauslöschlichem Haß entstellte ihr fiebergeröthetes Gesicht.

„Das abscheuliche Weib,“ rief sie endlich mit fliegendem Athem, „hat stets Bibelsprüche auf den Lippen. Sie strickt und näht und sammelt Tag und Nacht für die Mission, die Gottes Wort unter die Heiden tragen soll, damit sie menschlich werden; unmenschlicher und grausamer aber können sie nicht sein in ihrer Unwissenheit, als diese Christin in ihrem Hochmuth. Den Götzendienst will sie ausrotten helfen, diese Hochgeborene; sie selbst aber macht sich zum Götzen, umgiebt sich mit Kriechern, Schmeichlern und Speichelleckern, welche ihr stets wiederholen müssen, daß sie zu den Auserwählten gehöre, die aus ganz anderem Stoff gemacht sein sollen, als die übrigen Menschenkinder. Wehe, wenn ein gerader, ehrlicher Mensch diese Meinung nicht theilt; seine Schuld ist nicht geringer, als die des Gotteslästerers! … Sie stieß mich vor die Thür und wollte mich mit Hunden aus dem Schlosse hetzen lassen, wenn ich mich je wieder blicken ließe… Von dem Augenblick an weiß ich nicht mehr, was mit mir vorgegangen ist,“ sagte sie, erschöpft in die Kissen zurücksinkend, während sie die Hand gegen die schmerzende Stirn preßte. „Ich weiß nur, daß ich erwachte und das Gesicht des Doctors über mir sah. ... Er hat dem Onkel meine Schmach mitgetheilt, ich hörte es… Was soll aus mir werden!“

Sabine hatte die Beichte mit Schauder und Schrecken gehört. Sie hielt streng auf einen reinen Lebenswandel und war eine unnachsichtige Richterin für Fehltritte, wie sie Bertha bekannt hatte. Aber sie besaß auch ein Herz, reich an Liebe und tiefem Erbarmen. Deshalb sah sie jetzt mit Thränen auf die zerknirschte Verirrte und legte tröstend und beschwichtigend das müde Haupt an ihre Brust. Sie hatte die Genugthuung, daß das Mädchen wie ein müdegeweintes Kind in ihren Armen einschlief.

Bald hörte man nur noch die ruhigen Athemzüge der Kranken und das leise Ticken der Wanduhr im engen Stübchen. Sabine zog die Brille und ein abgegriffenes Exemplar des neuen Testamentes aus dem Handkorb und wachte treulich, bis das helle Morgenlicht durch’s Fenster schaute.

Bertha starb nicht, wie sie gehofft hatte, in Folge ihrer erschütternden Bekenntnisse. Sie erholte sich im Gegentheil wunderbar schnell unter Frau Ferber’s und Sabinens Pflege. Ein Anfall von Geistesstörung war nicht wiedergekehrt. Die Kopfwunde, die von einem Fall auf einen spitzen Stein herrührte, war durch den starken Blutverlust, den sie zur Folge hatte, heilbringend geworden.

Der Oberförster war außer sich über die Schande, die Bertha unter sein ehrliches Dach gebracht. Selbst dem ruhigen Zuspruch seines Bruders war er in den ersten Tagen nicht zugänglich. Nachdem ihm Sabine Bertha’s Bekenntnisse mitgetheilt hatte, ritt er sofort nach Odenberg, um den „nichtswürdigen Buben“ zur Rede zu stellen, aber die Dienerschaft berichtete ihm achselzuckend, der gnädige Herr sei auf unbestimmte Zeit verreist, und man wisse nicht, wohin. Auch Herrn von Walde’s Nachforschungen blieben ohne Erfolg.

Bertha selbst erklärte, daß sie von ihrem Verführer, den sie jetzt ebenso glühend hasse, wie sie ihn ehedem geliebt habe, nichts wieder hören wolle. Wenige Wochen nach ihrer Wiederherstellung verließ sie das Weberhäuschen – das Forsthaus hatte sie nicht wieder betreten dürfen – um nach Amerika auszuwandern. Aber sie ging nicht allein. Ein Jägerbursch ihres Onkels, ein braver, junger Mann, bat eines Tages um seine Entlassung, weil er die Bertha immer im Stillen geliebt habe und es nun nicht über’s Herz bringen könne, sie so mutterseelenallein in die weite Welt ziehen zu lassen. Sie habe ihm versprochen, die Seine zu werden. In Bremen wolle er sich mit ihr trauen lassen und es dann drüben mit dem Farmerleben versuchen. Herr von Walde unterstützte das Paar mit einer bedeutenden Summe Geldes, und auf Frau Ferber’s und Elisabeth’s Bitten ließ es der Oberförster stillschweigend geschehen, daß Sabine die aufgespeicherten Leinenschätze der seligen Oberförsterin plünderte, um die künftige Farmerin anständig auszustatten. –

Es war ein trüber, nebliger Herbsttag, als ein bepackter Reisewagen das Lindhofer Schloß verließ und die Richtung nach L. einschlug. Völlig zusammengebrochen und vernichtet drückte sich die Baronin Lessen in die Ecke des Wagens. Ihre glänzende Rolle in Lindhof war zu Ende; sie kehrte unfreiwillig zurück in enge Räume und dürftige Verhältnisse.

„Mama,“ sagte Bella mit ihrer scharfen, kreischenden Stimme, während sie das Glasfenster unablässig auf- und niederzog und mit den Füßen baumelte, „gehört denn nun das Schloß der Elisabeth Ferber? Wird sie in unserem schönen Wagen mit den weißen Seidendamast-Polstern fahren? Darf sie jetzt in Deinen Salon gehen und sich auf die schönen, gestickten Fauteuils setzen? Der alte Lorenz sagt, sie werde nun die gnädige Frau und Alles, was sie befehle, müsse geschehen.“

„Kind, martere mich nicht mit Deinem Geschwätz!“ stöhnte die Baronin und versenkte das Gesicht in das Taschentuch.

„Es ist doch sehr dumm vom Onkel Rudolph, daß er uns fortschickt,“ fuhr die Kleine unerbittlich fort. „Gelt, wir haben in B. keine silbernen Teller, auf denen wir essen werden, Mama? Ich weiß es noch von früher… Und einen Koch haben wir auch nicht. Werden wir wieder aus dem Speisehaus essen, Mama? … Wirst Du Dich wieder selbst frisiren, wenn die Caroline wäscht und bügelt? Warum –“

„Schweig!“ unterbrach die Mama den Schwall von Worten, deren jedes zur Dolchspitze für sie wurde.

Bella kauerte sich erschrocken in die Ecke und tauchte erst wieder empor, als der Wagen über das Straßenpflaster in L. rasselte. Die Baronin dagegen warf einen scheuen Blick hinauf [291] nach dem fürstlichen Schlosse; dann zog sie den Schleier hastig über das Gesicht und brach in ein heftiges Weinen aus.

Es war infolge von Bertha’s Geständnissen zu einem heftigen Auftritt zwischen Herrn von Walde und der Baronin gekommen, der mit Ausweisung der Letzteren endete. Helene stieß sie mit Abscheu zurück, als sie Hülfe und Fürsprache bei ihr suchte, und so sah sie sich gezwungen, den Reisewagen zu besteigen, der pünktlich zu der vom Schloßherrn bestimmten Stunde an der Einfahrt hielt… In den Wermuthbecher fiel übrigens ein Tröpfchen Süßigkeit. Herr von Walde hatte ein Erziehungsgeld für Bella ausgesetzt unter der Bedingung, daß sie von nun an vernünftiger erzogen werde, als bisher geschehen. –

Fast zur nämlichen Stunde, da die Baronin Lessen Lindhof für immer verließ, erschien die Oberhofmeisterin von Falkenberg im Boudoir der Fürstin, die in Begleitung ihres Gemahls vor wenigen Tagen aus dem Bade zurückgekehrt war.

Die Oberhofmeisterin verbeugte sich so tief, wie es ihre unsicheren Fundamente nur irgend gestatteten, aber es geschah in einer eigenthümlichen Hast, die sie bei jedem anderen Eintretenden höchst indignirt als etikettenwidrig gerügt haben würde. Sie hielt einen offenen Brief in den Händen, der seine ursprüngliche Glätte offenbar erst zwischen den zitternden Fingern eingebüßt hatte.

„Ich bin sehr unglücklich,“ begann sie mit alterirter Stimme, „den durchlauchtigsten Herrschaften eine scandalöse Nachricht unterbreiten zu müssen… O, mon dieu, wer hätte das gedacht! … Nun, wenn selbst in dieser Sphäre Scham und höheres Bewußtsein aufhören, wenn Jeder der Eingebung einer gemeinen Neigung folgen will und seine heiligen Vorrechte unter die Füße des Pöbels wirft, dann ist es freilich kein Wunder, daß wir zuletzt den Nimbus nicht mehr zu halten vermögen und das Volk sogar an den Thronen zu rütteln wagt!“

„Alteriren Sie sich nicht, meine liebe Falkenberg,“ sagte der Fürst, der zugegen war, sichtlich amüsirt, „Ihre Einleitung hat etwas vom grandiosen Styl der Kassandra… Aber ich spüre bis jetzt noch nichts von dem geweissagten Erdbeben, und zu meiner Befriedigung bemerke ich auch,“ sein Blick streifte lächelnd drunten den stillen Marktplatz, „daß meine getreuen Unterthanen sich ruhig verhalten… Was haben Sie mir mitzutheilen?“

Sie sah betroffen zu ihm auf; sein sarkastischer Ton machte sie unsicher.

„O, wenn Durchlaucht wüßten!“ rief sie endlich. „Gerade er, auf dessen stolzes Blut ich Häuser gebaut haben würde! Herr von Walde zeigt mir an, daß er sich verlobt habe, und mit wem? mit wem?“

„Mit Fräulein Ferber, der Nichte meines alten, braven Oberförsters,“ ergänzte der Fürst lächelnd. „Ja, ja, ich habe schon so etwas gehört… Der Walde ist nicht auf den Kopf gefallen, wie ich merke. Die Kleine soll ein wahres Wunder von Schönheit und Liebenswürdigkeit sein… Nun, ich hoffe, er läßt uns nicht lange warten auf die allerliebste kleine Bekanntschaft und stellt sie uns bald vor.“

„Durchlaucht,“ rief die Oberhofmeisterin erstarrt, „sie ist die Tochter Höchstihres Forstschreibers!“

„Ja, ja, beste Falkenberg,“ beschwichtigte die Fürstin, „das wissen wir ja. Aber beruhigen Sie sich nur, sie ist ja eigentlich doch von Adel, wie ich gehört habe.“

„Erlauben Euer Durchlaucht gnädigst,“ entgegnete die alte Dame, hochroth im Gesicht, und deutete auf den zerknitterten Brief, „hier steht sie schwarz auf weiß, diese Verlobung mit einer Bürgerlichen; hier steht der Name Ferber und kein anderer, und so wird er auch auf dem Stammbaum Derer von Walde stehen für alle Zeiten; scheint es doch, als ob ihn der Herr Bräutigam auch noch mit einer gewissen Ostentation betone! … Daß diese Menschen mit dem edlen Geschlecht der Gnadewitze nichts gemein haben, beweisen sie am schlagendsten dadurch, daß sie den herrlichen alten Namen nicht zu würdigen wissen, indem sie sich in unbegreiflicher Indolenz weigern, ihn zu führen. Der versprengte Tropfen nobles Blut ist im Lauf der Jahre verkommen in ihren Adern, und für meine Adelsbegriffe ist und bleibt das Mädchen unadelig… Ich beklage aufrichtig den armen Hollfeld, der, wie Euer Durchlaucht doch gewiß gnädigst zugeben werden, ein Cavalier vom reinsten Wasser ist, er verliert durch diese Mesalliance mindestens eine halbe Million, und die unglückliche Lessen, von der ich mit der Verlobungsanzeige zugleich einige trostlose Abschiedszeilen erhielt, verläßt heute noch Lindhof, jedenfalls, um der scandalösen Geschichte aus dem Wege zu gehen.“

„Das sind Dinge, die speciell Ihr freundschaftliches Gefühl berühren, und deshalb will ich nicht rechten mit Ihnen über die Art und Weise Ihrer Auffassung,“ entgegnete der Fürst nicht ohne Schärfe. „Uebrigens will ich Sie hiermit ersucht haben, der Fürstin und mir sofort Anzeige zu machen, wenn Herr von Walde uns seine Braut vorzustellen wünscht.“

Drin im Nebenzimmer, dessen Thür offen stand, drehte sich Cornelie lustig auf dem Absatz herum und schlug ein Schnippchen.

„Ah, also deswegen wollte der Herr Eisbär der Zunge gewisser redseliger Damen entgehen!“ rief sie mit unterdrücktem Lachen. „Cornelia, wo blieb damals dein untrüglicher Scharfblick für das Verliebtsein der Männer! … Uebrigens macht mir die Geschichte unendlichen Spaß um der alten Falkenberg willen,“ wandte sie sich flüsternd an eine andere junge Dame, die stickend am Fenster saß. „Jetzt werden wir mindestens vierzehn Tage lang das Vergnügen haben, zu sehen, wie die vielgetreue Royalistin unsere Durchlauchten am liebsten mit den Blicken spießen möchte, sobald sie ihr ahnungslos den Rücken zukehren, während sie den ganzen Honigseim des gelobten Landes über ihre welken Lippen fließen läßt, wenn der Sonnenschein der fürstlichen Augen auf sie fällt. Um dieses Genusses willen möchte man wirklich wünschen, daß unsere sämmtlichen Herren solche dumme Streiche machten.“

„Um Gotteswillen, Cornelie, bist Du wahnsinnig?“ rief die Collegin im Fenster und ließ entsetzt die Nadel fallen. –

Und wiederum in der nämlichen Stunde, da sich selbst das kleinste Tröpflein Blut in den aristokratischen Adern der Frau Oberhofmeisterin von Falkenberg empörte, trat Doctor Fels heimkehrend in die Kinderstube, wo seine Frau eben das Kleinste badete und dabei die strickenden Fingerchen ihrer zwei kleinen Töchter beaufsichtigte.

„Frau, freue Dich mit mir!“ rief er mit strahlendem Gesicht schon in der Thür. „Lindhof bekommt eine Herrin, und was für eine! … Gold-Else, die schöne Gold-Else wird’s, hörst Du, mein Schatz? … Nun wird’s wieder hell und sonnig da draußen! Der gesunde Gedanke siegt und der finstere Geist, der auf die armen Menschenseelen einen wahren Mehlthau geworfen hatte, entflieht – ich habe ihn eben im Reisewagen des Herrn von Walde vorbeirasseln sehen. Draußen in Lindhof mögen vor einer Stunde der unsichtbaren Kreuze genug in der Luft herumgeflogen sein… Die Verlobungsanzeige ist wie eine Bombe in unsere gute Stadt gefallen. Ich sage Dir, es ist eine wahre Lust, die langen, die ungläubigen und die neidischen Gesichter alle zu sehen! … Mich aber hat sie ganz und gar nicht überrascht, diese Nachricht. Ich wußte seit der Attentatgeschichte, was kommen würde. Als ich noch an demselben Abend an Herrn von Walde’s Seite nach Lindhof rollte, um zu sehen, ob die Alteration für das kleine, kühne Mädchen keine nachtheiligen Folgen gehabt habe, da merkte ich plötzlich, daß endlich auch seine Stunde geschlagen hatte, daß er auch ein Herz habe, und zwar eines voll tiefer, leidenschaftlicher Liebe.“


Will der Leser einen Zeitraum von zwei Jahren überspringen und noch einmal an unserer Hand die Gnadecker Ruinen betreten, so führen wir ihn auf den Windungen einer breiten, schönen Fahrstraße den Berg hinauf vor das Schloßthor, das, neu angestrichen, seine rostigen Schlösser und Bänder mit neuem Eisenwerk vertauscht hat.

Wir gedenken fröstelnd des kalten, feuchten Hofraumes hinter diesem Hauptthor, den düstere Colonnaden an drei Seiten einschließen, während die oberen Stockwerke die mörderische Absicht zeigen, auf uns herabzustürzen. Wir erinnern uns des einsamen Wasserbeckens inmitten des Hofes, das, von den steinernen Löwen beherrscht, seit vielen, vielen Jahren vergebens auf die silberhellen Fluthen hofft, die sein Rund füllen sollen.

Mit diesen Vorstellungen läuten wir. Auf den tiefen Klang der Glocke öffnet alsbald eine frische, kräftige Magd den schweren Thorflügel und bittet uns, einzutreten. Wir aber weichen wie geblendet zurück, denn aus der Thüröffnung quillt uns ein Licht- und Farbenstrom entgegen. Die Ruinen sind verschwunden, nur die hohe, eisenfeste Ringmauer steht noch und läßt uns jetzt erst recht erkennen, wie ausgedehnt der Raum ist, den sie umschließt.

Wir treten nicht auf das hallende Steinpflaster des Hofes, [292] unter dem Fuß weicht hoch aufgeschichteter Kies. Vor uns dehnt sich eine prächtige, wohlgepflegte Rasenfläche. In ihrer Mitte ruht die ungeheure Granitschale, und aus den dräuenden Löwenrachen rauschen vier gewaltige Wasserstrahlen. Die Kastanien stehen noch als treue Wächter um das Bassin, aber seit sie ihre Wipfel in dem freien, frischen Luftstrom baden, haben sie sich erholt und sind in diesem Augenblick mit zahllosen weißen Blüthenkerzen besteckt.

Wir biegen ein in einen der Kieswege, die das Rasenrund umschließen, wandeln zwischen geschmackvoll angelegten, freilich noch schwach entwickelten Boskets und weiden unsere Augen an blühenden Sträuchern und augenscheinlich zärtlich gepflegten Blumenbeeten, die buntfarbig auf dem Rasen liegen.

Da drüben liegt der Zwischenbau. Die Luft bestreicht jetzt seine vier Wände, die ein sauberes, helles Kleid angelegt haben, aber seine Fronte ist stattlicher geworden. An jeder Seite blitzen neue Fenster, Ferber hat das Haus um vier Zimmer erweitern lassen, denn der Oberförster will, wenn er sich in’s Privatleben zurückzieht, mit Sabine da droben wohnen.

Im Ferber’schen Wohnzimmer, dessen zwei hohe Fenster jetzt dieselbe Aussicht gewähren, wie früher nur das Bogenfenster in Elisabeth’s ehemaligem Stübchen – Herr von Walde hat die Bäume lichten lassen, damit die Eltern das Heim ihres Kindes immer vor Augen haben – also im Wohnzimmer steht die junge Frau von Walde. Sie ist mehrere Wochen an das Haus gebannt gewesen und ihr erster Ausgang führt sie auf den Berg, um ihren Erstgeborenen im großelterlichen Hause vorzustellen… Da liegt er auf ihrem Arm. Miß Mertens, oder vielmehr die längst glücklich verheirathete Frau Reinhard, hat den Kleinen heraufgetragen und schiebt vorsichtig den schützenden Schleier zurück. Das frische, rothe Gesichtchen trägt die Züge Derer von Walde, und aus dem Spitzenhäubchen fällt ein feiner, dunkler Haarstreifen auf die Stirn. Ernst will sich todtlachen über die täppischen Bewegungen der drallen, rothen Fäustchen, die sich nach allen Richtungen hin recken und strecken. Der Oberförster aber hat eigenthümlich ängstlicher Haltung seine eigenen gewaltigen Hände auf den Rücken gelegt, als fürchte er, durch irgend eine seiner kräftigen Bewegungen dem winzigen Geschöpfchen einen Schaden zuzufügen. Er ist nicht minder entzückt von seinem Großneffen, wie die Großeltern von ihrem Enkelchen. Er hat die schlimme Erfahrung bezüglich Bertha’s verschmerzt und sonnt sich in Elisabeth’s Glück, das ihm anfänglich wunderbar genug vorkam und von welchem er behauptete, er müsse jeden Morgen von Neuem lernen, daran zu glauben. Nicht etwa, daß er gemeint hätte, es sei zu außerordentlich für seinen kleinen Liebling – er hätte wohl die höchste Krone der Erde auf Elisabeth’s reiner Stirn als ganz an ihrem Platze gefunden – es war ihm nur sehr verwunderlich, das junge Wesen „mit den quecksilbernen Füßen und dem sonnigen Gesicht“ so hingebend an der Seite des ernsten, gereiften Mannes zu sehen.

Elisabeth ist glücklich in des Wortes höchster Bedeutung. Ihr Mann betet sie an und sein Ausspruch ist wahr geworden: jener Ausdruck von Melancholie und Strenge scheint für immer von seiner Stirn gewichen zu sein.

Sie blickt in diesem Augenblick glückselig auf das zarte Wesen in ihrem Arm und dann hinunter in’s Thal, wo er bald über den Kiesplatz schreiten und heraufeilen wird, um sie und das Kleine abzuholen… Einen Moment verdunkelt sich ihr Blick und wird feucht; er fällt auf ein hohes, vergoldetes Kreuz, das aus dem Wäldchen am See aufblitzt; dort, unter den rauschenden Wipfeln, in einem prächtigen Mausoleum, schlummert Helene seit einem Jahre. Sie ist in Elisabeth’s Armen gestorben, mit dem Gebet auf den Lippen, daß Gott die segnen möge, die des Grames Last treulich mit ihr getragen und sie gestützt hat, bis die gebrochene Seele sich losringen durfte von der hinfälligen Hülle.

Hollfeld hat Odenberg verkaufen lassen und Niemand weiß, in welchem Winkel der Erde er über das Scheitern aller seiner Anschläge und Pläne grollt.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Helene
  2. Vorlage: Urenkelind