In Friedrich Rückert’s Haus/2

Textdaten
<<< >>>
Autor: Friedrich Hofmann
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: In Friedrich Rückert’s Haus/2
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 261, 262–265
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
2. Die letzten Tage des Alten in Neuseß
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[261]

Der Alte von Neuseß am Arbeitstisch.
Nach einer für die Gartenlaube ausgeführten Originalzeichnung von Hohnbaum.

[262]
In Friedrich Rückert’s Haus.
2. Die letzten Tage des Alten in Neuseß.[1]


Neuseß! Welchem Menschen, dem das Glück einer solchen Bildung zu Theil ward, daß er in den Schöpfungen unserer großen Dichter die reinste Quelle seiner Veredelung und Erquickung findet, schlägt das Herz nicht rascher, wenn er im Gottesacker zu Weimar die Gruft betritt, in welcher die Dichter bei ihrem Fürsten ruhen, oder in Braunschweig der Stätte naht, in welcher der wahre „Nathan der Weise“ schläft, oder im Friedhof von Baireuth vor der bescheidenen Pyramide unseres edelsten Humoristen weilt, oder in Nürnberg, Bonn, Stuttgart die Gräber deutscher Bürger-Dichter und dichterischer Patrioten sucht, oder mit dem Eichenstrauß wallfahrtet zu den einsamen grünen Hügeln des Messiassängers bei Ottensen oder des Jünglings mit der Leier und dem Schwert bei Wöbbelin? Ein solcher Wallfahrtsort des Geistescultus ist nun auch Neuseß geworden.

Wir wandeln vom Coburger Bahnhof aus nach dem Dörfchen. An zur Linken steilaufragenden Hügeln hin, die mit ihren fürstlichen Parks und bürgerlichen Gärten einen gar freundlichen Anblick gewähren, führt eine schattige Fahrstraße uns in einer Viertelstunde nach Neuseß. Zur Rechten bietet der Weg den offenen Blick in das Land, dort die Stadt und die Veste Coburg, dahinter die schönen Linien der Waldhügel und dort die langen Ackerberge jenseits des weiten lebenvollen Thals, das die Pappel- und Lindenreihen der Chausseen und die Schienen und Telegraphenstangen der Eisenbahn durchziehen.

Da, wo unser Weg in die Chaussee einmündet, welche von Coburg nach Hildburghausen führt, erblicken wir jenseits derselben eine Gartenthür, dahinter einen Obst- und Gras- und dann einen Gemüse- und Blumengarten, über deren Laubdächern sich die gelben, zum Theil von üppigen Schlingpflanzen behangenen Wände eines Wohnhauses erheben, dem zur Linken sich augenscheinlich der Landwirthschaft dienende Baulichkeiten anschließen. Das war Rückert’s Besitzthum.

Wenden wir hier unsere Blicke nach den Hügeln zur Linken von der Chaussee hinauf, so sehen wir ein thurmartiges Schlößchen, das Graf Arthur Mensdorff (die Leser der Gartenlaube haben ihn als Freund Radhen Saleh’s kennen gelernt) sich als eine Erinnerung aus Spanien gebaut; der kleine Park desselben steht in Verbindung mit einer tiefen schattigen Schlucht, welche zwei fürstliche Denkmale einschließt; vor dieser Schlucht breitet eine helle, freundliche Terrasse sich aus, auf welcher eines der hellsten und [263] freundlichsten Geister unserer Literatur, Moritz v. Thümmel’s, hohe Grabsäule emporragt.

Wir gehen auf der Coburger Chaussee, Rückert’s Garten zur Linken lassend, dem Dorfe zu. Eine breite Gasse, deren Häuser, ein ehemaliges Schlößchen, Gasthof, Pfarrhaus und Bauernwohnungen, sämmtlich das Gepräge von Wohlstand oder wenigstens Auskömmlichkeit tragen, läßt uns den Blick bis zur Kirche und ihrer hohen Gottesackermauer frei. Dort, auf einer Brücke, unter welcher das Lauterflüßchen hinfließt, sehen wir das Dorf in zwei Gassen sich theilen, deren rechte zu einer von den lebensfrohen Coburgern vielbesuchten Vergnügungs-Wirthschaft führt. Unser Weg führt uns vom Brückchen zur Linken, zwischen der Lauter und der Gottesackermauer hin vor das für Dorfverhältnisse stattliche Haus, das wir erst von der Chaussee aus über die grünen Wipfel der Gartenbäume emporragen sahen: Rückert’s Haus.

Treten wir durch die Thür, die einst so vielen Gästen offen gestanden, so finden wir gleich den heimischesten Raum ebener Erde zur Linken: die liebe wohnliche Familienstube mit der bürgerlichen Einfachheit, in der es Jedem wohl ward, der ein rechtes Bürgerherz mitbrachte. Aus dem Hausplatz gelangen wir, an der ehrenden Werkstätte jeder braven Hausfrau, der Küche, vorüber in den Garten, wo zunächst eine dichtbelaubte Veranda den Aufenthalt im Freien auch bei der strahlendsten Sonne möglich macht und dann das von Blumen umrankte und von duftendem Buschwerk beschattete Plätzchen winkt, wo so oft der Dichter im Kreise seiner Lieben, Freunde, Verehrer und Gäste des Augenblicks die Allen unvergeßlichen Stunden der Kaffeezeit zubrachte.

Die Verehrer aus der Ferne wie die Freunde aus der Nähe zieht gerade ihre Verehrung und Liebe heute vor Allem zu einem, dem stillsten, dem geweihtesten Raum des Hauses, der Allen, fast ohne Ausnahme, so lange der Dichter lebte, verschlossen war: seine Arbeitsstube. Die Pietät hat kein Blatt darin verrücken lassen, so heilig halten sie die Lieben: möge nie ein anderes Gefühl, als das der Ehrfurcht vor dem Genius, der hier Unsterbliches geschaffen, zu ihrer Schwelle leiten.

Man schreitet in einen solchen Raum wie in eine Kirche, mit dem Gefühl, daß ein Geist aus Gott hier gewaltet. Und wie einfach ist dieses kleine Eckzimmer mit seinen drei Fenstern! Rückert selbst hat nie darauf geachtet, was eigentlich in dem Zimmer an Möbeln stand. Derlei war ihm nur entweder nöthig oder unnöthig, im letzteren Falle war es eben für ihn gar nicht da. Wir sehen vor einem einfachen Sopha einen runden Tisch und auf diesem ein ganz einfaches porcellanernes Schreibzeug, in welchem Cigarrenasche den Platz des Streusandes einnimmt. Außerdem ist der Tisch so bedeckt mit Schriften und Büchern, daß der Dichter daran eben nur Raum genug hatte, um seine geraden, ruhigen Buchstaben langsam auf’s Papier zu bringen. Zu seinen Füßen neben Tisch und Sopha hatten große Lexika ihren Platz. Neben dem Stehpult, auf welchem orientalische Werke aufgeschlagen liegen, steht an der Wand ein Regal mit einem Gitterfach, in welchem die vielen, vielen Zettel und Zettelchen für seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten eingeschichtet liegen.

Der Wandschmuck besteht nur aus Bildern von unschätzbarem Herzenswerth für den Dichter. Ueber dem Sopha sieht man das Bildniß seiner Gattin als Braut, im vollen Lebensschmuck des Liebesfrühlings, wo sie einst „hört’ in stiller Lust die Frühlingsströme rauschen in ihres Dichters Brust“ und wo sie selbst durch des Geliebten Dichtermund bekannte:

Kann man im Herzen tragen
Soviel zu einer Frist?
Ich will davor nicht zagen,
Weil Alles Ein’s nur ist.
Durch Liebe will ich zeigen
Der Welt, ich sei liebeigen,
Und jeder Blum’ es sagen,
Daß Du mein Gatte bist.

Ich will die Liebesspenden
(O zürne nicht der Braut!)
An alle Welt verschwenden,
Wie Lenz vom Himmel thaut.
Mir ist soviel geblieben:
Ich kann sie alle lieben,
Ohn’ etwas zu entwenden
Dir Einem süß und traut!

Neben diesem Bilde hängen die Portraits seiner Eltern. Wie alle wahren Dichter – darin herrscht eine wunderbare Uebereinstimmung des Herzenszugs – bewahrte Rückert seiner Mutter die kindlichste Liebe im Leben und das innigste Gedächtniß nach ihrem Tode. Oft und nie ohne tiefe Ergriffenheit äußerte er, und besonders in den letzten Zeiten: „Ich möchte wohl einmal meiner Mutter wieder begegnen!“

Von Carl Barth’s Hand gezeichnet schmückt dieselbe Wand ein Bild von Rückert als Jüngling, mit Schnurr- und Knebelbart und im schwarzen (altdeutschen) Sammetrock, und die Bildnisse von den beiden gestorbenen Kindern Rückerts, seinen „Kleingebliebenen“, an die sein Vaterherz viele noch unbekannte Gedichte gerichtet und deren er noch zuletzt mit Thränen gedacht hat. Bekannt ist nur das eine tiefe, ruhige Liedchen:

„Heranzualtern ist der Jugend Loos,
Und kleine Kinder wachsen mählich groß,
Dann machen sie sich von den Eltern los,
Und wiegen kannst Du sie nicht mehr im Schooß.

Doch ihr, die mir geraubt ein frühes Loos,
Bleibt immer klein, nie werdet ihr mir groß,
Ihr reißt euch nie von meinem Herzen los,
Und wiegen kann ich euch wie sonst im Schooß.“

Endlich finden wir noch die Bildnisse von Barth und dem alten Truchseß, dem „letzten Ritter des Frankenlandes“, von dessen Bettenburger Tafelrunde „Freimund Reimar“ zuerst als Dichter anerkannt und in die Oeffentlichkeit eingeführt wurde. Ueber diesen denkwürdigen Augenblick seines Lebens verweisen wir auf einen demnächst folgenden Artikel der Gartenlaube.[2] Mit welch’ treuer Liebe er an dem alten Freiherrn hing, ist am blühendsten und glühendsten ausgesprochen in dem „Rosenlied“, das er ihm von Stuttgart (wo Rückert damals das „Morgenblatt“ redigirte) zum Geburtstag auf die Bettenburg sandte.

Das ist Alles, was uns in des Dichters Arbeitsstube besonders in’s Auge fällt, so einfach und doch so reich an Herzenswerth ist sie. Hier saß Rückert noch bis in die letzte Zeit, noch im Januar dieses Jahres, von früh sieben Uhr bis Mittag zwölf Uhr an seinem Arbeitstische. Dann machte er einen halbstündigen Spaziergang im Garten. Nach dem Mittagstisch schlief er auf dem Sopha seines Studirzimmers bis gegen halb vier und arbeitete hierauf wieder bis zum Abend, wo er die Zeitungen las; später ließ er sich dieselben am liebsten von seiner Tochter Marie vorlesen.[3]

Früher dehnte er, als ein rüstiger Fußgänger, seine Lustwandelungen weiter aus, wozu ihm der prachtvolle Park und Wald des Sommerschlosses Kalenberg die lockendste Gelegenheit bot. Ausgangspunkt oder Endziel seiner Nachmittagswanderungen war dann sein Goldberg. Dieser Hügel im Thale nordwestlich von Neuseß reizte ganz besonders seine große Lust am Bauen und an der Herstellung von Gartenanlagen, und so baute er sich denn auf der Höhe des Hügels, der von Alters her den stolzen Namen „der Goldberg“ führt, ein kleines Sommerhaus in Schweizerstyl und mit einem Balcon, von dem aus wir auf ein reizendes Landschaftsbild blicken. Vor uns breitet das grüne Thal von Neuseß sich aus, das Dorf, von der Kirche mit dem spitzen Thurm überragt, dahinter in baumreicher Flur Coburg, dessen Hauptgebäude, Kirchen und Schlösser ihm ein stattliches Ansehen geben, umrahmt von gartenreichen Hügeln, die zu mehrern Bergen aufsteigen, deren höchster die Veste Coburg trägt und das Bild schön abschließt. Wenn Rückert die Flügelthüren des Zimmers, die zum Balcon führten, öffnete und sich mit seiner Lieblingslectüre auf dem Sopha niederließ, so stand, so oft er die Augen erhob, dieses Bild vor ihnen. Früher wurden Blumen um dieses Haus gepflegt, später ließ er hier der lieben Natur ihren freien Lauf und freute sich der üppig wuchernden Wildniß. Auf einer Seite ist das Häuschen von der wilden Clematis ganz umklammert. Diese dankbare Waldrebe, die ihm die hier weniger heimisch sich fühlende Weinrebe ersetzen mußte, und das Wintergrün pflegte er besonders gern.

In der Stille und Abgeschlossenheit des Goldberg gönnte er sich ein geistiges Ausruhen nach der ernsten Arbeit. Außer guten neuen Büchern las er dort besonders gern im Ossian, im Nathan dem Weisen, und Goethe’s Gedichte waren ihm immer dort zur Hand; diese konnte er gar nicht entbehren.

Auch die Wahl des Goldbergs und die Art seiner Pflege zeugt von seiner Liebe zur Natur. Das Großartige, Gewaltige einer Landschaft zog ihn weniger an, er fühlte sich desto inniger zum Kleinsten, Nächsten, Einfachsten hingezogen. Das belauschte er in seinem Wachsen und „freute sich jeder ersten Blüthenspende. Ueber die ersten Schneeglöckchen konnte er jubeln, als ob er noch das Kindesherz in der Brust trüge. Und war’s denn nicht so?

[264] Ja, er hat diese kindliche Reinheit und Frische des Herzens sich bewahrt bis zum letzten Athemzug. Er konnte zum Kind herniedersteigen und mit ihm sinnen und fühlen, so oft er wollte. Aber auch dämonische Gewalten barg seine Seele. „Mein Herz gleicht ganz dem Meere,“ hätte auch Rückert mit vollem Recht von sich sagen können. Man konnte sich an seinem Anblick erquicken, wenn er so mild und ruhig und still befriedigt war. Aber wenn der Sturm der Gefühle in ihm losbrach, dann konnte man erschrecken vor dem Brausen desselben und dem Wirbeln der riesenhaften Gewalten seiner Seele.

Und sein Aeußeres gab stets das treue Spiegelbild seines Innern. „Was hast Du nur wieder für ein neues Gesicht? Das habe ich noch nie gesehen!“ sprach in solchen erregten Augenblicken oft seine Tochter Marie zu ihm, die feinfühlendste Beobachterin aller seiner Seelenregungen. Wer ihn einmal in recht freudig gehobener Stimmung sah, der wird eingestehen, daß das Licht und der Glanz seines Auges die Züge seines Antlitzes wunderbar verschönen konnte. Am häufigsten geschah dies, wenn er von seinem Morgenland sprach, wenn er von seinen Arabern oder den von ihm noch mehr geliebten Persern erzählte, und wenn er sich gar in Goethe vertiefte, dann überkam ihm nicht selten in seiner Verehrung vor diesem Geist eine weiche, seine Umgebung tief rührende Stimmung. Seine Tochter Marie wagte es einmal, ihn nach einer solchen Scene zu fragen, warum gerade immer Goethe eine so außerordentliche Wirkung auf ihn mache. Er antwortete nur: „Glaub’ mir, Kind, ich weiß, was das heißen will, wenn Einer so etwas schafft.“ – Fräulein Marie erzählte mir auch, daß ihr Vater ihr den ersten Unterricht im Lesen gegeben habe, und zwar – im Goethe. Sie mußte von den lyrischen Gedichten viele auswendig lernen und alle Tage hersagen. So früh führte er sein liebes Töchterchen in den Liebling seines Geistes ein.

Die Grundfeste des Glücks, das dem Dichter nie untreu geworden, bildete die Eheglückseligkeit, das von keinem andern Schatten, als dem des gemeinsamen Leids über den Tod zweier Kinder getrübte Hausleben der beiden Liebesfrühlingsleute. Ja, Rückert war glücklich – in sich, für seine Lieben und seine Lieben in ihm; ein volleres und vollendeteres Menschendasein kann sich kein Gleichbegabter wünschen. Und freudig bekannte er dies als einen Trost auf seinem letzten Leidenslager. „Ja,“ sprach er oft, „ich habe viel Gutes hier gehabt, ich kann dankbar scheiden.“ – Und als in solch’ einem geweihten Augenblick die Tochter ihm zuflüsterte: „Nicht wahr, und Du bist auch mit dem zufrieden, was Du gelebt und gesungen“ – sagte er lächelnd: „Fang’ doch lieber am Anfang an: Ein Vollendetes hienieden wird nie dem Vollendungsdrang.“

Es war nicht blos die hohe Körpergestalt, es war die Hoheit seines Wesens, welche auch außerhalb des Hauses die Leute vom Dorfe wie auf der Landstraße, die jeden Bauer, jedes Kind mit Ehrfurcht vor ihm erfüllte; seine Untergebenen fühlten sich wie bezaubert an ihn gefesselt. Gegen diese wie gegen seine Orts- und Feldnachbarn war er nichts weniger als abgeschlossen; mit ihnen unterhielt er sich sehr gern, wußte nicht nur in ihren Ideengang leicht einzugehen, sondern ihnen nicht selten ganz praktischen Rath zu ertheilen. Er hielt stets auf gute Nachbarschaft. Aber auch die Armen kannten ihn, und vielleicht mancher Gauner nicht weniger; man sah, wie gern er gab, ja daß fast nur der Dank ihm die Freude daran hätte verleiden können, und diese Herzensgüte ward natürlich nicht selten von Unwürdigen mißbraucht. Niemals aber kam ihm deshalb der Gedanke an, es mit seinen Gaben anders zu halten, als seither, weil er lieber einige Unwürdige mit begaben, als einen einzigen Würdigen kränken wollte.

Seine Lust am Freudebereiten, sein Gefälligsein, wo er nützen oder ein Wohlgefühl wecken konnte, ist nicht weniger häufig erprobt worden. Und hier möchte ich wohl eine allgemeine Bitte aussprechen. Dieser edle Zug des Dichters hat nämlich gar manches Gedichtchen und gar manchen Brief ihm entlockt, die natürlich von ihm nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt waren. Wie es nun wohl Niemandem, so lange der Dichter lebte, beigekommen wäre, solche Gaben seiner Freundlichkeit ohne seine Einwilligung dem Druck zu übergeben, so sollte man billig dieses Recht des Dichters nicht mit seinem Hinscheiden für erloschen erachten, sondern mit deren Veröffentlichung wenigstens warten, bis seine eigene nachgelassene Verfügung darüber bekannt ist. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir nicht blos eine gerechte, sondern auch eine makelselige Kritik haben, welche sich nicht scheut, ohne Rücksicht auf den Ursprung solcher kleiner, poetischer Gaben sie nur zu benutzen, um in den Augen der Vielen, die den Dichter noch nicht kennen, ihn tief unter seine Höhe hinunterzudrücken. Einer derartigen Kritik sollte man das Material nicht vermehren, sondern gerade jetzt mit allem Eifer der Dankbarkeit all das Große und Herrliche verbreiten helfen, das er dem deutschen Volke selbst in die Hand gelegt.

Wir treten nun vor seine letzten Tage, und hier muß ich ein Unrecht begehen: ich muß von vertrauten Mittheilungen, die der naturnothwendige Erguß eines schmerzbeladenen Herzens sind, wenigstens Einiges herausheben, dem großen Todten zu Lieb’ und Ehren, und in dem Gefühl, seinen treuen Verehrern im deutschen Volke es schuldig zu sein, das menschlich-schöne Bild des Mannes und Dichters auch in seinen letzten Zügen treu wiederzugeben. Ich fühle es, für ein noch vom großen Schmerz blutendes Herz geschieht dieses Hinaustragen der Erinnerungen an die letzten Stunden – zu früh, aber eben weil die Zeit, die heilende, versöhnende, das jetzt Verletzende allmählich mildert und endlich verwischt, so begehe ich mein Unrecht mit der Zuversicht, daß es seine Verzeihung doch noch finden wird.

Die Lebensvertraute Rückert’s war in den letzten Jahren seine Tochter Marie. Das Verhältniß dieser Tochter zum Vater war ein wunderbar schönes, es war aus der Bluts- eine Seelen-Verwandtschaft erblüht, der Vater achtete seine Tochter, die nach der Mutter Tode alle Sorgen der Hausfrau auf sich genommen, so, daß er ihr fast gleiche Rechte im Hause mit sich einräumte: sein Kind war seine vertraute Freundin geworden. Und wohl selten war eine Tochter einer solchen Ehre würdiger, als sie. Es ist selbstverständlich, daß sie nicht von seinem Krankenlager wich, und daß nur sie es sein kann, welcher Rückert’s Verehrer und Freunde den erhebenden Blick auf des Dichters letztes Leben zu verdanken haben. Dazu müssen wir sie nun selbst reden lassen:

„Was in den letzten Tagen in des Vaters Seele vorging, die Scheidestimmung, hat er vor Jahren annähernd wahr in dem Gedichte hingestellt:

„Wie, wer zu Grab geht, oder wer auf Reisen,
Grüßt liebevoll noch einmal das Bekannte
Und Alles zärtlich nennt, was sein er nannte,
Bevor er tritt aus den gewohnten Kreisen;

So drängt mich’s noch, was irgend lebt, zu preisen
In diesem Kreis, in den ich selbst mich bannte,
Noch einmal auf den Saiten, die ich spannte,
Zum Abschied anzustimmen alte Weisen.

Denn aufzubrechen scheint es Zeit geworden
Von hier, wohin? ich frage nicht, ich höre
Gerufen mich von höheren Accorden.

Dem Rufe will ich folgen, ich gehöre
Dem Herrn der Harmonien, der Dichterorden
Hier einsetzt und dort aufstellt Engelchöre.“

„Auf seine Seele vermochte die Krankheit keinen Schatten zu senken. Noch bis zuletzt hat er im Hafis gelesen und noch Einiges übersetzt.

„Als er am Montag fortwährend im Halbschlafe lag, saß ich voll Angst und Qual neben ihm am Bett; da, als er die Augen einmal öffnete, blitzte er mich so schelmisch heiter an. ‚Du bist heute wie Dein Hafis,‘ sagte ich zu ihm (ich habe ihn in solchen Augenblicken oft geneckt, nur weil ich sonst geweint hätte), ‚Du bist immer so im Taumel und hast nicht mehr Wein getrunken, als der.‘ – ‚Ich weiß wohl,‘ erwiderte er ‚das sind aber gar schöne Träume, in denen ich bin. Ich war schon in einem Himmel.‘ – ‚In welchem denn?‘ – ‚Ach, ich glaub’, ich hab’ die Paradiesquellen rauschen hören,‘ sprach er mit tiefer, voller Stimme.“

„Mehrere Male gedachte er der Nadowessischen Todtenklage von Schiller, die er sehr liebte, und sprach mit besonderem Nachdruck die Verse:

„Wohl ihm, er ist hingegangen,
Wo kein Schnee mehr ist.“

Er erschien dabei in seiner Seele so recht befriedigt. Dies mag wohl nicht ohne Zusammenhang gewesen sein mit dem großen Einfluß, den besonders in der letzten Zeit die Witterung auf ihn ausübte, so daß an trüben Tagen Verstimmung und mit dem Sonnenschein Heiterkeit über ihn kam. Als ob sich Alles mit ihm versöhnen wollte, strahlte an seinem letzten Tage die Sonne noch [265] so freundlich auf ihn herunter. Als ich den Vorhang zu seinem Schutz vor ihr schließen wollte, wehrte er ab: ‚Laß sie nur ganz auf mich scheinen,‘ sagte er, ‚vielleicht macht sie mich noch gesund.‘

„Ein andermal sagte er zu mir: ‚Weißt du, mir ist heut’ so urweltlich zu Muthe – Horizont, darunter Wasser – endlos, gestaltlos‘ – Wie mich das entsetzte! Es war schon das Gefühl der Auflösung. ‚Vater, wie ist Dir’s?‘ – ‚Ach, ganz wohl, Kind, kühl bis an’s Herz hinan.‘“

„Am letzten Tage war Mattigkeit, Uebel und Träumen vorbei und sein Geist hob sich in alter Macht und Lebenskraft mehr als je. Er strahlte förmlich von Geist und Heiterkeit, von übermüthigen Blitzen, und ich vergaß Schmerzen und Qual und war mit ihm noch einmal glücklich im vollen Besitz, im vollen Austausch, der uns Beide beglückte. Es hat ihm den Abschied sehr erleichtert, daß ich so muthig war. Und wenn ich nicht mehr konnte, wenn, oft mitten im Lachen über einen Scherz von ihm, mir das Weinen kam, lief ich hinaus, mich draußen recht auszuweinen. Er ließ mich ganz stillschweigend gehen und mich ausjammern, und wenn ich wieder hereinkam, waren wir wieder heiter und frisch wie vorher. – Aber dann! Es ist zu grausig erhaben, Milde und Thränen sind dabei unmöglich! – Der Kampf war zu groß, den er gekämpft! Solch’ ein Jünglingsgeist, der Kraft und Feuer bis zur letzten Minute behielt, mußte gegen die erbärmliche zerbrochene Maschine ringen! Er hätte sein Leben gerade von vorne anfangen können, so stark war sein Geist, sein Wille, zu leben!“

„Und am Schluß! Da war ein erhabener Ernst, eine majestätische Ruhe über ihn gebreitet – die rührende menschliche Milde fast ganz zurückgetreten, nur die Spuren des mächtigen Geistes lagen auf seinen Zügen. Er sah aus, als habe er einen guten Kampf gekämpft und sei nicht unterlegen.“ –

Die Himmelskundigen nennen das Aufflammen eines Gestirns bei seinem Untergang sein „letztes Blühen“. So hat auch der Stern dieses Dichtergeistes noch einmal den Lieben geblüht vor seiner Erdennacht – aber der Nachwelt strahlt er ewig.

Friedrich Hofmann.




  1. Es ist über Friedrich Rückert’s Persönlichkeit, häusliche Verhältnisse, Gewohnheiten und letzte Lebenstage so viel Halbwahres, Halbverstandenes und ganz Falsches durch die deutsche Presse verbreitet worden, daß es zur Nothwendigkeit wird, dem entgegen aus der einzigen lauteren Quelle geschöpfte Nachrichten, soweit die Verehrer des Dichters im deutschen Volk gerechte Ansprüche auf solche erheben können, schon jetzt zu veröffentlichen, obwohl eine ausführliche Biographie des heimgegangenen Dichters von seinem hierzu vor Allen befähigten und berufenen Sohne Heinrich in sicherer Aussicht steht. Diese vorläufigen Mitheilungen mögen wenigstens dazu dienen, weiteren schwankenden, auf ungenaue Grundlage gestützten Berichten Einhalt zu thun und das Bild des großen Mannes vor leicht möglichen weiteren Verzerrungen zu schützen. Das Wahrste von allem bis jetzt über Rückert’s inneres und äußeren Leben Veröffentlichten haben die „Grenzboten“ (Nr. 14 und 15 d. J.) von einer dem Hause ebenfalls vertrauten Hand empfangen.
    D. V.
  2. „Der letzte Ritter des Frankenlandes und seine Tafelrunde“. Mit einer Abbildung der Bettenburg und dem Bildniß des „alten Truchseß“.
  3. Unser sprechend ähnlicher Holzschnitt ist genau nach der von Hohnbaum für die Gartenlaube entworfenen Originalskizze ausgeführt, die an einem Abend gezeichnet wurde, während Rückert unsere Zeitschrift las.