Textdaten
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Autor: Franz Wallner
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Titel: Der Napoleon der Kunstreiter
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 276–278
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Der Zirkusdirektor und Artist Ernst Renz
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Der Napoleon der Kunstreiter.


An einem Herbsttage des Jahres 1839 zog eine kleine Künstlerkarawane auf der Straße nach Naumburg a. d. S., im Ganzen sieben Personen mit sechs Pferden, an deren Spitze der damals noch sehr junge und völlig unbekannte Director ritt. Als Knabe von sechs Jahren war er von dem Kunstreiter und Seiltänzer Maxwell an Kindesstatt angenommen worden. Fünf Jahre hatte er bei seinen Pflegeeltern gelebt und an ihren halsbrechenden Vorstellungen Theil genommen, als seine Adoptiv-Mutter in Mainz vom Thurmseil stürzte und auf der Stelle todt liegen blieb.

Das furchtbare Ereigniß löste nicht nur die Familienbande, sondern zerstörte auch die Verhältnisse der Gesellschaft, welche sich in alle Winde zerstreute. Der kleine Ernst Renz, so hieß der Knabe, hatte sich durch Fleiß und Ausdauer bereits einen hohen Grad von Geschicklichkeit in seiner Kunst erworben, so daß er bei dem bekannten Director Brillof ein Engagement fand und bald dessen Pflegesohn wurde. Als jedoch sein neuer Adoptiv-Vater in Erfurt plötzlich am Nervenfieber starb, beschloß er, selbst die Direction zu übernehmen, obgleich es ihm an allen dazu nöthigen Mitteln fehlte.

Das nahe Naumburg war das Ziel seiner ersten Wanderung, aber das Schicksal schien es anders beschlossen zu haben. Schon sah die müde Karawane am fernen Horizont die von der Abendsonne beleuchteten Thürme der ersehnten Stadt, als sich plötzlich ein mächtiger Schlagbaum ihnen entgegenstellte und den Eingang sperrte. Das Fatum in Gestalt eines königlich preußischen Chaussee-Einnehmers erhob seinen drohenden Finger, den prosaischen Klingelbeutel, und verlangte den üblichen Zoll von zwanzig Silbergroschen. Bei Nennung dieser unerschwinglichen Summe stieß der Herr Director einen tiefen Seufzer aus, das frohe Gelächter der lustigen Gesellschaft verstummte und selbst der heitere Clown, der privilegirte Spaßvogel, ließ das groteske Haupt sinken und machte ein langes Gesicht. Jeder suchte in seiner Tasche, aber vergebens, denn sämmtliche Herren und Damen besaßen keine zwanzig Silbergroschen in ihrem Vermögen. Die Situation war im höchsten Grade kritisch und wie einst Cäsar am Rubikon, so stand Renz vor dem schwarzweißen Schlagbaum. Aber nur einen Augenblick dauerte seine Verlegenheit, und wie der berühmte römische Feldherr rief auch er: „Der Würfel ist gefallen!“

Lautlos griff er in die Westentasche, holte seine silberne Uhr heraus und ließ sie mit wehmüthigem Lächeln in den unersättlichen Klingelbeutel gleiten, worauf der Schlagbaum fiel und die Gesellschaft ungehindert ihren Weg nach Naumburg fortsetzen durfte. Hier war dem bedrängten Director die Militär-Reitbahn zur Benutzung als Circus bewilligt worden. Die erste Vorstellung sollte [277] um sieben Uhr eröffnet werden. Schon standen die Mitglieder in ihrem Costüme bereit und froren in fleischfarbenen Tricots; ungeduldig scharrten die muthigen Pferde im Sande und noch ungeduldiger stampfte Renz mit seinen Füßen, da sich keine menschliche Seele blicken ließ. Endlich zeigte sich ein neugieriger Zuschauer, aber es war – ein Soldat, der unentgeltlichen Einlaß begehrte, weil der Circus ursprünglich dem Militär gehörte. Der „Freischütze“ schien jedoch das launische Glück mitgebracht zu haben, denn bald folgte ihm ein zahlreiches Publicum auf dem Fuß. Aber damit war die Noth noch nicht beseitigt und die Verlegenheiten

Renz und sein folgsamster Zögling Danielo.

waren ohne Ende, da es selbst am Unentbehrlichsten fehlte. Besonders machte sich der Mangel an passender Garderobe sehr unangenehm bemerkbar, namentlich war nur eine Stallmeister-Uniform vorhanden. Man wußte sich jedoch zu helfen, indem die Uniform so rasch als möglich von einer Schulter auf die andere wanderte, so daß Naumburg sich täuschen ließ und die Fülle und Eleganz der nicht vorhandenen Costüme höchlichst bewunderte. Die Vorstellungen fanden Beifall und wurden so gut besucht, daß Renz seine Uhr einlösen und mehrere Stallmeister-Uniformen anschaffen konnte.

Nach einiger Zeit wandte sich der junge Director nach Breslau, wo er den Grund zu seiner künftigen Größe legte. Das Publicum strömte nach dem Circus und war von den Leistungen der Gesellschaft entzückt, welche sich bedeutend vermehrt hatte und bereits fünfundzwanzig Pferde besaß, indem Renz den Grundsatz befolgte, jeden erworbenen Thaler sofort auf die Vergrößerung seines Geschäftes zu verwenden. Aber noch war er weit entfernt von seinem Ziele und das Schicksal bereitete ihm neue Verlegenheiten und Hindernisse. Ein neidischer Concurrent entführte ihm nämlich sämmtliche Mitglieder, die er heimlich engagirt hatte, so daß Renz zwar mit fünfundzwanzig Pferden, aber nur mit drei Personen, unter denen er selbst und seine Frau noch mitzählten, in München anlangte, wo er bereits den Circus gemiethet und alle Vorbereitungen getroffen hatte.

Jeder Andere hätte gewiß den Kopf verloren, weil sich in so kurzer Zeit eine neue Gesellschaft nicht engagiren ließ, aber der Napoleon der Kunstreiter vereinigte in seiner Person eine ganze Armee. Da er in seiner Jugend die verschiedensten Productionen geübt und eine bewunderungswürdige Vielseitigkeit sich erworben hatte, so war er jetzt im Stande, bald hoch zu Roß, bald als Athlet, bald auf dem Drahtseil zu erscheinen und an einem Abend allein so viel zu leisten, als sonst alle seine Mitglieder zusammengenommen. Muthig eröffnete er seine Vorstellungen und dem Kühnen stand auch diesmal das Glück zur Seite. Das Publicum, entrüstet über die Hinterlist des Concurrenten, nahm in so auffallender Weise Partei für Renz, daß er in München die glänzendsten Geschäfte machte und bald wieder an der Spitze einer [278] großen Gesellschaft stand. Noch einmal hatte er jedoch einen schweren Kampf, und zwar in Berlin, zu bestehen, wo er seit dem J. 1847 Jahr aus Jahr ein als gern gesehener Gast mit seiner Gesellschaft erscheint. Die glänzenden Erfolge, welche Renz hier errungen hatte, erweckten ihm einen neuen und höchst gefährlichen Concurrenten in der Person des berühmten Dejean aus Paris. Derselbe erschien im Jahre 1860 in Berlin, mit sechszig Pferden und siebenzig Künstlern, darunter zwanzig namhaften Koryphäen ersten Ranges, und einer Garderobe, deren Eleganz alles bisher Gesehene übertraf. Die Erwartung wurde durch die geschickte Pariser Reclame auf das Höchste gesteigert und alle Welt blickte mit Ungeduld auf den großen Kampf zwischen Renz und Dejean, zwischen Deutschland und Frankreich. Der zweijährige Feldzug endete mit dem vollständigen Siege der vaterländischen Reitkunst, trotzdem Frankreich seine ersten und vorzüglichsten Helden und selbst den berühmten Baucher in’s Gefecht schickte. Diesen Triumph hatte Renz hauptsächlich, wenn auch nicht allein, seinen vierfüßigen Künstlern zu verdanken, in deren Dressur und Vorführung er der unübertroffene Meister ist und bleibt.

Wenn man die von Renz meist selbst zugerittenen Pferde sieht, so erscheint einem die Erzählung in Gulliver’s Reisen von dem edlen „Reich der Pferde“, welche die Menschen selbst an Geist und Tugend übertreffen sollen, keineswegs als eine Fabel. Die wunderbar schönen Thiere zeigen eine Grazie, eine Anmuth, um die sie jede Dame beneiden, ein Feuer mit Gehorsam vereint, das jeder Mann bewundern muß. Man weiß in der That nicht, ob man mehr die Geduld ihres Erziehers oder die Intelligenz und Folgsamkeit seiner Zöglinge anerkennen und rühmen soll. Jedenfalls ist Renz auf diesem Gebiet ein vollendeter Künstler, und mancher Pädagoge unserer Kinder könnte von ihm lernen. Unter seiner Zucht und Leitung nimmt das Pferd eine fast menschliche Bildung an, verwandelt sich die „Arabeska“ in eine graziöse Tänzerin, apportirt „Aly“ Schnupftücher und verborgene Geldstücke, benimmt sich „Nelson“ wie ein vollendeter Gentleman mit Anstand und Würde, spaziert „Al-Manzor“ auf den Hinterbeinen, als wenn er nie eine andere Gangart gehabt hätte. Hier zeigt sich vor Allem das Talent des berühmten Kunstreiters, der besonders in der Vorführung seiner Schulpferde das Höchste leistet und allen Anforderungen genügt. Namentlich wird von allen Kennern die Stellung des Pferdes, welche unsere Abbildung veranschaulicht, als eine der schwierigsten Leistungen auf dem Gebiete der Pferdedressur bezeichnet. – Die anfänglich so kleine Karawane hat sich mit der Zeit in eine großartige Colonie von einhundert fünfzig Menschen und einer entsprechenden Zahl von Pferden verwandelt, die zu ihrer Reise von einem Orte zum andern einen besonderen Extrazug der Eisenbahn erfordert, da jede andere Beförderungsweise bei der großen Menschenmenge fast unmöglich ist und weit theuerer zu stehen kommen würde. Der betreffende Train besteht aus einem Personenwagen zweiter, drei Personenwagen dritter Classe, einem Wagen für das Sattelzeug, zwei für die Möbel und Effecten, Reifen, Tonnen und Barrièren; ferner fünf Wagen für das Passagiergut, Koffer, Kisten und kleines Gepäck der zahlreichen Mitglieder, zwei Waggons für die eigentliche Circusgarderobe, einem Waggon mit einem schwer beladenen Frachtwagen für diejenigen Gegenstände, welche noch bei der letzten Vorstellung gebraucht wurden, und für solche, die bei Eröffnung der neuen Productionen unumgänglich nothwendig gleich zur Hand sein müssen. Sodann folgt der Wagen für die Jagdhunde und Hirsche, welche zu den großen Jagden und Steeple chases benützt werden, der Waggon mit den beiden weltberühmten Elephanten und den sechs von Batty und seinen Nachfolgern dressirten Löwen, und zum Schluß des imposanten Zuges noch die vierzehn Pferdewagen, zu je acht Pferden.

Eine solche Abreise, die meist nach beendeter Vorstellung, also zwischen elf und zwölf Uhr des Nachts erfolgt, gewährt ein eben so interessantes wie großartiges Schauspiel. Das Einladen der Pferde geschieht unter der Leitung und Aufsicht des Oberstallmeisters und nimmt trotz der großen Schwierigkeiten nicht mehr als zwei Stunden in Anspruch. Unterdeß wird auch das Gepäck herbeigeführt und geordnet; dazwischen ertönt das Brüllen der Löwen, das Geschrei der Elephanten. Man glaubt sich in der Arche Noah zu befinden, und die babylonische Sprachverwirrung erreicht ihren höchsten Grad, wenn auf das Zeichen der Glocke die menschlichen Künstler von allen Seiten herbeieilen. Hier hört man Französisch und Englisch, Deutsch und Spanisch, Polnisch und selbst Arabisch von den verschiedensten Zungen und in den verschiedensten Dialecten sprechen, rufen und schreien. Zahlreiche Bekannte und Freunde haben sich auf dem Bahnhof eingefunden, um den Scheidenden noch ein Lebewohl zu sagen. Blumen und Kränze, zärtliche Händedrücke und noch zärtlichere Blicke und Worte werden im Fluge ausgetauscht; Alles ist jetzt zur Abfahrt bereit. In einem Coupé der zweiten Classe hat der Director mit seiner Familie Platz genommen; die folgenden vier Coupés sind für die Damen bestimmt; verheirathete und unverheirathete Künstlerinnen mit Müttern, Schwiegermüttern und weiblicher Schutzgarde sitzen dichtgedrängt, Freundinnen und Rivalinnen in bunter Reihe, wie es gerade der Zufall fügt. Man unterhält sich von der letzten Vorstellung, von den zugeworfenen Lorbeerkränzen, von Triumphen und auch wörtlich aufzufassenden Niederlagen, wobei es nicht an spitzen Redensarten, Nasenrümpfen und Achselzucken fehlt, bis sich der Schlummer auf die schönen Augen niedersenkt und die nur zu beredten Lippen verstummen macht. In den drei andern Coupés hat das Orchester mit seinem Capellmeister Platz genommen, der bald das Zeichen zu einem großartigen Schnarch-Concert geben wird. Es folgt das Bureau-Personal, Künstler und Künstlerinnen, Stallmeister, Garderobièren, Manégediener, während die eigentlichen Stallknechte bei den Pferden zur Beaufsichtigung bleiben. Endlich ist Alles in Ordnung, wozu eine bedeutende Zeit und keine geringe Arbeit gehören; der Napoleon der Kunstreiter läßt noch einmal seinen Feldherrnblick über das zahlreiche Heer schweifen, bevor er aufbricht und zu neuen Siegen eilt. Die Glocke läutet zum dritten Mal, und Renz mit seiner Heldenschaar verschwindet in der dunklen Nacht, um am nächsten Tage frische Lorbeeren zu pflücken und Triumphe zu feiern.