Im Hause des Commerzienrathes
Die Decembersonne huschte noch einmal scheu durch die große Schloßmühlenstube, dann nahm sie das letzte laue Strahlenfünkchen von den seltsamen Gegenständen, die auf dem tiefen Steinsimse des Eckfensters ausgebreitet lagen, und verschwand in dem Schneewolkenbette, das sich träge, aber beharrlich am Himmel emporschob. Die seltsam gleißenden Gegenstände auf dem Fenstersimse waren das Rüstzeug des Arztes, jene Sammlung von Instrumenten, die schon mit ihrem schneidig kalten Funkeln das Auge erschrecken und einen Schauer durch das Nervenleben des Menschen jagen. Ein mächtiges Bettgestell, an Kopf- und Fußende mit plumpen, bäurisch grellen Rosen- und Nelkensträußen bemalt und ausgefüllt mit Federbetten in bunten Ueberzügen, stand schräg in das Fensterlicht gerückt, und auf diesem Bette lag der Schloßmüller. Eben hatte ihn die rasche Hand des Arztes von einem Halsübel befreit, das ihn schon einige Male mit dem Erstickungstode bedroht – es war ein schwieriges, sehr gefährliches Unternehmen gewesen, aber der junge Mann, der jetzt sacht das Rouleau niederließ und geräuschlos die Instrumente in das Etui packte, sah befriedigt aus – die Operation war gelungen.
Der Kranke, der noch kurz zuvor unter der anfänglichen Wirkung des Chloroforms gegen die Hand des Arztes getobt und ihn mit kreischender Stimme Räuber und Mörder gescholten hatte, lag jetzt still und erschöpft in den Kissen. Das Sprechen war ihm untersagt, ein offenbar überflüssiges Verbot, denn wohl selten trug ein Gesicht so unverkennbar das Gepräge der verdrossenen Wortkargheit, als dieser dicke, viereckige Kopf, der nur eine Schönheit aufzuweisen hatte, das ungelichtete, silberweiße Haar.
„Du bist zufrieden, Bruck?“ fragte leise ein Herr, zu dem Arzte in die Fensternische tretend. Er hatte bis dahin am Fußende des Bettes gestanden und trug noch die Spuren der Aufregung und Spannung in seinen schönen Zügen.
Der Arzt nickte. „Alles gut bis jetzt – die robuste Natur des Kranken wird mich unterstützen,“ sagte er ruhig mit einem zuversichtlichen Blicke auf den alten Mann. „Und nun verlasse ich mich auf die Pflege – ich muß fort. Der Patient hat vorläufig unter allen Umständen in der gegebenen Lage zu verbleiben. Es darf durchaus keine starke Blutung eintreten –“
„Dafür lasse mich sorgen!“ unterbrach ihn der Andere lebhaft. „Ich bleibe, so lange eine so penible Aufsicht nöthig ist. … Willst Du drüben in der Villa sagen, daß ich nicht zum Thee komme?“
Ein leichtes Roth stieg in die Wange des Arztes, und etwas wie Niedergeschlagenheit lag in seinem Tone, als er sagte: „Ich muß den Umweg durch den Park vermeiden und so rasch wie möglich die Stadt zu erreichen suchen –“
„Du hast Flora heute noch nicht gesehen, Doctor –“
„Glaubst Du, das wird mir so leicht? Ich –“ er unterbrach sich und preßte die Lippen aufeinander, während er nach dem Etui griff, um es in die Tasche zu stecken. „Ich habe mehrere Schwerkranke,“ sagte er gleich darauf sehr ruhig; „das kleine Mädchen des Kaufmanns Lenz wird heute Nacht noch sterben. Dem Kinde kann ich nicht helfen, aber die Eltern, die vollkommen erschöpft sind durch Angst und aufopfernde Pflege, zählen die Augenblicke, bis ich komme – die Mutter ißt nur auf mein Zureden.“
Er trat an das Bett. Der Kranke hob die Lider und sah ihn vollkommen bewußt an; ja, in den stark hervorquellenden, von gerötheten Rändern umgebenen Augen lag ein Schimmer von Dankbarkeit für die so plötzlich fühlbar gewordene unaussprechliche Erleichterung. Er wollte seinem Befreier die Hand reichen, aber dieser hielt sie auf der Bettdecke fest, indem er das Verbot bezüglich jeder hastigeren Bewegung erneute. „Der Commerzienrath will hier bleiben, Herr Sommer; er wird dafür einstehen, daß meine Anordnungen streng befolgt werden,“ setzte er hinzu.
Dem alten Manne schien das recht zu sein; den Blick auf den Commerzienrath gerichtet, der die Versicherung mit einem freundlich lebhaften Kopfnicken bestätigte, schloß er die Augen wieder, als wolle er zu schlafen versuchen. Doctor Bruck aber nahm seinen Hut, reichte dem Commerzienrath die Hand und verließ das Zimmer.
Hätte eine angstvoll besorgte Frau am Krankenbette gesessen, ihr wäre jedenfalls bei diesem Hinausgehen das Gefühl des Verlassenseins, der Verzagtheit gekommen, wie jene arme Mutter in der Stadt mit dem Erscheinen des Arztes soviel Muth schöpfte, um aus seiner Hand die wenigen zur Selbsterhaltung nöthigen Bissen zu nehmen. Am Lager des Schloßmüllers waltete aber nicht solche zitternde Angst und unsägliche Liebe. Die alte Haushälterin, die beschäftigt war, das zur Operation gebrauchte Geräth zu entfernen, sah ziemlich gleichgültig darein; sie huschte wie eine Fledermaus an den Wänden hin, und die von der ärztlichen Hand verspritzten Wassertropfen auf der Tischplatte schienen sie mehr zu alteriren, als die Lebensgefahr, welche ihr Herr eben überstanden.
„Bitte, lassen Sie jetzt das gut sein, Jungfer Suse!“ sagte der Commerzienrath in sehr höflichem Tone. „Das Reiben auf dem wackeligen Tische macht ein nervenangreifendes Geräusch. Doctor Bruck wünscht in erster Linie Ruhe für den Papa.“
Jungfer Suse packte schleunigst Wischtuch und Kehrbesen zusammen und ging hinaus, um sich in ihrer blitzblanken Küche über die nassen Reste auf dem Eßtische zu beruhigen. Es war nun still geworden, so geräuschlos, wie es eben in der Schloßmühlenstube sein konnte. Durch den Fußboden lief unausgesetzt jenes leise, tactmäßige Schüttern, das von der Räderarbeit im Mühlenraume ausgeht; über das Wehr drüben stürzten die zerstäubenden Wasser in ewiger Wiederholung ihrer beschränkten Rauschmelodie, und dazwischen rucksten die Tauben und kamen plump gegen die Fensterscheiben geflattert aus den uralten, riesenhaft ausgebreiteten Kastanienwipfeln, in denen sie nisteten, und die von der Abendseite her einen Dämmerschein in die Schloßmühlenstube warfen. Jenes Lärmgemisch aber existirte nicht für den Kranken – es gehörte so unbewußt zu seinem Leben und Behagen, wie die Luft, wie der regelmäßige Tactschlag seines Herzens. –
Was war doch das für ein abstoßendes Greisengesicht, das der elegante Mann am Bette versprochenermaßen mit den Augen hütete! Nie war ihm das Ordinäre des Ausdrucks, nie der Zug von Härte und gemeiner Grobheit, der sich in tiefer Krümmung um die dicke, hängende Unterlippe zog, so widerwärtig aufgefallen wie in diesem Augenblicke, wo der Schlaf oder die Erschöpfung den Willen aufhob und den äußern Charakterstempel in die ursprünglichen Linien rückte. … Nun ja, der Alte hatte auch tief unten angefangen; er war bei Beginn seiner Laufbahn Müllerknecht gewesen; aber jetzt war er ein Mann, dem der Getreidehandel Unsummen in den Schooß geworfen – er war ein Träger der Geldmacht, der da auf dem bäuerisch altväterischen Bettgestelle lag, und vielleicht auch ein wenig in Rücksicht auf diese imponirende Thatsache nannte ihn der Commerzienrath respectvoll und zuvorkommend „Papa“; denn in Wirklichkeit knüpfte sie nicht ein Tropfen gemeinsamen Blutes an einander. Der verstorbene Banquier Mangold, mit dessen ältester Tochter erster Ehe der Commerzienrath vermählt gewesen, hatte als zweite Frau die Schloßmüllerstochter heimgeführt – das war das verwandtschaftliche Verhältniß zwischen dem Kranken und seinem Pfleger.
Der Commerzienrath erhob sich und trat leise vom Bette weg an eines der Fenster. Er war ein jugendlich rascher Mann, den das Stillsitzen und ängstliche Beobachten nervös machten; es widerstrebte ihm, fortgesetzt das unsympathische Antlitz und die geballten, knotigen, tief in die Bettdecke gewühlten Fäuste anzusehen, die einst die Peitsche über den Müllerpferden geschwungen hatten. Die letzte Kastanie vor dem Fenster, an welchem er stand, hatte längst die Blätter abgeworfen; jede Rundung, jedes Viereck, welches die kahlen, in einander geschlungenen Aeste formten, wurde zum Rahmen kleiner Landschaftsbilder, eines lieblicher als das andere, wenn auch im Augenblicke der düstere Decemberhimmel das Silberlicht der Teichspiegel dämpfte und mit seiner nassen Wolkenschleppe die duftige Veilchenbläue[WS 1] der fernen Berggipfel häßlich verwusch.
Dort rechts, nachdem er die Räder der Schloßmühle gedreht, machte der Fluß eine starke Krümmung; ein kleines Medaillon der Aeste seitwärts umschloß ein Stückchen seines funkelnden Streifens und zugleich ein Menschenwerk, dem er abermals dienen mußte – ein mächtiger Bau in Würfelform, ein ungeschmückter Steinkoloß, über den die Fensterreihen wie einförmige Perlenschnüre hinliefen, stand es in häßlicher Nüchternheit am Ufer. Das war die Spinnerei des Commerzienrathes. Auch er war ein reicher Mann; er beschäftigte Hunderte von Arbeitern dort zwischen den kreisenden Spindeln, aber dieses sein Eigenthum brachte ihn in eine gewissermaßen abhängige Beziehung zu dem Schloßmüller. Die Mühle, vor Jahrhunderten vom Landesherrn erbaut, war mit unglaublichen Privilegien ausgestattet worden, die, noch heute in Kraft, eine bedeutende Strecke des Flusses beherrschten und den Anwohnern das Leben sauer genug machten. Und auf diesen verbrieften Rechten stand der Schloßmüller mit seinen breiten Füßen und wies Jedem die Zähne, der auch nur mit einer Fingerspitze daran zu rühren wagte. Anfangs nur Pächter, hatte er allmählich und unmerklich die Fangarme seines wachsenden Reichthums ausgestreckt, bis er nicht allein Besitzer der Mühle, sondern auch des Rittergutes selbst geworden war, zu welchem sie gehörte. Und das hatte er durchgesetzt kurz vor der Verheirathung seines einzigen Kindes mit dem angesehenen Banquier Mangold. Für ihn selbst hatten nur der ausgedehnte Waldbesitz und die Ländereien Werth gehabt; die dazu gehörige prächtige Villa inmitten eines stattlichen Parkes war ihm zu allen Zeiten ein Gräuel gewesen; nichtsdestoweniger hatte er bereitwillig „die kostbare Spielerei“ im Stande erhalten, weil er ja seine Tochter als Herrin da schalten und walten sehen durfte, wo die ehemaligen hochmüthigen Besitzer consequent vergessen hatten, seinen Gruß zu erwidern. Jetzt war der Commerzienrath Miether der Villa; es lagen somit die ausgiebigsten Gründe vor, in gutem Einvernehmen mit dem Flußbeherrscher und Hauswirthe zu verbleiben, und das geschah – der Commerzienrath stand wie ein fügsamer Sohn zu dem mürrischen Alten.
Von der Thurmuhr des Fabrikgebäudes schollen vier Schläge herüber, und hinter den hohen Scheiben des Comptoirs schlugen zugleich die Gasflammen auf; es wurde heute sehr früh dämmerig; jener feuchte Dampf, der Schnee bringt, füllte allmählich die Luft und machte den Essenrauch von der Stadt her träge über die Erde hinkriechen, während das Schieferdach der Spinnerei, jede Thürstufe und jeder Kieselstein den schlüpfrigen Glanz intensiver Nässe annahmen. Die Tauben, die noch geduldig, dick und faul neben einander auf den Kastanien hockten, verließen plötzlich die triefenden Aeste und flogen nach dem warmen, trockenen Schlage. Fröstelnd sah der Commerzienrath in die Stube zurück. Fast kam sie ihm behaglich und anheimelnd vor, die den verwöhnten Mann sonst stets anwiderte mit ihrer von Speiseresten erfüllten Luft, mit ihren verräucherten Tapeten und den berüchtigten Neuruppiner Bilderbogen an den Wänden, aber eben legte Jungfer Suse draußen frisches Scheitholz in das Ofenfeuer; das altväterische Sopha mit den dicken, weichen Federkissen stand so warm und bequem an der Wand, und auf den blankgeputzten Scheiben der Alkoventhür blinkte das letzte Restchen des falben Tageslichtes – ah, hinter dieser Alkoventhür stand der eiserne Geldspind – hatte er vorhin auch den Schlüssel abgezogen?
Kurz vor der Operation hatte der Schloßmüller sein Testament gemacht; die Gerichtspersonen und Zeugen waren dem Doctor Bruck und dem Commerzienrath noch auf der Treppe begegnet. Wenn er auch äußerlich bei guter Fassung war, mußte es doch im Innern des Patienten heftig gestürmt haben; jedenfalls war seine Hand beim Wegräumen der benöthigten Documente unstät und hastig gewesen, denn ein Papier war auf dem Tische liegen geblieben. Er hatte übrigens im letzten Augenblicke vor der Entscheidung das Versehen noch bemerkt und den Commerzienrath gebeten, das Schriftstück schleunigst im Schranke zu verschließen. Aus dem Alkoven führte noch eine zweite Thür nach dem Vorsaal, und es verkehrten viele fremde Leute in der Mühle; erschreckt trat der Commerzienrath in das schmale Stübchen; er war unverzeihlich leichtsinnig gewesen – die Schrankthür stand offen; wenn das der Alte gesehen hätte, der seinen Geldschrank wie ein Drache hütete! Es konnte wohl Niemand das Zimmer betreten haben, sagte sich der Commerzienrath zu seiner Beruhigung; selbst das leiseste Geräusch wäre ihm ja nicht entgangen, aber überzeugen mußte er sich dennoch, ob noch Alles in Ordnung.
Er schlug den eisernen Thürflügel möglichst lautlos zurück – sie standen sichtlich unberührt, die Geldsäcke, das silberschwere Piedestal des ehemaligen Müllerknechtes, und neben den Stößen von Werthpapieren thürmten sich in blinkenden Säulchen die Goldstücke aufeinander. Sein bewundernder Blick flog hastig über das Schriftstück, das er vorhin in Folge leichtbegreiflicher Spannung und Erregtheit allzuflüchtig in eines der musterhaft geordneten Fächer geworfen hatte – es war das Verzeichniß des Gesammt-Besitzthums. Welche imponirende Summen reihten sich da an einander! Sorgsam schob er das Papier auf die anderen Documente; dabei aber geschah es, daß er eines der Goldröllchen umstieß – klirrend rollte eine Anzahl Napoleonsd’or auf die Dielen nieder. Wie abscheulich das klang! Es war fremdes Geld, das er berührt hatte! Schrecken und eine an sich ungerechtfertigte Scham trieben ihm das Blut in das Gesicht; unverzüglich bückte er sich, um das Geld aufzulesen. In diesem Moment warf sich ein schwerer, massiger Körper von rückwärts über ihn her, und harte, grobe Finger würgten ihn am Halse.
„Hallunke, Spitzbube! Ich bin noch nicht todt,“ zischte der Schloßmüller mit seltsam erloschener Stimme. Ein momentanes Ringen erfolgte; der schlanke junge Mann mußte alle seine Kraft und Elasticität aufbieten, um den Alten abzuschütteln, der wie ein Panther auf ihm hockte, ihm die Kehle so furchtbar zusammenschnürend, daß ein feuriger Funkenregen vor seinen Augen aufstiebte – ein angstvoller Griff seiner eigenen beiden Hände, dann ein gewaltsamer Ruck und Stoß, und er stand befreit auf seinen Füßen, während der Schloßmüller an die Wand taumelte.
„Sind Sie toll, Papa?“ keuchte er empört und athemlos. „Welche bodenlose Gemeinheit“ – er verstummte entsetzt; der Verband unter dem erbleichenden Gesicht des Kranken erschien plötzlich scharlachroth, und diese entsetzliche Farbe kroch sickernd, mit unglaublicher Schnelligkeit auch als breites Band über die weiße Bettjacke – da war die Blutung, die um jeden Preis verhindert werden sollte.
Der Commerzienrath fühlte seine Zähne wie im Fieber zusammenschlagen. War er schuld an diesem Unglück? „Nein, nein,“ sagte er sich erleichtert und umschlang den Kranken, um ihn für’s Erste nach dem Bett zu schaffen, aber der Alte stieß erbittert nach ihm und zeigte schweigend auf die verstreuten Goldstücke; sie mußten Stück um Stück aufgelesen und an Ort und Stelle zurückgelegt werden; die furchtbare Gefahr, in der er schwebte, ahnte er entweder nicht oder er vergaß sie über der Angst um sein Gold. Erst, nachdem der Commerzienrath vor seinen Augen den Schrank verschlossen und den Schlüssel in seine Hand gedrückt hatte, wankte er in die Stube zurück und sank taumelnd auf sein Lager, und als endlich zwei Müllerburschen und Jungfer Suse auf das wiederholte Hülferufen des Commerzienrathes herbeistürzten, da lag der Schloßmüller bereits lang hingestreckt und stierte mit gläsernen Augen wie entgeistert auf seine Brust, die der unaufhaltsam entfließende Lebensstrom immer breiter mit Purpur bedeckte.
Die Burschen eilten nach der Stadt, um Doctor Bruck zu suchen, während die Haushälterin Wasser und Leinen herbeischleppte – vergebliche Mühe! Es half nichts, daß der Commerzienrath angstvoll Tuch um Tuch auf die Wunde preßte, um den Quell zu verstopfen; der ließ sich nicht wieder zurückleiten. Es blieb kein Zweifel: die Schlagader war zerrissen. Wie war das gekommen? Trug die wahnsinnige innere und äußere Aufregung des alten Mannes allein die Schuld, oder – der Herzschlag stockte ihm – hatte er bei seiner verzweifelten Abwehr die Schnittwunde am Halse des Wüthenden gepackt und tödtlich erweitert? Für einen solchen Moment gab es kein Erinnern; wie kann Einer wissen, ob er die Schulter oder den Hals eines heimtückischen Angreifers faßt, wenn ihm der Erstickungstod droht und das gewaltsam nach dem Gehirne gedrängte Blut Feuerräder vor seinen Augen kreisen läßt! Aber wozu auch eine so gräßliche Möglichkeit aufstellen? Hatten nicht der Sprung aus dem Bette, die innere kochende Wuth vollkommen genügt, das Unglück herbeizuführen, das ja der Arzt selbst schon von einer einzigen allzu heftigen Bewegung abhängig gemacht? Nein, nein, sein Gewissen war rein und unbelastet; er konnte sich nicht den geringsten Vorwurf machen, auch was die Grundursache dieses grauenhaften Vorfalles betraf. Er war an den Schrank getreten, einzig und allein aus Besorgniß für das Eigenthum des alten Mannes; nicht einmal der Wunsch, diese Schätze zu besitzen, war ihm in jenem flüchtigen Momente gekommen – das wußte er genau. Was konnte er für die gemeinen Gesinnungen des erbärmlichen Kornwucherers, der bei Jedem, auch dem anerkannt respectabelsten Manne, räuberische Gelüste voraussetzte? An die Stelle der Angst und des Entsetzens trat jetzt der Ingrimm. Das hatte er von seiner Liebenswürdigkeit, von jener Höflichkeit des Herzens, die seine Bekannten an ihm rühmten; sie hatte ihn wie schon so oft, hingerissen, Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die ihn in Unannehmlichkeiten verwickelten. Wäre er doch zu Hause geblieben, zu Hause in seinem köstlich behaglichen Salon, am Whisttisch in unverkümmerter Gemüthsruhe seine Cigarre rauchend! Sein böser Dämon mußte ihm zugeflüstert haben, die Rolle des aufopfernden Pflegers zu spielen; nun stand er inmitten der haarsträubendsten Situation, und seine vor Ekel und Grauen immer wieder zurückschreckenden Hände netzten sich mit dem Blute des Elenden, der ihn eben um ein Haar erwürgt hätte.
Wie bleiern träge Minute um Minute hinschlich! Jetzt war sich der Schloßmüller augenscheinlich bewußt, in welche Gefahr er sich gebracht hatte; er rührte sich nicht, und nur seine Augen richteten sich in angstvoller Spannung auf die Thür, wenn draußen auf dem Vorsaale Schritte erklangen; er hoffte auf Rettung durch den Arzt, während der Commerzienrath schaudernd die Veränderung in seinem Gesichte verfolgte. So aschfarben malt nur die Hand des Todes.
Jungfer Suse hatte die Lampe hereingebracht; sie war wiederholt vor das Thor gelaufen, um nach Doctor Bruck auszuschauen, und nun stand sie zu Häupten des Bettes und schüttelte sich stumm vor Entsetzen bei dem Anblicke, den das weiße Lampenlicht schreckhaft hervortreten ließ. Wenige Minuten darauf sanken die Augen des Schloßmüllers zu, und der Schlüssel, den er bis dahin krampfhaft festgehalten, fiel auf die Bettdecke; eine Ohnmacht trat ein. Unwillkürlich griff der Commerzienrath nach dem Schlüssel, um ihn wegzulegen, aber in den Moment, wo er das verhängnißvolle Stückchen Eisen mit den Fingern berührte, kam ihm ein Gedanke, der ihn traf, wie ein unvermutheter Schlag: welche Physiognomie erhielt wohl der unglückselige Vorfall in den Augen der Welt? Er kannte es nur zu gut, das zischelnde, flüsternde Weib, die Lästersucht; sie schlich ja auch durch seine Salons, und das starke Geschlecht am Spieltische amüsirte sich genau mit demselben Behagen bei ihren versteckten, boshaften Fingerzeigen, ihrem zweideutigen Lächeln, wie die theetrinkenden Damen. Und wenn nur ein Einziger achselzuckend mit bedenklichem Augenzwinkern sagte: „Ei, was hatte denn auch der Commerzienrath Römer im Geldschranke des Schloßmüllers zu suchen?“ so genügte das, um sein Blut sieden zu machen. Es blieb aber nicht bei diesem Einzigen; er hatte Feinde und Widersacher genug, wie Alle, die das Glück bevorzugt; er wußte, daß man sich morgen in der Stadt erzählen werde, die Operation sei gelungen gewesen, aber die Aufregung darüber, daß der Pfleger heimlich über seinen Geldschrank gegangen, habe eine Verblutung des Patienten herbeigeführt. Und da war ein schmutziges Mal auf dem Namen des beneideten Römer, das selbst keine gerichtliche Untersuchung wegwaschen konnte; wo waren denn die entlastenden Zeugen? Etwa seine bisher anerkannte Ehrenhaftigkeit? Er lachte bitter in sich hinein, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Niemand wußte besser als er, daß sich die Mitwelt in nichts rascher findet, als eine anerkannte Ehrenhaftigkeit für Schein zu halten, sobald der Schein gegen sie auftritt. Er bückte sich über den Ohnmächtigen, dem Jungfer Susanne die Schläfe mit Essenzen wusch, und beobachtete ihn plötzlich mit verändertem Blicke; wenn dieser Mann da nicht selbst so viel Kraft wieder erlangte, um den Vorgang zu erzählen, dann wurde das Ereigniß mit ihm begraben – über die Lippen des Anderen kam kein Wort.
Endlich schlugen draußen die Hofhunde an, und rasche Schritte kamen über das Steinpflaster und die Treppe herauf. Doctor Bruck blieb einen Moment wie versteinert in der Stubenthüre stehen, dann legte er schweigend seinen Hut auf den Tisch und trat an das Bett. Welche athemlose Stille bei einem solchen Erscheinen! Sie breitet gleichsam die Schwingen aus, um feierlich den Ausspruch über Leben und Tod zu empfangen.
„Wenn er doch nur erst wieder zu sich käme, Herr Doctor!“ flüsterte endlich die Haushälterin beklommen.
„Das wird er schwerlich,“ versetzte Doctor Bruck von seiner Untersuchung aufblickend – jede Spur von Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „Mäßigen Sie sich!“ gebot er ernst, als Jungfer Suse in ein Klagelied ausbrechen wollte.„Sagen Sie mir lieber, weshalb der Kranke das Bett verlassen hat!“ Er hatte die Lampe vom Tisch genommen und beleuchtete den Fußboden – die Dielen vor dem Bette waren mit Blut bespritzt.
„Das rührt von den vollgesogenen Tüchern her,“ erklärte der Commerzienrath mit blassem Gesicht, aber großer Bestimmtheit, während die Haushälterin heilig und theuer versicherte, daß der Schloßmüller bei ihrem Wiedereintreten noch genau so im Bett gelegen, wie es der Herr Doctor angeordnet habe.
Doctor Bruck schüttelte den Kopf. „Die Blutung ist nicht ohne alle äußere Veranlassung eingetreten; es muß eine heftige Erschütterung eingewirkt haben –“
„Daß ich nicht wüßte – ich versichere Dir, nein!“ sagte der Commerzienrath, ziemlich fest dem ausdrucksvollen Blick des Arztes begegnend. „Uebrigens, was soll dieser Inquisitorenblick? Ich sehe nicht ein, weshalb ich es Dir verheimlichen sollte, wenn der Kranke wirklich in einem Fieberanfall aus dem Bette gesprungen wäre.“ Er bliebe unbeirrt auf dem Wege, den er eingeschlagen. Fast wollte es ihm die Kehle zusammenschnüren bei seinen letzten Worten. Um den äußeren Ehrenschein zu retten, gab er die wahre innere Ehre hin – er leugnete mit eherner Stirne, aber er war ja auch in Wirklichkeit ohne alle Schuld; er war der an Leben und Gesundheit Schwerbedrohte gewesen. Nicht ein einziges Motiv lag nahe, welches das Bekennen des wahren Sachverhaltes zur Gewissenspflicht gemacht hätte.
Der Arzt wandte sich schweigend von ihm ab. Unter seinen Bemühungen schlug zwar der Schloßmüller die Augen wieder auf, aber er stierte mit wirrem, erloschenem Blick in’s Leere, und der Versuch, zu sprechen, erstarb in einem schwachen Gurgeln und Lallen.
Mehrere Stunden später verließ der Commerzienrath Römer die Schloßmühle – es war Alles vorüber. Ueber die Thüren des Sterbezimmers und des Alkovens spannten sich bereits breite Papierstreifen. Der Commerzienrath hatte sofort nach dem letzten Athemzuge des Schloßmüllers bei den Gerichten Anzeige gemacht und als vorsichtiger und gewissenhafter Mann vor seinen Augen versiegeln lassen.
Er schritt jetzt durch den Park nach Hause. Die Lichter der Mühle, die noch eine kleine Strecke weit einen schwachen Schein auf seinen Weg herausgeworfen, verschwanden hinter ihm; er wandelte nun allein mit sich selbst in tiefster Finsterniß, und nicht der scharfe Windhauch, der ihn anblies, nicht die vereinzelten Schneeflocken, die wie flatterndes Nachtgevögel eisigkalt an seiner Wange niederstrichen, nein, seine aufgeregten Gedanken und die Erinnerung an den Anblick, den er stundenlang hatte ertragen müssen, sie waren es, die einen Schüttelfrost durch seine Glieder jagten. Auf demselben Wege, dessen Kieselgeröll jetzt mißtönend unter seinen Füßen rasselte, war er heute Nachmittag gekommen, eben aufgestanden vom reichbesetzten Mittagstisch, sorglos, seinen vielberufenen Glücksstern über sich wähnend – und nun, nach wenigen Stunden, wollte es fast scheinen, als trage er Mitschuld am Tode eines Menschen, er, der Commerzienrath Römer, der um seiner empfindlichen Nerven willen nicht einmal ein Thier leiden sehen mochte! Bah, das war der Neid der Götter, der kein ungetrübtes Menschenloos duldet, der dem Glücklichen gern Steine auf die glatte Bahn wirft, und welcher jetzt auch bemüht war, ihm einen Nagel in das Gewissen zu drücken; der heitere Lebensgenuß sollte ihm vergällt werden – mit nichten! Ihn traf nur ein Vorwurf, der des Verschweigens, aber wem schadete er denn damit? Niemand, Niemand auf Gottes weiter Erde! Basta – er war mit sich fertig. Eben bog er in die breite Lindenallee ein, welche direct auf die Villa zulief. Ströme silberweißen Lichtes flossen durch Fenster und Glasthüren des unteren Balkonzimmers. Von dort her griff das üppige Leben voll Genuß mit weißen, schwellenden Armen nach ihm und zog ihn an sich aus Nachtdunkel und innerer Bedrängniß. Er athmete befreit auf; er warf die schlimmen Eindrücke der letzten Stunden weit hinter sich und ließ sie gleichsam verfließen mit dem Rauschen des Mühlwassers, das in der Ferne allmählich erstarb.
In dem Salon dort, am Thee- und Whisttische der verwittweten Frau Präsidentin Urach, hatte sich eine zahlreiche Abendgesellschaft eingefunden. Die sehr tiefgehenden mächtigen Glasscheiben und das klar durchsichtige Bronzegeflecht des niedrigen Balkongeländers gestatteten einen vollkommenen Einblick in den Salon. Seine farbenglänzenden Wandgemälde, die faltenschweren Thürbehänge von veilchenblauem Sammet, der schwebende Kettenleuchter von Goldbronze, den die mit dem Silberlichte des Gases gefüllten Milchglaskugeln wie riesige Perlen umkreisten, ließen ihn feenhaft, aber auch herausfordernd wie eine Schaubühne aus dem intensiven Dunkel des Winterabends treten. … Ein Windstoß pfiff durch die Allee und schüttete ein Gemisch von Schneeflocken und dürren Lindenblättern wie toll über den Balkon her; die vornehme Ruhe hinter den Scheiben ließ sich nicht alteriren durch den groben Gesellen; nicht einmal das luftige Gewebe der Spitzengardinen bewegte sich – höchstens, daß der Feuerkern im Eckkamin unter seinem grimmigen Athem für einen Moment höher aufglühte.
Und der immer rascher daherschreitende Mann draußen überblickte mit einer Art von innerlich zitterndem Wonnegefühl die Gruppen der Versammelten – nicht daß blonde und dunkle Locken, weiche, schlanke Frauen- und Mädchengestalten sein Auge entzückt hätten, die Frühlingsgenieen des Deckengemäldes streckten vielmehr ihre mit Anemonen und Maiblumen gefüllten Händchen über Matronenhäubchen, über gebleichte Scheitel und Glatzköpfe hin – aber welche Namen waren da vertreten! Officiere von hohem Range, pensionirte Hofdamen und Herren vom Ministerium saßen an den Spieltischen, oder umsaßen, ihren steifen Rücken in den blauen Sammet der Lehnstühle gedrückt, plaudernd den wärmenden Kamin. Auch der alte, hochmüthige Medicinalrath von Bär war da. Beim Auswerfen der Karten zuckten Blitze von seinen kostbaren Brillantringen, lauter Geschenken fürstlicher Personen. Und alle diese Leute waren in seinem Hause, im Hause des Commerzienrath Römer; der rubinfunkelnde Wein in den Gläsern war aus seinem Keller, und die frischen, duftenden Erdbeeren, welche die betreßten Diener in großen Krystallschalen eben herumreichten, hatte er bezahlt. Die Frau Präsidentin Urach war die Großmama seiner verstorbenen Frau; sie machte mit unumschränkter Macht über seine Casse die Honneurs im Hause des Wittwers.
Der Commerzienrath bog um die westliche Seite des Hauses. Hier waren nur zwei Fenster im Erdgeschoß beleuchtet; ziemlich nahe dem einen brannte eine Hängelampe und warf die helle Gluth der rothen Gardine so weit hinaus, daß der weiße Leib der steinernen Brunnennymphe drüben vor der Boscage in einem vollen Rosenlichte schwamm. Der Commerzienrath schüttelte den Kopf; er trat in das Haus, ließ sich von einem herbeieilenden Diener den Ueberzieher abnehmen und öffnete die Thür des Zimmers, in dem sich die rothen Vorhänge befanden. Der ganze Raum war roth; Tapeten, Möbelbezüge, selbst der Teppich, der sich über den Fußboden hinspannte, trug die satte, dunkle Purpurfarbe. Unter der Hängelampe stand ein Schreibtisch, ein Möbel von wunderlicher Form, in chinesischem Geschmacke schwarz lackirt, mit Goldgeäder und feinen Goldarabesken; es war ein Arbeitstisch im vollsten Sinne des Wortes; aufgeschlagene Bücher, Papierhefte und Zeitungen bedeckten seine breite Platte, auch ein dickes Manuscript mit quer darüber hingeworfenem Stifte lag da, und daneben stand auf einem kleinen, runden Silberteller ein Kelchglas, zur Hälfte mit dunklem, schwerem Rothweine gefüllt. Das war ein Zimmer, wo keine Blume gedeiht, wo kein Vogel sein störendes Lied singen darf. In den vier Ecken, auf Säulenstücken von schwarzem Marmor, standen lebensgroße Büsten aus demselben Material, das die strenggeschnittenen Köpfe noch herber und härter im Ausdrucke erscheinen ließ, und die eine lange Wand nahmen Büchergestelle ein; sie harmonirten in Farbe und Ausschmückung mit dem Schreibtische und bargen eine ansehnliche Bibliothek in ihren Fächern, schöngebundene Bücher neuesten Datums, aber auch Folianten in Schweinsleder und ganze Stöße abgegriffener Brochüren. Fast schien es, als sei hier das tiefe, gleichmäßige Roth als Grundton nur gewählt, um den Ernst des Gedankens in der Gesammteinrichtung hervorzuheben.
Als der Commerzienrath auf die Schwelle trat, blieb die Dame, die offenbar da auf- und abgegangen war, inmitten des Zimmers stehen. Man hätte meinen mögen, auch sie sei eben von draußen hereingekommen, direct aus dem Schneegestöber mit überschneitem Gewande, so blendend weiß stand sie auf dem rothen Teppich. Es ließ sich schwer bestimmen, ob die weichen Falten des langen Cachmirkleides lediglich aus Bequemlichkeit so lässig um Hüften und Taille geschürzt waren, oder ob diesem außergewöhnlichen Arrangement ein sorgfältiges Toilettenstudium zu Grunde liege – jedenfalls hob sich die Gestalt von dem dunkelpurpurnen Hintergrunde edel in jeder Linie und taubenhaft weiß ab wie eine Iphigenie. Die Dame war sehr schön, wenn auch nicht mehr in der ersten Jugend. Sie hatte ein feines Römerprofil und zartgefügte, jugendlich biegsame Glieder; nur das aschblonde Haar entbehrte der Fülle; es war kurz verschnitten und bauschte sich, von der Stirn zurückgestrichen, in kleinen durchsichtigen Locken um Kopf und Hals. Das war Flora Mangold, die Schwägerin des Commerzienraths Römer, die Zwillingsschwester seiner verstorbenen Frau. Sie hatte die Arme leicht unter der Brust verschränkt und sah ihrem Schwager mit sichtlicher Spannung entgegen.
„Nun, Flora, Du bist nicht drüben?“ fragte er, mit dem Daumen die Richtung des Salons bezeichnend.
„Was denkst Du denn? Ich werde mich wohl in Großmamas Theeklatsch setzen, zwischen Strümpfe und Wickelschnuren für arme Kinder und Altweibergeschwätz,“ versetzte sie herb und geärgert.
„Es sind auch Herren drüben, Flörchen –“
„Als ob die sich auf den Klatsch nicht noch besser verstünden, trotz Orden und Epauletten!“
Er lachte. „Du hast schlechte Laune, ma chère,“ sagte er und ließ seine schlanke Gestalt in einen Lehnstuhl sinken.
Sie aber warf plötzlich mit einer heftig schüttelnden Bewegung den Kopf zurück und preßte die festverschlungenen Hände gegen den Busen. „Moritz,“ sagte sie wie athemlos, wie nach einem augenblicklichen Ringen mit sich selbst, „sage mir die Wahrheit – ist der Schloßmüller unter Bruck’s Messer gestorben?“
Er fuhr empor. „Welche Idee! Nun wahrhaftig, Euch Frauen ist doch nie ein Unglück schwarz genug –“
„Moritz, ich bitte mir’s aus,“ unterbrach sie ihn mit einer stolzen Kopfbewegung.
„Nun ja, allen Respect vor Deiner Begabung und Deinem ungewöhnlichem Verstande, aber machst Du es denn besser als die Anderen?“ Er durchmaß aufgeregt das Zimmer – diese ungeahnte Auffassung des Ereignisses traf ihn wie vernichtend. „Unter Bruck’s Messer gestorben!“ wiederholte er mit tief erregter Stimme. „Ich sage Dir, gegen zwei Uhr hat die Operation stattgefunden, und vor kaum zwei Stunden ist der Tod eingetreten. Uebrigens fasse ich nicht, wie gerade Du den Muth findest, einen solchen Gedanken so kurz und bündig, fast möchte ich sagen, so mitleidslos auszusprechen.“
„Gerade ich!“ betonte sie. Bei diesen energischen Worten drückte sie den vorgestreckten Fuß sichtlich tiefer in den Teppich. Gerade ich, weil ich nichts Todtgeschwiegenes in meiner Seele dulde – das solltest Du wissen. Ich bin zu stolz, zu wenig hingebend, um die dunkle Verschuldung eines Anderen mitzuwissen und zu verhehlen – sei dieser Andere, wer er wolle! Glaube ja nicht, daß ich dabei nicht leide! Mir geht ein Schwert durch’s Herz, aber Du hast das Wort ‚mitleidslos‘ gebraucht – verdächtiger konntest Du Dich nicht ausdrücken. Mitleid haben mit der Stümperei in der Wissenschaft, das ist absurd, geradezu unmöglich. Darüber aber bist Du doch, so gut wie ich, im Klaren, daß Bruck’s Ruf als Arzt bereits stark gelitten hat durch die gänzlich mißrathene Cur der Gräfin Wallendorf.“
„Ja, ja, die gute Frau hat ihrer Liebhaberei für Gänseleberpastete und Champagner um keinen Preis entsagt.“
„Das behauptet Bruck – die Verwandten haben es widerlegt.“ Sie preßte die Handfläche an die Schläfen, als schmerze ihr der Kopf heftig. Weißt Du, Moritz, als die Nachricht von dem Unglück in der Mühle herübergebracht wurde, da bin ich wie sinnlos draußen im Freien auf- und abgestürmt. In allen Schichten der Bevölkerung war der alte Sommer gekannt, alle Welt interessirte sich für die Operation. Sei es denn, wie Du sagst, daß er nicht sofort unter Bruck’s Händen den Geist aufgegeben hat – die Sachverständigen werden mit Recht behaupten, er habe eben nur, vermöge seiner robusten Natur, einen verlängerten Kampf gekämpft. Willst Du als Laie das besser wissen? Leugne doch nur nicht, daß Du dieselbe Ueberzeugung hegest! Du solltest Dich nur sehen, wie blaß Du bist vor innerer Bewegung.“
In diesem Augenblick that sich eine Seitenthür auf, und die Präsidentin Urach erschien auf der Schwelle. Trotz ihrer siebenzig Jahre konnte man wohl von ihr sagen: sie kam schwebenden Schrittes näher; trotz ihrer siebenzig Jahre war sie eine wunderlich jugendliche Großmama. Sie trug nicht einmal die wohlthätig verhüllende Mantille des Alters; ein weißer, auf den Rücken geknüpfter Spitzenfichu legte sich knapp um Brust und Taille, und auf der perlgrauen Seidenschleppe bauschte ein reichgarnirtes Ueberkleid. Ihr ergrautes, aber noch von glänzenden Streifen der ehemaligen Goldfarbe durchzogenes Haar war in dicken Puffen um die Stirn gesteckt, und über dieser Haarkrone lag schleierartig weißer Blondentüll, dessen lange Enden den Hals und die untere Kinnpartie, diese unerbittlichen Verräther des vorgerückten Alters, zugleich verhüllten.
Sie kam nicht allein. Neben ihr schlüpfte ein wunderliches Wesen herein, eine im Wachsthum sehr unterdrückte Gestalt, nicht gerade unproportionirt in den Gliedern, aber doch auffallend klein und erschreckend mager, und auf diesem dürftigen Körper saß der starkentwickelte Kopf einer jungen Dame von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Die drei im Zimmer anwesenden Frauenköpfe trugen ein und denselben Familienzug – man erkannte sofort die enge Beziehung zwischen der Großmutter und den Enkelinnen; nur bei der Jüngsten erschien das edle, ebenmäßige Profil zu sehr in die Länge gezogen; auch trat das Kinn breiter und energischer hervor. Sie hatte einen kränklichen Teint und seltsam bläuliche Lippen. Durch ihr blondes Haar schlangen sich feuerfarbene Sammetbänder – sie war überhaupt in eleganter Gesellschaftstoilette; nur hing origineller Weise da, wo andere Damen ein Margarethentäschchen tragen, ein ovales Weidenkörbchen, weich gefüttert mit blauen Atlaskißchen, zwischen denen ein Canarienvogel saß.
„Nein, Henriette!“ rief Flora ungeduldig und heftig, als das Vögelchen sofort sein Nest verließ und wie ein Pfeil über ihren Kopf hinflog, „das leide ich absolut nicht. Deine Menagerie lässest Du draußen!“
„Ich bitte Dich, Flora – Hans hat weder Elephantenfüße noch Hörner am Kopfe; er thut Dir nichts,“ sagte die kleine Dame gleichmüthig. „Komm, Hänschen, komm!“ lockte sie das Thierchen, das droben an der Decke kreiste; es kam sogleich pflichtschuldigst herunter und setzte sich auf ihren ausgestreckten Zeigefinger.
Flora wandte sich achselzuckend ab. „Ich begreife Dich und die Anderen drüben wahrhaftig nicht, Großmama,“ sagte sie scharf. „Wie mögt Ihr nur Henriettens Kindereien und Narrheiten dulden? Sie wird Euch nächstens auch ihre sämmtlichen Tauben- und Dohlennester in den Salon schleppen.“
„Ei ja – warum denn nicht, Flora?“ lachte die Kleine und zeigte eine Reihe feiner, scharfer Zähnchen. „Die guten Leute müssen sich ja auch gefallen lassen, daß Du wo möglich mit der Feder hinter dem Ohr einhergehst und stets alle Taschen voll Stubengelahrtheit mitbringst –“
„Henriette!“ unterbrach sie die Präsidentin streng verweisend. Es war eine wahrhaft fürstliche Hoheit in jeder ihrer Bewegungen; auch in der graciösen Art, wie sie dem Commerzienrath ihre schlanke Hand begrüßend hinreichte, lag bei sehr viel Güte und Freundlichkeit dennoch eine nicht zu verkennende Herablassung.
„Wir haben drüben erfahren, daß Du endlich zurückgekommen bist, lieber Moritz; sollen wir noch länger warten?“ fragte sie mit ihrer schönen, immer noch weichen Frauenstimme.
Noch vor zehn Minuten hatte er mit dem festen Vorsatz, schleunigst in den Frack zu schlüpfen, das Haus betreten – jetzt sagte er zögernd und unsicher: „Theuerste Großmama, ich möchte Sie bitten, mich für heute zu entschuldigen – der Vorfall in der Mühle –“
„Nun ja, der Vorfall ist traurig genug, aber weshalb sollen auch wir darunter leiden? … Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich Dich vor meinen Freunden entschuldigen soll.“
„Sie werden doch nicht so schwer von Begriffen sein, die guten Freunde, um nicht zu verstehen, daß Käthe’s Großpapa gestorben ist?“ warf Henriette über die Schulter herüber ein – sie stand vor einem Bücherbrett und las, wie es schien, eifrig die Vignetten.
„Henriette, ich verbitte mir ernstlich Deine naseweisen Bemerkungen,“ sagte die Präsidentin. „Du magst meinetwegen Deinen feuerfarbenen Haarschmuck ein wenig moderiren; denn Käthe ist Deine Stiefschwester, mir und Moritz aber liegt diese Verwandtschaft so weltenfern, daß wir für uns dem Trauerfall officiell keinerlei Bedeutung zugestehen können, so sehr ich ihn auch beklage. Ich möchte überhaupt nicht, daß die Sache an die große Glocke geschlagen würde – Bruck’s wegen – je weniger über den Vorfall gesprochen wird, desto besser.“
„Mein Gott, seid Ihr denn Alle so ungerecht gegen den Doctor?“ rief der Commerzienrath in ausbrechender Verzweiflung. „Ihm ist auch nicht der allergeringste Vorwurf zu machen; er hat seine ganze Kunst, sein ganzes Wissen aufgeboten –“
„Lieber Moritz, darüber mußt Du meinen alten Freund, den Medicinalrath von Bär, hören!“ unterbrach ihn die Präsidentin und klopfte ihn leicht auf die Schulter. Sie winkte bedeutungsvoll mit den Augen nach Flora, die an ihren Schreibtisch getreten war.
„O, genire Dich nur nicht, Großmama! Glaubst Du denn, ich sei so blind und dumm, um mir nicht selbst zu sagen, wie Bär urtheilt?“ rief das schöne Mädchen bitter. Ihre Lippen zuckten wie im Krampf. „Uebrigens hat Bruck bereits sich selbst gerichtet, er hat nicht gewagt, mir heute Abend noch unter die Augen zu treten.“
Henriette hatte bis dahin mit dem Rücken gegen die Anderen gestanden. Jetzt wandte sie sich um; eine hohe Röthe schoß in ihr fahles Gesicht und erlosch ebenso rasch wieder. Das Mädchen hatte ein wunderschönes, tiefes Auge, ein Auge voll leidenschaftlicher Empfindung. Diese großen flimmernden Sterne richteten sich mit einem Gemisch von scheuem Schrecken und jäh aufglühendem Haß auf das Gesicht der Schwester.
„Nun, diesen Verdacht wird er widerlegen – er kommt noch, Flora,“ sagte der Commerzienrath sichtlich erleichtert. „Er wird Dir selbst sagen, daß er den Tag über wie gehetzt gewesen ist. Du weißt ja, daß er mehrere Schwerkranke in der Stadt hat, darunter das arme, kleine Mädchen des Kaufmann Lenz, das heute Nacht noch sterben wird.“
Die junge Dame stieß ein leises, bitteres Lachen aus. „Wird es sterben? Wirklich, Moritz? … Nun sieh, Bär war auch hier bei mir, ehe er zu Großmama ging; er sprach auch von dem Kinde, das er gestern gesehen hatte, und meinte, der Fall sei leicht – er fürchte nur, Bruck sei auf falscher Fährte. Bär ist eine Autorität –“
„Ja, eine Autorität voll zitternden Neides,“ sagte Henriette mit vibrirender Stimme. Sie war rasch hinzugetreten und legte ihre Hand auf den Arm ihres Schwagers. „Gieb es auf, Moritz, Flora zu bekehren! Du siehst doch, sie will ihren Bräutigam schuldig finden.“
„Ich will? … Boshaftes Geschöpf! Ich gäbe sofort mein halbes Vermögen hin, wenn ich noch so denken könnte, wie zu Anfang meiner Brautschaft, so stolz, so zuversichtlich zu Bruck aufsehend,“ rief Flora leidenschaftlich. „Aber seit dem Tode der Gräfin Wallendorf trage ich stillschweigend die fortgesetzte Qual der Zweifel, des Mißtrauens mit mir herum – heute zweifle ich nicht mehr, denn ich bin überzeugt. Jene Schwäche des Weibes kenne ich freilich nicht, das nur liebt, ohne zu fragen: ist der Geliebte der Hingebung auch würdig? … Ich bin ehrgeizig, glühend ehrgeizig, das können Alle wissen. Ohne diese Triebfeder würde ich auch mit dem großen Haufen der Schwachen und Indolenten meines Geschlechts auf der breiten Heerstraße der Alltäglichkeit ziehen. – Gott soll mich behüten! Wie andere strebende und denkende Frauen es möglich machen, ruhig und gleichmüthig mit einem unbedeutenden Mann durch’s Leben zu gehen, ist mir stets unfaßlich gewesen – ich würde zeitlebens erröthen unter den Blicken der Menschen.“
„O – so verschämt würdest Du sein? Sieh, sieh! – Allerdings, dazu gehört auch mehr Muth, als vor einem kecken Auditorium von Studenten über Aesthetik und dergleichen zu lesen,“ rief Henriette, jetzt in der That mit einem boshaften Lächeln.
Flora ließ einen Blick voll Verachtung über die kleine Schwester hinstreifen. „Solch eine kleine Viper läßt man ruhig zischen. Was weißt Du von einem Ideal?“ sagte sie achselzuckend. „Aber Recht hast Du, wenn Du glaubst, mein Platz sei weit eher auf dem Katheder, als an der Seite eines Mannes, der sich als Stümper in seiner Wissenschaft documentirt – eine solche Fessel ertrage ich nicht.“
„Kind, das ist Deine Sache,“ erklärte die Präsidentin gelassen, während der Commerzienrath in namenloser Bestürzung zurückfuhr. „Du wirst Dich erinnern, daß Dich Niemand gezwungen, noch überredet hat, Deinen Kopf in diese Fessel zu stecken.“
„Das weiß ich sehr genau, Großmama; ich weiß auch, daß Du es weit lieber gesehen hättest, wenn ich die Frau des an Geld und Körper bankerotten Kammerherrn von Stetten geworden wäre. Ich gebe Dir ebenso gern zu, daß ich mich nie von irgend einem Menschen beeinflussen oder gar leiten lasse, weil ich am besten wissen muß, was mir frommt.“
„Das wird Dir auch stets unbenommen sein,“ versetzte die Großmama mit vornehmer Kälte. „Nur Eines gebe ich Dir zu bedenken: Du wirst eine entschiedene Gegnerin an mir haben, wenn die Sache auf einen Eclat hinausläuft. Darin kennst Du mich hoffentlich. Ich ertrage weit eher inneren Unfrieden, als einen Familienscandal nach außen. Ich lebe mit Euch zusammen und habe gern die Repräsentation dieses Hauses übernommen; dafür verlange ich aber auch die unbedingteste Rücksicht für meine Stellung und meinen Namen. Ich will nicht, daß man in der Gesellschaft über uns flüstert und zischelt.“
Der Commerzienrath wandte sich rasch ab. Er trat an das eine unverhüllte Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Der Wind, der sich allmählich zum Sturme steigerte, fauchte rüttelnd an den Scheiben hin, und in dem feurig rothen Streifen, den die Lampe des anderen Fensters stet und unbeirrt über die windgeschüttelten Büsche warf, fuhren die blutig gefärbten Schneeflocken im rasenden Wirbel durch einander, wie die marternden Gedanken in seinem Kopfe. Er hatte vorhin mit sich gekämpft, ob er nicht Flora wenigstens den Vorfall wahrheitsgetreu mittheilen solle – jetzt wußte er, daß gerade ihr gegenüber kein Laut über seine Lippen kommen durfte, wenn er nicht wollte, daß die Präsidentin um des „Zischelns und Flüsterns in der Gesellschaft“ willen sich von ihm lossagte; er mußte sich eingestehen, daß das ehrgeizige schöne Mädchen sofort sein Geständniß in die Welt hinausschreien würde, weniger aus Liebe, als um den Schein von sich zu wenden, daß sie sich hinsichtlich der Wahl ihres Herzens oder eigentlich ihres Verstandes geirrt habe.
Währenddem stand Henriette, das kleine, mißgestaltete Mädchen, mit Augen voll Grimm und Spott vor der Großmutter. „Also nur in Rücksicht auf das Gerede der Leute wünschest Du, daß sich meine Schwester tadellos aus der Affaire ziehe? Damit kommt sie ja sehr wohlfeil weg. Du sprichst sie ohne Bedenken frei, wenn sie nur dem Treubruche ein seidenes Mäntelchen umzuhängen versteht. Uebrigens brauchst Du wegen des Eclat wirklich nicht so entsetzlich penible zu sein, Großmama – man muß im Salon leben, wie wir, um zu wissen, daß die Gesellschaft es mit so manchen vornehmen Sündern hält, wie mit dem alten Meißner Porcellan: je öfter gekittet, desto begehrter!“
„Ich werde Dich wohl ersuchen müssen, den Rest des Abends auf Deinem Zimmer zu verbringen, Henriette,“ zürnte die Präsidentin jetzt ernstlich. „Mit dieser verbitterten Stimmung kann ich Dir die Rückkehr in den Salon nicht gestatten.“
„Wie Du befiehlst, Großmama! Gelt, Hans, wir gehen mit tausend Freuden,“ sagte sie lächelnd und drückte die Wangen auf das Gefieder des Vögelchens, das noch auf ihrer Rechten saß. „Du kannst auch die alten Hofdamen nicht leiden, und die große medicinische Autorität, den Herrn von Bär, zwickst Du regelmäßig in den Finger, wenn er Dich mit Zucker kirren will, braver Bursche … Gute Nacht, Großmama – gute Nacht, Moritz!“ Sie hemmte noch einmal ihre hastigen Schritte und wandte sich zurück. „Die Charaktervolle dort,“ sagte sie mit schneidender Ironie, „wird hoffentlich den Weg innehalten, den ihr der selige Papa unerbittlich vorgeschrieben haben würde – mit ihrer Renommage bezüglich des eigenen Willens hat sie sich zu seinen Lebzeiten niemals hervorwagen dürfen. Er würde ihr nie gestattet haben, einem Ehrenmanne das gegebene Wort zu brechen.“
Mit trotzig zurückgeworfenem Kopfe ging sie hinaus, aber schon auf der Schwelle stürzten ihr die heißen Thränen, die bereits in ihren letzten Worten mitgeklungen hatten, unaufhaltsam über die Wangen.
„Gott sei Dank, daß sie geht!“ rief Flora. Man braucht wirklich das höchste Maß von Selbstbeherrschung, um nicht ihr gegenüber die Geduld zu verlieren.“
„Ich vergesse nie, daß sie eine Kranke ist,“ bemerkte die Präsidentin trocken zurechtweisend.
„Und in einer Art hatte sie doch auch Recht, Flora,“ wagte der Commerzienrath einzuwerfen.
„Denke darüber, wie Du willst, Moritz!“ entgegnete die junge Dame kalt. „Ich habe Dich nur dringend zu bitten, mir durch Deine Einmischung die inneren Kämpfe nicht zu erschweren. Wie bereits gesagt, bin ich gewohnt, mit mir und Anderen allein fertig zu werden, und so will ich’s auch in diesem Falle gehalten wissen. Uebrigens dürft Ihr ruhig sein – Du und die Großmama – es widerstrebt mir selbst, hart und gewaltsam vorzugehen; ich habe eine geräuschlose Verbündete, und das ist – die Zeit.“
Sie nahm das Kelchglas vom Schreibtische und netzte die fast weißgewordenen Lippen mit einigen Tropfen Rothweins, während die Präsidentin, ohne ein Wort weiter zu verlieren, sich anschickte, in den Salon zurückzukehren.
„Apropos, Moritz!“ rief sie, die Hand auf das Thürschloß legend. „Was wird nun mit Käthe geschehen?“
„Darüber müssen wir das Testament entscheiden lassen,“ versetzte er, wie befreit aufathmend. „Ich bin völlig ahnungslos, wie der Schloßmüller verfügt hat. Käthe ist seine einzige Erbin; ob er sie aber auch als solche bestätigt, das fragt sich; er ist ihr ja immer gram gewesen, weil ihre Geburt seiner Tochter das Leben gekostet hat. … Auf jeden Fall wird sie für einige Zeit hierher kommen müssen.“
„Gieb Dir keine Mühe – die kommt nicht; die hängt noch heute so fest an den Rockfalten ihrer alten, unausstehlichen Gouvernante, wie zu Papas Lebzeiten,“ sagte Flora. „Man muß nur ihre Briefe an Dich lesen.“
„Nun, vielleicht ist’s auch besser, sie bleibt, wo sie ist,“ meinte die Präsidentin fast lebhaft. „Aufrichtig gestanden, ich verspüre nicht viel Lust, sie unter meine Flügel zu nehmen und vielleicht stündlich an ihr herumzumäkeln – das giebt viel stillen Aerger. … Ich habe mich nie recht für sie erwärmen können, nicht etwa, weil sie das Kind der ‚Anderen‘ war – darüber habe ich stets gestanden, aber sie kroch mir zu viel drüben in der Mühle herum, hatte stets die Zöpfe und Kleider voll Mehlstaub und war ein recht eigenwilliges kleines Ding.“
„Ja, so ein rechter Querkopf aus dem Volke, und doch – Papas Liebling,“ warf Flora mit bitterm Lächeln hin.“
„Scheinbar, Kind, weil sie seine Jüngste war,“ sagte die Präsidentin, die grundsätzlich nie den Gedanken aufkommen ließ, daß eines ihrer Angehörigen je zurückgesetzt werden könne; „er hat Euch ebenso lieb gehabt. Nun, Moritz, wirst Du mitkommen?“
Er bejahte hastig. Beide entfernten sich, Flora aber schellte ihrer Kammerjungfer. „Ich will mich in mein Schlafzimmer zurückziehen und dort arbeiten – trage das Schreibzeug und diese Papiere hinüber!“ befahl sie. „Selbstverständlich bin ich für Niemand mehr zu sprechen.“
Der feurig rothe Streifen draußen erlosch; das weiße Licht des Salons aber schimmerte bis weit über Mitternacht in die dunkle, sturmgepeitschte Allee hinein. … Der Commerzienrath saß am Spieltische. Alle Anwesenden hatten bei seinem Eintreten einen liebenswürdigen Gruß, ein vertrauliches Händeschütteln für ihn gehabt, und das hatte sein beklommenes Herz durchwärmt und umschmeichelt wie Sonnenschein. Inmitten dieser Gesichter, mit der Vornehmheit des Adels oder dem Beamtenhochmuthe in den Zügen, fand er seine Handlungsweise so vollkommen gerechtfertigt, daß er die quälenden Scrupel der letzten Stunden fast nicht mehr begriff. Weshalb sich einem schiefen Urtheile aussetzen, wenn man sich bewußt ist, nicht einmal in Gedanken gesündigt zu haben? Und um welche Gemeinheit handelte es sich! All’ den allerliebsten Scandalgeschichtchen, die auch jetzt von Mund zu Mund schlüpften, hing man mit feinem, verständnißinnigem[WS 2] Lächeln „das seidene Mäntelchen“ um – es waren ja insgesammt noble Passionen und Verirrungen, die man geißelte, bei dem Verdachte eines gemeinen Attentates auf den Geldschrank des Schloßmüllers aber ließe sicher alle diese Leute den ohnehin in ihren Kreis Eingeschmuggelten gnadenlos fallen. … Allerdings durfte er sich jetzt nicht mehr damit trösten, daß sein Verschweigen Niemand schade; es drohte scheidend zwischen zwei Menschen zu treten, die bereits durch den Verlobungsring an einander gekettet waren – bah, Flora war ein excentrisches Wesen! Bei der nächsten Auszeichnung, die Bruck zu Theil wurde – und die konnte bei seinen Verdiensten, seinem Wissen nicht ausbleiben –, besann sie sich eines Bessern. … Er schlürfte ein Glas köstlicher Bowle, und das spülte die letzten Scrupel gründlich weg.
Der Schloßmüller hatte in der That seine Enkelin, Katharina Mangold, testamentarisch zu seiner Universalerbin ernannt und den bereits von ihrem verstorbenen Vater für sie bestellten Vormund auch seinerseits bestätigt. – Dieser Vormund war der Commerzienrath Römer. Bei der Eröffnung des Testamentes war diesem doch sehr wunderlich zu Muthe gewesen, und er hatte den Kopf geschüttelt über die Widersprüche, die ungeahnt in der Menschenseele neben einander liegen. Der alte Mann, der ihn in dem jähen Wahne, er wolle ihn seines Goldes berauben, nahezu erwürgt, hatte ihn kaum eine Stunde zuvor bezüglich der Verwaltung des Vermögens mit beinahe unumschränkter Vollmacht betraut. Er hatte verfügt, daß, falls die beabsichtigte Operation seinen Tod nach sich ziehe, sofort sein gesammter Besitz an Liegenschaften,[WS 3] mit Ausnahme der Schloßmühle, verkauft werde. In Betreff dieser Ausnahme hatte er bemerkt, die Mühle habe ihn zum reichen Manne gemacht, und seine Enkelin, selbst wenn sie „so stolz und hochnäsig, wie ihre Stiefschwestern“ geworden sei, brauche sich nicht zu schämen, sie ihrem künftigen Ehemanne mitzubringen. Das Rittergut sollte zerschlagen, die Waldungen, Ländereien und die Wirthschaftsgebäude inmitten der weiten Gras- und Gemüsegärten je einzeln an den Meistbietenden veräußert werden; bezüglich der Villa und des dazu gehörigen Parkes solle jedoch der Commerzienrath Römer, sofern er darauf reflectire, die Vorhand haben, und sei ihm der Besitz mit fünftausend Thalern unter dem Taxwerth zuzuweisen. Diese fünftausend Thaler habe er nicht allein als Entschädigung für seine vormundschaftliche Mühewaltung, sondern auch als ein Zeichen der „Erkenntlichkeit“ des Testators anzusehen, da er sich niemals hochmüthig, wie „die Anderen in der Villa“, sondern weit eher wie ein anhänglicher naher Verwandter bezeigt habe. Ferner sollte auf Grund des Testamentes das Gesammtvermögen in Staatsobligationen und anderen soliden Papieren angelegt und die Wahl derselben dem Ermessen des Vormundes, als eines tüchtigen und umsichtigen Geschäftsmannes, überlassen sein.
Die junge Erbin lebte seit sechs Jahren entfernt von der Heimath. Ihr sterbender Vaters hatte sie der Gouvernante, einem Fräulein Lukas, übergeben, welche die Erziehung des Kindes seit dessen erstem Lebensjahre in den Händen gehabt und in der That Mutterstelle an ihm vertreten hatte. Banquier Mangold hatte sehr wohl gewußt, daß er seinen Liebling, der sich stets scheu von den weit älteren Stiefschwestern ferngehalten, dieses Schutzes nicht berauben dürfe, und deshalb verfügt, daß Katharina mit nach Dresden gehen solle, wo die Erzieherin nach langjährigem Brautstand mit einem Arzte gerade um jene Zeit ihren eigenen Hausstand begründete. … Das junge Mädchen hatte in ihren Briefen an den Vormund nie den Wunsch ausgesprochen, die Heimath wiederzusehen; ebenso wenig war es ihrem Großvater, dem Schloßmüller, eingefallen, sie je zurückzufordern; er war damals vollkommen mit ihrer Uebersiedlung nach Dresden einverstanden gewesen, weil ihr Anblick den Gram um das einzige Wesen, das er geliebt, um seine Tochter, stets erneute. Nun, nach seinem Tode, hatte der Vormund ihre Rückkehr auf einige Zeit gefordert; er hatte ihr zugleich mitgetheilt, daß er sie selbst mit Eintritt der wärmeren Jahreszeit, Ende April, abholen wolle, weil – was er selbstverständlich verschwieg – die Präsidentin Urach sich entschieden gegen eine etwaige Begleitung der ehemaligen Gouvernante verwahrte. Die Mündel war mit allem einverstanden gewesen, und hatte ihn nur auf seine Frage, ob sie bei Ausführung der testamentarischen Bestimmungen irgend einen persönlichen Wunsch habe, dringend gebeten, bei Verpachten der Schloßmühle die große Eckstube nebst Alkoven zu reserviren und beide Räume genau zu belassen, wie sie zu des Großvaters Lebzeiten eingerichtet gewesen seien. Das war geschehen. – –
Es war im Monat März, da kam eine junge Dame von der Stadt her. Sie ging auf der Chaussee, die mit den letzten vereinzelten Ausläufern der Straße, hübschen, kleinen Landhäusern, zu beiden Seiten besetzt war, und bog in den breiten Fahrweg ein, der nach der Schloßmühle führte. Noch war das Schmelzwasser des letzten Schneefalles nicht ganz versickert; es stand in den breiten Furchen, welche die Räder der Mühlenwagen gewühlt hatten, und in den tiefeingedrückten Spuren der vielen Sohlen, die hier verkehrten; aber die schlanken Füße des junge Mädchens steckten in festen Lederstiefelchen, und das schwarze Seidenkleid war so hoch aufgeschürzt, daß der elegant bordirte Saum mit dem triefenden Geröll nicht in Berührung kam. Es war durchaus keine Elfe oder Sylphide, das Menschenkind, das so kräftig und sicher dahergeschritten kam, weit eher eine Gestalt, wie man sich ein schönes Schweizermädchen denkt, dem die kräuterwürzige Alpenmilch und der reine Athem der Bergluft das Blut mischen und Adern und Sehnen vor Gesundheit strotzen machen. Eine anliegende, mit Pelz besetzte schwarze Sammetjacke bezeichnete die kräftigen, aber schön geschwungenen Linien der Taille und des Busens, und auf dem lichtbraunen Haare saß, ein wenig schief gerückt, eine Mütze von Marderfell. Das Gesicht war weit entfernt, proportionirt oder gar classisch regelmäßig zu sein – das gebogene Näschen war zu kurz im Verhältniß zur Wölbung und Breite der Stirn, der Mund zu groß, das runde Kinn mit dem Grübchen ein wenig zu kräftig vorgeschoben, der Bogen der Brauen nicht bestimmt genug, aber diese Mängel wurden aufgewogen durch die reine, von den breiten Schläfen ausgehende Ovallinie und die unvergleichliche Jugendfrische und Blüthe der Gesichtsfarbe.
Die junge Dame trat in das offene Hofthor der Schloßmühle. Eine Schaar Hühner, die, einer Spur verstreuter Getreidekörner nachgehend, eben auf den Fahrweg hinausspazieren wollte, stob gackernd vor ihr auseinander, und die Hofhunde fuhren mit wüthendem Gebelle aus ihrem trägen Halbschlummer empor. Wie floß das neue Frühlingssonnenlicht goldglänzend über die Mauern des alten, prächtigen Hauses, deren gewaltige Quadern vor alten Zeiten unter den Augen des fürstlichen Erbauers aufeinander gethürmt worden waren! Vorgestern erst war die letzte dicke Eiszacke klingend von dem aufgesperrten Löwenrachen der blechernen Dachrinne gefallen, und heute zitterte und flimmerte die Luft über dem sonnenerhitzten Schiefer des Daches. Aus den dicken, braunen Knospen der Kastanien quoll das Harz und ließ sie glitzern, als seien sie mit Diamantenstaub bestreut; ein paar Töpfe mit halbverkümmerten Stubenpflanzen standen, zum ersten Male wieder in die laue freie Luft gerückt, vor dem einen Fenster der Knappenstube, und auf dem hölzernen, ausgetretenen Freitreppchen, das von dieser Stube direct in den Hof führte, saß ein weißbestäubter Müller und schnitt sich tüchtige Brocken von Brod und Käse.
„Mohr! Wächter!“ rief die junge Dame mit schmeichelnder Stimme über den Hof hinüber. Die Hunde geberdeten sich wie toll und rissen winselnd an der Kette.
„Was wünschen Sie?“ fragte der Müller, sich schwerfällig erhebend.
Sie lachte leise in sich hinein. „Ich wünsche gar nichts, Franz, als Ihnen und Suse guten Tag zu sagen.“
Im Nu flogen Brod, Käse und Messer hinter das Treppengeländer. Der Mann war nicht groß. Er war kleiner als das junge Mädchen – er sah sprachlos in das blühende Gesicht, das er zum letzten Male gesehen, wie es, noch nicht einmal in der Höhe seiner breiten Schultern, auf einem schmächtigen Kindeskörper gesessen; sie hatte „das Müllermäuschen“ geheißen und war ihm in der Mühle und auf dem Kornboden, in der That quecksilbern wie eine Maus, auf Schritt und Tritt nachgehuscht – und jetzt war sie die Herrin hier, und er, der ehemalige Obermüller, ihr Pächter. „Curios,“ sagte er, in unbeholfener Verlegenheit den Kopf schüttelnd, „die Grübchen in den Backen und die Augen sind’s noch, aber, aber das unmenschliche Wachsthum!“ Er ließ seine Augen scheu und ungläubig messend an der hohen Gestalt emporgleiten. „Na ja, da hat eben der Trieb von der Sommers-Großmutter her dahinter gesteckt; die war auch so wie Milch und Blut und – „wollt ihr wohl still sein, ihr Racker!“ unterbrach er sich scheltend und drohte mit der Faust nach den unaufhörlich bellenden Hunden. „Die Schlingel kennen Sie wirklich noch, gnädiges Fräulein –“
„Besser als Sie; das ‚unmenschliche Wachsthum‘ hat sie nicht irre gemacht,“ versetzte sie, zu den Hunden tretend und die hoch an ihr aufspringenden Thiere streichelnd. „Sie tituliren mich ja wunderlich, Franz. Ich bin nicht avancirt in Dresden, das kann ich Ihnen versichern.“
„Aber die Fräuleins drüben in der Villa lassen sich ja auch so benennen,“ sagte er mit steifem Nacken und starrköpfig.
„Ah so!“
„Und Sie sind doch zehnmal mehr. So jung und schon so reich, so unmenschlich reich! Die Mühle da, die schönste weit und breit – Sapperment, das will was heißen! Herrje – nur ein Mädchen, und kaum achtzehn Jahre alt, und das Commando über eine solche Mühle!“
Sie lachte. „Das steht mir allerdings zu, und ich will Ihnen das Leben schon sauer machen, alter Franz. … Wo steckt denn Suse?“
„Die hat Stubenarrest, hat’s wieder einmal in der rechten Seite, das arme, alte Frauenzimmer. Die Hausmittel wollen nicht mehr recht verfangen. Doctor Bruck ist eben bei ihr.“
Die junge Dame reichte ihm die Hand und trat sofort in das Haus. Die schwere Bohlenthür fiel rasselnd, mit gellendem Geklingel hinter ihr zu, und der Lärm hallte von allen vier Wänden des weiten Flurs zurück. … Unter den Füßen der Eingetretenen schütterte der Boden sehr stark. Das Tosen und Stampfen des Mahlwerkes dröhnte dumpf durch die kleine, klaffende Thür im gewölbten Steinbogen, und der Duft des frisch zermalmten Kornes füllte kräftig durchdringend die Luft. In tiefen Zügen sog ihn das junge Mädchen ein – eine ganze Fluth von Erinnerungen überwältigte sie; sie wurde blaß vor innerer Bewegung und blieb mit gefalteten Händen einen Augenblick stehen. Ja, sie war um Alles gern in der alten Mühle „herumgekrochen“, wie die Präsidentin von ihr sagte, und der Papa hatte ihr oft genug den Mehlstaub von Zöpfen und Kleidern geklopft – er hatte sie lächelnd „sein weißes Müllermäuschen“ genannt. Der finstere Mann, ihr Großvater, der meist von dort oben, über das Treppengeländer hinweg, mürrisch, mit herrisch polternder Stimme seine Befehle herabgerufen, er hatte sie nie geliebt. Sie war fast immer vor seinem feindseligen Blicke in Susens blanke Küche oder zu Franz geflüchtet, und doch dachte sie mit bitterer Wehmuth seiner und wünschte, er möge wieder da herabsteigen mit den wuchtigen Tritten, unter denen die Treppenstufen geächzt; vielleicht fürchtete sie sich nicht mehr vor dem Gesichte, das, wie sie nun wußte, hauptsächlich Geldstolz und Protzenthum so abstoßend gemacht hatten; vielleicht wäre er jetzt auch milder und zugänglicher, weil sie der Großmutter ähnlich geworden.
Sie fand die Thür der Eckstube droben verschlossen, aber aus dem schmalen Gange, der das Hintergebäude mit dem Vorderhause verband, scholl Susens weinerlich klagende Stimme. Ach ja, dort war die Schlafkammer der alten Jungfer, das dunkle Stübchen mit den runden, in Blei gefaßten Fensterscheiben und der Aussicht auf das graue Schindeldach eines Holzschuppens und das niemals trocknende Pflaster des Seitenhöfchens. Sie schüttelte unwillig den Kopf und betrat den Gang.
Eine heiße, dumpfe, mit Rauch erfüllte Krankenluft schlug ihr beim Oeffnen der Thür entgegen, und dort in dem häßlichen Zwielicht, welches das erblindete, fahlgrüne Fensterglas verbreitete, stand ein Mann, mit dem Rücken ihr zugewandt. Er war sehr groß – er überragte sie offenbar um ein Bedeutendes – und breit von Schultern. Jedenfalls war er im Begriffe, zu gehen, denn er hielt Hut und Stock in der Hand… Ah, das war also Doctor Bruck, von welchem Schwager Moritz vor acht Monaten, bei Gelegenheit der Verlobungsanzeige geschrieben hatte, daß er ihre schöne Schwester Flora schon als Gymnasiast heimlich geliebt, selbstverständlich aber damals nicht gewagt habe, zu dem geistreichen, hochgefeierten Mädchen emporzusehen, und nun sei er doch am schwererkämpften und errungenen Ziel – das war er also. Sie hatte seitdem die Verlobung eigentlich wieder vergessen, und auch während ihrer Herreise war ihr nicht ein einziges Mal eingefallen, daß sie ja ein Glied der Familie mehr vorfinden würde.
Hatte das Seidenkleid der jungen Dame gerauscht – die angelehnte Thür hatte sich vollkommen geräuschlos in ihren Angeln gedreht – oder wehte ein reinerer Luftstrom mit ihr herein, die in der That so frühlingsfrisch auf die Schwelle trat, als gehe der Veilchenhauch, den man bereits in den letzten Märztagen zu spüren meint, von ihr aus – der Arzt drehte sich rasch um.
„Doctor Bruck? Ich bin Käthe Mangold,“ sagte sie, sich kurz und flüchtig vorstellend; dabei ging sie rasch an ihm vorüber und streckte Suse, die, in Bettkissen gepackt, zusammengekrümmt auf einem Lehnstuhle hockte, beide Hände entgegen.
Die Alte starrte sie mit blöden Augen an.
„Ich komme da herein, wie vom Himmel geschneit, nicht wahr, Suse? Aber gerade zur rechten Zeit, wie ich sehe,“ sagte sie und strich der Kranken die unordentlich um die Stirn hängenden greisen Haare unter die Nachthaube. „Wie kömmt es, daß ich Dich hier finde, in dieser elenden Hinterstube? Der Ofen raucht, und bei aller Gluth, die er ausströmt, sitzen die Moderspuren an den Wänden. Hat man Dir nicht gesagt, daß Du in der Eckstube wohnen und im Alkoven schlafen sollst?“
„Ja wohl, das hat der Herr Commerzienrath gesagt, aber es müßte doch da bei mir rappeln,“ sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Stirn, „wenn ich mich mutterseelenallein in die gute Eckstube setzen wollte, wie eine Gnädige, oder gar wie die selige Schloßmüllern selber.“
Die junge Dame verbiß ein schalkhaftes Lächeln. „Aber, Suse, hattest Du nicht auch beim Großpapa das Recht, Dich in der Wohnstube aufzuhalten? Im Fenster stand Dein Spinnrad – ich habe Dir’s oft genug in Unordnung gebracht – und auf der Kommode Dein Nähkästchen… Ist ein Zimmerwechsel zulässig, Herr Doctor?“ wandte sie sich ohne Weiteres an den Arzt.
„Dringend nöthig sogar, aber ich bin bisher auf einen entschiedenen Widerstand der Kranken gestoßen,“ versetzte er achselzuckend. Er hatte eine sonore und doch sanfte Stimme, die in diesem Augenblicke jenen moderirten Klang nicht verkennen ließ, den man dem Leiden gegenüber so leicht annimmt.
„Nun, dann wollen wir aber auch keinen Augenblick verlieren,“ sagte Käthe. Sie nahm das Pelzbarett ab, legte es auf Susens Bett und zog die Handschuhe aus.
„Nicht um die Welt bringen Sie mich ’nüber,“ protestirte die Haushälterin. „Fräulein Käthchen, thun Sie mir das nicht an!“ bat sie weinerlich. „Die Stube ist mein Augapfel; ich putze und blinke alle Tage d’rin auf, seit mir der Herr Commerzienrath gesagt hat, daß Sie kommen wollten. Erst vorgestern habe ich neue Vorhänge d’rin aufstecken lassen.“
„Nun gut, so bleibe! Ich hatte mir vorgenommen, wie in meiner Kindheit, Nachmittags den Kaffee in der Mühle zu trinken. Wenn Du aber so eigensinnig bist, dann komme ich gar nicht; darauf kannst Du Dich verlassen. Ich bleibe ohnehin nur vier Wochen in M. – und dann magst Du Deine ‚aufgeblinkte‘ Stube mit den geschonten Gardinen präsentiren, wem Du Lust hast.“
Das half. In Gesicht und Haltung des jungen Mädchens lag so viel strafender Ernst, so viel Entschiedenheit, daß man sofort sah, sie habe nicht zum ersten Mal mit einer widerspenstigen Kranken zu thun.
Suse zog aufseufzend den Stubenschlüssel unter ihrem Kopfkissen hervor und reichte ihn der jungen Dame hin, die nun auch rasch ihre Sammetjacke abstreifte. „Die Eckstube ist jedenfalls nicht geheizt,“ sagte sie und griff nach dem Holzkorbe, der neben dem Ofen stand.
„Nein, das können Sie unmöglich,“ sagte Doctor Bruck mit einem Blick auf ihren eleganten Anzug. Er legte rasch Hut und Stock auf den Tisch.
„Es wäre sehr beschämend für mich, wenn ich das nicht könnte,“ versetzte sie ernsthaft, aber mit tieferrötheten Wangen – sie hatte seinen zweifelhaften Blick wohl bemerkt.
Sie ging hinaus, und wenige Minuten darauf prasselte ein tüchtiges Feuer im Ofen, während Doctor Bruck die Fenster der Eckstube öffnete, um den lauen Märzodem erst noch einmal durch den mit dumpfer Scheuerluft erfüllten Raum strömen zu lassen.
Käthe trat ein. „Ich bitte, sich zu überzeugen, daß ich salonfähig geblieben bin, Herr Doctor,“ sagte sie, nicht ohne einen Anflug von Spott ihm ihre schlanken, rosigen Hände mit dem tadellos weißen Leinwandstreifen am Armgelenk hinstreckend.
Ein ausdrucksvolles Lächeln ging über sein ernstes Gesicht, aber er schwieg und war bemüht, das südliche Eckfenster wieder zu schließen, durch welches der Zugwind die Eingetretene so derb anblies, daß das braune Lockengeringel von ihrer Stirn wegwehte. Auch der Vorhang blähte sich auf und flog in die Stube herein; Käthe griff mit flinken Händen zu und suchte den steifen Faltenwurf wieder zu ordnen.
„Die gute Suse – wenn sie nur wüßte, welchen Streich sie mir spielt mit diesen Gardinen!“ sagte sie halb lächelnd, halb verdrießlich. „Ich muß das Zeug nun wohl oder übel hängen lassen, denn sie hat es sicher vom Vormund für mich erpreßt. Gemusterte Mullgardinen vor solchen Fensterbögen, in der schönsten mittelalterlichen Wohnstube, die sich denken läßt! … Ich hatte mir vorgenommen, sie wieder einzurichten, wie sie vor drei Jahrhunderten gewesen sein mag – mit runden, bleigefaßten Glasscheiben, mit Klappsitzen von Eichenholz, hier zu beiden Seiten der Fensternischen in die Wand eingefügt und mit Polstern belegt, und dort auf die massive Hausthür, von der die Stufen herabführen, sollten neue Metallbeschläge kommen. Die alten hat jedenfalls erst der Großpapa abreißen lassen; man sieht deutlich, wo sie gesessen haben. Und nun denken Sie sich die alte Suse mit ihrem Spinnrad in dem einen Fenster! … Ich hatte mir das wirklich sehr hübsch und anheimelnd ausgedacht – nun werde ich’s bei ihr nicht durchsetzen.“
„Aber ich begreife nicht – sind Sie denn nicht die Herrin?“
„O, die kann ich niemals herauskehren, wenn es dergleichen Wünsche gilt – ich kenne mich schon,“ versetzte sie fast kleinlaut. „Darin bin ich entsetzlich feig.“ Der Contrast zwischen diesem aufrichtigen Bekenntniß und der äußeren gebietenden Erscheinung der jungen Dame war so groß, daß es in der That eines scharfen Blickes in ihre rehbraunen Augen bedurfte, um sich zu überzeugen, daß sie vollkommen wahr spreche. Sie hatte ein nicht sehr großes, aber schöngeschnittenes klares Auge mit einem kühlen Blick; er harmonirte mit der unbefangenen Sicherheit ihres ganzen Wesens. Wie ruhig und praktisch traf sie die Anstalten zur Aufnahme der Kranken! Das Sopha wurde als Bett eingerichtet, der plumpe mit Leder bezogene Lehnstuhl des Schloßmüllers aus der Fensterecke tiefer in das Zimmer gerückt, damit kein Zuglüftchen die Patientin streife; sie holte einen kleinen Tisch aus dem Alkoven und die weißgescheuerte Fußbank unter dem hochbeinigen Kanapee hervor – das geschah so unbefangen und selbstverständlich, als sei sie nie von der Mühle fortgewesen. Sie war aber auch so vertieft in ihre augenblickliche Aufgabe, daß man meinen konnte, sie habe die Anwesenheit des Mannes dort im südlichen Eckfenster ganz vergessen. Nur als sie die obere Schublade der Kommode aufzog und ein weißes Tuch mit roth eingewirkter Kante herausnahm, um es über das Tischchen vor dem Lehnstuhle zu breiten, wandte sie das Gesicht nach ihm und sagte: „Es ist etwas Schönes um diese altbürgerliche Ordnung – Alles steht und liegt am altgewohntem Orte. So ist es gewesen, ehe ich geboren wurde, und während meiner sechsjährigen Abwesenheit sind die Einrichtungsgesetze unverrückt geblieben – man ist sofort wieder heimisch.“ Sie zeigte auf den Spiegel über der Kommode. „Da hinter dem Rahmen guckt die Ecke des Hauskalenders, in den der Großpapa seine Notizen schrieb, und darüber steckt noch die Ruthe mit dem verblichenen Bande, die schon der Schrecken meiner Mutter gewesen ist.“
„Auch der Ihrige?“
„Nein, mich kleines Ding beachtete der Großpapa nicht genug, um sich mit meiner Besserung zu befassen.“ Sie sagte das durchaus nicht bitter; eher mit einer Art lächelnder Resignation. Dabei wischte sie den leichten Staubanhauch, der sich während Suse’s Kranksein abgelagert hatte, von den Möbeln und schloß auch die anderen Fenster. „Hier auf dem Steinsims müssen nothwendig Blumen stehen; ihr Duft soll meine arme Suse erquicken. Ich werde Schwager Moritz um einige Hyacinthen- und Veilchentöpfe aus dem Wintergarten bitten –“
„Da werden Sie sich an die Frau Präsidentin Urach wenden müssen; sie hat einzig und allein über den Wintergarten zu verfügen; er gehört zu ihrer Wohnung.“
Das junge Mädchen sah ihn groß an. „So streng ist die Etiquette drüben? Zu Papas Lebzeiten war der Wintergarten Gemeingut der Familie.“ – Sie zuckte die Achseln. – „Damals freilich war die vornehme Schwiegermutter meines Vaters nur dann und wann Gast in der Villa.“ Ihre klangreiche Stimme verschärfte sich ein wenig bei diesen Worten, aber sie warf gleich darauf den Kopf in den Nacken, als könne sie damit eine augenblickliche unangenehme Empfindung abschütteln, und setzte heiter lächelnd hinzu: „Nun, dann um so besser, daß ich zuerst in die Mühle ging, um mich zu acclimatisiren!“
Er verließ die Fensternische und trat zu ihr. „Ob man Ihnen aber drüben nicht sehr verargen wird, daß Sie sich nicht sogleich in den Schutz der Familie begeben haben?“ fragte er mit ernstem Nachdrucke, aber auch mit jenem Antheile, der zart einen Rath, einen Wink zu geben versucht, ohne zudringlich zu werden.
„Dazu hat man doch wohl nicht das Recht,“ versetzte sie rasch und lebhaft, während der leuchtende Carmin auf ihren Wangen sich verdunkelte. Dieses ‚Drüben‘ ist für mich gleichbedeutend mit der Fremde, in der ich den Familienschutz, wie Sie ihn nennen – nämlich das Gefühl der Zusammengehörigkeit – nicht voraussetzen kann, auch nicht bei den Schwestern. Wir kennen uns gar nicht näher; nicht einmal das dürftige Band eines kleinen Briefwechsels existirt zwischen uns – ich habe nur mit Moritz correspondirt. Als Papa noch lebte, wurde Henriette bei ihrer Großmama erzogen. Wir sahen uns äußerst selten und auch dann nur unter der Aufsicht der Frau Präsidentin. Meine Schwester, die Commerzienrath Römer, wohnte in der Stadt und starb auch sehr frühe. Und Flora? Sie war sehr schön und sehr gescheidt; sie war eine hochgefeierte junge Dame und machte bereits die Honneurs in unserem Hause, als ich noch tief in den Kinderschuhen steckte. Flora muß großartig beanlagt gewesen sein, weil man sich stets so namenlos bedrückt und eingeschüchtert in ihrer Nähe fühlte. Ich habe nie gewagt, sie anzureden, oder auch nur ihre wunderschönen Hände zu berühren, und noch heute fühle ich, daß es sehr unbescheiden von mir sein würde, wollte ich den Umgangston zwischen ihr und mir beanspruchen, wie er sonst zwischen Schwestern üblich ist.“
Sie unterbrach sich und sah ihm erwartungsvoll in das Gesicht, aber sein weggewendeter Blick schweifte über die Gegend draußen. Er ermuthigte sie mit keiner Silbe – hatte er doch auch um das seltene Mädchen dienen müssen, wie Jakob um die Rahel. Möglicher Weise war er nicht einmal duldsam gegen die Schwesterliebe in dem Herzen, das sich ihm endlich zugeneigt. … Bei aller Milde und sanften Schlichtheit, die er wohl in Folge seines ärztlichen Berufes äußerlich angenommen, sah er doch aus, als könne er auch sehr ernstlich und entschieden auf seinem Rechte bestehen.
„Wie die Sachen stehen – die Villa ist ja nicht mehr mein Vaterhaus – kann ich dort nur als Gast, als Besuch gelten, wie jeder Andere auch,“ hob sie nach einer augenblicklichen Pause wieder an. „Hier in der Mühle stehe ich auf meinem eigenen Grund und Boden; da ist Heimathluft und Heimgefühl, und das alte Schieferdach droben und Franz und Suse werden mich und meine unmündigen achtzehn Jahre wohl ebenso treu beschirmen, wie es die Villa mit ihrer strengen Etiquette nur immer vermag.“ Ein muthwilliges Lächeln schwebte um ihren Mund. „Uebrigens wird man über diesen ‚Formfehler‘ rascher hinweggehen, als Sie denken, Herr Doctor – man kann es von ‚der Müllermaus‘ nicht besser erwarten.“
Der Schmeichelname, mit welchem der Papa sie einst genannt, konnte nun allerdings nicht mehr gelten: Huschen und Schlüpfen und unversehens in einem Verstecke verschwinden – dieses Gesammtbild von zarter Gliedergeschmeidigkeit und furchtsamer Seele paßte nicht zu dem Mädchen, das der Welt den fleckenlos weißen Schild der Stirn so ruhig zukehrte, das seine kraftvollen, plastisch ausgeprägten Glieder bei aller jugendfrischen Regsamkeit dennoch mit einer Art von stiller Würde beherrschte.
Allmählich kam eine behagliche Wärme vom Ofen her; Käthe zog ein Flacon aus der Tasche und goß einige Tropfen Eau de Cologne auf die heiße Eisenplatte; ein lieblicher, luftreinigender Duft verbreitete sich. „Suse wird ganz feierlich zu Muthe sein, wenn sie herüber kommt,“ sagte sie heiter und ließ ihre Augen noch einmal musternd durch die Stube gleiten; es war Alles in Ordnung; nur die Alkoventhür stand noch offen, und durch den breiten Spalt sah man gerade auf die bunten Nelkensträuße der Bettstelle, die drinnen in der Nähe des Fensters stand. Jetzt erst fiel der Blick des jungen Mädchens auf die plumpen wohlbekannten Blumengebilde, die einst das Entzücken ihrer Kinderseele gewesen waren – die ganze Rosenfrische wich plötzlich von ihren Wangen, selbst ihr rother Mund war blaß geworden.
„Dort ist mein Großpapa gestorben,“ flüsterte sie ergriffen.
Doctor Bruck schüttelte den Kopf und zeigte schweigend nach dem südlichen Eckfenster.
„Sie waren bei ihm?“ fragte sie hastig und trat ihm näher.
„Ja.“
„Er ist so plötzlich gestorben, und Moritz hat mir den Trauerfall in so wenig eingehender Weise angezeigt, daß ich nicht einmal weiß, was die Ursache seines Todes gewesen ist.“
Der Doctor stand so, daß sie nur sein Profil sehen konnte; er war sehr bärtig um Kinn und Lippen; dennoch konnte sie bemerken, wie sich diese Lippen fest aneinander legten, als werde es ihnen schwer, zu antworten. Nach einem augenblicklichen Schweigen wandte er ihr langsam und voll das Gesicht zu und sah sie ernst an. „Man wird Ihnen sagen, er sei an meiner Ungeschicklichkeit im Operiren gestorben,“ sagte er mit einer Stimme, der die innere Bewegung fast allen Klang nahm.
Das junge Mädchen fuhr vor Schrecken und Bestürzung zurück; ihr Auge streifte noch einmal den Mund, der gesprochen hatte, dann suchte es den Boden.
„Einzig und allein um Ihrer eigenen Beruhigung willen möchte ich Ihnen die Versicherung geben, daß das durchaus unwahr ist,“ fuhr er mit sanftem Ernste fort; „aber wie kann ich von Ihnen verlangen, daß Sie mir glauben sollen? … Wir sehen uns heute zum ersten Male und wissen nichts von einander.“
Sie hätte sich mit einer einzigen oberflächlichen Phrase aus dieser peinvollen Lage helfen können, aber das fiel ihr nicht ein. Er hatte Recht – wie konnte sie wissen, ob er schuldlos, und die anklagende öffentliche Meinung im Unrechte sei? Freilich trug seine ganze Erscheinung den Stempel einfacher Geradheit und Wahrhaftigkeit. Sie fühlte sogar heraus, daß es eigentlich seine Art gar nicht sein könne, ungerechten Verdächtigungen gegenüber auch nur ein Wort zu verlieren, ja, daß er sich in diesem Augenblicke mit seiner Versicherung gleichsam herablasse. Dennoch war sie nicht fähig, etwas auszusprechen, für das sie keine innere Rechtfertigung fand.
Er hatte wohl auch keine Antwort erwartet; denn er wandte sich ab, aber mit so viel Würde und stolzer Gelassenheit, daß in Käthe ein Gefühl plötzlicher Beschämung aufstieg und ihre Wangen heiß röthete. „Darf ich die Kranke nun herüber bringen?“ fragte sie mit unsicherer Stimme.
Er bejahte, und sie verließ mit raschen Schritten das Zimmer. Drüben in der Hinterstube wischte sie sich die hervorquellenden Thränen von den Wimpern und ließ sich den erschütternden Vorgang von der Haushälterin erzählen.
„Die Geschichte hat dem Doctor in der Stadt schrecklichen Schaden gebracht,“ sagte Suse schließlich. „Erst gab’s keinen Besseren und er hatte alle Hände voll zu thun, und nun sagen sie auf einmal, er verstände seine Sache nicht. So sind eben die Menschen, Fräulein Käthchen. Und er ist nicht schuld an dem Unglücke. Es war Alles gut; ich hab’s ja mit meinen eigenen Augen gesehen. Aber da sollte sich der Schloßmüller ganz ruhig verhalten – ja, der und ruhig! Ich weiß am besten, wie er beim kleinsten Aerger gleich kirschbraun wurde. Da darf nur der Franz draußen zu laut gesprochen haben, oder der Wagen ist zu schnell in den Hof gefahren – da hat schon die Wuth in ihm gekocht. So war er. Ich hab’ genug mit ihm ausgestanden, und zum Dank dafür hat er mich auch mit keinem Pfennig bedacht“ – sie lachte scharf und zornig auf – „wenn Sie nicht für mich sorgten, da könnte ich jetzt betteln gehen.“
Käthe hob unwillig warnend und Schweigen gebietend den Zeigefinger.
„Nun meinetwegen auch – ich will still sein,“ grollte die Alte und ließ es still geschehen, daß das junge Mädchen ihren vertrockneten Körper wie ein hülfloses Kind in Decken und Kleider einmummte. „Es thut mir nur leid, daß so ein guter Herr, wie der Doctor, deswegen nun angeschwärzt wird und sein Brod verliert, und seine arme Tante, für die er sorgt und arbeitet, dauert mich auch. Sie hat ihn von ihrem Bischen Vermögen studiren lassen, die alte Frau Diaconus. Sie wohnt bei ihm; er ist immer ihr ganzer Stolz gewesen – und nun muß sie das mit erleben.“ –
Käthe machte der Mittheilung, die sehr in’s Breite zu gehen drohte, ein Ende, indem sie die Kranke vorsichtig aus dem Lehnstuhle hob. Sie war der früheren Heimath zu sehr entfremdet und wurzelte mit ihrem Denken und Empfinden viel zu sehr in ihrem Dresdener Heim, um sich für die Privatverhältnisse dessen so rasch zu erwärmen, der Flora’s Bräutigam war. Allerdings bedauerte sie den Arzt in ihm, dem das Mißlingen einer Cur so plötzlich Existenz und Stellung gefährdete, allein das Weh um den Großvater, der jedenfalls schwer gelitten hatte, überwog bei Weitem auch diesen Antheil.
Halb und halb getragen von den starken Armen des jungen Mädchens, hinkte Suse über den Vorsaal. Die Thür der Eckstube war offen, und am Fuße der herniederführenden Stufen stand Doctor Bruck mit ausgestreckten Händen, um die Leidende in Empfang zu nehmen und ihr herabzuhelfen. … Es war eine charakteristische Gruppe, die der Thürrahmen einen Augenblick umschloß. Käthe hatte sich den gesunden Arm der Kranken um den Nacken gelegt und hielt die knochige braune Hand mit ihren rosigen Fingern auf der linken Achsel fest, während ihr rechter Arm die Hüften Susens umschlang. Ausdrucksvoller konnte die opferwillige Barmherzigkeit nicht verkörpert sein, als in diesem Mädchen, das, seitlich über die gekrümmte Hülflose gebeugt, ihr strahlend junges Gesicht an den grauen Scheitel, die runzelvolle Wange des alten Frauenkopfes legte.
Nach wenigen Minuten saß Suse bequem und weich gebettet in der luftigen Stube. Sie musterte ängstlich die famosen Vorhänge, entsetzte sich über das Bett auf dem „stolzen Kanapee“ und bemühte sich vergeblich, ihre Freude darüber zu verbergen, daß sie nun wieder jeden Sack zählen konnte, der drunten im Hofe auf- und abgeladen wurde.
Die junge Dame sah nach ihrer kleinen goldenen Uhr. „Es wird Zeit, mich in der Villa vorzustellen; sonst gerathe ich möglicher Weise mitten in den stolzen Theezirkel der Frau Präsidentin,“ sagte sie mit der anmuthigen Geste eines leichten Schauders und zog die Handschuhe aus der Tasche. „In einer Stunde komme ich wieder und koche Dir eine Suppe, Suse –“
„Mit den feinen Händen?“
Mit den feinen Händen, versteht sich. Glaubst Du denn, ich lege sie in Dresden in den Schoos? … Hast doch meine Lukas gekannt, Suse – sie ist heute wie damals; da heißt es, Hand und Fuß rühren und die Zeit ausnutzen. Du solltest sie nur einmal sehen! Sie ist eine Frau Doctorin geworden, die ihres Gleichen sucht.“ Damit verließ sie das Zimmer, um sich in Susens Stübchen zum Fortgehen zu rüsten.
Auf der Spinnerei schlug es Fünf, als Käthe in Doctor Bruck’s Begleitung wieder in den Hof trat. Es war kälter geworden, und die uralte halbverwischte Sonnenuhr am Giebel, die heute, im goldenen Frühlingslicht neu auflebend, mit scharfem Finger die Stunden bezeichnet hatte, sah wieder trübselig verlassen und verwittert aus.
Das helle Geklingel der Thürschelle lockte Franz wieder heraus auf die kleine Freitreppe, und auch seine Frau folgte ihm neugierig mit langem Halse, um die heimgekehrte junge Herrin zu begucken. Käthe bat sie, während ihrer Abwesenheit fleißig nach der Kranken zu sehen, was auch heilig und theuer versprochen wurde. In diesem Augenblick rauschte es in den Lüften, und gleich darauf stürzte eine schöne Taube herab und blieb hülflos aus dem Steinpflaster liegen.
„Schwerenoth, nehmen denn die Bubenstreiche kein Ende?“ fluchte Franz, indem er die Treppe herabsprang und das Thierchen aufhob – es war flügellahm geschossen. „Da guck’ her, Frau!“ sagte er zu der Müllerin. „’s ist keine von unseren – ich dachte mir’s gleich. ’s ist ein gottheilloses Volk da drüben. Die schießen der armen Dame ihre Prachttauben nur so vor der Nase weg. Na, ich sollte nur der Herr Commerzienrath sein!“ Er schüttelte die Faust.
„Wer ist denn die arme Dame, Franz? Und wer schießt nach ihren Tauben?“ fragte Käthe mit großen Augen.
„Er meint Henriette,“ sagte Doctor Bruck.
„Und drüben aus der Spinnerei wird geschossen,“ platzte Franz ingrimmig heraus.
„Wie, die Fabrikarbeiter meines Schwagers?“
„Ja, ja, die sein Brod essen, Fräulein. ’s ist eine Sünde und Schande. Da haben Sie die Bescheerung, Herr Doctor! Da sehen Sie ja nun, was das für eine Brut ist. Sie wollen bei denen Alles mit Liebe und Güte durchsetzen – ja, da werden Sie weit kommen. Was haben denn solche brave Leute, wie Sie, von der Gutheit? Lange Nasen macht Ihnen die Gesellschaft. … Die Faust auf’s Auge! ’runter müssen sie. Das ist meine Meinung – sonst ist kein Aushaltens.“
„Strikt man hier auch? fragte Käthe den Doctor, dem ein so schönes, ernstes Lächeln um die Lippen schwebte, daß sie das Auge nicht von ihm wenden konnte.
„Nein, die Sache liegt anders,“ sagte er, den Kopf schüttelnd. Seine ruhige Stimme klang imponirend neben Franzens heftigem Gepolter. „Mehrere der ersten Arbeiter im Besitz einiger Capitalien, hatten Moritz gebeten, ihnen beim Zerschlagen des Rittergutes zu einem Stück Land zu verhelfen, das, an sich öde und von geringem Ackerwerth, ziemlich nahe der Fabrik unbenutzt liegt. Sie wollten Häuser bauen mit Miethwohnungen auch für die ärmeren Arbeiterfamilien, die den theuren Miethzins in der Stadt fast nicht mehr erschwingen können. Der Commerzienrath hat ihnen auch Versprechungen gemacht; er konnte das um so eher, als der begehrte Streifen Landes noch zu seinem Park gehört –“
„Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich Sie unterbreche!“ fiel Franz ein; „gerade deshalb durfte er’s nicht. Ich hab’ mir’s gleich gedacht, daß das die Frau Präsidentin nicht zugiebt. Wer läßt sich denn auch eine solche Nachbarschaft gefallen, wenn er nicht muß? Und richtig – die Damen drüben sind furchtbar böse geworden, und haben’s ein- für allemal nicht gelitten, daß die Bauplätze abgegeben worden sind, ‚es sollten neue Anpflanzungen gemacht werden‘, hat’s geheißen, und damit war die Sache abgemacht. Nun sind sie wüthend in der Fabrik und thun Schabernak und rächen sich, wo sie können.“
„Freilich eine erbärmliche Rache! – Du armes Ding!“ sagte Käthe und nahm die Taube aus Franzens Hand.
„Das Beklagenswerthe dabei ist, daß diese Rohheit Einzelner auf einen ganzen Stand strafend zurückwirkt. Man wird der Präsidentin keinen Vorwurf mehr daraus machen dürfen, daß sie solche Elemente nicht in ihrer Nähe dulden will,“ sprach Doctor Bruck mit verfinstertem Gesicht.
„Das sehe ich nicht ein. Es giebt Boshafte und Rachsüchtige in allen Ständen,“ versetzte das junge Mädchen rasch und lebhaft. „Ich verkehre oft in den unteren Classen; mein Pflegevater hat viele arme Patienten, und wo außer seinen Medicamenten auch kräftige Suppen und sonstige Nachhülfe in der Pflege noththun, da unterstützt ihn meine liebe Doctorin nach Möglichkeit, und ich gehe selbstverständlich auch mit. Man stößt auf viel Undank und Rohheit, das ist wahr, oft aber auch auf brave und edle Gesinnungen, Noth und Elend aber sind meist so herzerschütternd –“
„Ist nicht so schlimm, wie Sie denken, Fräulein – das Volk verstellt sich,“ unterbrach sie Franz mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Käthe maß ihn einen Augenblick schweigend von unten herauf mit einem sprechenden Blick. „Sieh, sieh, was für ein vornehmer Herr der Franz geworden ist!“ sagte sie mit unverkennbarer Ironie. „Von wem sprechen Sie denn? Sind Sie nicht selbst aus dem Volke? Und was waren Sie denn früher in der Schloßmühle? Ein Arbeiter, wie die Leute dort in der Spinnerei auch, ein Arbeiter, der schweigend manches Unrecht leiden mußte, wie ich sehr genau weiß.“
Dem Müller schoß das Blut in das bestäubte Gesicht. Er stand in sprachloser Verblüfftheit vor der jungen Dame, die ihm so kurz und bündig, so schlagend seinen Standpunkt bezeichnete. „Na, Fräulein, nichts für ungut! Es war nicht so böse gemeint,“ sagte er endlich und streckte ihr in unbeholfener Verlegenheit seine breite Hand hin.
„In Wirklichkeit sind Sie auch nicht so schlimm, aber Sie haben Glück gehabt und kehren nun den Schloßmühlenpächter heraus, der Geld in der Tasche hat,“ entgegnete sie und legte einen Augenblick ihre schlanke Hand in die seine, aber die kleine Falte des Unwillens auf ihrer Stirn glättete sich nicht so rasch wieder. Sie zog ein weißes Tuch aus der Tasche, schlug es um die Taube und knüpfte die vier Enden zusammen. „Ich werde Henrietten den kleinen Invaliden mitbringen,“ sagte sie, das Tuch wie ein Körbchen vorsichtig in die Hand nehmend – es sah aus, wie ein armseliges Reisebündelchen.
Der Doctor öffnete eine kleine Seitenthür in der Hofmauer, welche direct in den Park führte, und ließ die junge Dame voranschreiten. Draußen blieb sie wie eingewurzelt stehen. „Ich finde mich nicht zurecht,“ rief sie fast bestürzt und wandte sich wie hülflos nach ihm um. „Sieht es doch fast aus, als ob Riesenhände den Park durcheinander geschüttelt hätten. Was thun die Leute dort?“ Sie zeigte weit hinüber nach einer Erdvertiefung von gewaltigem Umfang, aus der die Köpfe zahlloser Arbeiter auftauchten.
„Sie graben einen Teich; die Frau Präsidentin liebt die Schwäne auf breitem Wasserspiegel.“
„Und was baut man da drüben, nach Süden hin?“
„Ein Palmenhaus.“
Sie sah nachdenklich vor sich hin. „Moritz muß sehr reich sein.“
„Man sagt es.“ Das klang so kühl und objectiv, als vermeide er absichtlich, seinen Antworten auch nur den leisesten Mitklang eigenen Urtheils zu geben. … Er war ein auffallender Mann, dieser Doctor Bruck; das sah sie jetzt so recht, wie er im rothfluthenden Abendlichte neben ihr stand. Es lag etwas von militärischer Strenge und Straffheit in seiner Haltung, während sein schönes, luftgebräuntes Gesicht mit dem weichgelockten Vollbarte nur die Züge sanftgemilderten Ernstes zeigte. Von Gedrücktsein oder Niedergeschlagenheit, die ein Mißgeschick wie das über ihn verhängte meist zur Folge hat, war in der ganzen Erscheinung nicht eine Spur zu finden. „Ich werde Sie führen,“ sagte er, als sie unschlüssig ihre Augen über das total veränderte Terrain schweifen ließ. Er reichte ihr seinen Arm, und sie legte unbedenklich ihre Hand darauf. So schritt Schwester Flora neben ihm. … wunderlich! Erst jetzt fiel ihr der Gedanke, daß sie in wenigen Minuten der ihr geistig so weit überlegenen Schwester gegenübertreten sollte, unbeschreiblich bang und schwer auf das Herz.
Sie blieb stehen und sagte nach einem tiefen Athemholen befangen lächelnd: „O ich Hasenfuß! Ich glaube gar, ich fürchte mich. – Ob ich wohl Flora gleich beim Eintreten begegnen werde?“
Sie sah, wie ihm das Blut jäh und dunkel in das Gesicht stieg. „So viel ich weiß, ist sie ausgefahren,“ antwortete er mit bedeckter Stimme, und gleich darauf setzte er, jeder neuen Frage vorbeugend, hinzu: „Sie werden das ganze Haus heute noch in einer gewissen Aufregung finden – der Fürst hat Moritz vor wenigen Tagen den Adel verliehen.“
Und das sagte er jetzt erst. „Wofür denn?“ stieß sie überrascht heraus.“
„Nun, er hat bedeutende Verdienste um die Hebung der Industrie im Lande,“ versetzte er so rasch und ernstlich, als gelte es, ein ungünstiges Urtheil abzuwenden. Dabei ist Moritz ein Mensch von großer Herzensgüte – er thut sehr viel für die Armen.“
Käthe schüttelte den Kopf. „Sein Glück macht mir Angst.“
„Sein Glück?“ wiederholte er betonend. „Es kommt darauf an, wie er selbst diese Wechselfälle ansieht.“
„O, ganz gewiß als etwas Beseligendes,“ antwortete sie entschieden. „Ich weiß aus seinen Briefen, daß ihm die Erwerbung weltlicher Güter Hauptlebenszweck ist. Seine letzte Zuschrift z. B. war eine geradezu verzückte, weil – mein Erbe sich über alles Erwarten reich herausgestellt hat.“
Er ging schweigend neben ihr her; dann fragte er mit einem Seitenblicke: „Und Sie – bleiben denn Sie kalt diesem Reichthume gegenüber?“
Käthe bog den Kopf mit graziösem Muthwillen vor und sah ihm unter das Gesicht. „Sie erwarten wahrscheinlich eine sehr gesetzte Antwort von mir großem Mädchen, so ein recht ernstes Ja, aber das kann ich mit dem besten Willen nicht herausbringen. Ich finde es nämlich über die Maßen hübsch, reich zu sein.“
Er lachte leise in sich hinein und fragte nicht weiter. Sie gingen rasch vorwärts und erreichten bald die Lindenallee. Sie war verschont geblieben; man hatte die lange Bahn bereits mit frischem Kiese bestreut. „Ach, dort die liebe, altmodische Bekannte steht auch noch,“ rief das junge Mädchen, nach einer fernen Holzbrücke zeigend, die ihren schmucklosen, morschen Bogen über den Fluß schlug.
„Sie führt zu dem Grundstücke am jenseitigen Ufer –“
„Ja, nach dem Gras- und Obstgarten. Ein hübsches, altes Haus steht drin. Es hat als Wirthschaftsgebäude zu dem ehemaligen Schlosse gehört, ist ganz von Wein umsponnen und hat breite Steinstufen vor der Thür. … Köstlich anheimelnd und still ist’s dort. Suse hatte ihren Bleichplatz im Garten; im Frühlinge war er ganz blau von Veilchen; dort habe ich stets die ersten gesucht.“
„Das dürfen Sie auch jetzt noch – die kleine Besitzung ist seit heute Morgen mein Eigenthum.“ Er warf einen warmen Blick hinüber.
Käthe dankte ihm, sah aber zerstreut und nachdenklich auf die Kiesel nieder, über die sie hinschritten. … Sollte ihre schöne Schwester als junge Frau in dem Hause wohnen? Flora mit ihren stolzen Geberden, ihren majestätisch nachfließenden Schleppen, Flora Mangold, die Anspruchsvolle, der kein Salon hoch und weit, keine Ausschmückung reich genug sein konnte, in dem einsamen Hause mit den großen, grünen Kachelöfen und den ausgetretenen Dielen? Wie mußte sie sich geändert haben – um seinetwillen!
Ein fernes Geräusch schreckte sie auf. Sie sah die Villa bereits so nahe vor sich, daß sie die Prachtmuster der Spitzengardinen erkennen konnte. Hinter den Scheiben rührte und regte sich nichts, aber von der Promenade her, die sich vor der jenseitigen, der Hauptfaçade des eleganten Hauses hinzog, kam das Getöse einer heranrollenden Equipage immer näher. Es waren zwei prächtige Pferde, die gleich darauf um die nördliche Hausecke jagten. Geschirr und Wagen funkelten in Silberschmuck und im Glanze der Neuheit. Eine Dame hielt die Zügel in fester Hand; ihre Gestalt, um die sich dunkelfarbener, pelzverbrämter Sammet schmiegte, saß so leicht und sylphenhaft dort, als schwebe sie über den Polstern. Von ihrer Stirn zurück wehten weiße Federn, und um das classische Gesicht, den unbedeckten Hals, der sich glänzend weiß aus der dunklen Pelzeinfassung hob, flatterten krause, blonde Locken.
„Flora! Ach, wie wunderschön ist meine Schwester!“ rief Käthe enthusiastisch und streckte unwillkürlich die Rechte nach der Vorüberfliegenden aus, aber weder Flora, noch der Commerzienrath, der mit verschränkten Armen neben ihr saß, hörten den Zuruf. Die Equipage bog um die entgegengesetzte Ecke, dann hörte man sie drüben vor dem Portale halten.
Ein kleiner Kiesel tanzte vorbei – die Stockspitze des Doctors hatte ihn wie im Spiele fortgeschleudert. Jetzt erst fiel es Käthe auf, daß er nicht mehr an ihrer Seite ging; sie war freilich unter dem hinreißenden Eindrucke vorwärts geeilt. Mit einer lebhaften Geberde wandte sie sich um. Er schritt unbeirrt, noch genau in dem Tempo, wie vorher auch, aber in seiner Haltung erschien er noch stolzer emporgereckt, noch strenger reservirt. Er mußte sie eben beobachtet haben, denn er wandte rasch und fast verlegen seine Augen weg. Mit Mühe verbiß sie ein satirisches Lächeln. Sie wußte, daß sie ihn bei einem vergleichenden Gedanken ertappt hatte, der ungefähr lauten mochte: „Gott, was für eine vierschrötige Jungfrau neben meiner Elfe!“
„Ich bin erstaunt über den sicheren Muth, mit welchem Flora fährt,“ sagte sie, als er wieder neben ihr ging.
„Weit mehr zu bewundern ist die Todesverachtung ihres Begleiters. Es war eine Probefahrt, und der Commerzienrath hat die jungen Pferde gestern erst gekauft.“ Er war bitter gereizt. Sie hörte das plötzlich in seiner Stimme und schwieg ganz erschrocken.
Es fiel kein Wort mehr von beiden Seiten. Sie erreichten bald das Haus und traten durch eine Seitenthür ein, während drüben die Equipage vom Portale wegfuhr. Ein Bedienter berichtete ihnen, daß die Damen und „der gnädige Herr“ im Wintergarten seien, also in den Appartements der Frau Präsidentin.
Käthe hatte ihre ganze heitere Ruhe und Sicherheit wiedergefunden. Sie nahm eine Visitenkarte aus der Brieftasche und reichte sie dem Manne hin. „Für den Herrn Commerzienrath,“ sagte sie.
„So steif?“ fragte Doctor Bruck lächelnd, während der Lakai geräuschlos über den dicken persischen Corridor-Teppich hinschlüpfte und hinter einer Thür verschwand.
„So steif!“ bestätigte sie ernsthaft. „Da ist die weiteste Distance die beste. Ein biederes Hereinpoltern würde mir jedenfalls sehr schlecht bekommen. Ich fürchte nun selbst, ‚den gnädigen Herrn‘ mit meiner unceremoniellen Ankunft sehr in Verlegenheit zu bringen.“
Sie hatte sich nicht geirrt. Der Commerzienrath kam im förmlichen Sturmschritte aus den Gemächern, mit dem bestürzten Ausrufe: „Mein Gott, Käthe!“ stolperte er über die Schwelle.
Die Richtung seines Blickes war geradezu lächerlich – er suchte den Kopf der wie vom Himmel fallenden Mündel offenbar um zwei Fuß zu tief – und nun trat sie so hochgewachsen und festen Schrittes auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem fast frauenhaft stolzen Kopfneigen:
„Lieber Moritz, sei nicht böse, daß ich der Abrede zuwider handle! Aber um mich abholen zu lassen, dazu bin ich nun doch schon ein wenig zu groß.“
Er stand wie versteinert vor ihr. „Recht hast Du, Käthe. Die Zeit, wo ich Dich an der Hand führte, ist vorüber,“ sagte er langsam, gleichsam in dem Anblicke ihres mit Rosengluth überhauchten Gesichts verloren. „Nun, sei mir tausendmal willkommen!“ Jetzt erst reichte er auch Bruck begrüßend die Hand. „Ein Zusammenfinden im Corridor – da muß ich wohl gleich hier vorstellen –“
„Bemühe Dich nicht, Moritz! Das habe ich bereits selber besorgt,“ unterbrach ihn das junge Mädchen. „Der Herr Doctor machte gerade Krankenbesuch bei Suse, als ich in die Mühle kam.“
Das Gesicht des Commerzienraths verlängerte sich. „Die Mühle war Dein Absteigequartier?“ fragte er betreten. „Aber liebes Kind, die Großmama Urach hat mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit erklärt, sich Deiner anzunehmen; mithin verstand es sich von selbst, daß Du Dich ihr sofort vorstelltest; statt dessen gehst Du zu Deiner alten Flamme, der Jungfer Suse! Ich bitte Dich, sage das d’rin lieber nicht!“ setzte er hastig flüsternd hinzu.
„Verlangst Du das ernstlich von mir?“ Die fest klingende Mädchenstimme stach seltsam ab von seinem scheuen Flüstertone. „Ich kann doch nicht leugnen, wenn die Sache zur Sprache kommen sollte… Auf das Verheimlichen verstehe ich mich wirklich nicht, Moritz“ – sie verstummte für einen Moment, erschrocken über die Feuergluth, die ihm in das Gesicht schoß, dann aber sagte sie resolut: „Habe ich einen Fehler begangen, so will ich mich auch dazu bekennen; es wird ja nicht gleich meinen Kopf kosten.“
„Wenn Du einen gutgemeinten Wink so tragisch nehmen willst, dann habe ich allerdings nichts mehr zu sagen,“ entgegnete er verlegen und ärgerlich zugleich. „Den Kopf wird es freilich nicht kosten, aber Deine Stellung in meinem Hause erschwerst Du Dir. Uebrigens ganz wie Du willst! Sieh Du selbst, wie Du Dich mit diesem herben ‚Geradedurch‘ in unseren hochfeinen Gesellschaftskreisen zurecht findest!“
Schon bei den letzten Worten hatte sein Ton mehr scherzhaft als pikirt geklungen. Er ließ sich nun einmal nicht gern die behagliche Stimmung verderben. Er bot ihr galant den Arm und führte sie nach dem ehemaligen Speisezimmer, das neben dem Wintergarten lag und dessen Thür er aufstieß.
Das war aber nicht mehr der traute Eßsalon mit seinen altmodischen, behäbigen, rothen Saffianmöbeln. Die Wand, die ihn einst vom Wintergarten getrennt, war verschwunden; an ihrer Stelle trugen schlanke, oben in Rundbogen auslaufende Säulen den Plafond, den der köstlichste Farbenschmuck in maurischem Stil bedeckte. Drunten lief ein niedriges, spitzenklares, vergoldetes Bronzegitter von einer Säule zur anderen – es schied den steingetäfelten Fußboden des maurischen Zimmers von dem weißen Wegsand, dem grünen Flaum kleiner Rasenflecke im Wintergarten. Hinter diesem Gitter grünte und blühte es wonnig; da dufteten Maiblumen und köstliche Bouquets von Parmaveilchen zu Füßen der mächtigen Drachenbäume, des dunklen Lorbeer und der prachtvollen Decoration von silbergestreiften, metallisch glänzenden Blattpflanzen. Dieses herrliche Pflanzenbild wurde umrahmt und gleichsam in einzelne Felder getheilt durch eine Art von Blumenornamentik. Um die Säulen rankte sich die Clematis und behing die schlanken Schäfte bis hinauf in das feingebogene Rund mit weißen und lilablauen Blüthen.
Zwischen den zwei Säulen, die einen Mittelweg in das Zimmer freiließen, stand Flora. Sie war noch in der Straßentoilette und augenscheinlich im Begriff, das Zimmer zu verlassen. Hoch hinter ihrem federgeschmückten Haupt wölbte der Springbrunnen des Wintergartens seine glitzernde Kuppel. Mit der behandschuhten Rechten hob die schöne Dame das schwere kastanienbraune Sammetkleid, dem das schräg hereinfallende Abendlicht schwachgoldige Reflexe entlockte, ein wenig über den Fuß, die unbedeckte Linke aber legte sich anmuthig stützend an die Säule, weiß und zart wie die danebenhängende Clematisblüthe.
Beim Eintreten des hochgewachsenen Mädchens öffnete sie zuerst ihre graublauen Augen weit vor Erstaunen, aber auch ebenso rasch kniff sie die Lider zu einem blinzelnd prüfenden Blick zusammen, wobei ein sarkastisches Lächeln um ihre Lippen huschte.
„Nun rathe, Flora, wen ich da bringe!“ rief der Commerzienrath.
„Da brauche ich mir nicht lange den Kopf zu zerbrechen – das ist Käthe, die sich allein auf den Weg gemacht hat,“ versetzte sie in ihrer eigenthümlich nachlässigen und doch so überaus bestimmten Art und Weise. „Wer die alte Sommer gekannt hat, der weiß, daß das stämmige Mädchen da mit dem weiß und rothen Apfelgesicht ihre Enkelin sein muß, Augen und Haar aber hat sie frappant wie Clotilde, Deine verstorbene Frau, Moritz.“
Mit einer geschmeidigen Bewegung löste sie sich gleichsam aus dem Blumenrahmen, trat auf die Schwester zu, und den Kopf in den Nacken zurückbiegend, bot sie ihr die Lippen zum Kuß. Ja, das war noch immer die unvergleichlich schöne Flora, aber das langjährige Herrscherthum über die Herzen hatte die weibliche Grazie von ihrer Ausdrucksweise genommen. Ebenso nachlässig wie bei dem kühlen Begrüßungskuß nach sechsjähriger Trennung, war ihr Wesen dem mit eingetretenen Doctor gegenüber. „Grüß Gott, Bruck!“ sagte sie und reichte ihm die Rechte, aber nicht wie eine Braut, sondern wie ein College dem anderen. Er erfaßte die Hand mit leichtem Druck und ließ es ruhig geschehen, daß sie sofort wieder zurückgezogen wurde.
Diese äußere Zurückhaltung zwischen dem Brautpaar schien sich von selbst zu verstehen. Flora wandte unbefangen den Kopf nach dem Wintergarten zurück. „Großmama,“ rief sie mit lächelndem Spott in ihren geistreichen Zügen, „unser Goldfisch macht Dir und Deinen Bekannten die Freude, sich vier Wochen früher anstaunen zu lassen.“
Die Präsidentin war bereits bei Flora’s ersten Worten hinter einer Camelliengruppe hervorgetreten. Ohne daß sie es vielleicht selbst wußte, hatte sie die Angekommene mit jener Spannung gemustert, welche die meisten Menschen einem sogenannten Glückskind gegenüber an den Tag legen. Flora’s boshaft übermüthiger Zuruf machte diesen Ausdruck sofort verschwinden. Die alte Dame zog unwillig die Brauen zusammen, und ein feines Roth der Verlegenheit flog über ihr bleiches Gesicht hin. „Ich erinnere mich nicht, ein so auffälliges Interesse gerade für jene Eigenschaft Deiner Schwester gezeigt zu haben,“ sagte sie kühl und mit einem streng verweisenden Blick. „Wenn ich mich über Käthe’s Kommen freue und sie freundlich willkommen heiße, so geschieht das, weil sie meines lieben verstorbenen Mangold Kind und Eure Schwester ist.“
Sie ging mit gehobenen Händen auf Käthe zu, als beabsichtige sie eine Umarmung; allein diese verbeugte sich so tief und ceremoniell, als stehe sie zum ersten Mal in ihrem Leben vor der stolzen Schwiegermutter ihres Vaters. Ein scharfer Blick hätte in dieser einen Geberde leicht das scheue Zurückweichen vor jeglicher Berührung erkannt, die Präsidentin aber sah darin offenbar nur das Anzeichen eines tiefen Respectes. Sie zog die Hände zurück und hauchte einen Kuß auf die Stirn des jungen Mädchens. „Bist Du wirklich allein gekommen?“ fragte sie, ihre Augen suchten unruhig forschend die Thür, als müsse noch irgend eine nicht gerade willkommene Reisebegleitung eintreten.
„Ganz allein. Ich wollte auch einmal selbstständig meine Flügel probiren, und das hat meine Doctorin gern erlaubt.“ Sie strich noch einmal wie unbewußt mit den schlanken Fingern über die Stelle, welche die alte Dame mit ihren kalten Lippen berührt hatte.
„Ei, das glaube ich Dir gern; das ist ja ganz im Sinne der alten Lukas,“ sagte die Präsidentin mit einem ganz leisen, ironischen Lächeln. „Sie war ja auch stets sehr selbstständig … Dein guter Papa hatte sie ein ganz klein wenig verzogen, mein Kind. Sie that, was ihr gefiel; selbstverständlich immer nur das Rechte –“
„Und das Verständige; aus dem Grunde mag ihr wohl auch der Papa seine jüngste wilde Hummel anvertraut haben,“ setzte Käthe mit jener heiteren Unbefangenheit hinzu, die ihr ganzes Wesen charakterisirte. Aber gerade dieser Freimuth, diese Leichtigkeit und Sicherheit schienen unangenehm zu berühren.
Die Präsidentin zog die Schultern leicht empor. „Dein Papa hat sicher Dein Bestes gewollt, liebe Käthe, und meine Sache ist es nie gewesen, irgend eine seiner Maßregeln zu bemäkeln. Aber er war eine vornehme Natur und hielt streng auf das Decorum – ob es ihn nun doch nicht einigermaßen in Verlegenheit gebracht hätte, wenn ihm sein heiteres Töchterchen plötzlich so sans gêne, so frank und frei in das Haus geflattert wäre?“
„Wer weiß?“ versetzte Käthe. „Der Papa würde doch wissen, weß Geistes Kind diese Tochter ist“ – ein muthwilliger Strahl blitzte aus ihren braunen Augen – „Müllerblut, das schlägt sich tapfer und wohlgemuth durch die Welt, Frau Präsidentin.“
Der Commerzienrath räusperte sich und strich eifrig seinen schönen Lippenbart, während die Präsidentin so betreten aussah, als habe unvermuthet ein allzukräftiger Luftzug ihr vornehmes Gesicht angeblasen, Flora aber brach in ein helles Gelächter aus. „Kind Gottes, Du bist kostbar naiv,“ rief sie, die Hände zusammenschlagend. „Ja, ja: ‚Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern,‘“ recitirte sie. „Mit einer solchen Aeußerung müßte unser Jüngstes nächstens in Moritzens großer Soirée debütiren, Großmama; da würden sie die Ohren spitzen!“ Sie blinzelte die alte Dame schadenfroh an, die jedoch ihr Gleichgewicht schon wieder gefunden hatte.
„Ich vertraue dem angeborenen Tact Deiner Schwester, mein Kind,“ sagte sie, ihre Hand nebenbei nun auch dem Doctor zur Begrüßung hinstreckend. Dazu lächelte sie mit jenem feinen Zusammenziehen der Lippen, das nur einen Schein der Zahnspitzen sehen ließ und von welchem man nie wußte, ob es süß oder sauer war.
„Tact, Tact – der wird viel helfen,“ wiederholte Flora, den Kopf spöttisch wiegend. „Die Müllerreminiscenz ist ihr genau ebenso angeboren. Die gute Lukas hat es eben nicht verstanden, ihr ein wenig Weltklugheit einzupauken – da fehlt’s. Uebrigens bin ich wirklich froh, daß Du allein gekommen bist, Käthe; ich hoffe, es wird sich so besser mit Dir leben lassen, als wenn Du am Rock Deiner alten hausbackenen Gouvernante hängst.“
Käthe hatte das Barett abgenommen; die schwüle Blumenluft trieb ihr das Blut heiß in die Wangen. Jetzt, mit der dicken, goldbraunen Haarflechte über der Stirn, sah sie noch größer aus.
„Hausbacken? Meine Doctorin?“ rief sie lebhaft. „Eine poesievollere Frau läßt sich nicht denken.“
„Ei, was Du sagst! Sie schwärmt wohl den Mond an, schreibt empfindsame Verse ab, etc. Oder dichtet sie gar selbst? Wie?“
Das junge Mädchen richtete die glänzenden Augen mit klugem Blicke auf das Gesicht der Spötterin. „Verse nicht, aber die Manuscripte ihres Mannes schreibt sie ab, weil die Setzer der medicinischen Zeitschrift seine wunderlichen Krakelfüße absolut nicht entziffern können,“ sagte sie nach einem kurzen Moment schweigender Prüfung. „Sie schreibt auch keine eigenen Verse oder Novellen – dazu fehlt ihr die Zeit, und doch dichtet sie. … Ach, Du lächelst noch genau so wie früher, Flora, so tief und so scharf in den Mundwinkeln, aber das Spottlächeln scheucht mich nicht mehr in die Ecken; ich habe eine streitbare Ader und behaupte weiter: Sie dichtet doch in der Art und Weise, wie sie das Leben nimmt und ihm stets eine Seite abzugewinnen weiß, von der ein verklärendes Licht ausgeht, wie sie ihr einfaches Heim ausschmückt – aus jedem Eckchen guckt ein schöner Gedanke – und wie sie es unsäglich gemüthlich und doch ästhetisch anregend für ihren braven Mann und mich alten Kindskopf und die wenigen auserwählten Freunde des Hauses zu erhalten versteht.“
In diesem Augenblicke flog ein ganzer Regen von frischen Veilchen gegen die Brust des jungen Mädchens und rieselte auf den Fußboden nieder,
„Bravo, Käthe!“ rief Henriette. Sie stand im Wintergarten, dicht am Gitter, und preßte die bleichen Hände auf ihre heftig athmende Brust. „Ich möchte Dir gleich um den Hals fliegen, aber – sieh mich doch an! – müßte das nicht zum Todtlachen sein? Du, so kerngesund an Leib und Seele, und ich –“ ihre Stimme versagte.
Käthe warf das Barett, das sie noch in der Linken hielt, von sich und flog zu ihr. Sie umschlang zärtlich die schwache Gestalt, aber die Thränen des Erbarmens und die Betroffenheit darüber, daß das Gesicht der Schwester „so entsetzlich abgemagert“, wurden weislich unterdrückt.
Flora biß sich auf die Lippen. „Das Jüngste“ war nicht nur imposant an Leibesgestalt geworden, es hatte auch in den hellen Augen und auf den Lippen den seltenen Freimuth innerer Unabhängigkeit, der manchmal so unbequem werden kann. Ihr kam plötzlich die dunkle Ahnung, als trete mit dem kraftvollen Mädchen dort eine schattenwerfende Gestalt in ihr Leben. … Sie nahm hastig den Hut ab und fuhr mit beiden Händen auflockernd durch die zerdrückten Scheitellöckchen. „Hast Du das poetische Reisebündelchen da wirklich von Dresden mitgebracht?“ fragte sie trocken, mit einem blinzelnden Seitenblicke nach dem zusammengeknüpften weißen Tuche am Arme der Angekommenen.
Das junge Mädchen löste die verschlungenen Enden und reichte Henriette die Taube hin. „Ein kleiner Patient, der Dir gehört,“ sagte sie. „Das arme Ding ist flügellahm geschossen. Es fiel im Schloßmühlenhofe auf das Pflaster.
Da war bereits die Einkehr in der Mühle verrathen, allein die Präsidentin schien die letzten Worte ganz zu überhören; sie zeigte tief empört auf das verwundete Thierchen und sagte, nach dem Commerzienrathe zurückgewendet, mit strafendem Vorwurfe: „Das ist nun die vierte, Moritz.“
„Und noch dazu mein Liebling, mein Silberköpfchen!“ rief Henriette und wischte sich eine Thräne des Schmerzes und der Erbitterung von den Wimpern.
Der Commerzienrath war ganz blaß vor Schreck und Aerger. „Liebe Großmama, ich bitte Sie dringend, machen Sie mir daraus keinen Vorwurf mehr!“ rief er fast heftig. „Ich thue, was möglich ist, um diesen bodenlosen Nichtswürdigkeiten auf die Spur zu kommen und sie zu verhindern, aber der Thäter versteckt sich hinter der Phalanx von zweihundert erbitterten Menschen“ – er zuckte die Achseln – „da läßt sich gar nichts thun. Ich habe auch deshalb Henriette wiederholt gebeten, ihre Tauben einzuschließen, bis die Aufregung vorüber ist.“
„Also wir werden in der That die Nachgebenden sein müssen? Es wird immer besser,“ sagte die alte Dame sehr anzüglich; sie zog und rückte an der Schleierwolke, die ihr um Gesicht und Hals lag, als ob ihr die innere Aufwallung unerträglich warm mache. „Sagst Du Dir nicht selbst, Moritz, daß eine solche Gleichgültigkeit die Verwegenheit geradezu herausfordert? Man wird das geduldete Taubenschießen nachgerade langweilig finden und sich edleres Wild aussuchen.“
„Warum denn so zart verblümt, Großmama? Die Partei selbst nennt das Ding ziemlich unverfroren beim Namen,“ warf Flora geflissentlich leicht und nachlässig hin. „Meine Jungfer hat heute Morgen beim Oeffnen der Läden wieder einmal einen Drohbrief auf meinem Fenstersims gefunden; sie sah sich gezwungen, ihn mit der Feuerzange anzufassen und mir zur Einsicht hinzuhalten – so unappetitlich war der Wisch; er liegt in ihrer Stube, für den Fall, daß Du ihn zu Deinen Acten legen willst, Moritz. Neues enthält er selbstverständlich nicht – immer dieselben Phrasen! Wissen möchte ich aber doch, weshalb diese Menschen gerade mich so ganz besonders mit ihrem Classenhasse beehren.“
Käthe konnte den Gedanken nicht unterdrücken, daß es sich hier wohl weniger um den Haß gegen die bevorzugte Classe, als gegen die Persönlichkeit selbst handle. Sie begriff, daß diese herrische Erscheinung in fürstlich reichen Gewändern, mit den verächtlichen Linien um den Mund und der männlich schroffen Redeweise von Fernstehenden leicht für alle vom Hause ausgehenden Maßregeln verantwortlich gemacht wurde.
„Die gehässigen Angriffe sind doppelt lächerlich durch den Umstand, daß gerade ich mich für die sociale Frage lebhaft interessire,“ fuhr Flora unter kurzem Auflachen fort; „ich habe schon manchen zu Gunsten der Arbeiterclasse wirkenden Artikel in die Welt hinausgeschickt.“
„Mit dem Schreiben allein macht man das heute nicht mehr,“ sagte Doctor Bruck vom Fenster herüber. „Die besten Federn haben sich stumpf daran geschrieben und die Wogen der Bewegung gehen immer höher und schwemmen die Theorien vom Papier.“
Aller Augen richteten sich auf ihn. „Ei, und was soll man thun?“ fragte Flora spitz.
„Sich die Leute und ihre Forderungen selbst ansehen. Was nützt es, wenn Du aus dem Heer von Denkschriften und Brochüren über dieses Problem ‚das Für und Wider‘ an Deinem Schreibtische mühsam zusammensuchst –“
„O, bitte“ – in ihren Augen entzündete sich plötzlich ein grelles Feuer.
„Und Todtes zu dem vielen Todten wirfst?“ fuhr er unbeirrt fort. „Deine Artikel werden diesen Leuten schwerlich zu Gesicht kommen, und wenn auch – was helfen sie ihnen? Worte bauen ihnen keine Heimstätte. Gerade den Frauen in den Familien der Arbeitgeber fällt ein bedeutender Theil der Lösung zu, ihrem milden Einfluß auf das härtere Männergemüth, ihrer sanften hülfreichen Vermittelung, ihrer Klugheit. Aber die Wenigsten geben sich die Mühe, darüber nachzudenken oder, was ich in erster Linie von ihnen verlange, ihr Herz zu befragen. Sie nehmen die Mittel zur Bestreitung ihrer heutzutage fast schrankenlosen Bedürfnisse aus den Händen der Männer, ohne zu erwägen, daß vor ihrer Thür alle Elemente zu einem furchtbaren Conflict stetig emporwachsen.“
Die Präsidentin strich mit ihren schlanken Händen langsam über die atlasspiegelnde Fläche ihres Ueberkleides, und ohne auf den letzten Ausspruch einzugehen, sagte sie gelassen: „Ich gebe sehr gern; nur bin ich nicht gewöhnt, meine Almosen direct in die Hand der Heischenden zu legen, und so mag es kommen, daß man nicht weiß, wie viel und wie oft ich gebe. Dieses Mißkennen läßt mich übrigens sehr ruhig, selbst wenn es mich verantwortlich machen möchte für die Rohheiten, denen wir augenblicklich ausgesetzt sind.“
„Die Rohheiten sind abscheulich. Niemand kann sie strenger verurtheilen als ich,“ versetzte Doctor Bruck ebenso kalt; „aber –“
„Nun, ‚aber‘? Sie behaupten schließlich doch, wir Frauen im Hause des Arbeitgebers hätten sie provocirt?“
„Ja, Frau Präsidentin, Sie haben den Arbeitgeber abgehalten, seinen Leuten helfend entgegenzukommen, die Forderung der Arbeiter aber war keine unbillige, keine jener häßlichen Ausschreitungen, welche gegenwärtig die an sich vollkommen gerechte Sache der Partei verdunkeln und anrüchig machen – sie wollten auch kein Almosen, sondern mit Hülfe des Fabrikherrn sich selbst emporarbeiten zu einer beglückteren Existenz.“
Die alte Dame klopfte ihn leicht auf die Schulter und sagte freundlich, aber doch in jenem bestimmten, kurz abfallenden Tone, mit welchem sie das Gespräch abzubrechen wünschte: „Sie sind ein Idealist, Herr Doctor.“
„Nur ein Menschenfreund,“ versetzte er flüchtig lächelnd und griff nach seinem Hute.
Seine Braut hatte ihm längst den Rücken gewendet und war in das andere Fenster getreten. Kein Frauengesicht war mehr geeignet, den Ausdruck der Feindseligkeit anzunehmen, als dieses Profil, das die Lippen so fest über den Zähnen zu schließen vermochte. … Der Mann dort hatte mit dürren Worten gesagt, sie suche an ihrem Schreibtische mühsam fremde Ideen zusammen – unerhört, bei ihrer Begabung! Sie hatte allerdings nie ihre feinen Sohlen mit dem Arbeitsstaub in des Schwagers Spinnerei befleckt; sie wußte auch in der That nicht, wie es bei den Leuten aussah, die das dringende Verlangen nach Reformen unter eine Fahne rief und sie zu einer Macht anwachsen ließ, die sich wie ein Keil zwischen die gesellschaftliche Ordnung schob und sie zu zersprengen drohte. Aber wozu denn auch? Mußte man denn Alles in Wirklichkeit gesehen und erlebt haben, was man schilderte? Lächerlich! wozu waren denn Geist und Phantasie da? … Bis heute hatte der Doctor ihre literarischen Bestrebungen mit keiner Silbe berührt – „aus Scheu und Respect“ hatte sie gedacht, und nun griff er dieses Wirken plötzlich so plump, so verständnißlos an – er! Sie rang schwer mit sich. „Ich begreife nicht, Großmama, wie Du Dich zu der Bezeichnung ‚Idealist‘ versteigen konntest,“ rief sie mit funkelnden Augen herüber. „Ich dächte, Bruck hätte vorhin das große Thema trocken genug beleuchtet. Nach seinem Programme sollen wir schleunigst Comfort und Eleganz abstreifen und in Sack und Asche gehen; wir sollen uns beileibe nicht geistig beschäftigen, sondern Volkssuppen kochen. Daß wir die Stille und Abgeschlossenheit unsers Parkes vertheidigen, ist Todsünde – es versteht sich von selbst, daß wir die hoffnungsvolle Schuljugend direct unter unseren Fenstern turnen und lärmen lassen etc., und wenn wir nicht brav sind und schön folgen, da stellt er uns ein Gespenst vor die Thür.“ – Sie lachte kurz und hart auf. „Uebrigens verrechnet sich solch ein Menschenfreund mit seinen Sympathien ganz gewaltig. Sollte es wirklich zu dem geweissagten Zusammenstoß kommen, dann wird das Gespenst mit ihm ebenso kurzen Proceß machen, wie mit uns auch.“
„Ich habe nicht viel zu verlieren,“ sagte der Doctor mit einem halben Lächeln.
Flora kam raschen Schrittes herüber. Ihre Löckchen flogen, und die schwere Sammetschleppe fegte den Marmorfußboden.
„O, seit heute Morgen darfst Du das nicht mehr sagen, Bruck,“ entgegnete sie beißend. „Bist ja Hausbesitzer geworden, wie mir Moritz mittheilte. Alles Ernstes – hast Du wirklich Deine Drohung von gestern wahr gemacht und die entsetzliche Baracke drüben am Flusse erstanden?“
„Meine Drohung?“
„Nun, anders kann ich’s doch nicht nennen, wenn Du mir ein solches Schreckbild für die Zukunft hinstellst? Du hast, wie Du es gestern selbst bezeichnet, Deine Ersparnisse in einem Grundstücke angelegt, das für mich das non plus ultra der Einöde, der Aermlichkeit und der abstoßenden Häßlichkeit ist. Zur Augenweide allein hast Du doch das Kleinod unmöglich an Dich gebracht, und deshalb frage ich Dich ernstlich: ‚Wer soll darin wohnen?‘“
„Du brauchst es mit keinem Fuße zu betreten.“
„Das werde ich auch niemals – darauf kannst Du Dich verlassen. Eher –“ es war ein schwer zu enträthselnder Blick, mit welchem der Doctor unterbrechend die Hand hob, aber dieser verdunkelte Blick hatte etwas so gewaltig Zwingendes, daß der rothe Mund des schönen Mädchens unwillkürlich verstummte.
„Ich habe das Haus für meine Tante bestimmt und werde nur ein Zimmer für mich reserviren, das mir für meine freien Stunden einen ungestörten Arbeitswinkel im Grünen bietet,“ sagte er gleich darauf weit ruhiger, als man nach seinem vorherigen Gesichtsausdrucke[WS 4] hätte erwarten können.
„Ah, viel Vergnügen dazu! Also ein specielles Sommerasyl! – Und im Winter, Bruck?“
„Im Winter werde ich mich mit dem grüntapezirten Zimmer begnügen müssen, das Du in unserer zukünftigen Wohnung selbst für mich bestimmt hast.“
„Aufrichtig gestanden – ich mag die Wohnung nicht mehr. Gerade um dieses Eckhaus tost der Straßenlärm unaufhörlich und wird mich stören, wenn ich arbeiten will.“
„Nun, dann werde ich dem Hauswirthe Abstandsgeld zahlen und eine andere suchen,“ entgegnete er mit unerschütterlichem Gleichmuth.
Flora wandte sich achselzuckend von ihm weg, und zwar so, daß Käthe ihr voll in’s Gesicht sehen konnte. Fast schien es, als stampfe die schöne Braut den Boden. Sie warf den Kopf in den Nacken und sah mit einem Augenaufschlage nach der Zimmerdecke, als ob sie verzweifelt ausrufen wollte: „Gott im Himmel, ist ihm denn gar nicht beizukommen?“
In diesem Augenblicke schellte die Präsidentin so stark, daß das Geklingel scharf und anhaltend vom Ende des langen Corridors hereindrang. Die alte Dame sah streng und beleidigt aus – in ihrem Beisein durfte es zu solchen tactlosen Auseinandersetzungen nicht kommen. „Du magst nicht gerade vortheilhaft über die Gastfreundschaft und den guten Ton im Hause Deines Schwagers denken, Käthe,“ sagte sie zu dem jungen Mädchen. „Man hat Dir weder die Reisejacke abgenommen, noch einen Stuhl zum Niedersitzen angeboten; statt dessen mußt Du, gleichviel ob Du Lust hast, oder nicht, unnütze Erörterungen anhören und auf dem kalten Steinfußboden stehen, während dort die dicken, warmen Teppiche liegen.“ Sie zeigte nach den zwei entgegengesetzten[WS 5] Zimmerecken, welche Gruppen von Polstermöbeln und in der That kostbare, schwellende Smyrnateppiche ausfüllten, dann gab sie dem eintretenden Bedienten Befehle für die Hausmamsell hinsichtlich der schleunigen Instandsetzung einiger Gastzimmer.
Damit war die athemlose, herzbeklemmende Spannung gelöst, welche sich bei dem zugespitzten Wortwechsel der Zuhörenden bemächtigt hatte. Der Commerzienrath beeilte sich, der Angekommenen das Jaquet abzunehmen, und Henriette verließ mit einer tiefen Fiebergluth auf den eingefallenen Wangen den Wintergarten, um ihre Taube fortzutragen.
„Wollen Sie nicht zum Thee bleiben, Herr Doctor?“ fragte die Präsidentin den Arzt, der sich abschiednehmend vor ihr verbeugte. Er entschuldigte sich mit einigen Krankenbesuchen, die er noch zu machen habe – Gründe, bei welchen es sarkastisch um Flora’s Lippen zuckte, aber das schien er nicht zu bemerken; er reichte ihr die Hand, ebenso dem Commerzienrathe, vor Käthe aber neigte er sich ritterlich ehrerbietig, durchaus nicht wie vor einer jungen, neuen Schwägerin; für ihn war und blieb sie vorderhand das Mädchen aus der Fremde, und die Anderen schienen diese Auffassung ganz in der Ordnung zu finden … Mit ihm zugleich verließ Henriette das Zimmer.
„Hör’ mal, Flora, für künftig verbitte ich mir dergleichen unerquickliche Scenen, wie wir sie eben mitansehen mußten,“ sagte die Präsidentin stirnrunzelnd mit sehr verschärfter Stimme, nachdem sich die Thür hinter den Hinausgehenden geschlossen hatte. „Du hast Dir die vollkommene Freiheit gewahrt, auf Dein Ziel loszusteuern, wie es Dir paßt und gefällt – gut – von meiner Seite ist Dir bisher nicht das Geringste in den Weg gelegt worden, aber ich protestire energisch, sobald Du Lust zeigst, die widerwärtige Sache vor meinen Augen auszufechten. Wie gesagt, ich verbitte mir das ernstlich! Soll ich Dir wiederholen –“
„Liebe Großmama,“ unterbrach sie die junge Dame persiflirend und verächtlich, „wiederhole nicht! … Du willst doch nur sagen: ‚In diesem Hause kann gemordet werden; es kann brennen – gleichviel, wenn nur die Frau Präsidentin Urach leuchtend wie ein Phönix aus der Asche hervorgeht‘ …. Pardon, Großmama! Ich will es in meinem ganzen Leben nicht wieder thun. Das Haus ist ja groß genug; man kann auch außer Deinem Gesichtskreise auf die Mensur gehen. Ach, wenn es mir nur nicht so entsetzlich schwer gemacht würde! Ich fürchte, eines schönen Tages verliere ich doch die Geduld –“
„Flora!“ rief der Commerzienrath mit einer Art von bittender Mahnung.
„Schon gut, mein Herr von Römer! Ich habe selbstverständlich jetzt auch Rücksicht auf Deine neue Standeswürde zu nehmen. Gott, was Alles lastet auf meinen armen Schultern! Und womit verdiene ich die Heimsuchung, daß sich die Herzen wie die Kletten an mich hängen?“
Sie griff nach ihrem Hute und nahm die Sammetschleppe auf, um zu gehen – vor Käthe hielt sie den Schritt an.
„Siehst Du, mein lieber Schatz,“ sagte sie und legte der jungen Schwester den Zeigefinger unter das Kinn, „so geht es dem armen Frauenzimmer, wenn es sich für einen kurzen Moment mit der Sentimentalität einläßt und zu lieben sich einbildet. Es hat plötzlich den Fuß im Tellereisen und sieht wehklagend ein, daß die abgedroschene gute Lehre: ‚Drum prüfe, wer sich ewig bindet!‘ eine abscheuliche neue Wahrheit enthält – denke an Deine Schwester und nimm Dich in Acht, Kind!“
Damit ging sie hinaus, und Käthe sah ihr mit großoffenen Augen nach. Was für eine seltsame, unbräutliche Braut war doch die schöne Schwester! –
Nahe der westlichen Grenze des Parkes lagen die Ueberreste des ehemaligen alten Herrenhauses Baumgarten. Von dem ganzen einst wohlbefestigten und mit Wassergräben umgebenen Ritterschlosse stand nur noch ein Zimmerthurm von bedeutenden Dimensionen, an den sich der geschwärzte Mauerrest eines Seitenflügels festklammerte. Vor sechszig Jahren war der Bau niedergerissen worden. Der damalige Besitzer, meist im Auslande lebend, hatte das Herrenhaus im modernen Styl, als Villa Baumgarten, an das entgegengesetzte Ende des Grundstückes, an die Promenade, verlegt, um bei seinem zeitweiligen Aufenthalt in der Heimath „unter Menschen zu sein“, und die schönbehauenen Granitblöcke des alten Schlosses beim Neubau verwenden lassen. Den Thurm mit seinem Ruinenanhängsel hatte man als Schmuck der Parkanlagen respectirt. Er erhob sich auf einem grünberasten künstlichen Hügel; um seine Basis drängte sich verwildertes Buschwerk; auf dem anstoßenden Mauerstück mit seinem mächtigen Fensterbogen hatten sich Stachelbeersträucher und Heckenrosen eingenistet, und der wilde Hopfen kletterte ihnen nach und streute grüne Ornamente über das dunkle Gestein.
Diese Ruine inmitten eines Wasserringes hatte jedenfalls ihren Zweck als Decoration erfüllt, aber nach dem damaligen Besitzer war eine praktische nutzenheischende Generation gekommen – sie hatte das Wasser aus dem Graben abgeleitet und in den vortrefflichen Schlammboden Gemüse gepflanzt. Das war nach dem Ausspruche des Schloßmüllers das einzige Vernünftige gewesen, das er bei seinem Ankauf im Parke vorgefunden, und als solches hatte er auch das einträgliche Stückchen Boden sofort zur eigenen Benutzung reclamirt. Käthe war als Kind sehr gern in dem kleinen Thale, wie sie den Graben nannte, umhergewandert. Das himmelschreiende Attentat auf die Romantik und den historischen Nimbus des ehemaligen Wasserschlosses war ihr selbstverständlich damals nicht zum Bewußtsein gekommen; sie war mit Suse stundenlang pflückend durch die Wildniß der Stangenbohnen und jungen Erbsen geschlüpft, ahnungslos, daß bei einem plötzlichen Durchbruche vom Flusse her die Fluthen hereinströmen und sie und Suse und die ganze grüne Herrlichkeit verschlingen könnten.
Heute nun, am fünften Tage nach ihrer Ankunft, betrat sie zum ersten Mal wieder diese entlegene Parkpartie und stand wie geblendet. Noch hingen die Hopfenranken blätterlos wie ein fahles Netz um die Mauern, und der Hügelrasen, winterdürr und zerwühlt, zeigte noch keine grüne Halmspitze, aber die Aprilsonne lag breit und glänzend auf dem ruinengekrönten Hügel und hob ihn malerisch von dem Tannenwalde, der im Hintergrunde sich über eine lange Bergwand hindehnte. Nicht eine Spur von frischem Mörtel zeigte die aufbessernde Menschenhand an den Mauern; kein neuer Stein war eingefügt worden, aber es schien auch keiner zu fehlen; nur die mächtigen Fensterhöhlen des Thurmes, vor denen früher vermorschte Holzläden gelegen, gähnten weit offen, und es glitzerte so seltsam aus dem Steinrahmen, als webe ein abgesperrter Sonnenstrahl drin im tiefen Dunkel ein geheimnißvolles Goldgespinnst. Und neues liebliches Leben regte sich um den verfallenen Stammsitz Derer von Baumgarten; über der Mauerkrone des Thurmes kreisten in graziösem Fluge weiße und bunte Tauben, und aus dem Dickicht, unter der uralten Nußbaumgruppe hervor, die den Thurm nach Süden hin flankirte, kamen lautlos zwei Rehe und wandelten langsam über den Rasenhang. Das kleine Thal aber war verschwunden. Ein breiter funkelnder Wassergürtel umfluthete wieder, wie vor Zeiten, den Hügel, Alles, was drunten gegrünt und geblüht und emporgestrebt, nivellirend, als habe die regsame Menschenkraft nie seinen stillen Grund usurpirt gehabt.
Eine Brücke, in Ketten hängend, schwang sich über den Graben, und drüben, vor ihren schmalen Ausgang quer hingestreckt, lag eine riesige Bulldogge; den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, beobachtete sie mit wachsamem Auge das jenseitige Ufer.
„Da siehst Du nun Moritzens Tusculum, Käthe,“ sagte Henriette, die an Käthe’s Arm hing. Einst Burgverließ mit den üblichen Marterwerkzeugen und Todesseufzern, vor noch vier Monaten unbestrittener Wohnsitz verschiedener Eulen und Fledermäuse und meiner Tauben, und jetzt Salon, Schlafgemach und sogar Schatzkammer des Herrn Commerzienrath von Römer. … Gelt, schwarz genug sieht das Ding noch aus, und man meint, der nächste Sturmwind müsse das Mauerstück über den Haufen blasen, aber das Alles ist niet- und nagelfest, und gerade dort unter den überhängenden Steinen haust Moritzens Diener – der Mensch wohnt beneidenswerth.“
Flora war auch mitgekommen. „Wem’s gefällt!“ sagte sie trocken und achselzuckend. „Uebrigens eine merkwürdig originelle Idee für einen Krämerkopf – meinst Du nicht, Käthe?“ Sie schritt an den Schwestern vorbei über die Brücke. Ein Stoß ihres schönen Fußes scheuchte den Hund aus dem Wege, dann stieg sie den Rasenhang hinauf. Schüchtern flohen die Rehe vor der seidenrauschenden Erscheinung; die Tauben flatterten geängstigt von den unteren Fenstersimsen, und der Hund knurrte widerwillig und ging der herrischen Dame um einige Schritte langsam nach. … Wie sie droben stand, die schlanken Hände auf das Schloß der eisenbeschlagenen Thurmpforte gelegt und den Kopf mit dem metallisch funkelnden Blondhaar über die Schulter zurückwendend, im hellgrauen, silberflüssig schimmernden Seidenkleid mit Puffärmeln und seitwärts aufgenommener Schleppe, da war sie das leibhaftige Sagenbild der schönen Kaisertochter im Kyffhäuser.
Unwillkürlich glitt Käthe’s Blick von ihr weg auf Henriette, die sich dicht an ihre Seite schmiegte, und das Herz that ihr weh. Die hinfällige Gestalt mit ihren eckigen Linien in dem knappanliegenden Ueberkleid von glänzenden Farben balancirte förmlich auf übermäßig hohen Absätzen. Sie athmete so kurz und hastig und sah so grellbunt, so kokett und dadurch fast lächerlich aus. Aber sie hatte in den letzten zwei Tagen an häufig wiederkehrenden Erstickungsanfällen gelitten, und sie wollte doch nicht krank sein – die Welt sollte nun einmal nicht wissen, daß sie leide. Sie konnte mitleidigen Blicken oder theilnehmenden Bemerkungen gegenüber so zornig und beißend werden. Und doch hatte sie schwerer als sonst gelitten; denn Doctor Bruck, der sie behandelte und ihr stets Linderung zu verschaffen wußte, war verreist, und zwar wenige Stunden nach seinem neulichen Weggange aus der Villa; er sei von einem Freunde telegraphisch nach L.....g berufen worden und werde mehrere Tage ausbleiben, hatte er seiner Braut in einem kurzen Billet mitgetheilt. Der ärztliche Beistand des Medicinalrath von Bär aber war von der Kranken energisch zurückgewiesen worden – „lieber sterben!“ hatte sie, mit ihrer Erstickungsangst kämpfend, geflüstert. Käthe hatte die Schwester fast allein gepflegt und hütete sie seitdem mit zärtlicher Sorgfalt. Jetzt legte sie sanft ihren Arm um die gebrechliche Gestalt und führte sie über die Brücke, nach der Ruine.
Wie oft war sie als Kind den Rasenabhang hinabgelaufen und durch das Gestrüpp gekrochen! Wie oft hatte sie durch das weite Schlüsselloch der Thurmpforte gelugt! In den Kellern des Thurmes sollte noch Pulver aus dem dreißigjährigen Kriege liegen, und an den Wänden herum hänge „lauter grausiges Zeug“, hatten die Dienstleute gesagt. Aber es war immer rabenschwarze Finsterniß drin gewesen, und eine dicke, schwere Luft hatte das lauschende Kindergesicht erschreckend angehaucht; hatten nun gar ein Paar Eulenflügel sich von droben geregt, dann war sie, wie von Furien gejagt, den Hügel hinabgesprungen und hatte sich mit beiden Händen, von Grauen geschüttelt, an Suse’s Schürze angeklammert. … Jetzt stand sie drin, am Fuße einer teppichbelegten schmalen Wendeltreppe, und bestaunte mit großen Augen die Wunder, die das Geld des reichen Kaufmanns bewirkt. Draußen scheinbar zusammensinkendes Trümmerwerk, und innen ein vollkommenes Ritterheimwesen. Der einst mit den Augen nicht zu durchdringende Raum war ein weites Gewölbe, das mit seinen starken Steinbögen die ganze Last der oberen Stockwerke trug. An den Wänden hing noch „das grausige Zeug“, Helme und Waffen, aber es war geschmackvoll geordnet, und die blanken Flächen sprühten den Sonnenschein zurück, der blendend und ungehindert durch die Fenster fiel. Man hatte, um dem Thurme von außen den Charakter der Ruine zu belassen, selbst das Fensterkreuz vermieden und ungebrochene Spiegelscheiben in die dicken Mauern eingesetzt – daher das wunderliche Glitzern tief drinnen. … Der Bau war ein sogenannter Bergfriet, in Zeit der höchsten Gefahr ein Zufluchtsort für die Burgbewohner gewesen. Als solcher hatte er damals in seinen oberen Gemächern jedenfalls nur die allerprimitivste Einrichtung enthalten, jetzt aber durfte er sich an Prachtentfaltung getrost mit den ehemaligen, nun längst von der Erde verschwundenen Banketsälen im Haupthause messen.
Als die beiden Schwestern in das erste Zimmer des oberen Stockwerkes traten, da lehnte Flora bereits, eine glimmende Cigarette in der Rechten, graziös nachlässig zwischen den purpurfarbenen Kissen eines Ruhebettes und sah zu, wie der Commerzienrath in der silbernen Maschine den Nachmittagskaffee braute. Er hatte die drei Schwägerinnen dazu eingeladen.
„Nun, Käthe?“ rief er dem jungen Mädchen entgegen und deutete mit dem ausgestreckten Arme bezeichnend rundum über das Neugeschaffene.
Sie stand auf der Schwelle, einen schwarzen Schleier lose über die goldbraunen Flechten geworfen, hellen, lachenden Auges und so hoch und kraftvoll, als entstamme sie selbst dem alten Reckengeschlechte Derer von Baumgarten.
„Hochromantisch, Moritz! Die Täuschung ist vollkommen,“ antwortete sie heiter. „Der da unten“ – sie zeigte durch das nächste Fenster hinab auf den flimmernden Wassergürtel – „könnte Einen durch seine ernsthafte Vertheidigungsmiene erschrecken, wüßte man nicht, daß ein Commerzienrath des neunzehnten Jahrhunderts dahinter sitzt.
Er zog die feinen Augenbrauen finster zusammen, und sein Blick streifte unsicher ihr Gesicht – sie bemerkte es nicht. „Hübsch und löblich ist es ganz gewiß nicht gewesen, daß sich Kohl und Rüben früher auf seinem Grunde breit machen durften,“ fuhr sie fort; „das weiß ich nun, wenn mich auch das kleine Thal in der Erinnerung anheimelt. Aber ist es nicht ein interessantes, wunderliches Spiel des Wechsels, daß der Kaufmann die Schranken erneut, die das alte Rittergeschlecht zuletzt selbst mißachtet und als überflüssig entfernt hat?“
„Vergiß nicht, meine liebe Käthe, daß ich nunmehr der Ritterschaft selbst angehöre!“ versetzte er gereizt und in sehr pikirtem Ton. „Traurig genug, daß sich die alten Geschlechter dem Zeitgeist anbequemt und ehrwürdige Institutionen achtlos aufgegeben – nicht ein Iota durften sie fallen lassen. Es ist ein unverantwortlicher Raub an uns, die wir die Nachfolgenden sind.“
„Schwachkopf! Er ist katholischer als der Papst,“ murmelte Henriette ergrimmt; sie schritt tiefer in’s Zimmer, während Käthe mechanisch die Thür hinter sich fester zuzog, ohne den halb erschrockenen, halb nachdenklichen Blick von dem sichtlich erregten Manne am Credenztisch wegzuwenden. Sie hatte ihn als Kind gern gehabt, wie alle Menschen, die mit ihm verkehrten. Früh verwaist, aus einer braven Handwerkerfamilie stammend, von bestechend schönem Aeußern und einschmeichelndem Wesen, war er in das Geschäft des Banquier Mangold als Lehrling gekommen und schließlich dessen Schwiegersohn geworden. Käthe wußte, daß er ihre Schwester Clotilde bis zu deren frühem Tod auf den Händen getragen; sie hatte ihn immer nur fügsam bis zur Unterwürfigkeit ihrem Vater gegenüber gesehen, auch war er stets gleichmäßig freundlich und hülfreich selbst gegen die untersten Dienstleute des Hauses gewesen – und jetzt schwebte um den schön geschwungenen Männermund dort ein scharf ausgeprägter Zug von widerwärtigem Hochmuth. Der Seilersohn stieß verächtlich die Leiter um, auf der er emporgeklommen; sein Glücksrausch blendete ihn dergestalt, daß er in den Jargon der eingefleischtesten Krautjunker verfiel.
Henriette hatte sich auf einen niedrigen, polsterbelegten Schemel gekauert, und die Arme um die Kniee legend, sagte sie beißend: „Liebster Moritz, ich bitte Dich, thue nicht so entsetzlich herausfordernd! Es könnte irgend eine alte Ahnfrau d’rüber aufwachen und sehen, wie der tapfere Nachfolger und Burgherr Kaffee kocht, und das züchtige Burgfräulein bequem dort liegt und Cigaretten raucht – na, die würde Augen machen!“
Flora veränderte ihre Stellung nicht um eine Linie; sie nahm nur langsam die Cigarre aus dem spöttisch lächelnden Munde. „Genirt es Dich, Schätzchen?“ fragte sie in verstellt phlegmatischem Ton und stäubte mit dem Ringfinger die Asche ab.
„Mich?“ – Henriette lachte hart auf. „Du weißt, daß ich mich durch Dein genialisches Thun und Treiben nicht geniren lasse – die Welt ist weit, Flora; man kann sich aus dem Wege gehen und –“
„Pst, nicht so bissig, Kleine! Ich fragte aus purem Mitleid, weil Du brustkrank bist.“
Ein fliegendes Roth erschien und verschwand in jähem Wechsel auf den schmalen Wangen der Kranken, und in ihren Augen funkelten Thränen – sie bezwang sich mühsam. „Danke schön, aber sorge Du zuerst für Dich selber, Flora! Ich weiß, es zuckt Dir in allen Fingern, das qualmende Ding da zum Fenster hinauszuwerfen, denn es beräuchert Deine Perlenzähne wie Meerschaum und jagt Dir einen Schauder des Abscheues nach dem anderen über die Haut – trotzalledem diese heroische Selbstüberwindung! Aus Emancipationssucht? Bah, Du hast zu viel guten Geschmack, Flora, um zu den allerordinärsten Requisiten des Blaustrumpfes zu greifen; auch bringst Du dieser Neigung, die ja schließlich doch nur auf öffentliche Verherrlichung ausgeht, kein Opfer, das verhäßlicht –“
„Schau, was sie für eine hohe Meinung von mir hat, die liebe Seele!“ sagte Flora, unter ironischem Auflachen den Kopf schüttelnd, zu dem Commerzienrath.
„Du übst Dich im Rauchen und wirst das vielleicht drei bis vier Wochen consequent durchführen,“ fuhr Henriette unbeirrt, aber mit sichtlicher Erbitterung fort; „weil es Leute giebt, die den Tabaksrauch im Frauenmunde verabscheuen wie Pesthauch. Du suchst Händel, willst erzürnen, es ist der letzte Hebel, den Du ansetzest –“
Flora richtete sich aus ihrer halbliegenden Stellung auf. „Nun, und wenn, mein Fräulein?“ fragte sie stolz zurückweisend. „Ist es nicht meine Sache, ob ich gefallen oder abstoßen will?“
„Weit entfernt! In Deinem Falle bleibt Dir nur noch die Aufgabe, zu beglücken,“ brauste Henriette empört auf.
„Lächerlich! Trage ich hier vielleicht den Ehering?“ – Sie zeigte auf den elfenbeinweißen Goldfinger der Rechten. „Gott sei Dank, nein! … Uebrigens hast Du am allerwenigsten Ursache, Dich zu echauffiren und eine Lanze einzulegen – Du bist krank, armes Ding, und mehr als je auf Deinen Arzt angewiesen, aber er zieht es vor, eine Vergnügungsreise zu machen und auf die unmotivirteste Weise wochenlang fortzubleiben.“
Jetzt mischte sich auch der Commerzienrath in den Wortwechsel der erbitterten Schwestern. „Unmotivirt, Flora, weil er Dir den Grund seiner Reise nicht des Langen und Breiten mitgetheilt hat?“ rief er ärgerlich. „Bruck spricht nie über seinen Beruf und die damit verknüpften Vorkommnisse, das weißt Du. Er ist ohne Zweifel an ein Krankenbett gerufen worden –“
„Nach L.....g, wo man berühmte Universitätsprofessoren haben kann? Ha, ha, ha! Eine kostbare Idee! Mache Dich doch nicht lächerlich mit dergleichen Illusionen, Moritz! Uebrigens ist das ein Punkt, über den ich grundsätzlich nicht mehr mit Euch streite – basta!“ Sie streckte ihre Rechte nach der Kaffeetasse aus und schlürfte den köstlich duftenden Trank. Henriette aber schob grollend die gebotene Labung zurück; sie stand auf und trat an die Glasthür, die auf die anstoßende Ruine hinausführte. Das Mauerstück war der Rest einer Colonnade, die einst von dem ersten Stockwerk des Haupthauses in den Thurm geführt hatte; die zwei schön gewölbten, auf schlanken Säulchen ruhenden Bögen bildeten jetzt eine Art Söller mit prachtvoller Fernsicht.
Henriette riß den Thürflügel auf, und die krampfhaft geballten Hände gegen die Brust drückend, sog sie angstvoll gierig die frische Luft ein, aber eine augenblickliche Erstickungsnoth machte sich doch geltend. Käthe und der Commerzienrath eilten, die Leidende zu unterstützen; auch Flora erhob sich. Sie warf unwillig die Cigarre in den Aschenbecher. „Nun werden wohl die harmlosen Dampfwölkchen schuld sein müssen an dem Anfall,“ sagte sie geärgert, „aber ich weiß es besser. Du gehörtest von Rechtswegen in’s Bett, Henriette, und nicht in die trockene Frühlingsluft hinaus, die für Leute Deines Schlages wahres Gift ist – ich habe Dich gleich gewarnt, aber Du hast ja nie Ohren für einen wohlgemeinten Rath und möchtest Einem am liebsten weißmachen, Du strotzest von Gesundheit wie Posaunenengel. Ebenso obstinat bist Du bezüglich der ärztlichen Hülfe –“
„Weil ich meine kranke Lunge nicht dem ersten besten Giftmischer anvertraue,“ ergänzte Henriette in mattem, aber sehr entschiedenem Tone.
„O weh, das geht meinem armen, alten Medicinalrathe an die Ehre,“ rief Flora lächelnd. Sie zog die Schultern empor. „Immerhin, Kind, wenn es Dir Vergnügen macht! Ich kann ja auch nicht wissen, wie er seine Mixturen mischt, soviel aber darf ich behaupten, daß er noch nie einem Patienten ungeschickter Weise nahezu – den Hals abgeschnitten hat.“
Der Commerzienrath fuhr mit bleichem Gesichte herum und hob unwillkürlich die Hand, als wolle er sie auf den impertinenten, lästernden Frauenmund pressen; er schien sprachlos – sein Blick streifte scheu Käthe’s Gesicht.
„Du Herzlose!“ stieß Henriette hervor.
„Herzlos bin ich nicht, aber unerschrocken genug, böse Dinge beim Namen zu nennen, selbst wenn die harten Worte auf eigene Wunden zurückschlagen sollten. Wo bliebe dann auch das Verdienst der strengen Wahrhaftigkeit? … Denke an jenen schlimmen Abend und frage Dich, wer Recht behalten hat! Ich wußte, daß ein tiefer Sturz aus den Höhen fälschlich erträumter Berühmtheit erfolgen mußte – er ist erfolgt, zermalmender, rettungsloser, als ich selbst gefürchtet, oder wollt Ihr auch die einstimmige Verurtheilung von Seiten des Publicums wegdisputiren? Daß ich aber nicht mit stürzen will, wird Jeder begreifen, der mich kennt. … Ich kann nicht beschönigen und vertuschen, wie es z. B. die Großmama aus dem Fundament versteht; ich will es auch gar nicht. Keine Rolle ist lächerlicher als die jener ahnungslosen Frauenseelen, die da noch öffentlich anbeten, wo, wie die Welt sich zuzischelt, längst nichts mehr zu verehren ist.“
Sie schlug auch den andern Thürflügel zurück und trat hinaus auf den Söller. Sie hatte in leidenschaftlicher Steigerung gesprochen; der bleiche Marmorton ihres vom blauen Frühlingshimmel sich scharf abhebenden Römergesichts belebte sich unheimlich; mit den flimmernden Augen voll abweisender Verachtung, mit den nervös bebenden Nasenflügeln war sie die personificirte brennende Ungeduld.
„Uebrigens hat es ja in seiner Hand gelegen, mich zu bekehren – wie hätte ich ihn dann vertheidigen wollen mit Mund und Feder!“ fuhr sie fort, während sich ihre feinen Finger in das rasselnde Geflecht verdorrter Schlingpflanzen verstrickten. „Aber er hat es vorgezogen, auf meine erste und einzige dahinzielende Frage stolz wie ein Spanier mit einem Eisesblicke zu antworten –“
„Diese Antwort sollte Dir genug sein –“
„Ganz und gar nicht, mein lieber Moritz; ich finde sie sehr bequem und wohlfeil, und in Bezug auf sprechende Blicke und Gesten bin ich skeptisch – ich verlange mehr. … Aber ich will Dir zeigen, daß mir der gute Wille nicht fehlt, indem ich Dir hiermit noch einmal wiederhole, was ich gleich zu Anfang verlangt habe: Beweise mir und der Welt, daß er seine Schuldigkeit gethan hat, denn Du warst Zeuge!“
Er trat rasch von der Thürschwelle zurück und legte die Hand schützend über die Augen – das Sonnenlicht, das den Balkon grell überströmte, belästigte ihn unerträglich. „Du weißt allzu gut, daß ich das nicht in der Weise kann, wie Du es forderst – ich bin kein Mediciner,“ versetzte er mit tief herabgedrückter Stimme; sie verlor sich fast in einer Art von Murmeln.
„Kein Wort mehr, Moritz!“ rief Henriette. An ihrem Körper bebte jede Fiber. „Mit jedem Vertheidigungsversuch giebst Du zu, daß diese edle Braut einen Anschein von Berechtigung für sich hat, feig und wankelmüthig zu sein.“ Ihre großen Augen, in denen das innere Fieber aufglühte, richteten sich haßerfüllt auf das schöne Gesicht der Schwester. „Im Grunde kann man nur wünschen, daß Deine grausamen Manöver möglichst rasch zum Ziele führen möchten, das heißt – sei es endlich einmal in dürren Worten ausgesprochen – daß er in Folge Deiner sichtlichen Entfremdung freiwillig das Verhältniß lösen hilft; denn er verliert wahrlich nichts an Deiner kalten Seele, die sich nur an äußere Erfolge klammert, aber er liebt Dich und wird weit eher mit vollem Bewußtsein in eine unglückliche Ehe gehen, als sich von Dir trennen – das beweist sein ganzes Verhalten –“
„Leider,“ warf Flora über die Schulter herüber ein.
„Und aus dem Grunde werde ich zu ihm stehen und Deine Machinationen vereiteln, wo ich kann,“ vollendete Henriette mit zuckenden Lippen und gesteigerter Stimme.
Der mitleidige Seitenblick, mit welchem Flora das tieferregte gebrechliche Mädchen langsam maß, funkelte förmlich in grausamem Spott, aber es war auch, als käme ihr bei dieser Musterung eine überraschende Erkenntniß; sie legte plötzlich den rechten Arm um Henriettens Schultern, zog die Widerstrebende an sich heran und flüsterte ihr mit einem sardonischen Lächeln in’s Ohr: „Beglücke Du ihn doch, Kleine! Ich werde ganz gewiß keinen Einspruch erheben – davor bist Du sicher.“
Bis zu welchem frevelhaften Uebermuthe konnte sich doch solch eine eitle Frauenseele versteigen, die sich gefeiert und heiß begehrt wußte! Käthe stand nahe genug, um das Gezischel zu verstehen, und so passiv sie sich auch bisher verhalten, jetzt sprühte ein ehrlicher Zorn aus ihren Augen.
Flora fing den Blick auf. „Schau, was das Mädchen für ein Paar Augen machen kann! Verstehst Du denn keinen Spaß, Käthe?“ sagte sie halb amüsirt, halb betroffen. „Ich thue Deinem verhätschelten Pflegling nichts, obschon ich das gute Recht hätte, Henriettens kleine Bosheiten endlich einmal derb abzufertigen. … Diese zwei Menschen,“ sie zeigte auf den Commerzienrath und Henriette, bilden sich ein, über meine Sitten wachen zu müssen, und Du Jüngstes, eben aus dem Pensionsnest geschlüpft, Häkel- und Stricktouren und ein paar französische Brocken im Kopfe, hältst sofort zu ihnen und machst Fronte gegen mich – Närrchen, meinst Du wirklich ein Urtheil über Deine Schwester Flora zu haben?“ Sie lachte belustigt auf und streckte die Hand gegen einen der Nußbäume aus, von welchem eben eine Taube emporflog; der blendendweiße Vogel stieg hoch in den flimmernden Himmel hinein. „Siehst Du, Kleine, eben noch hockte sie neben den Anderen auf dem Aste dort, und die Anderen waren Ihresgleichen – und jetzt werfen ihre ausgebreiteten Flügel förmlich Silberfunken, und in der einsamen blauen Höhe wird sie eine selbstständige stolze Erscheinung für die Menschenaugen drunten. Vielleicht lernst Du dermaleinst verstehen, auf welche feurige, dürstende Menschenseele das Bild paßt. Apropos, Moritz,“ unterbrach sie sich lebhaft und winkte den Commerzienrath zu sich heraus auf den Söller, „dort hinter dem Gehölze muß ja wohl Bruck’s Acquisition, das alte Wirthschaftsgebäude, liegen – ich sehe starken Rauch über den Bäumen –“
„Aus dem einfachen Grunde, weil Feuer auf dem Herde brennt,“ versetzte lächelnd der Commerzienrath; „die Tante Diakonus zieht seit gestern ein.“
„In das verwahrloste Nest, wie es ist?“
„Wie es ist. Uebrigens war der Schloßmüller ein viel zu guter Wirth, um seine Gebäulichkeiten verfallen zu lassen; in dem Hause fehlt kein Nagel, kein Ziegel auf dem Dache.“
„Nun, Glück zu! Im Grunde ist die Sache so übel nicht. Die vorweltlichen Ausstattungsmöbel der Tante und das Bild des seligen Diakonus passen an die Wände. Platz genug für die Einmachbüchsen und das Backobst wird ja auch da sein, und das Scheuerwasser fließt direct und unerschöpflich am Hause vorbei.“ Sie affectirte einen leichten Nervenschauer und nahm wie unwillkürlich den reichgarnirten Kleidersaum auf, als fühle sie sich plötzlich auf einen frischgescheuerten Dielenboden versetzt. „Es wird gut sein, die Thüren zu schließen,“ sagte sie rasch in das Zimmer zurücktretend; „der Wind trägt den Rauch und Dampf herüber. Puh –“ ihre feinen Nasenflügel vibrirten; sie fuhr mit dem Taschentuche durch die Luft – „ich glaube wahrhaftig, die gute Frau bäckt ihre unvermeidlichen Pfannenkuchen, noch ehe sie einen Stuhl zum Niedersitzen im Hause hat – sie kann nun einmal das Schmoren und Backen nicht lassen.“ Damit schlug sie die Thürflügel zusammen.
Währenddem hatte Henriette still das Zimmer verlassen. Bei Flora’s Geflüster war sie in jähem Aufschrecken emporgefahren wie Jemand, der sich, plötzlich erwachend, vor einem tiefen Abgrunde findet. Seitdem hatte sie kein Wort mehr gesprochen, und nun war sie hinaufgestiegen in das oberste Gelaß des Thurmes, wo die Tauben und Dohlen nisteten. Käthe griff nach ihrem Sonnenschirme – sie wußte, daß die Kranke stets allein sein wollte, wenn sie sich stillschweigend aus dem Kreise der Anderen entfernte – das Thurmzimmer aber mit den dicken Wänden, der erdrückenden Pracht und der gebieterisch auf- und abrauschenden, capriciösen Schwester erschien ihr beklemmend unheimlich; war es doch, als fliege der Zündstoff zu Streit und Reibereien unausgesetzt durch die Luft, in der Flora athmete. Das junge Mädchen beschloß deshalb, rasch einen Gang zu Suse zu machen.
„Nun meinetwegen, da gehe in Deine Mühle,“ rief der Commerzienrath ärgerlich, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie zurückzuhalten, „aber erst sieh’ hierher!“ Er zog seitwärts an einem schweren Gobelinbehange – dahinter, in einer tiefen Mauernische, stand ein neuer Geldschrank. „Der gehört Dir, Du Gebenedeite; das ist Dein ‚Bäumlein rüttle Dich, wirf Gold und Silber über mich!‘“ sagte er, und seine Hand glitt förmlich liebkosend über das kalte Metall. „Alles, was Dein Großvater an Haus und Hof, an Wald und Feld besessen hat, da drin liegt es, in Papier verwandelt. Diese Papiere arbeiten bienenfleißig Tag und Nacht für Dich. Sie ziehen unglaubliche Geldströme aus der Welt in diesen stillen Winkel. … Der Schloßmüller hat seine Zeit wohl begriffen – das beweist sein Testament; aber wie fabelhaft seine Hinterlassenschaft in der Form anwachsen wird, das hat er schwerlich geahnt.“
„Sonach bist Du auf dem besten Wege, die erste Partie im Lande zu werden, Käthe – kannst wie im Märchen zu Deinem Hochzeitsmahl den Speisesaal mit harten Thalern pflastern lassen,“ rief Flora herüber; sie lehnte wieder zwischen den Polstern des Ruhebettes und hatte ein Buch in die Hand genommen. „Schade um das Geld! Schau, Du mußt nicht böse sein, Kind, aber ich fürchte, Du bist moralisch allzu viel gedrillt worden, um mit Geist Deinen Goldregen vor der Welt funkeln zu lassen.“
„Das wollen wir abwarten,“ lachte das junge Mädchen. Einstweilen habe ich noch kein Recht, eigenmächtig auch nur einen Thaler da herauszunehmen,“ sie zeigte auf den Schrank; „aber in Bezug auf die Schloßmühle möchte ich, wenn auch nur für einen Tag, majorenn sein, Moritz.“
„Ist sie Dir unbequem, schöne Müllerin?“
„Meine Mühle? So wenig unbequem wie mein junges Leben, Moritz. Aber ich war gestern im Mühlengarten – er ist so groß, daß Franz die an die Chaussee stoßende Hälfte aus Mangel an Zeit und pflegenden Händen vernachlässigen muß. Er will Dir den Vorschlag machen, das Stück zu verkaufen; es gäbe prächtige Bauplätze zu Villen und würde gut bezahlt werden, meint er, ich aber finde, daß die Landhäuser ganz gut auch wo anders stehen können, und möchte das Grundstück lieber Deinen Leuten geben, die gern in der Nähe der Spinnerei bauen wollen.“
„Ach – verschenken, Käthe?“
„Fällt mir nicht ein. Du brauchst gar nicht so spöttisch mitleidig zu lächeln, Moritz. Ich werde mich wohl in der Villa Baumgarten mit ‚Sentimentalität und Ueberspanntheit‘ blamiren! … Uebrigens wollen ja die Leute auch gar kein Geschenk oder Almosen, wie Doctor Bruck sagt –“
„Ei, ‚wie Doctor Bruck sagt‘? Ist der auch schon Dein Orakel?“ rief Flora, aus den Kissen emporschnellend – sie fixirte über das Buch hinweg scharf, mit einem räthselhaft wechselnden Ausdrucke das Gesicht der Schwester; es erröthete allerdings für einen Augenblick tiefer, aber die Augen erwiderten den blinzelnden Blick fest, mit kaltem Ernste. „Ich weiß auch, welchen Werth das Selbsterworbene hat – was ich mir selbst erringen kann, ziehe ich dem bestgemeinten Geschenke weit vor,“ fuhr sie fort, ohne auf Flora’s Einwurf zu antworten; „und schon aus dem Grunde sollen die Leute zahlen, genau das zahlen, was sie für Deinen Grund und Boden geben wollten.“
„Da machst Du ja brillante Geschäfte, Käthe,“ lachte der Commerzienrath. „Mein steriles Stück Uferland wäre schon mit der Summe, die darauf geboten worden ist, schlecht genug bezahlt gewesen – nun gar der prächtige Gartenboden neben der Mühle! … Nein, Kind, so gern ich auch möchte – mein vormundschaftliches Gewissen gestattet mir nicht, Dich auch nur für eine Stunde majorenn sein zu lassen.“
„Nun, da mögen sich die Baulustigen einstweilen behelfen, wie sie können,“ sagte sie weder überrascht, noch ärgerlich. „Ich weiß, ich werde in drei Jahren darüber noch genau so denken, wie heute, dann aber kann es sich schon ereignen, daß ich auch noch den dummen Streich mache, den Leuten das Baugeld ohne Procente vorzustrecken.“
Sie grüßte ruhig lächelnd und ging hinaus.
Langsam stieg sie die gewundene Treppe hinab, die zur oberen Hälfte das Mauerwerk so schmal durchschnitt, daß sich wohl nur der Schemen der wandelnden Ahnfrau an dem Herabsteigenden vorbeizudrücken vermochte. … Die arme Ahnfrau, hier hatte sie nichts mehr zu suchen, hier war sie verscheucht, und wenn auch der neugebackene Edelmann sie kraft seiner Besitzrechte reclamirte, wenn er auch, um der Auszeichnung willen, daß die gespenstige weiße Frau sich um sein Wohl und Wehe kümmere, noch einmal so tief in seinen strotzenden Geldsäckel griff, als ihm bereits der Adel gekostet. Drunten hing es an den Wänden, das Rüstzeug ihres ritterlichen Geschlechts, die Waffen, mit denen die alten Recken um Ehre und Schande, um Gut und Blut gekämpft; die hatte sie allnächtlich mit vorübergleitenden Händen gefeit und doppelt gesegnet, je mehr Beulen und Scharten und unheimliche dunkle Flecken feindlichen Blutes sie aufwiesen. Jetzt funkelten und gleißten sie feiernd am Nagel, und das Rüstzeug des neuen Geschlechts im alten Thurme waren – die modernen Geldschränke.
Ja, das seltsam fremdartige Element, das drüben in der Villa durch alle intimen Familiengespräche zitterte – das Geldfieber, der Speculationsgeist – es war auch hierher in das ernsthaft copirte Ritterwesen verschleppt worden. Es wehte in der Luft; es schlich treppab, treppauf, und dort die mächtigen, Jahrhunderte alten Humpen auf den Credenztischen der Halle, sie waren eine Ironie in den weichen Händen der Couponschneider, wie die riesenhaften, neuaufgefrischten Riegel und Vorlegeschlösser in grotesker Lächerlichkeit die eiserne Kellerthür bedeckten – sie hüteten die Champagnerflaschen des Commerzienraths, während droben Tausende und aber Tausende hinter kaum erkennbarem, zierlichem Verschlusse lagen. Das historische Pulver aus dem dreißigjährigen Kriege lag auch noch drunten, lediglich um deswillen von Seiten des Commerzienraths geduldet, wie Henriette boshaft behauptete, um wißbegierige Besucher nebenbei auch die kostbaren Weinsorten im kühlen, trockenen Thurmkeller sehen zu lassen. … Und das war’s, was Käthe den alten Heimathboden, auf welchem ihre Kindheit sich abgespielt, fast unkenntlich machte, dieses Sichsehenlassen, dieses Berechnen des Effectes nach außen in kostspieligen Neuerungen, das fieberhafte Streben, die Welt auch wissen zu lassen, daß das Postament, welches man erklommen, ein goldenes sei – das Alles schlug den Geist der ehemaligen alten Firma Mangold geradezu in das Gesicht; sie hatte nie ihren gediegenen Wohlstand als „blendenden Goldregen“ aus den altfränkischen Truhen aufsteigen lassen; ebenso wenig durfte zu Banquier Mangold’s Lebzeiten die Geldmacht im Familienkreise dominiren; ein so pünktlicher Chef er auch in seinem Comptoir gewesen, nie war ihm daheim ein Wort über Geldgeschäfte entschlüpft. Und jetzt! Selbst die Präsidentin speculirte; sie hatte ihr kleines Vermögen von wenigen Tausenden auch in das große Glücksrad geworfen, das heißt in Actien angelegt, und fast unheimlich sah es aus, wenn das Gesicht der sonst so kühlempfindenden Frau bei den immer wiederkehrenden Geldgesprächen vor aufgestörter innerer Leidenschaft roth bis über die Schläfe wurde. …
Käthe verließ den Thurm und betrat die Brücke. Sie bog sich einen Augenblick über das Geländer und sah forschend in die Wasserfluth, als müßten die alten Bekannten, die Zwergobstbäumchen und Beerensträucher, noch an ihren Plätzen stehen, aber sie blickte nur in ihr eigenes Gesicht mit dem Diadem der dicken, braunen Flechte über der Stirn – dieses Mädchen hatte die wundersame Eigenschaft, der Goldfisch der Familie zu sein; das wurde ihr täglich gesagt, als solcher wurde sie respectirt und ausgezeichnet; man suchte ihr begreiflich zu machen, daß sie eben als solcher die braunen Flechten nicht selber ordnen dürfe, daß eine Kammerjungfer nunmehr unumgänglich nöthig sei, aber sie hatte sich ernstlich und energisch der Frau Präsidentin gegenüber verwahrt; sie gab ihren Kopf nicht in dergleichen künstlerische Hände – im Frisirmantel stundenlang steif und feierlich wie ein Götzenbild zu sitzen, das brachte sie in ihrem ganzen Leben nicht fertig. … O ja, es war und blieb „über die Maßen hübsch“, reich zu sein, nur durfte der Reichthum nicht unfrei machen; er durfte dem raschen, warmblütigen Menschenkind die regen Hände nicht binden wollen.
Sie hatte die zierlichen Anlagen vor der Ruine verlassen und schritt auf dem wenig gepflegten Wege neben dem weidenbesetzten Flußufer. Noch den Hauch scharfer Winterkälte im Athem und den geschmolzenen Schnee aus den Bergen mit sich schleppend, schossen die Wassermassen lehmfarben neben ihr hin, aber die Elritzen zuckten frühlingslebendig und blank wie Silberstäbchen durch die trübe Fluth; an den Weidengerten saßen die weichflaumigen Blüthenkätzchen, und unter dem schützenden Laubgebüsch hatte das Leberkraut den ganzen zarten Schmelz seiner himmelblauen Blumen ausgebreitet – die gaben schon einen Frühlingsstrauß. –
Die Blumen in der Hand, wandelte sie langsam weiter bis zu der alten Holzbrücke. … Dort streckte sich Susens Bleichplatz, die mit Obstbäumen bestandene Rasenfläche hin. Der Commerzienrath hatte Recht gehabt, in dem niedrigen Holzgitter, das den Garten umfriedigte, fehlte kein Stab, und an dem Hause kein Ziegel, kein Brett, auch nicht die kleinste Latte des Weinspaliers. … Und es war doch ein hübsches, altes Haus, die verlästerte Baracke! Es lag so geborgen hinter dem rauschenden Flusse, und der Laubwald im Hintergrunde, der sogenannte Stadtforst, der ziemlich nahe an das Holzgitter heranrückte, gab ihm den anmuthig einsamen Charakter einer Försterei. Niedrig war es allerdings; es hatte nur eine Fensterreihe – direct darüber erhob sich das Dach mit den vergoldeten Windfahnen und den massiven Schlöten, von denen der eine in der That rauchte – nie gesehene Erscheinung! In dem Hause hatte seit langen Zeiten kein Feuer in Herd und Ofen, kein Licht auf dem Tische gebrannt. Zu des Schloßmüllers Lebzeiten war jahraus, jahrein Getreide in den Stuben aufgeschüttet worden, die Jalousien hatten wie festgemauert vor den Fenstern gelegen, und nur alljährlich bei der Obsternte hatte die streng verschlossene Hausthür tagsüber offen gestanden. Da war dann auch die kleine Käthe hineingeschlüpft in die sogenannte Obstkammer, die neben der Küche gelegene weißgetünchte Stube mit dem großen, grünen Ofen, und hatte sich das Schürzchen mit Birnen und Aepfeln gefüllt. … Heute nun waren die Läden zurückgeschlagen, und das junge Mädchen sah zum ersten Mal Glasscheiben blinken in den großen, von Steinrahmen umfaßten Fenstern. Das war nun Doctor Bruck’s Haus.
Ohne zu wissen wie, hatte sie die Brücke überschritten und umging das Gebäude von drei Seiten. Das Herz klopfte ihr ein wenig. Sie hatte kein Recht mehr, sich hier bemerklich zu machen, aber ihre Fußtritte verhallten auf dem weichen Grasboden; dazu toste der angeschwollene Fluß stark herüber, und auf dem Dache lärmten die Spatzen. Einzelne Fensterflügel standen offen; sie sah Ampeln mit grünem Schlingpflanzenbehang an den stuckverzierten Zimmerdecken schweben und blankes Kupfergeschirr auf der Küchenwand glänzen; auch zartes Vogelgezwitscher klang heraus und mischte sich mit dem zänkischen Geschrei der Sperlinge, aber kein Geräusch menschlichen Lebens und Treibens war zu hören. … Nun bog sie zuversichtlicher um die westliche Hausecke und wollte die Hauptfronte entlang gehen, und da schrak sie zusammen.
In der Flügelthür, welche die Façade in zwei gleiche Hälften theilte, und von der die Steintreppe fast vornehm breit auf den Rasenplatz herabstieg, stand eine Frau, eine feine, schlanke, fast mädchenhaft zierliche Erscheinung. Sie hatte einen Tisch neben sich stehen, auf welchem Bücher und Bilder aufgehäuft lagen, und war mit Abstäuben derselben beschäftigt. Befremdet sah sie auf die unsicher Näherkommende und ließ unwillkürlich das Bild sinken, das sie eben mit dem Staubtuche säuberte – es war Flora’s Photographie im Ovalrahmen.
Das konnte doch unmöglich die Tante Diakonus sein! Nach Flora’s eben gehörter, mit beißender Ironie getränkter Schilderung hatte sich Käthe ein kleines, gebücktes, wenn auch immer noch rasches Hausmütterchen mit küchengeschwärzten Händen gedacht, das, zwischen Pfannen und Töpfen und Einmachbüchsen grau geworden, nichts Lieberes that, als Pfannkuchen backen – das Bild war unvereinbar mit dieser Dame, deren kleines, allerdings ältliches Gesicht so zartbleich und edel, mit so milden, sprechenden Augen aus dem weißen Spitzentuche sah, welches sie über das noch sehr reiche, aschblonde Haar geknüpft hatte.
Käthe wurde immer befangener und stammelte, an den Fuß der Treppe tretend, eine herkömmliche Entschuldigung. „Ich habe als Kind hier gespielt, und bin vor einigen Tagen aus Dresden zurückgekehrt und – das ist meine Schwester,“ setzte sie, auf das Bild zeigend, hastig hinzu, und dann brach sie in ein frisches, helles Lachen aus und schüttelte den Kopf über sich selbst und die naive, ungeschickte Art der Einführung, zu der sie in ihrer Verlegenheit gegriffen.
Und die Dame lachte auch. Sie legte das Bild auf den Tisch, und die Stufen herabsteigend, streckte sie dem jungen Mädchen beide Hände entgegen. „Dann sind Sie Bruck’s jüngste Schwägerin.“ Ein leiser Schatten flog über ihr Gesicht. „Ich habe nicht gewußt, daß Besuch in der Villa Baumgarten eingekehrt ist,“ fügte sie mit einem kaum hörbaren Anfluge von Bitterkeit hinzu.
In diesem Augenblicke zog auch ein Wolkenschatten über Käthe’s Seele hin – war sie denn so ein gar Nichts, ein solch verschollenes, nicht mitgeltendes Glied der Familie Mangold, daß Doctor Bruck es nicht der Mühe werth gefunden hatte, seine Begegnung mit ihr zu erwähnen? … Sie biß sich auf die Lippen und folgte schweigend der einladenden Handbewegung der Dame, welche ihr vorausging und eine Thür in dem weiten Hausflure öffnete. Die schlanke Frau war noch so graziös in jeder Bewegung.
„Das ist mein Stübchen, meine Heimath bis an’s Ende,“ sagte sie mit einer so herzensfreudigen, gleichsam aufathmenden Betonung, als sei sie bis zu diesem Ruheporte mit müden Füßen in der Irre gewandert. „Ehe mein Mann als Diakonus in die Stadt versetzt wurde, lebten wir in einer kleinen Pfarre auf dem Lande. Es ging uns sehr knapp, und ich hatte mein ganzes haushälterisches Talent nöthig, um die Standeswürde nach außen hin zu wahren, aber es war doch die schönste Zeit meines Lebens. … Die staubige Luft und das Geräusch der Stadt haben meinem Nervenleben nicht gut gethan; meine stille Sehnsucht nach grüner Einsamkeit wurde nahezu krankhaft. Ich habe das nie ausgesprochen, und doch hat der Doctor heimlich gesorgt und gespart, und vor einigen Tagen führte er mich hierher in das Haus, das er wenige Stunden zuvor für mich erstanden hatte.“ Bei den letzten Worten klang ihre Stimme verschleiert und tiefbewegt. Sie war also doch die Tante, und ihren Neffen nannte sie stolz „den Doctor“. Und jetzt lächelte sie anmuthig. „Ein wahres Schlößchen ist’s, nicht wahr?“ fragte sie zutraulich. „Sehen Sie doch die Flügelthüren und die prächtige Stuckarbeit an der Decke! Und die alte Ledertapete da mit den geschwärzten Goldleisten ist jedenfalls sehr kostbar gewesen. Draußen im Garten finden sich auch noch Spuren von Taxushecken und Sandsteinfiguren. Ursprünglich ist das Haus der Wittwensitz einer Dame aus dem Hause Baumgarten gewesen – ich weiß es aus einer Chronik. … Wir haben nun tüchtig gescheuert, gelüftet und einige Oefen geheizt, um die alten Wände zu durchwärmen; sonst ist Nichts, nicht ein Nagel verändert worden; dazu reichten die Mittel nicht – und es wäre auch sehr überflüssig gewesen.“
Käthe hatte längst mit stillem Behagen die ganze Einrichtung überflogen. Die dunkelgewordenen Mahagonimöbel paßten just zu der gelben Ledertapete. An der Mittelwand, nicht weit von dem weißglasirten, weitbauchigen, auf verschnörkelten Füßen ruhenden Ofen, stand das kattunbezogene Sopha, und darüber hing in der That das Portrait des seligen Diakonus, ein schlichtgemaltes Pastellbild, das den alten Herrn in seiner Amtstracht vorstellte. Ein köstlicher Schmuck aber waren die Pflanzengruppen an den zwei hohen und breiten Fenstern, die Azaleen- und Palmenarten, die prachtvollen Gummibäume, warm und kräftig vergoldet von dem die klaren Filetgardinen durchbrechenden Sonnenlicht. Die Goldfische in der Glasschale und der Singvogel im Messingkäfig, diese Pfleglinge einsamer Frauen, fehlten auch hier nicht; auf den Fenstersimsen blühten Frühlingsblumen, buntfarbige Hyacinthen und die träumerisch gesenkten Häupter der weißen Narcisse – das Nähtischchen aber stand in einer förmlichen Nische von Lorbeerlaub.
„Meine Zöglinge – ich hab’ sie fast vom Samenkorn an erzogen,“ sagte die Tante, dem bewundernden Blick des jungen Mädchens folgend. „Die schönsten und liebsten habe ich selbstverständlich dem Doctor in’s Zimmer gestellt.“ Sie schob die angelehnte Thür des Nebenzimmers zurück und führte Käthe hinüber.
„Selbstverständlich!“ wie das klang! So weiblich demüthig, so mütterlich liebend und – verziehend. … Sie hatte ihm „selbstverständlich“ auch das schönste Zimmer im Hause ausgesucht, das Eckzimmer, an dessen östlich gelegenen Fenstern der Fluß vorbeirauschte. Ueber den breiten Wasserstreifen hinaus that sich eine der hübschesten Parkpartieen auf, und fern, hinter Lindenwipfeln, glänzte bläulich das Schieferdach der Villa. … Zwischen diesen Fenstern, an der sehr schmalen Spiegelwand stand der Schreibtisch; wenn der Doctor die Augen vom Papier hob, dann sah er dort die Fahnenstange in den Himmel hineinragen – in den Himmel! Käthe fühlte plötzlich ihre Wangen in heißer Scham brennen; hier bot zärtliche Fürsorge Alles auf, dem Mann verstohlen das Süßeste, das Geliebteste nahe zu rücken, und dort drüben sann ihre treulose Schwester Tag und Nacht darauf, ihn aus seinem Himmel zu stoßen. Mit dem frivolen: „Beglücke Du ihn doch!“ hatte sie vorhin ihre Anrechte verächtlich ausgeboten.
Ob die warmherzige, zartempfindende Frau, die da neben ihr stand, es wohl ahnte, oder vielleicht auch nur instinctmäßig fühlte, daß über kurz oder lang ein unabwendbares Leid, wie es ihn schwerer nicht treffen konnte, über ihren Liebling hereinbrechen werde? Sie hatte Käthe nicht aufgenommen, wie eine kaum in die Heimath Zurückgekehrte, den Familienverhältnissen Entfremdete, sondern als Bruck’s jüngste Schwägerin, die nothwendig mit allen Beziehungen so vertraut sein müsse, daß sie sich gar nicht erst als Tante vorzustellen brauche – demnach mußte ihr Verkehr in der Villa Baumgarten kein intimer sein, und es war in diesem Moment, als wolle sie die Annahme bestätigen, denn sie zeigte nach der leeren Spiegelwand über dem Schreibtisch und sagte unbefangen: „Ich bin noch nicht fertig mit der Einrichtung – da fehlt noch die Photographie der Braut und das Oelbild seiner Mutter, meiner lieben, verstorbenen Schwester.“
Sonst fehlte nichts mehr in dem unbeschreiblich anheimelnden Zimmer. Der Doctor, der heute mit dem Abendzug zurückkehren sollte, hatte keine Ahnung, daß er die Tante nicht mehr in der Stadt finden werde. Sie hatte ihm den Umzugstrubel ersparen wollen, und der Commerzienrath war, wie sie dankbar sagte, so sehr zuvorkommend gewesen, ihr zu dem Zweck das Haus sofort zu übergeben.
Während dieser Mittheilungen glitt die Frau Diaconus immer noch ordnend, aber so geräuschlosen, behutsamen Trittes umher, als säße der Doctor bereits dort am Schreibtisch über seinem neuen Werke, zu dessen ungestörter Vollendung er sich eben „das Zimmer im Grünen“ vorbehalten hatte. Und dann schloß sie ein Wandschränkchen neben dem Büchergestell auf und nahm einen Teller mit Prophetenkuchen heraus. Mit einer anmuthigen Geberde hielt sie dem jungen Mädchen das einfache Gebäck hin. „Es ist ganz frisch – ich habe es heute, trotz aller Umzugsarbeit, gebacken. Der Doctor braucht immer dergleichen für kleine widerhaarige Patienten … Wein aber kann ich Ihnen nicht anbieten; die wenigen Flaschen, auf die wir halten, habe ich in der Stadt gelassen; sie gehören den Schwerkranken.“
Käthe dachte an die vielen Papiere in ihrem Geldschrank, die „bienenfleißig arbeiten“, um immer neue Geldströme aus der Welt herbeizuziehen, an den reichausgestatteten Weinkeller im Thurm, an ihre übermüthige cigarrenrauchende Schwester zwischen den purpurfarbenen Polstern des Ruhebettes – welch ein ungeheurer Contrast zu diesem einfachen Genügen und Entsagen! Und wie wurde sie hier an ihr Dresdner Heim erinnert! Das Herz ging ihr auf; sie erzählte von ihrer Pflegemutter und der weisen, festen und doch so wohlthuenden Art, wie sie wirke und Andere beeinflusse, wie sie die fleißigen Hände rege und von der Pflegetochter dasselbe verlange.
„Was aber sagt die Frau Präsidentin zu diesem Erziehungssystem?“ fragte die Tante fein lächelnd, während ihr Blick in geheimem Wohlgefallen an der blühenden Jugendgestalt hing.
„Ich weiß es nicht,“ versetzte Käthe achselzuckend, mit muthwillig aufblitzenden Augen, „aber ich glaube, meine Bewegungen sind ihr zu rasch, meine Stimme klingt ihr zu laut, ich bin ihr zu robust und nicht blaß genug. Gott mag wissen, wie viel Noth man mit mir hat! – Ist dies das Portrait Ihrer Frau Schwester?“ fragte sie plötzlich ablenkend und zeigte nach dem Oelbild einer hübschen Frau, das an der Wand lehnte.
Die alte Dame bejahte die Frage. „Es macht mir Angst, bis ich es wieder an seinem sicheren Platze sehe; der Rahmen ist ein wenig hinfällig,“ sagte sie. „Aber ich leide an Schwindel und darf mich nicht auf die Leiter wagen … Vor einigen Wochen habe ich das Dienstmädchen abgeschafft,“ – eine zarte Röthe stieg ihr in das Gesicht – „und nun muß ich warten, bis die Aufwärterin kommt und mir die letzten Bilder und meine Bettgardinen aufhängt.“
Schon bei den ersten Worten dieser Auseinandersetzung war Käthe an den Schreibtisch getreten; sie legte den Sonnenschirm auf die Platte desselben und steckte unbedenklich den kleinen Strauß von Weidenkätzchen und Leberblümchen in ein zierliches milchweißes Trinkglas, das neben dem Schreibzeuge stand. Dann zog sie mit einem kräftigen Rucke den Arbeitstisch tiefer in das Zimmer und stellte einen Rohrstuhl an die Wand. „Darf ich?“ fragte sie zutraulich und griff nach Hammer und Nägeln, die auf dem Fenstersimse bereit lagen.
Dankbar lächelnd brachte die Tante das Bild herbei, und nach wenigen Augenblicken hing es an der Wand. Käthe bebte unwillkürlich zurück, als ihr die alte Dame nun auch Flora’s Photographie hinhielt. Sie sollte mit eigener Hand dem verrathenen Manne das Bild vor die Augen führen, das schon nicht mehr sein Eigenthum war – binnen Kurzem wurde es zurückgefordert, so gut wie der Ring, den er noch am Finger trug. Welche peinvolle Lage! Und jetzt ließ die Tante auch noch liebkosend die Hand über das Portrait hingleiten. „Sie ist so wunderschön,“ sagte sie zärtlich. „Ich kenne sie im Grunde wenig; sie besucht mich sehr selten; wie könnte ich alte Frau denn auch verlangen, daß sie sich bei mir langweilen soll, aber ich habe sie doch von Herzen lieb; sie liebt ihn ja und wird ihn glücklich machen.“
Diese unbegreifliche Ahnungslosigkeit! Dem jungen Mädchen war es, als brenne der Stuhl unter ihren Füßen – sie hatte zu kopflos gehandelt. Nach Allem, was sie eben noch drüben im Thurme mit angehört, durfte sie hier nicht eintreten. Sie kam sich falsch und heuchlerisch vor, weil sie nicht der Frau sofort das Bild aus der Hand stieß und ihr die Schlange enthüllte, die nach ihrem Herzen zischte. Und doch durfte ihr kein Wort entschlüpfen. Sie schlug so heftig auf den Nagel, daß die Wand dröhnte, dann hing sie mit spitzen Fingern die Photographie hin und sprang vom Stuhle. Wie ein schöner, böser, triumphirender Dämon lächelte das verführerische Gesicht der Schwester auf den Schreibtisch nieder.
Käthe griff nach ihrem Sonnenschirme, um schleunigst das Zimmer zu verlassen. Ueber die Schwelle schreitend, sah sie durch die nächste, weitoffene Thür direct auf das Bett der alten Dame – die Treppenleiter stand daneben. „Das hätte ich fast vergessen,“ rief sie entschuldigend; sie huschte hinüber, und den buntgeblümten Vorhang vom Bette nehmend, stieg sie die Leiter hinauf. Seitwärts in der dunklen Fensterecke stand sie so hoch oben, daß sie die herabhängenden Füßchen der Engelsgestalten in der Deckenverzierung berühren konnte. Mit fliegender Hast reihte sie die Ringe der Gardine auf das Eisengestell, während die Tante an dem mitten in ihrem Zimmer befindlichen Tische stand und ein Glas Wasser mit Himbeersaft „für ihre gütige Gehülfin“ mischte.
Da sah Käthe draußen am Fenster einen Mann rasch vorübergehen, einen Mann von strenger Haltung und auffallend stattlicher Gestalt. Sie erkannte ihn sofort und erschrak; ehe sie sich aber klar wurde, ob sie bleiben oder schleunigst herabsteigen sollte, hatte er schon den Flur durchschritten und öffnete die Thür im Zimmer der Tante. Die alte Dame drehte sich um, und mit dem Ausrufe: „Ach, Leo, da bist Du ja schon!“ eilte sie auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals. Vergessen war die Himbeerlimonade, vergessen „die gütige Gehülfin“, welche sie trinken sollte, und die sich nun in namenloser Verlegenheit halb und halb hinter dem Kattunvorhange zu verbergen suchte – jetzt mußte sie sich still verhalten, wenn sie nicht plump störend zwischen die Wiedersehensscene treten wollte.
Sie sah, wie sich das schöne, bärtige Gesicht des Doctors liebevoll über die treue, mütterliche Pflegerin neigte, wie er sie fest an sich zog und ihre Hand von seiner Schulter nahm, um sie ehrerbietig zu küssen. Und nun überblickten seine Augen das Zimmer.
Nun, Leo, was sagst Du, daß ich ohne Dein Vorwissen ausgeflogen bin?“ fragte die alte Dame, den Blick auffangend.
„Ich sollte das eigentlich nicht billigen. Du hast Dir in den wenigen Tagen zu viel zugemuthet, und wir wissen, daß Dir häusliche Unruhe und Ueberstürzung stets feindlich sind; übrigens siehst Du wohl und frisch aus.“
„Du aber nicht, Leo,“ unterbrach ihn die Tante bekümmert. „Du hast nicht die kräftige Farbe wie sonst, und hier“ – sie strich leicht mit der Hand über seine Stirn – „liegt etwas Fremdes, etwas wie ein finsterer, quälender Gedanke. Hast Du Verdruß gehabt auf Deiner Berufsreise?“
„Nein, Tante!“ Das klang aufrichtig und beruhigend, aber auch kurz abbrechend – der Commerzienrath hatte es ja gesagt, Bruck sprach nie über seinen Beruf und dessen Vorkommnisse. „Wie mich dieses Zimmer anheimelt, trotz seiner verdunkelten Wände!“ sagte er, und die Hände auf dem Rücken gekreuzt, wandelte er mit musterndem Blicke langsam nur den Tisch. „Der Friede der selbstlosen Frauenseele weht Einen an – das ist’s auch, weshalb ich so gern heimgehe in unser Stillleben mit den einfachen Möbeln und Deinem geräuschlosen Walten, Tante. Ich werde viel hier sein –“
Die alte Frau lachte. „Ja, ja, bis zu einem gewissen Junitage,“ versetzte sie schelmisch. „Zu Pfingsten wird Deine Hochzeit sein.“
„Am zweiten Pfingsttage.“ Wie seltsam er das aussprach, so kalt und fest, so unerbittlich – der ließ sich nicht eine Secunde von der festgesetzten Stunde abdingen. Käthe fühlte etwas, wie einen Angstschauer. Sie hielt den Athem zurück; nun durfte sie sich gar nicht sehen lassen. Von Minute zu Minute hoffte sie, daß der Doctor in sein Zimmer gehen werde, dann konnte sie leicht ihren hohen Standpunkt verlassen und hinausschlüpfen, ohne ihm begegnen zu müssen. Ihre ganze Natur empörte sich gegen dieses unfreiwillige Lauschen. Aber statt zu gehen, blieb er plötzlich am Tische stehen und nahm einen Brief zur Hand, der zwischen verschiedenen, noch nicht geordneten Bücherstößen lag.
Die Tante machte eine unwillkürliche Bewegung, als wolle sie ihn verhindern, zu lesen; ihr zartes Gesicht war sehr roth geworden. „Ach Gott, wie vergeßlich wird doch so ein alter Kopf!“ klagte sie. „Der Brief wurde vor einigen Stunden aus der Stadt mitgebracht. Er ist vom Kaufmanne Lenz; heute sollte er gar nicht in Deine Hände kommen, und nun habe ich ihn doch liegen lassen. Ich glaube, er enthält das Honorar – zu so ungewöhnlicher Zeit, Leo – ich fürchte –“
Der Doctor hatte das Couvert bereits erbrochen und überflog die Zeilen. „Ja, auch er lohnt mich ab,“ sagte er ruhig und warf den Brief und etwas Papiergeld auf den Tisch. „Grämst Du Dich darüber, Tante?“
„Ich? Nicht einen Augenblick, Leo, wenn ich weiß, daß Du Dir die Undankbarkeit dieser urtheilslosen Menschen nicht zu Herzen nimmst. … Ich glaube unerschütterlich an Dich und Deine Kunst und – an Deinen Stern,“ sagte die sanfte Frauenstimme warm und überzeugungsfroh. „Die Steine, die Mißgeschick und Uebelwollen Dir zeitweilig unter die Füße werfen, beirren mich nicht – Du machst Deinen Weg.“ Sie zeigte in die offene Thür des Eckzimmers. „Sieh’ Dir Dein Stübchen an! Wie ungestört und unbehelligt wirst Du hier denken und arbeiten können! Ach, und wie freue ich mich der Zeit, die wir noch traulich zusammenleben werden, wo ich noch für Dich sorgen darf –“
„Ja, Tante – aber die Einschränkungen, die Du in Folge des mißlichen Umschwungs meiner Verhältnisse während der letzten Monate allmählich eingeführt hast, müssen aufhören. Ich leide nicht mehr, daß Du stundenlang auf dem kalten Steinfußboden der Küche stehst. Wenn möglich, rufst Du noch heute unsere alte Köchin zurück. Du kannst das unbesorgt.“ Er griff in die Brusttasche, nahm eine schwere Börse heraus – sie strotzte von Goldstücken – und schüttete ihren Inhalt auf den Tisch.
Die alte Frau schlug stumm und in freudiger Ueberraschung die Hände zusammen über das rollende Gold auf ihrer einfachen Tischdecke.
„Es ist ein einziges Honorar, Tante,“ sagte er mit hörbarer Genugthuung. „Die schwere Zeit ist vorüber.“ Bei diesen Worten wandte er sich ab und trat auf die Schwelle des Eckzimmers.
Man sah, die Tante hatte Manches auf dem Herzen, aber sie fragte mit keiner Silbe, welcher Cur und welchem Patienten er diese große Geldsumme verdanke.
Käthe benutzte den günstigen Moment, um die Leiter hinabzugleiten. Wie schlug ihr das Herz, wie brannten ihre Wangen vor Beschämung darüber, daß sie diese intimen Erörterungen mit angehört hatte! Dort die Thür führte direct in den Flur. Da hinaus konnte sie unbemerkt entkommen; selbst die Tante Diaconus sollte glauben, sie habe längst das Schlafzimmer verlassen und kein Wort von Allem gehört, was gesprochen worden. Verstohlen flog ihr Blick hinüber in das Eckzimmer, wo die Beiden eben an den Schreibtisch traten. In diesem Augenblicke hörte sie den Doctor sagen: „Sieh da, die ersten Frühlingsblumen! Hast Du gewußt, daß ich die hübschen blauen Blümchen so gern habe?“
Ein Ausruf des Staunens unterbrach ihn. „Ich nicht, Leo – Käthchen, Deine junge Schwägerin, hat die Blumen in das Glas gestellt. … Nein, bin ich zerstreut und vergeßlich!“ Die alte Dame eilte herüber, aber schon drückte Käthe draußen die Thür hinter sich zu und schlüpfte durch den Flur in’s Freie.
Nun ging sie langsam und beruhigt unter den Fenstern hin. Durch die nächsten schimmerten schwach die bunten Bouquets der schief und unvollendet herabhängenden Bettgardine; dann kam sie zu den zwei Fenstern mit den hübschen Filetvorhängen im Zimmer der Tante. Ein Fensterflügel stand offen, und der Hyacinthen- und Narcissenduft wehte heraus. Plötzlich schob eine schöne kräftige Männerhand ein weißes Glas mit blauen Blumen auf den Sims, zwischen die Töpfe; es war ihr kleiner Frühlingsstrauß, den der Doctor von seinem Schreibtische entfernte und hierher brachte.
Sie fuhr heftig zusammen. Flüchtig und unbedacht, wie sie war, hatte sie sich in ein sonderbares Licht gestellt. Daß sie die Blumen auf seinen Tisch gesetzt, mußte er offenbar für die Tactlosigkeit, die Zudringlichkeit eines unbesonnenen jungen Mädchens halten. Sofort blieb sie stehen, und den feuchten Glanz unterdrückter Zornesthränen in den Augen, streckte sie die Hand zum Fenster empor – diese Bewegung machte den Doctor aufsehen.
„Wollen Sie die Freundlichkeit haben, mir die Blumen herauszugeben, Herr Doctor? Sie gehören mir; ich hatte sie für einen Moment aus der Hand gelegt und dann vergessen,“ sagte sie, mühsam ihre Aufregung unter angenommener Ruhe verbergend.
Im ersten Moment schien es, als erschrecke er leicht beim Klange der Stimme, die ihn so unerwartet ansprach, es war ihm doch wohl unlieb, daß Käthe ihn beobachtet hatte, aber er unterdrückte augenblicklich die unangenehme Empfindung und sagte freundlich: „Ich werde Ihnen die Blumen bringen.“ Diese tiefe gelassene Stimme entwaffnete sie sofort – er hatte ihr nicht wehe thun wollen.
Gleich darauf kam er die Stufen herab. Mit dem prächtig niederwallenden Bart, der breiten Brust und den gemessen edlen Bewegungen war und blieb er eine Gestalt, die man sich eigentlich nur in Uniform denken mochte, und wenn auch nur im grünen Waidmannsrocke. Er reichte dem jungen Mädchen das Glas mit einer höflichen Verbeugung.
Sie nahm die Blumen heraus. „Es sind die ersten, kleine, vorwitzige Dinger, die nicht schnell genug in die scharfe Aprilluft herauskommen können,“ sagte sie lächelnd. „Man muß sich vielmal bücken und sie mühsam zusammensuchen, freut sich dann aber auch mehr daran, als an einem ganzen Treibhaus voll Blumen.“ – Nun erst war sie beruhigt; nun glaubte er ganz gewiß nicht mehr, daß sie auf die neue Verwandtschaft hin seinen Schreibtisch plump vertraulich attaquirt habe.
Jetzt erschien auch die Tante am offenen Fenster. Sie entschuldigte sich und bat das junge Mädchen in warmen Worten, recht oft zu kommen.
„Fräulein Käthe geht ja schon in wenigen Wochen nach Dresden zurück,“ antwortete der Doctor fast hastig an Käthe’s Stelle.
Sie stutzte. Hatte er Furcht, sie werde bei ihren Besuchen mit der ahnungslosen alten Frau über sein seltsames Verlobungsverhältniß sprechen? Diese Annahme verdroß sie, aber er that ihr so leid um seiner inneren Leiden willen, die er so streng in seiner Brust verschloß. Und sie konnte ihn nicht einmal beruhigen.
„Ich werde länger bleiben, Herr Doctor,“ versetzte sie ernst. „Ja, es ist leicht möglich, daß sich mein Aufenthalt in Moritzens Hause über viele Monate ausdehnt. Als Henriettens Arzt werden Sie ja am besten beurtheilen können, wann ich meine kranke Schwester ohne Sorge verlassen und zu meinen Pflegeeltern zurückkehren kann.“
„Sie wollen Henriette pflegen?“
„Wie es sich von selbst versteht,“ ergänzte sie. „Schlimm genug, daß ihre Pflege bis heute ausschließlich in fremden Händen gewesen ist. Die Arme verbringt ihre Nächte lieber hülflos, als daß sie sich entschließt, Beistand herbeizurufen, weil die sauren, mürrischen Mienen der verschlafenen Gesichter sie beleidigen, weil sie zu stolz und vielleicht auch zu krankhaft reizbar ist, um sich ihre Abhängigkeit von Untergebenen so fühlbar machen zu lassen. Das darf nicht mehr vorkommen – ich bleibe bei ihr.“
„Sie denken sich die Aufgabe jedenfalls viel zu leicht – Henriette ist sehr krank;“ er strich sich mit der Hand so langsam über die Stirn, daß die Augen für einen Moment nicht sichtbar waren; „es werden schwere, bange Stunden zu überwinden sein.“
„Ich weiß es,“ sagte sie leise und tiefe Blässe deckte secundenlang ihr Gesicht. „Aber ich habe Muth –“
„Daran zweifle ich nicht,“ unterbrach er sie, „ich glaube ebenso an Ihre Geduld wie an Ihre ausdauernde Barmherzigkeit, aber es läßt sich nicht ermessen, bis zu welchem Zeitpunkt die Kranke – keine Pflege mehr brauchen wird. Deshalb darf ich nicht zugeben, daß Sie die Sache so energisch in die Hand nehmen. Sie können es physisch nicht durchsetzen.“
„Ich?“ Sie hob und streckte unwillkürlich ihre Arme und sah stolzlächelnd auf sie nieder. „Kommt Ihnen Ihre Befürchtung nicht selbst unmotivirt vor, wenn Sie mich ansehen, Herr Doctor?“ fragte sie mit einem heiteren Aufblick. „Ich bin von derbem Schrot und Korn; ich bin nach meiner Großmutter Sommer geartet; die war ein Bauernkind, oder vielmehr ein Holzhackerstöchterlein, ist barfuß gelaufen und hat die Axt im Walde besser geschwungen als ihre Brüder – ich weiß es von Suse.“
Er sah von ihr fort zum offenen Fenster hinüber; da stand die alte Frau Diaconus selbstvergessen hinter ihren Hyacinthen und Narcissen, und ihr Blick hing wie verzaubert an dem Mädchen. – Sein Gesicht verfinsterte sich auffallend.
„Es handelt sich weniger um die Stahlkraft der Muskeln,“ sagte er ausweichend. „Ein solches Pflegeramt mit seinen Aufregungen und Aengsten richtet sich feindlich gegen das Nervenleben – übrigens,“ unterbrach er sich, „steht es mir ja gar nicht zu, bestimmend auf Ihre Entschlüsse einzuwirken. Das ist Sache Ihres Vormundes. Moritz soll entscheiden; er wird voraussichtlich darauf bestehen, daß Sie zur festgesetzten Zeit in das Haus Ihrer Pflegeeltern zurückkehren.“ Der Doctor sprach die letzten Worte, ganz gegen seine gewohnte Milde und Gelassenheit, ziemlich schroff.
Die Tante zog sich unwillkürlich tiefer in das Zimmer zurück; Käthe dagegen blieb ruhig stehen „Aber warum denn so unbeugsam, Herr Doctor? Warum wünschen Sie denn, daß Moritz gar so hart mit mir verfährt?“ fragte sie mädchenhaft sanft. „Will ich denn Böses? Und sollte Moritz wirklich die Befugniß zustehen, mich von der Erfüllung meiner schwesterlichen Pflicht abzuhalten? Ich glaube es nicht. … Nun weiß ich aber einen Ausweg: Veranlassen Sie Henriette, mich nach Dresden zu begleiten! Dort theile ich mit meiner Doctorin die Pflege der Patientin; das wird doch meinen Nerven nicht schaden?“ Sie lächelte ganz leise.
„Gut – ich werde einen Versuch machen,“ sagte er sehr bestimmt.
„Dann gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich so bald wie möglich auf- und davonfliegen werde,“ versetzte sie ebenso fest mit einem sprechenden Blick, vor dem er, wie auf einem Unrecht ertappt, die Augen niederschlug.
Die Tante bog sich plötzlich aus dem Fenster und sah dem Doctor erstaunt und beweglich in das Gesicht – er war ja merkwürdig schweigsam. Da stand er nun und löste einige verdorrte Weinranken vom Spalier, die der Zugwind hin- und herschaukelte, und sagte keine Silbe mehr.
„Gehen Sie denn so gern?“ fragte die alte Frau sichtlich verlegen mit liebreichem Vorwurfe.
Käthe zog eben den in den Nacken gesunkenen Schleier wieder über den Kopf und knüpfte ihn fest unter dem Kinn. Wie eine Pfirsichblüthe leuchtete ihr Gesicht aus dem dunkeln Gewebe. „Soll ich aus Höflichkeit ‚Nein‘ sagen, Frau Diaconus?“ fragte sie lächelnd zurück. Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich bin leidlich vernünftig für die Welt und ihre Dinge, wie sie nun einmal sind, erzogen, aber all’ und jede Caprice der Individualität fegt auch die strengste Zucht nicht aus den Seelenwinkeln. Ich stehe z. B. der Großmama meiner Schwestern heute genau so verwunderlich fremd gegenüber, wie damals, wo ich ihr auf Befehl meines Vaters die Hand küssen mußte; ich stoße mich insgeheim consequent an Ecken und Eckchen, die für Andere nicht da sind und welche mich schon als Kind gequält und beunruhigt haben. Und wie durchkältet ist mein Vaterhaus!“ – sie schauerte – „man steht mit seinen warmen Füßen auf zu viel Marmor. Dazu ist Moritz ein so entsetzlich vornehmer Mann geworden“ – zwei schelmische Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen – „man erschrickt und schämt sich ja förmlich, wenn Einem die eigene kahle Visitenkarte vor die Augen kommt … ja, meine liebe Frau Diaconus, ich kehre herzlich gern nach Dresden zurück, vorausgesetzt, daß Henriette mich begleitet; außerdem“ – sie wandte sich, aus dem scherzenden Tone in einen sehr entschiedenen übergehend, wieder an den Doctor – „außerdem werde ich mein Möglichstes thun, mich in die gegebenen Verhältnisse zu schicken und zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß Moritz mich zwangsweise nach Dresden zu befördern versucht.“
Sie grüßte herzlich zu der alten Dame hinüber, verbeugte sich leicht gegen den Doctor und verließ den Garten, um doch noch in die Schloßmühle zu gehen, obgleich bereits der Abend hereinbrach.
Und nun war es ganz dunkel geworden; auf dem Thurme der Spinnerei hatte es Sieben geschlagen, und Käthe saß noch in dem einen Bogenfenster der Schloßmühlenstube. Sie hatte zwar vorher auf Suse’s dringende Bitte hin den Wäscheschrank inspicirt; die Alte traute der Müllerfrau nicht, die pflegend ab- und zuging, und behauptete, nach schöner, „selbstgesponnener“ Wäsche mache „Jede“ lange Finger, dann hatte sie, wie bisher jeden Tag, die Abendsuppe gekocht und die Kranke zu Bett gebracht, die, wenn auch bedeutend wohler, doch noch sehr unbehülflich und schwach war. … Nun aber saß das junge Mädchen doch schon lange Zeit, die Hände feiernd im Schooße gefaltet, still in der Fensterecke und ließ sich von den Schatten des Abends förmlich einspinnen. So gut wurde es ihr drüben im Hause des Commerzienrathes nicht; da gab es kein Erholungsdämmerstündchen wie in Dresden. Sobald die Sonne erloschen, sanken unerbittlich die Rouleaux unter den Händen der Dienerschaft; die Gasflammen schlugen auf, und eine blendende Lichtfluth jagte den Schatten auch aus den fernsten Ecken.
Der dumpfe Pendelschlag der alten Wanduhr klang wie ein tactmäßiges, unterirdisches Klopfen, und durch den dicken, grünen Vorhang der geschlossenen Alkoventhür glomm das Nachtlicht an Susens Bett wie ein verdüstertes Gnomenauge. Das war wieder einmal ein so athemlos stiller Augenblick im Dunkeln. Wie hatte sie als Kind in solchen Momenten gläubig auf das Huschen und Schlurfen weißbestäubter Heinzelmännchen gehorcht, wenn ihr Suse erzählte, daß im Grundsteine der Mühle abergläubischer und barbarischer Weise ein neugeborenes Kind eingeschlossen und der Mauermörtel von dem übermüthigen Erbauer mit kostbarem Wein gemischt worden sei! Heute flogen ihr diese Erinnerungen nur flüchtig durch den Sinn; ihr Auge hing an dem schwachen Dämmerscheine, der durch das Südfenster hereinfiel, auf die Stelle, wo der Schloßmüller gestorben war, und sie dachte an die Art und Weise, wie Doctor Bruck ihr selbst die öffentliche Verurtheilung seiner Person mitgetheilt, und jetzt begriff sie noch weniger als neulich, daß er sich ihr gegenüber zu einer Vertheidigung herabgelassen hatte. … Und wenn die ganze Welt darauf bestand, sie glaubte nicht an ein keckes, gewissenloses Wagen, an dünkelhafte Selbstüberschätzung ohne Kunst und Wissen bei dem Manne, der die ernste, gedankenvolle Ruhe, die schlichte Wahrhaftigkeit und Geradheit selbst war. Und jetzt schoß ihr die Blutwelle wieder heiß und jäh nach dem Herzen, und ein starkes Zorngefühl quoll in ihr auf, wie heute Nachmittag, wo Flora in den crassesten Ausdrücken Bruck’s ärztliches Wirken gebrandmarkt hatte. Was für eine räthselvolle Frauennatur war sie doch, diese gefeierte Flora, dieses einst so sehr gefürchtete und doch heimlich bewunderte Idol der kleinen Käthe! … Henriette hütete sich seltsamer Weise, in den Stunden des Alleinseins mit der heimgekehrten Schwester über das Brautpaar eingehend zu sprechen, aber hier und da waren ihr doch Bemerkungen über die Lippen geschlüpft, aus denen Käthe entnahm, daß Flora anfänglich eine leidenschaftlich liebende Braut gewesen sein mußte.
Doctor Bruck war, nachdem er den deutsch-französischen Krieg als Regimentsarzt mitgemacht und dann längere Zeit einer berühmten ärztlichen Capacität in Berlin assistirt hatte, hauptsächlich auf Wunsch seiner Tante nach M. zurückgekehrt. Der vortheilhafte Ruf, der ihm vorausgegangen, und seine imposante äußere Erscheinung hatten ihn sehr bald zu einem gesuchten Arzt und zu einer wünschenswerthen Partie für die Damenwelt gemacht. Es war mithin keineswegs Herablassung von Seiten der stolzen Flora Mangold gewesen, ihm die begehrte Hand zu reichen. Sie selbst hatte sich ihm auffallend genähert, indem sie einen schmerzhaft verstauchten Fuß keiner anderen Hand, als der des gefeierten neuen Doctors anvertrauen wollte – noch im Krankenhause hatte sie sich mit ihm verlobt und war darum vielfach beneidet worden. Aus diesem Grunde mochte sie auch vor dem peinlichen Aufsehen eines gewaltsamen Bruchs zurückscheuen. Darum diese perfide Lösung, die, auf ein allmähliches beiderseitiges Erkalten gestützt, schließlich von der Welt halbvergessen, geräuschlos vor sich gehen sollte.
Käthe sprang plötzlich auf – der Gedanke war ihr unerträglich, daß sie, im Falle ihres Bleibens, fortgesetzt Zeugin dieser empörenden Komödie sein und mit ansehen sollte, wie der unglückliche Mann trotz seiner starken Liebe und Gegenwehr aus seinem geträumten Paradiese gestoßen würde. Nein, auch sie hielt zu Moritz und Henriette. Flora durfte und sollte ihr Wort nicht brechen; die ganze Familie mußte einmüthig zusammenhalten, dem grausamen Verrath gegenüber. Die Thörin, daß sie so verblendet ihr Glück von sich stieß! Hatte sie ihn noch nie gesehen in seinem Heim, im Zusammenleben mit seiner treuen Pflegemutter? Wußte sie nicht, daß sie auf Händen getragen werden würde, wenn sie ihm das Glück gab, nach welchem er verlangte?
Käthe schrak heftig zusammen und schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht – hier war es dunkel, schauerlich dunkel, so tiefe Nacht, daß die Sünde auf leisen Sohlen bis an die innersten Gedanken der Menschenseele heranschleichen konnte. Hastig lief sie über die Holzstufen und riß die Stubenthür auf – drunten im Flur brannte die große Hauslampe; der helle Schein quoll die Treppe herauf und warf durch die Säulen der Galerie schmale Lichtstreifen vor die Füße des jungen Mädchens, und aus dem Mühlenraum, dessen Thür eben geöffnet wurde, scholl das Lärmen und Tosen, zum Betäuben stark, durch das Haus. Licht und Geräusch verscheuchten augenblicklich den verlockenden Spuk, der sich in die unschuldige Mädchenseele gedrängt hatte. … Das war ja der große, weißgetünchte Vorsaal der Schloßmühle mit dem uralten, lebensgroßen Bildnisse des Erbauers, des geharnischten Mannes dort, der so gespenstig verwischt aus dem wackeligen schwarzen Rahmen niedersah. Einst hatte sie ihn gefürchtet, und jetzt erschien er ihr wie ein alter Freund – er führte sie in die Wirklichkeit zurück, von einem verrätherischen, sündhaften Traumbild hinweg, in welchem sie eine unrechtmäßige Stelle eingenommen hatte. …
Sie stieg die Treppe hinab und verließ die Mühle. Der Zugwind blies ihre heißen Wangen nachtfrisch an, und droben funkelten die goldenen Arabesken, die Sternbilder des Himmels, in köstlicher Klarheit. Käthe schämte sich ihrer müßigen Träumerei – aber war es nicht wie ein Schwindel gewesen, dessen man sich nicht erwehren kann, und der auch die gesündesten und kraftvollsten Menschen plötzlich befällt?
Schon von weitem sah sie die Lichter der Villa durch das Geäst flimmern, und als sie das Haus betrat, da schollen Clavieraccorde durch den Corridor. Das Instrument war prachtvoll, aber es wurde malträtirt durch barbarische Hände. Die Präsidentin hatte heute einen kleinen Empfangsabend; man kam, Alt und Jung, zum Thee. Die Aelteren saßen um den Whisttisch, und die junge Welt musicirte, plauderte und amüsirte sich, wie sie Lust hatte; es war ein zwangloses Zusammensein bis gegen zehn Uhr.
Käthe machte schleunigst Toilette und betrat den Salon, das große Balconzimmer im Erdgeschosse. Es hatten sich heute nur Wenige eingefunden; nur ein Spieltisch war besetzt, und der Theetisch, um den sich die jungen Damen zu gruppiren pflegten, sah einsam und verlassen aus.
Henriette saß hinter der Theemaschine. Sie hatte wieder einmal grellrothe Schleifen in ihrem blonden Haar, und ein ärmelloses Sammetjäckchen von der gleichen schreienden Farbe über einem hellblauen Seidenkleid. Das graue, schmale Gesichtchen sah fast spukhaft aus dem theatermäßigen Putz, aber ihre schönen Augen glänzten förmlich überirdisch. „Bruck ist wieder da,“ flüsterte sie mit heißem Athem und bewegter Stimme Käthe in’s Ohr und zeigte durch den anstoßenden Musiksalon, in welchem noch immer der Concertflügel gemißhandelt wurde, nach Flora’s Zimmer. „Käthe, er sieht aus, als sei er noch gewachsen, so hoch und so überlegen. … Gott im Himmel, mache doch nicht gar so ein ernsthaftes Nonnengesicht!“ unterbrach sie sich heftig – sie war unerklärlich aufgeregt. „Alle sind heute so mürrisch; Moritz hat eine Depesche bekommen und ist sehr zerstreut, und die Großmama hat entsetzlich schlechte Laune, weil ihr Salon leer ist. Ach, und ich bin so froh, so froh! … Weißt Du, Käthe, daß ich vorgestern bei dem schlimmen Anfall geglaubt habe, Bruck sähe mich als Leiche wieder? Nur das nicht! Ich will nicht sterben, wenn er nicht da ist.“
Sie sprach zum erstenmal vom Sterben, und es war gut, daß die clavierspielenden Finger drüben in erneuter Kraft über die Tasten flogen und die drei alten Herren am Kamin im lebhaften Disput ihre Stimmen erhöhten; denn der letzte Ausruf der Kranken hatte laut und leidenschaftlich geklungen; Käthe stieß sie verstohlen an – die Präsidentin warf einen scharfen, mißbilligenden Blick über die Augengläser hinweg nach dem Theetisch. Henriette nahm sich augenblicklich zusammen. „Ah bah, kann mir das Jemand verdenken?“ sagte sie frivol und spöttisch die Achseln emporziehend. „Niemand stirbt gern allein. Der Arzt ist dazu da, daß man bis zum letzten Augenblick Hoffnung aus seinem Zuspruch schöpft.“
Käthe wußte genug. Die Kranke ging nicht mit ihr nach Dresden. Sie wies die Tasse Thee zurück, die ihr Henriette mit hastigen Händen füllte, und zog eine angefangene kleine Stickerei aus der Tasche.
„Ach, lasse den Kram doch stecken!“ sagte Henriette ungeduldig. „Glaubst Du, ich bleibe gefälligst hier sitzen und sehe in grenzenloser Langmuth zu, wie Du den weißen Faden aus- und einziehst?“ Sie erhob sich und schob ihren Arm in den der Schwester. „Gehen wir in das Musikzimmer! Margarethe Giese schlägt uns noch das Instrument und die Nerven entzwei, wenn wir der Quälerei nicht ein Ende machen.“
Sie gingen in den anstoßenden Salon, aber die Dame am Clavier, die in ihren eigenen Leistungen schwelgte, blieb unangefochten … Die breite Flügelthür, die in Flora’s Arbeitszimmer führte, stand, wie gewöhnlich an den kleinen Empfangsabenden, weit offen; man konnte das ganze große Zimmer übersehen. Es erschien mit seinem gedämpften Ampellicht fast dämmerig neben den brillant erleuchteten anderen Räumen, und seine dunkle Purpurfarbe nahm in den Ecken ein düsteres Schwarz an.
Flora stand mit nachlässig verschlungenen Händen am Schreibtisch, während der Commerzienrath bequem im nächsten Fauteuil lag, Doctor Bruck aber blätterte stehend in einem Buche. Er sah ungewöhnlich bleich aus; der von oben herabfallende Lampenschein ließ zwei finstere Stirnfalten und einen tiefen Schatten unter seinen Augen scharf hervortreten, und doch erschien sein ausdrucksvoller Kopf merkwürdig jung im Vergleich zu der schönen Braut.
Henriette ging ohne Weiteres hinüber – das Brautpaar war ja nicht allein. – Käthe aber, welche sie mit sich zog, setzte nur zögernd den Fuß auf die Schwelle; Flora’s Mienen stießen sie zurück; es lag etwas Zornmüthiges, Ungeduldiges darin. Sie war offenbar sehr übler Laune. Ihr Blick lief auch sofort mit sarkastischem Ausdruck über die Gestalt der Schwester hin, die heute zum erstenmal das monotone Schwarz der Kleidung mit dem hellen Grau der Halbtrauer vertauscht hatte.
„Komm nur herüber, Käthe!“ rief sie, ohne ihre Stellung zu verändern. „Bist zwar wie gewöhnlich in starrer Seide, siehst aus wie ein papierener Christengel und machst den robustesten Menschen nervös mit dem ewigen Rauschen und Knistern. Sage mir nur um des Himmels willen, warum Du immer diese entsetzlich schweren Stoffe trägst,“ unterbrach sie sich, „die passen doch zu Deinem Küchenamt in Dresden, wie die Faust auf’s Auge.“
„Das ist meine Schwäche, Flora,“ antwortete Käthe ruhig lächelnd. „Es mag schon kindisch sein, aber ich höre so gerne Seide um mich rauschen – es klingt so majestätisch. Bei meinem ‚Küchenamt‘ trage ich sie selbstverständlich nicht, wie Du Dir wohl selbst sagen wirst.“
„Schau, wie stolz sie das ‚Küchenamt‘ zugiebt! Närrisches Ding! Ich möchte Dich einmal sehen in der Leinenschürze hinter rußigen Töpfen. Nun, Jeder nach seinem Geschmack – ich danke.“ Ihre großen grauen Augen richteten sich langsam und lauernd auf das Gesicht des Doctors, der eben ruhig das Buch zuschlug und es auf den Tisch zurücklegte.
Käthe fühlte, wie sich Henriettens kleine Hand auf ihrem Arm zur Faust ballte. „Ach, geh’ doch, Flora!“ rief sie scheinbar heiter und amüsirt; „vor noch fünf Monaten hast Du oft genug zwischen Christel’s Kochtöpfen drunten in der Küche gewirthschaftet – ob gerade geschickt, das will ich nicht behaupten – aber das gutgemeinte Bestreben und die hübsche weiße Latzschürze standen Dir prächtig.“
Flora biß sich auf die Lippen. „Du faselst wie gewöhnlich und bist damals nicht fähig gewesen, eine scherzhafte Anwandlung als das zu nehmen, was sie hat sein sollen – eine kleine Caprice.“ Sie schlug die Arme unter, und den Kopf gedankenvoll gesenkt, ging sie langsam einige Schritte an den Fenstern hin. Sie sah sehr schön aus in der weißen Alpacaschleppe, die ihr lang und weich nachfloß.
Der Commerzienrath sprang auf. „Nun, Flörchen, ist es Dir gefällig, mit hinüber zu kommen?“ fragte er. „Der Salon ist heute zum Verzweifeln leer – aus guten Gründen; es ist ja diplomatische Soirée beim Fürsten,“ beruhigte er sich selbst. „Wir müssen aber ein wenig Leben hineinzubringen suchen, sonst haben wir die Großmama einige Tage verstimmt und schlecht gelaunt.“
„Ich habe mich bereits für eine halbe Stunde noch entschuldigt, Moritz,“ sagte sie ungeduldig. „Ich muß den Artikel, den ich unter der Feder habe, heute noch schließen. „Das Manuscript läge längst fertig da, wenn Bruck nicht dazwischen gekommen wäre.“
Der Doctor war an den Schreibtisch getreten. „Eilt das so sehr? Und weshalb?“ fragte er, nicht ohne einen leisen Anflug von Humor in Gesicht und Stimme.
„Weshalb, mein Freund? Weil ich mein Wort halten will,“ versetzte sie spitz. „Ah, das amüsirt Dich. Es ist allerdings nur Frauenarbeit, und Du begreifst natürlich nicht, wer in aller Welt auf eine solche Bagatelle warten mag.“
„So denke ich nicht über die Frauenarbeit im Allgemeinen –“
„Im Allgemeinen!“ persiflirte sie hart auflachend. „Ach ja, der allgemeine, landläufige Begriff! Kochen, Nähen, Stricken –“ zählte sie an den Fingern her.
„Du hast mich nicht ausreden lassen, Flora,“ sagte er gelassen. „Ich bezog mich ebensowohl auf die geistige Thätigkeit wie auf die Handarbeit. Ich stehe der Frauenfrage durchaus nicht fern und wünsche, wie alle Billigdenkenden, daß die Frau die Mitstrebende, die verständnißvolle Gehülfin des Mannes auch auf geistigem Gebiet werde.“
„Gehülfin? Wie gnädig! Wir wollen aber keine Gnade, mein Freund; wir wollen mehr; wir wollen Gleichstrebende, Gleichberechtigte nach jeder Richtung hin sein.“
Er zuckte die Achseln und lächelte; sein interessantes Gesicht erschien durch dieses Gemisch von leisem Spott und nachsichtiger Milde ungemein beseelt. „Das ist ja die höchste Potenz der modernen Ansprüche und Forderungen, von der sich die Verständigen längst wieder abgewendet haben, und welche die Freunde des Fortschrittes auf staatlichem und religiösem Boden bekämpfen werden, so lange die Frauenwelt Excesse begeht, wie die Bet-Orgien in den Straßen der amerikanischen Städte, so lange sie urtheilslos und fanatisch mit dem schwarzen Heer der Beichtväter zu gehen pflegt. Das hieße ein mörderisches Messer in eine kleine, unvorsichtige Hand drücken.“
Flora erwiderte kein Wort. Sie war marmorweiß geworden. Anscheinend gleichmüthig nahm sie eine Stahlfeder, probirte sie auf dem Daumennagel und steckte sie in den Federhalter. Dann zog sie einen Kasten auf und ergriff mit etwas unsicher tappender Hand einen kleinen Gegenstand.
Henriette riß plötzlich mit einem gewaltsamen Ruck ihren Arm aus dem der Schwester und trat einen Schritt vorwärts, während der Commerzienrath so rasch aus dem Zimmer ging, als habe er etwas zu besorgen vergessen. Käthe erschrak – sie sah, wie die edelgeformten Finger dort leichtbebend nach dem Federmesser griffen und die Spitze der aus dem Kasten genommenen Cigarre abschnitten.
„Auch ein Messer, das wir nicht führen sollen, zu diesem Zweck nämlich,“ sagte Flora mit erzwungenem Scherz halb über die Schulter nach dem Doctor hin, der während des Sprechens einmal im Zimmer auf- und abgegangen war. „Aber merkwürdiger Weise hat unser um acht Loth ärmeres Frauengehirn doch das mit den Herren der Schöpfung gemein, daß es schärfer denkt und angeregter arbeitet – beim Rauchen. Sie brannte die Cigarre an und schob sie zwischen die nervös-lächelnden Lippen.
Die Clavierspielerin im Nebenzimmer hatte längst ihre rauschende Salonpièce geschlossen und traten diesem Augenblick auf die Schwelle des Salons. „Flora, Du rauchst, Du, die den Cigarrenqualm nie ausstehen konnte?“ rief sie und schlug lachend die Hände zusammen.
„Meine Braut scherzt,“ sagte Doctor Bruck vollkommen ruhig. Er trat wieder an den Schreibtisch. „Sie wird es bei diesem einen Versuch bewenden lassen; ein Mehr könnte ihr theuer zu stehen kommen.“
„Willst Du es mir verbieten, Bruck?“ fragte sie in kaltem Ton, aber in ihren Augen glomm ein unheimliches Feuer auf. Sie hatte die Cigarre für einen Moment aus dem Munde genommen und hielt sie zierlich zwischen den Fingern.
Der Doctor schien nur darauf gewartet zu haben. Mit unzerstörbarem Gleichmuth, ohne alle Hast, nahm er ihr die Cigarre aus der Hand und warf sie in den Kamin. „Verbieten, als Dein Verlobter?“ wiederholte er achselzuckend. „Noch steht mir das Recht nicht in dem Maße zu. Ich könnte Dich bitten, aber ich bin kein Freund von Wiederholungen und unnützen Worten; Du hast ja gewußt, daß ich die Cigarre im Frauenmunde verabscheue. In diesem Falle verbiete ich sie einfach als Arzt – Du hast alle Ursache, Deine Lunge zu schonen.“
Flora stand einen Augenblick wie erstarrt vor seiner Kühnheit, und jetzt, bei seinen letzten Worten, durchzuckte es sie sichtlich; aber sie beherrschte sich sofort. „Das ist ja eine haarsträubende Diagnose, Bruck,“ rief sie spöttisch lächelnd. „Und davon hat mir der abscheuliche Medicinalrath, der mich seit meiner Kindheit behandelt, nicht ein Wort gesagt. Ach was, damit schreckt man Kinder! Uebrigens habe ich keine Ursache, das Leben so zu lieben, daß ich mir zu seiner Erhaltung irgend einen Genuß versagen möchte – im Gegentheil. Ich werde nach wie vor rauchen; es ist mir dies bei meinem schriftstellerischen Beruf nöthig, und dieser Beruf ist mein Glück, mein moralischer Halt; in ihm lebe und athme ich –“
„Bis Dich ein unvermeidlicher Wendepunkt Deinem eigentlichen Beruf zuführt,“ warf der Doctor ein. Seine Stimme klang hart wie Stahl.
Ein erschreckendes Roth überflammte ihr Gesicht; sie öffnete die Lippen zu einer schneidigen, rücksichtslosen Antwort, aber ihr Blick fiel auf Fräulein Giese, die Clavierspielerin, das moquante Hoffräulein, das mit spitzem Gesicht und spitzen Schultern vorgeneigt auf der Schwelle stand, als sauge sie mit Ohren und Augen, ja mit allen Poren aus diesem scharfen Wortwechsel und den verlegenen Gesichtern der Umstehenden das Material zu einem vergnüglichen Hofklatsch, und der war nichts weniger als erwünscht. Flora wandte sich plötzlich mit einer graziös schmollenden Bewegung ab. „Ach, geh doch, Bruck!“ schalt sie. „Wie prosaisch! Kommst eben von einer Vergnügungsreise zurück, hast Dich amüsirt –“
Sie verstummte – Bruck hatte mit festem Druck ihr Handgelenk umfaßt. „Willst Du die Freundlichkeit haben, meinen Beruf aus dem Spiel zu lassen, Flora?“ fragte er, seine Worte scharf markirend.
„Ich sprach von Vergnügen,“ antwortete sie impertinent und zog ihre Hand aus der seinen.
Das Gesicht der Präsidentin mit seinem kühlen Ausdruck war Käthe zu allen Zeiten unsympathisch und flößte ihr bei einem unerwarteten Entgegentreten stets eine Art von scheuem Schrecken ein; in diesem Augenblick aber athmete sie freier auf, als die alte Dame plötzlich in das Zimmer trat. Sie kam ungewöhnlich rasch, sichtlich verdrießlich und ärgerlich. „Ich werde wohl künftig meine Spieltische hierher stellen müssen, wenn ich nicht will, daß meine Freunde vernachlässigt werden,“ sagte sie in sehr gereiztem Ton. „Wie kannst Du zu so früher Stunde schon die Theemaschine im Stiche lassen, Henriette? Es wird mir nichts übrig bleiben, als meine Jungfer dahinter zu setzen. Und Dich, Flora, begreife ich nicht, wie Du Dich an den Schreibtisch zurückziehen magst, wenn wir Gäste haben. Wirst Du wirklich von Deinem Verleger so gedrängt, daß Du Abends arbeiten mußt, dann schließe Deine Thür, wenn die Sache nicht sehr nach Ostentation und gelehrter Coquetterie aussehen soll!“ Sie mußte sehr aufgebracht sein, daß sie sich so unumwunden vor einer Dame vom Hofe aussprach.
Flora legte ihr Manuscript zurecht und tauchte die Feder ein. „Beurtheile das, wie es Dir beliebt, Großmama!“ sagte sie kalt. „Ich kann nicht dafür, daß man mich hier aufsucht, und säße längst mit Aufopferung meiner selbst an einem Deiner grünen Tische, wenn man mich nicht gestört hätte.“
Henriette schlüpfte an der Präsidentin vorüber und winkte Käthe verstohlen, ihr zu folgen. „Diese Aufregungen tödten mich,“ flüsterte sie drüben im leeren Musikzimmer.
„Sei ruhig! Flora kämpft vergeblich; er zwingt sie doch zu seinen Füßen,“ sagte Käthe mit eigenthümlich erregter Stimme. „Aber ihn begreife ich nicht. Wäre ich ein Mann wie er –“ sie richtete sich mit flammenden Augen hoch und stolz empor.
„Weißt Du, wie die Liebe thut, Käthe? Richte nicht! Du mit Deinem kühlen Blicke und blumenfrischen Gesichte bist noch unberührt von dem rasenden Rausche, der die Menschenseele erfaßt.“ Sie unterbrach sich und schöpfte tief und mühsam Athem. „Du weißt ja nicht, wie hinreißend und verführerisch Flora sein kann, wenn sie will; Du kennst sie nur in ihrer jetzigen nichtswürdigen Rolle, diese feige, selbstsüchtige, erbarmungslose Seele. Wer sie einmal Liebe gebend gesehen hat, der begreift, daß ein Mann eher den Tod sucht, als daß er sie aufgiebt.“
Sie ging, ihr vernachlässigtes Amt am Theetische wieder aufzunehmen. Käthe aber blieb am Flügel stehen und blätterte in den Noten. Die letzten Worte Henriettens hatten sie tief bewegt. War verschmähte Liebe wirklich so seelenerschütternd, daß man um ihretwillen sterben möchte? Und hatte sie diese tragische Gewalt auch über einen Mann wie Bruck?
Er verließ eben mit festen Schritten Flora’s Zimmer; auch die Präsidentin rauschte eilig vorüber; es hatten sich noch zwei ältere Damen im Salon eingefunden, welche sie begrüßen mußte. Die Thür nach dem Arbeitszimmer blieb nach wie vor offen; jedenfalls wurde der fragliche Artikel consequentermaßen beendet, denn nachdem auch Fräulein von Giese wieder herübergekommen war und sich abermals präludirend an den Flügel gesetzt hatte, wurde es ganz still drüben.
Käthe verfolgte mit einem Seitenblick den Doctor, wie er den Salon durchschritt. Er trat an den Theetisch, um mit Henriette zu sprechen; allein eine der neuangekommenen Damen hielt ihn fest und verwickelte ihn in ein Gespräch. Er war ritterlich verbindlich und sehr ruhig in seinen Geberden, aber Käthe hatte vorhin bei Flora’s malitiöser Antwort eine Flamme in seinen Augen lodern sehen; er hatte jäh die Farbe gewechselt, und auch jetzt noch brannte ein erhöhtes Roth auf seinen Wangen – er war nicht so ruhig heiter, wie er zu sein schien. Und seine schöne Widersacherin drüben im rothen Arbeitszimmer war es ebenso wenig; schon nach fünf Minuten stieß sie hörbar ungeduldig den Stuhl zurück und kam herüber.
„Nun, Flora, schon fertig?“ fragte das Hoffräulein und ließ die unermüdlichen Finger in Terzen über die Tasten laufen.
„Bah, glaubst Du, man schüttelt einen wirksamen Schluß nur so aus dem Aermel? Ich bin eben nicht mehr aufgelegt, und ohne Inspiration schreibe ich nun einmal nicht; dazu ist mir der Schriftstellerberuf zu heilig.“
Fräulein von Giese zwinkerte eigenthümlich boshaft mit den Augen; sie hatte einen falschen Blick. „Ich bin sehr gespannt, wie die Kritik Dein großes Werk ‚Die Frauen‘ aufnehmen wird. Du hast uns so viel davon erzählt. Hat der Verleger es angenommen?“
Flora hatte das Augenspiel wohl bemerkt. „Es wäre Euch schon recht, Ihr treuen Seelen, wenn es Fiasco machte – nicht wahr, Margarethe?“ sagte sie beißend. „Aber das Gaudium erlebt Ihr nicht; das sagt mir mein – nun, mein kleiner Finger.“ Sie lachte leise und übermüthig, schüttelte die duftigen Löckchen aus der Stirn und schickte sich an, den Salon mit jener vornehmen Nachlässigkeit zu betreten, welche sie wie eine stolze Fürstin anzunehmen wußte.
„Kind, Du stehst ja da, mit dem Notenhefte in der Hand, als wolltest Du auch unsere Ohren in Anspruch nehmen,“ sagte sie im Vorübergehen zu Käthe mit spöttischem Tone und einem sprechenden Seitenblicke nach der emsigen Clavierspielerin. „Singst Du denn?“ Käthe schüttelte den Kopf. „Das müßte ein Sommer’s-Erbtheil sein; unsere Familie hat keine Singstimmen.“
„Ja, Flora, Käthe treibt Musik,“ rief der Commerzienrath herüber. Er sprach mit einem Herrn in der Nähe der Thür und trat jetzt näher. „Ich weiß es aus den Rechnungsbelegen der Doctorin. Viel Geld, Käthe! Ich habe es Dir schon sagen wollen: Du hast sehr theure Lehrer.“
Das junge Mädchen lachte. „Die besten, Moritz. Wir in Dresden sind praktische Leute; das Beste ist das Billigste.“
„Nun, mir ist’s schon recht. Hast Du denn aber auch Talent?“ fragte er in zweifelhaftem Tone; „die musikalische Begabung lag allerdings nicht in der Familie Mangold.“
„Den Trieb wenigstens,“ versetzte sie einfach, „und die Neigung, Melodien zu ersinnen.“
Flora, die eben auf die Schwelle des Salons trat, wandte sich überrascht um. „Geh’ doch, Käthe!“ sagte sie hastig. „Melodien ersinnen! Du siehst mir danach aus mit Deinen rothen Backen und Deiner Hausfrauenerziehung. Eine Polka oder ein Walzer läuft wohl Jedem, der gerne tanzt, einmal durch den Kopf –“
„Und ich tanze leidenschaftlich gern, Flora,“ unterbrach Käthe sie heiter und aufrichtig bekennend.
„Siehst Du? Wer wird sich da gleich den Anschein tiefsinniger Productivität geben! Und darauf hin nimmst Du wohl gar Unterricht in der Composition?“
„Ja, seit drei Jahren.“
Flora schlug die Hände zusammen und kam ganz erregt in das Musikzimmer zurück. „Ist denn Deine Lukas,“ – sie nannte die ehemalige Gouvernante immer noch bei ihrem Mädchennamen – „von Sinnen, daß sie das Geld so zum Fenster hinauswirft?“
Es war ziemlich still im anstoßenden Salon. Die drei alten Herren am Kamine und die Dame, welche mit dem Doctor gesprochen, hatten eben auch einen Spieltisch besetzt; Doctor Bruck saß in leisegeführter Unterhaltung neben Henriette, und Fräulein von Giese pausirte aufhorchend für einen Moment; so konnte man jedes Wort dieses ziemlich lauten Gespräches drüben hören.
Henriette sprang auf und kam herüber. „Du bist musikalisch, Käthe,“ fragte sie erstaunt, „und hast, so lange Du da bist, nicht eine Taste berührt?“
„Der Flügel steht neben Flora’s Zimmer; wie konnte ich denn so anmaßend sein, sie mit meinem Clavierspiele im Arbeiten zu stören?“ antwortete das junge Mädchen unbefangen und natürlich. „Ich habe freilich schon den lebhaften Wunsch gehabt, und es hat mir in den Fingern gezuckt, auch einmal auf dem Instrumente hier zu spielen, denn es ist herrlich, und mein Pianino daheim taugt nicht viel. Wir haben es vor fünf Jahren alt gekauft. Die Doctorin will schon seit lange ein besseres von Dir fordern, aber ich war immer dagegen. Es war mir fatal, daß Du von dieser Forderung auf meine Leistungen schließen könntest. Nun aber, nachdem ich heute den bewußten Schrank gesehen habe, bin ich durchaus nicht mehr so blöde; ich wünsche mir ein Instrument wie dieses.“
„Es kostet tausend Thaler; tausend Thaler für eine kleine Mädchenpassion! Das will überlegt sein, Käthe.“
„Und wer im Hause spielt denn auf Eurem Instrumente?“ fragte sie jetzt mit fast harter Stimme und aufglühenden Augen; man sah, sie war im Innersten verletzt. „Wem verschafft es einen Genuß in stillen Stunden? Es steht nur für Gäste da. Muß denn das Capital immer so angelegt sein, daß es nur brillirt?“
Der Commerzienrath trat ihr ganz betroffen näher und erfaßte ihre Hand; er hatte diesen Ausdruck voll Energie und eigener fester Urtheilskraft noch nicht in dem blühenden Mädchenantlitze gesehen. „Ereifere Dich nicht, liebes Kind!“ begütigte er. „Bin ich denn je ein harter und knickeriger Vormund gewesen? Geh’, spiele eine Pièce und beweise uns, daß Dir die Beschäftigung mit der Musik wirklich Herzenssache ist! Mehr verlange ich gar nicht, und Du sollst ein Instrument haben, wie Du es Dir wünschest.“
„Nun, nach dem Vorhergegangenen thue ich’s nicht gern,“ sagte sie aufrichtig und unumwunden und entzog ihm ihre Hand. „‚Erspielen‘ will ich mir den Flügel keinenfalls, wer weiß denn, was für eine Leistung Du unter der ‚Herzenssache‘ verstehst! Aber ich werde meine Noten holen, weil mir das ‚Sichnöthigenlassen‘ verhaßt ist.“
Sie wollte sich entfernen.
„Wozu denn Musikalien? Spiele doch eine Deiner ‚Compositionen‘!“ sagte Flora, ein sardonisches Lächeln halb verbeißend.
„Ich kann auch meine eigenen Arbeiten nicht auswendig,“ antwortete Käthe hinausgehend.
Sie kam sehr rasch mit einem Notenhefte in der Hand zurück. Während sie sich auf den Clavierstuhl setzte, den ihr Fräulein von Giese bereitwillig einräumte, nahm Flora das Heft vom Notenpulte. „Von wem?“ fragte sie, das Titelblatt aufschlagend.
„Nun, hast Du nicht eine Composition von mir zu hören gewünscht?“
„Allerdings, aber Du hast Dich vergriffen – das Tonstück da ist ja gedruckt –“
„Ganz recht. Es ist gedruckt.“
„Mein Gott, wie kommt denn das?“ fuhr Flora so rasch, so naiv erstaunt und betreten heraus, daß sie auf einen Augenblick ihre selbstbewußte Haltung einbüßte.
„Ja, Flörchen, wie kommt es denn, daß Deine Sachen gedruckt werden?“ fragte Käthe scherzend, mit Humor zurück und legte ihre schönen, schlankgebauten Hände auf die Tasten. „Ich will Dir sagen, wie ich zu der Ehre gekommen bin,“ setzte sie schnell und begütigend hinzu – Flora hatte offenbar ihre Antwort sehr übel genommen; sie richtete sich beleidigt empor und sah mit hochmüthigem Blicke auf die junge Schwester herab. „Meine Lehrer haben die ‚Phantasie‘ heimlich drucken lassen, um mir eine Geburtstagsfreude zu machen.“
„Ah so – das konnte man sich denken,“ sagte Flora und legte die Noten auf das Pult zurück.
Henriette war währenddem hinter ihr weggeschlüpft; sie bog sich über Käthe’s Schulter und zeigte mit dem Finger auf das Titelblatt. „Lasse Dir doch nichts weißmachen, Flora!“ rief sie auflachend. „Sieh her! Da steht der berühmte Verlag von Schott und Söhne – die Firma giebt sich doch zu einem Geburtstagsspaße nicht her. Käthe, sage die Wahrheit!“ bat sie mit strahlenden Augen. „Man spielt Deine Sachen draußen in der Welt – sie werden gekauft?“
Das junge Mädchen nickte erröthend und bestätigend mit dem Kopfe. „Die Wahrheit ist aber auch, daß ich um mein eigenes Hinaustreten nicht gewußt und das erste Opus gedruckt auf meinem Geburtstagstische gefunden habe,“ sagte sie und begann ihren Vortrag.
Es war eine ganz einfache Melodie, welche an das Ohr der Hörer schlug, aber schon nach einigen Tacten ließen die am Spieltische Sitzenden die Whistkarten sinken, so sammetweich quollen die Töne aus dem Instrumente, und so durch und durch originell und herzergreifend klang die neue Weise. Die junge Componistin saß da, die Augen ernst sinnig auf die Noten geheftet, in so ruhiger Haltung, daß man das schwarze Jetkreuz auf ihrer Brust unter den Athemzügen beben sehen konnte. Da war kein Brilliren mit Fingerfertigkeit, kein „Wühlen in den Tönen“ – man fragte sich nicht, ob das Spiel correct sei; man dachte überhaupt nicht an das Spiel, so wenig wie man bei einem erschütternden Gesange an die Mundstellung des Sängers denkt, und als die Melodie schwieg, die nicht einmal zum Schlusse in die rauschende Gangart eines modernen Concertstückes verfallen war, da blieb es noch einen Augenblick so athemlos still, als dürfe die entfliehende Tonseele, die eben noch so innig gesprochen, nicht durch lautes Geräusch erschreckt werden. Dann aber wurde es lebendig drüben im Salon. Die Herren riefen „Bravo!“ „Scharmant!“ und „Superbe!“, und die Damen bedauerten, daß der Papa Mangold das nicht erlebt habe. Man war überrascht, gerührt und – griff wieder zu den Karten.
„Die reizende ‚Phantasie‘ müssen Sie mir geben, Fräulein. Ich werde sie der Fürstin vorspielen,“ sagte die Hofdame mit Protectormiene.
„Und den schönsten Concertflügel, der je gebaut worden ist, sollst Du haben, Käthe!“ setzte der Commerzienrath enthusiastisch hinzu.
Henriette aber schmiegte liebkosend ihr blasses Gesicht an die blühende Wange der Schwester und flüsterte mit feuchten Augen: „Du Auserwählte!“
Schon nach den ersten Tönen war Flora wie verscheucht vom Flügel weggetreten und geräuschlos hinausgegangen. Langsam glitt sie drüben im rothen Zimmer hin und wieder, bei jeder herzerschütternden Wandlung der Melodie einen förmlich erschreckten Blick nach dem genialen Mädchen am Clavier werfend, und nun, als der letzte Ton verklungen, war die ruhelos schwebende weiße Gestalt verschwunden; sie hatte sich jedenfalls in die Schreibtischecke am Fenster zurückgezogen.
„Ah, mir scheint, Flora nimmt es übel, daß sie nun nicht mehr die einzige ‚Berühmtheit‘ der Familie Mangold sein wird,“ sagte Fräulein von Giese halb für sich, halb zum Commerzienrath gewendet mit boshaftem Geflüster.
Der Commerzienrath lächelte; er lächelte stets, wenn Jemand vom Hofe vertraulich zu ihm sprach, aber er vermied es, zu antworten.
„Auf Deine Doctorin bin ich übrigens sehr böse, weil sie mir niemals Näheres über Deine musikalische Begabung mitgetheilt hat,“ sagte er zu Käthe, die eben ihren Platz am Flügel verließ.
Sie lachte.
„Bei uns daheim wird überhaupt kein Aufhebens davon gemacht,“ versetzte sie unbefangen. „Die Doctorin ist eine Frau, die mit ihrem endgültigen Urtheil kargt und zurückhält; sie weiß, daß ich noch sehr viel zu lernen habe.“
„Ach, geh’ mir doch! Das ist schon mehr spartanische Erziehung –“
„Oder auch das ausgesuchteste Raffinement, mit welchem man einen großen Erfolg in Scene zu setzen wünscht,“ fiel Flora ein, die eben unter die Thür trat; ihr Gesicht glühte wie im Fieber. „Mir machst Du nicht weiß, Käthe, daß Du so harmlos bescheiden über Dein Talent denkst, daß Du wirklich so wenig Gewicht darauf legst, um bei einem fünftägigen Aufenthalt in unserem Hause gar nicht zu thun, als kenntest Du auch nur eine Note – das ist falsch, hinterlistig gegen mich, gegen uns Alle.“ Der aufquellende Groll erstickte fast ihre schöne, klangreiche Stimme.
„So urtheilst Du, Flora?“ brauste Henriette empört auf. „Du, die nie müde wird, ihre schriftstellerischen Bestrebungen, ihre ‚gelehrten Studien‘ in jedes Gespräch zu ziehen und breitzutreten, die sich in ihrem Bekanntenkreise bereits auf Erfolge stützt, welche noch abzuwarten sind –“
„Henriette, besorge den Thee!“ rief die Präsidentin in scharfem, strengem Tone herüber – man war zu laut im Musikzimmer.
Die Angerufene ging grollend hinaus.
„Du irrst, Flora, wenn Du denkst, ich lege kein Gewicht auf mein Talent,“ sagte Käthe vollkommen ruhig, während die geistesstolze Schwester zornig an der Unterlippe nagte und die Hinausgehende mit einem bitteren Blicke verfolgte. „Dann wäre ich unwahr gegen mich selbst und auch namenlos undankbar, denn es verschafft mir himmlische Stunden. Es ist Zufall, daß ich nicht gleich bei meiner Ankunft darüber gesprochen habe; denn gerade die Musik ist schuld, daß ich einen Monat früher hierher gekommen bin. Mein Lehrer in der Composition mußte auf vier Wochen verreisen, und weil ich dann volle zwei Monate den Unterricht eingebüßt haben würde, entschloß ich mich rasch und verließ Dresden mit ihm zugleich.“
Bei diesen letzten Worten des jungen Mädchens ging Fräulein von Giese in den Salon, sichtlich widerwillig sich losreißend – die Erörterungen waren ja doch zu pikant – aber ihr Vater, ein alter pensionirter Oberst, war eben gekommen; er mußte begrüßt werden, auch der Commerzienrath ging hinaus.
Flora trat wieder an den Flügel und nahm das Notenheft vom Pult. Käthe sah, wie sich der schöne Busen der Schwester unter fliegenden Athemzügen hob, wie ihre Hand in nervöser Aufregung bebte; Käthe bereute bitter die Arglosigkeit, mit der sie das kleine Werk in diesem Kreise vorgeführt hatte.
„Man hat Dir wohl viel Schmeichelhaftes darüber gesagt?“ fragte Flora und schlug mit der umgekehrten Rechten auf das Titelblatt – ihre Augen hingen verzehrend an den Lippen der Schwester.
„Wer denn?“ entgegnete Käthe. Meine Lehrer sind eben so zurückhaltend mit ihrem Lob wie die Doctorin, und Andere wissen nicht um meine Autorschaft; Du siehst doch, der Name des Componisten fehlt.“
„Aber das Werkchen wird viel gekauft?“
Käthe schwieg.
„Sage nur die Wahrheit! Ist es schon mehr als einmal aufgelegt worden?“
„Nun ja.“
Flora warf das Heft auf den Flügel. „Zu solch einem Backfisch mit dem dicken Posaunenengel-Gesicht und der unverkümmerten Seelenruhe kommt der Ruhm im Schlafe, und Andere müssen qualvoll kämpfen um jede Staffel; sie sterben fast im glühenden Ringen und Streben, ehe sie auch nur genannt werden,“ stieß sie bitter heraus. Sie schlug die Arme unter und ging auf und ab.
„Nun, was thut’s im Grunde?“ sagte sie plötzlich stehenbleibend, wie erleichtert. „Die glänzendste Rakete verpufft spurlos droben in der Luft; sie ist dagewesen, während der Feuerkern im Vesuv fort und fort glüht; die Welt weiß um sein Dasein, und wenn er seine Flammen ausstößt, dann jubelt oder zittert das Menschenherz. Ganz gut so, da sind es eben Zwei aus der Familie Mangold, die hinaustreten in die Arena. Wir wolle sehen, Käthe, wer von uns beiden die brillanteste Carriere macht.“
„Ich ganz gewiß nicht,“ rief Käthe heiter und strich sich ein rebellisches Löckchen aus der Stirn. „Ich werde mich hüten, in die Arena zu gehen. Denke ja nicht, daß ich unempfindlich bin gegen Erfolge! Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, zu sehen, daß man mit seinen Schöpfungen die Herzen Anderer rührt und bewegt, und das gäbe ich nicht hin um alle Schätze der Welt.
[129] Aber blos dafür und deshalb zu leben? Nein, ich sehe daheim zuviel Glück, zuviel beseligendes Zusammensein und Zusammenwirken – was hilft mir der Ruhm, wenn er mich einsam läßt?“
„Aha, da haben wir ja die Bescheerung, die ganze hausbackene Quintessenz deiner Erziehung! Wie es dieses Fräulein Lukas selbst unablässig erstrebt und schließlich durchgesetzt hat, so wirst Du es auch machen – Du willst Dich verheirathen.“ Sie lachte in verletzendem Spott hell und schneidend auf.
Das köstliche Carminroth auf den Wangen des jungen Mädchens breitete sich plötzlich bis an die Haarwurzeln der Stirn; es lief selbst über den schneeweißen runden Hals hinab. „Du lachst und spottest, als sei es Dir nie eingefallen, dasselbe zu thun,“ sagte sie entrüstet, aber mit unwillkürlich gedämpfter Stimme, „und doch –“
Flora streckte so rasch die Hand aus, als wolle sie die schönen Mädchenlippen zupressen. „Bitte, kein Wort weiter!“ rief sie gebieterisch. Sie verschränkte die Arme wieder unter dem Busen und neigte langsam zustimmend den Kopf. „Ja, mein sehr weises Fräulein, ich war allerdings für einen Moment so schwach und verblendet, mir ein Netz überwerfen zu lassen, aber Gott sei Dank, der Kopf ist wieder draußen; er ist klar und stark genug, sich die Freiheit zurück zu erobern.“
„Und hast Du gar kein Gewissen, Flora?“
[130] „Ein sehr empfindliches sogar, mein Schatz; es sagt mir eben, daß es ein unverantwortlicher Leichtsinn gewesen ist, mich selbst so hinzuwerfen. Du wirst bibelfest genug sein, um zu wissen, daß Jeder dafür verantwortlich gemacht wird, wie er sein Pfund verwerthet. Sieh mich an, kannst Du Dir wirklich denken, ich würde zeitlebens als simple Frau Doctorin am Herde stehen und Gemüse kochen? Und für wen?“ Sie neigte den Kopf bezeichnend nach dem Salon, aus welchem jetzt lebhaftes Stimmengeräusch herüberscholl; mit dem Eintritte des alten Obersten von Giese war Leben und Bewegung in die Gesellschaft gekommen, nur Doctor Bruck saß allein am Theetische und las in einer Zeitung; er war scheinbar sehr vertieft und hatte kaum aufgesehen, als Henriette an seine Seite zurückgekehrt war.
„Siehst Du, daß auch nur einer der Herren mit ihm verkehrt?“ fragte Flora mit unterdrückter Stimme. „Er ist geächtet, und mit allem Recht. Er hat mich und die Welt betrogen; sein ihm vorausgegangener brillanter Ruf ist eitel Reclame gewesen.“
Sie brach ab und zog sich rasch in ihr Zimmer zurück, jedenfalls, um dem alten redseligen Obersten aus dem Wege zu gehen, der jetzt in Begleitung seiner Tochter und des Commerzienrathes in das Musikzimmer trat und sich Käthe vorstellen ließ. Auf seine Bitte setzte sich das junge Mädchen noch einmal an das Instrument und spielte. Wunderlich! Mit was für Augen ihr Schwager und Vormund nach ihr hinsah, sobald sie den Blick vom Notenblatte hob, so feurig, so unerklärlich, durchaus nicht so brüderlich vertraut, wie er ihr als Kind die Bonbondüten und gestern noch ein schönes Bouquet aus der Stadt mitgebracht hatte. Sie ließ ihm stets willig die Hand, wenn er sie im Gespräche erfaßte, und litt es, daß er ihr liebkosend die Locken aus der Stirn strich; er that das so harmlos, wie es ihr Vater einst gethan, und jetzt, als sie die Hände von den Tasten sinken ließ, trat er unter dem rauschenden Beifall der Anderen rasch auf sie zu und legte seinen Arm um ihre Schultern.
„Käthe, was ist aus Dir geworden!“ flüsterte er, sich über sie herabbeugend. „Wie erinnerst Du mich an Clotilde, Deine selige Schwester! Aber Du bist schöner, ungleich begabter.“
Sie griff mit der Linken nach dem Arme, um ihn abzustreifen, aber Moritz erfaßte nun auch die Hand und hielt sie mit festem Drucke, als sei es für’s ganze Leben. Für die Anwesenden war das ein hübsches Bild, eine selbstverständliche, harmlose Gruppe. Der Vormund umarmte stolz und hingerissen seine Mündel, das ihm anvertraute Kind seines Schwiegervaters. Nur Henriettens bleiches Gesicht war sehr roth geworden; sie lächelte so eigenthümlich. Doctor Bruck neben ihr sah nach seiner Uhr, dann reichte er Henriette verstohlen die Hand und benutzte die allgemeine Aufregung, um sich unbemerkt zu entfernen.
Seit dem Gesellschaftsabend war eine Woche verstrichen; „eine entsetzlich fatiguirende Woche!“ seufzte erschöpft die Präsidentin und schalt gleich darauf nachdrücklich und energisch ihre Schneiderin, daß sie die Toilette zu dem achten dieser ermüdenden Tage nicht elegant genug arrangirt habe, daß die Schleppe absolut zu kurz, die Spitzen nicht breit genug, die Stoffe allzu leicht seien. Es waren mehrere große Damenthee’s und Kaffeegesellschaften in den höchsten Kreisen zu bewältigen gewesen; außerdem hatte Flora zu lebenden Bildern, die bei einem kleinen Hoffest gestellt wurden, die Verse machen und sprechen müssen, „man war kaum zu Athem gekommen.“
Henriette mußte aus Rücksicht auf ihr verschlimmertes Kranksein dieses aufregende Treiben streng meiden, und Käthe blieb, obgleich sie stets sehr freundlich mit eingeladen wurde, consequent bei ihr zu Hause. Dann tranken sie den Thee allein im Musikzimmer, und Käthe erzählte Schnurren und spielte unermüdlich Clavier, um Henriettens Trübsinn zu verscheuchen. So scharf auch die Urtheilskraft der Kranken war, so tief sie auch das Oberflächliche, die wehende Kühle in dem gesellschaftlichen Leben und Treiben empfand, sie war und blieb doch das Kind der vornehmen Welt; sie war im Salon, unter den aristokratischen Freunden der Großmama aufgewachsen, und so sagte sie oft bitter lächelnd, wenn zur Thee- oder Theaterstunde das Getöse der rollenden Wagen von der Stadt fern herüberscholl, ihr sei zu Muthe, wie einem invaliden Streitroß, das, lahm und schwach, beim Signal die Ohren spitze und um Alles gern mitlaufen möchte.
Blendend wie eine Fee schwebte Flora abschiednehmend durch das Musikzimmer. Sie hatte meist eine Unmuthsfalte zwischen den Brauen und ein Spottlächeln auf den Lippen, das den jugendlich knappen Toiletten der Großmama galt; sie beklagte die verlorene kostbare Zeit, aber sie warf den schützenden Schleier über die blumengeschmückten Locken, nahm die Schleppe auf und ging, um draußen den wartenden Wagen zu besteigen und – „sich zu opfern“.
Der Commerzienrath war vor sechs Tagen in Geschäften nach Berlin gereist. Er schrieb täglich an die Präsidentin „wahrhaft goldtrunkene Briefe“, sagte sie bedeutungsvoll lächelnd. Vorgestern aber waren prachtvolle Bouquets an die drei Schwägerinnen gekommen, und da hatte die Frau Präsidentin nicht gelacht. Für Flora und Henriette hatte der galante Schwager Camellien und Veilchen binden lassen, Käthe’s Rosenstrauch dagegen strotzte von Orangenblüthen und Myrthe. Der Präsidentin wäre wahrscheinlich die zarte Sprache aus der Ferne entgangen; sie nahm achtlos die Bouquets aus der Kiste und war eben im Begriff, die zwei für Henriette und Käthe bestimmten hinaufzuschicken, als Flora, sich schüttelnd vor Lachen, mit dem Finger auf das ausdrucksvolle Blumenarrangement zeigte. Da wurde das Gesicht der alten Dame lang und fahl, wie noch nie in ihrem ganzen, langen Leben. „Aber, Großmama, hast Du denn wirklich geglaubt, Moritz werde sich den Adel mit solchen Unsummen erkaufen, um dann sein Geschlecht aussterben zu lassen?“ rief Flora in ihrer übermüthigen, frivolen Scherzweise. „Du hättest doch wissen müssen, daß ein Mann wie er, noch ziemlich jung, reich und stattlich, nicht zeitlebens Wittwer bleiben wird! Und er freit nicht vergeblich um Käthe – das weiß ich am besten.“
Mit diesem kleinen Zwischenfall trat plötzlich ein Spukwesen in der Villa Baumgarten auf. Käthe ahnte sein Dasein nicht; sie hatte die auf Draht gebundenen Blumen mit frischem Wasser bespritzt, um sie nicht so rasch verschmachten zu lassen, und das Bouquet auf das Fensterbrett gestellt, ohne die bedeutungsvolle Blumenschrift verstanden zu haben. Durch die Gemächer der Präsidentin aber wandelte die graue dräuende Gestalt; sie verdüsterte den Glanz der vielfach beneideten Seidensammt-Möbel, der Goldbronzen und der unschätzbaren Meißner Porcellangarnitur; sie saß im Wintergarten auf dem Lieblingsplatz der Präsidentin und vergällte ihr den Genuß an Allem, was ihr das Leben schmückte. Die alte Dame sorgte um ihre Zukunft, als habe sie erst die Hälfte ihres Lebens hinter sich; der Commerzienrath durfte sich nicht wieder verheirathen; er war ihr das schuldig. Sie hatte ihn durch ihre Connexionen, ihren gesellschaftlichen Einfluß erst zu dem gemacht, was er geworden war; sie hatte mit ihrem unvergleichlichen Geschmack sein Haus zu einem kleinen Schloß umgestaltet, das selbst den verwöhntesten Hofleuten imponirte, und war es ihrerseits nicht ein bedeutendes Opfer, ein Act der Selbstüberwindung gewesen, mit welchem sie sich an die Spitze seines damals noch ziemlich simplen, bürgerlichen Hauswesens gestellt? Und nun, als sich Alles so gefügt, wie sie gewünscht und unablässig erstrebt hatte, nun sollte es plötzlich eine junge Frau von Römer geben, die hier unten in den prachtvollen Räumen empfing – und wer die Frau Präsidentin Urach sehen wollte, der mußte hinaufsteigen in „das Auszugsstübchen“, das man „der Großmama“ eingeräumt. Nicht einmal Flora, das Kind ihrer eigenen Tochter, hätte sie an dieser Stelle sehen mögen, geschweige denn die Enkelin des Schloßmüllers. Die Frau Präsidentin sprach mit einem Mal sehr interessirt von Käthe’s Heim in Dresden; sie zeigte sich so besorgt, daß das wundervolle musikalische Talent vier Wochen lang brach liegen müsse, und ging mit der Idee um, das junge Mädchen in höchsteigener Person nach Dresden zurückzubringen.
Käthe ließ alle diese ausgesuchten Höflichkeiten schweigend über sich ergehen. Sie wollte abwarten, ob sich Henriette nicht doch durch Doctor Bruck bestimmen ließe, die Schwester zu begleiten. Bis jetzt hatte er noch keinen Versuch gemacht, wahrscheinlich weil er den Plan an der Reizbarkeit der Kranken nicht scheitern sehen mochte, und aufgeregt und gereizt war sie augenblicklich in hohem Grade. Er kam jeden Morgen um die bestimmte Stunde. Die Wohnzimmer der beiden Schwestern stießen an einander, und die Thür stand stets offen. Käthe hörte dann seine beschwichtigende Stimme, sein sanftes Zureden; er konnte aber auch so herzlich auflachen, daß die Kranke unwillkürlich einstimmte. Für Käthe’s Ohr hatte dieses metallreiche, frohmüthige und doch so angenehm beherrschte Lachen einen eigenthümlichen Reiz – es zeugte so unwiderleglich von der unangetasteten Jugendfrische der Seele; es bewies ihr, daß er seiner Sache, seiner Zukunft gewiß war, daß er sich auch innerlich absolut nicht den tausend Widerwärtigkeiten und Kränkungen beugte, die auf ihn einstürmten.
Sie selbst sprach ihn nicht. Um diese Zeit meist an ihrem Arbeitstische sitzend, konnte sie ihn drüben auf- und abwandeln sehen, aber so unzertrennlich auch sonst die beiden Schwestern waren, kurz vor der Besuchsstunde des Arztes zog sich Henriette stets in ihr Zimmer zurück, und Käthe hütete sich, mit einem hinübergerufenen Worte oder auch nur einem verständnißvollen Blicke Theilnahme an dem Gespräche zu verrathen, die von der Kranken offenbar nicht gewünscht wurde. … Die Tante Diaconus aber sprach sie sehr oft, und zwar in der Schloßmühle. Die alte Frau sah täglich nach Suse, seit sie so nahe wohnte; sie brachte ihr Suppen und eingemachte Früchte und saß stundenlang bei der Haushälterin, die sich durchaus nicht darein fand und sehr unglücklich war, daß es mit dem Spinnen, Stricken und Waschen „immer noch nicht gehen wollte“.
Das waren trauliche Dämmerstündchen in der Schloßmühlenstube. Die Tante erzählte aus ihrer Jugend, aus der Zeit, wo sie noch „die Frau Seelsorgerin“ im Dorfe gewesen war; sie beschrieb den schweren, thränenreichen Moment, wo sie den Doctor als achtjährigen Knaben aus dem Elternhause weggeholt hatte, weil ihm Vater und Mutter in Zeit von wenigen Tagen gestorben waren, und mochte sie auch mit kleinen Erlebnissen aus ihrer sonnigen Mädchenzeit oder aus ihrem glücklichen Eheleben beginnen, stets und immer gipfelten ihre Schilderungen in dem Zusammensein mit dem Doctor, der so recht der Sonnenschein ihres Lebens geworden war, wie sie versicherte.
Beim Nachhausegehen begleitete Käthe die alte Frau den rauschenden Fluß entlang bis an die Brücke. Die kleine Hand der Tante lag dann auf dem Arme des jungen Mädchens, und sie wandelten dahin, wie zusammengehörig, als müßten sie auch mit einander über die Brücke schreiten und hineingehen in „des Doctors Haus“, das so still und friedlich, so weltverloren und vom Dämmerlichte eingesponnen, hinter dem Ufergebüsche lag. Die Abende waren noch sehr frisch, und von dem schwarzen, starrenden Walde her zogen dünne Nebelschleier und feuchteten Haar und Kleider – da schlüpft man gern unter das gastliche Dach, auf welchem der Schornstein raucht. Gewöhnlich brannte schon die grünverschleierte Lampe in der Eckstube; durch das eine unverhüllte Fenster fiel ihr Licht, breit und hell, schräg über die Brücke. Die heimkommende alte Frau konnte nicht fehlgehen, wenn es auch schon tief dunkelte. Dann ging sie hinein; der letzte Fensterladen wurde geschlossen, und dort in der behaglichen Ofenecke – Käthe konnte sie mit ihren scharfen Augen vollkommen übersehen –, wo der grüne, verblichene Fußteppich lag und hinter dem runden Tische ein hochlehniger, gepolsterter Armstuhl stand, arrangirte sie geräuschlos den Abendtisch und wartete strickend, bis der Doctor sein Pensum beendet hatte. …
Das hatte sie dem jungen Mädchen auf der Abendwanderung wiederholt geschildert, und gar so gern blieb sie dann einen Augenblick auf der Brücke stehen, überblickte ihr trautes Heim und deutete lächelnd nach dem Manne, der arbeitend seinen dunkellockigen Kopf über den Schreibtisch beugte. Aber er sprang dann gewöhnlich auf und öffnete das Fenster, denn der neu angeschaffte Kettenhund fuhr mit wüthendem Gebelle auf die Herankommenden los. „Bist Du es, Tante?“ rief der Doctor herüber. Bei diesen Lauten floh Käthe aus dem Bereiche des Lampenscheines. Mit einem flüchtigen „Gute Nacht!“ stürmte sie die einsame Allee hinauf; sie kam sich vor wie ausgestoßen, und so mußte auch ihm später zu Muthe sein – falls er Flora wirklich noch an seine Seite zu zwingen vermochte –, wenn er aus dem Hause am Flusse in die Stadtwohnung zurückkehrte und von seinem Weibe, der Seele des Hauses, mit kühlem Gruße am Schreibtische, oder geschmückt zu einer Abendgesellschaft, im flüchtigen Vorübergehen empfangen wurde. – –
Es war am siebenten Tage nach der Abreise des Commerzienrathes, als die Nachricht aus Berlin eintraf, daß die Spinnerei verkauft sei. Die Präsidentin war von dieser Neuigkeit so angenehm berührt, daß sie, noch im Cachemirschlafrocke, mit dem Briefe in der Hand, die Treppe zur Beletage hinaufstieg und in Henriettens Zimmer trat, wo sich auch Flora kurz vorher eingefunden hatte.
Die alte Dame setzte sich in einen Lehnstuhl und erzählte. „Gott sei Dank, daß Moritz ein Ende macht!“ sagte sie heiter gestimmt. „Er hat ein brillantes Geschäft abgeschlossen; das Etablissement wird ihm so horrend bezahlt, daß er selbst ganz überrascht ist.“ Sie legte die feinen Hände gefaltet auf den Tisch und sah unendlich zufrieden aus. „Er wird nun ganz und gar mit seiner kaufmännischen Vergangenheit brechen. Damit fallen auch die fatalen Rücksichten für die sogenannten Geschäftsfreunde weg; denkt nur zurück, wie oft wir ungehobelte Gäste beim Diner gehabt haben, die besser am Domestikentische gesessen hätten! Mein Gott, waren das peinliche, verlegene Momente! Ach ja, man hat sich so manchmal stillschweigend überwinden müssen.“
Käthe stand währenddem am Fenster. Von dieser Stelle aus konnte man das große Fabrikgebäude inmitten seiner unvollendeten, neuen Anlagen liegen sehen. Der weite Kiesplatz vor dem Hause wimmelte von Menschen, von Männern, Weibern, Kindern, die aufgeregt durcheinanderfuhren und gesticulirten. Die Maschinen standen verlassen; es mochte kein einziger Arbeiter in den Sälen verblieben sein.
Das junge Mädchen am Fenster deutete betroffen hinüber.
„Weiß schon,“ sagte die Präsidentin lächelnd; sie erhob sich und trat an das Fenster. „Der Kutscher hat mir eben im Corridore Meldung gemacht, es solle sehr laut da drüben zugehen. Man ist außer sich, daß die Spinnerei an eine Actiengesellschaft verkauft worden ist, deren Directorium hauptsächlich aus Juden zusammengesetzt sein soll. Ja, ja, so geht’s, die guten Leute ernten nun, was sie gesäet haben. Moritz hätte auf keinen Fall so überraschend schnell tabula rasa gemacht; sein Herz hing ja in für mich unbegreiflicher Weise an der Spinnerei, aber die letzten Vorgänge haben ihm den Besitz gründlich verleidet, er will mit der Sache nichts mehr zu thun haben.“
„Das sieht genau aus, als habe er sich gefürchtet, der gute Moritz,“ meinte Flora mit verächtlich sich wölbenden Lippen. „Ich für meinen Theil hätte gerade in diesem Momente die Fabrik nicht für Millionen hingegeben; erst mußten die Kläffer sich überzeugen, daß ihr Lärmen umsonst gewesen sei, daß man ihre Schreckschüsse verlache. Der Grimm schnürt mir den Hals zu, wenn ich mir denke, es könnte nun heißen, die Drohbriefe an mich hätten uns eingeschüchtert.“
„Sei ruhig, Flora! Das glaubt Niemand von Dir; man sieht Dir die Soldatencourage und Zuversicht auf hundert Schritte an,“ spottete Henriette.
Die schöne Schwester rauschte schweigend nach der Thür; sie ignorirte ja derartige Bemerkungen der Kranken stets mit einem kalten Lächeln, und auch die Großmama erhob sich, um Toilette zum Diner zu machen.
„Bruck hat Dir für heute einen kleinen Spaziergang erlaubt, Henriette?“ fragte die alte Dame, sich an der Thür noch einmal zurückwendend.
„Ich soll mich ein wenig im Stadtforste ergehen, um Tannenharzluft zu athmen.“
„Dann werde ich mich anschließen,“ sagte Flora. „Ich brauche auch Luft, Luft, um nicht zu ersticken unter der Last von Widerwärtigkeiten, die mir das Schicksal aufbürdet.“
Sie reichte der Präsidentin den Arm, um sie die Treppe hinabzuführen.
Henriette stampfte zornig mit dem Fuße; sie hätte weinen mögen vor Aerger, aber verhindern konnte sie es doch nicht, daß die schöne Schwester nach Tische im weißen Filzhütchen, den Palmblattfächer in der Hand, erschien, um sie auf dem Waldspaziergange zu begleiten.
Es war ein herrlicher Apriltag mit wolkenlos blauem Himmel, mit glitzerndem Sonnengolde auf Weg und Steg und dem Dufte der ersten Veilchen in seinen sammetweichen Lüften. Noch war es hell in dem Streifen Laubwald, der den schwarzgrünen Mantel des Tannenforstes gleichsam verbrämte, so hell, als sei die Kuppel von diesen sonst so wonnig dunkelnden Säulengängen genommen; noch lag das machtvolle Grün, das die knorrigsten Aeste bewältigt und sie geschmeidig jung aussehen macht, zu Milliarden weicher Flöckchen zusammengedrückt, im engen, braunen Schrein der Knospen; nur das feinzweigige Unterholz umschleierte ein bläßlich grüner Hauch, und aus den feuchten Moospolstern reckten sich langstielige weiße Glöckchen. Diesen kleinen hellen Blumen ging Käthe pflückend nach, während Flora und Henriette auf dem schmalen Wege blieben, der nach dem Tannengrunde führte.
Still war es heute nicht im Walde – es war der Tag, an welchem sich die Armen der Stadt das dürre Holz holen durften. Man hörte das Einknicken verdorrter Aeste, das gegenseitige Zurufen von Menschenstimmen, und tief im Gestrüpp stand Käthe plötzlich vor einem braunen Weibe, das eben einen abgesägten armstarken Buchenast zu Boden riß. War es, weil sie grünes statt des erlaubten dürren Holzes in den Händen hielt, oder machte ihr die unerwartet hervortretende Erscheinung selbst einen zornerregenden Eindruck – sie warf unter dem lilafarbenen Tuch hervor, das sie um den Kopf gebunden hatte, einen wilden Blick auf das junge Mädchen; in der Art und Weise aber, wie sie, kerzengerade aufgerichtet, mit dem Ast gleichsam spielend über den Boden hin- und herfegte, lag eine freche Herausforderung.
Käthe fürchtete sich nicht im Geringsten; sie bückte sich, um eine ganze Familie Anemonen unter dem nächsten Strauche zu pflücken; in diesem Augenblick drang vom Wege her ein vereinzelter Ruf, ein schwacher Laut, dem ein Tumult von geflissentlich gedämpften Stimmen folgte.
Das Weib horchte auf, schleuderte den Ast fort und schlug sich in der Richtung des Lärms quer durch das Untergesträuch. Und jetzt zitterte der Aufschrei wieder herüber – es war Henriettens krankhaft verschleierte, dünne Stimme. Käthe folgte der Frau auf den Fersen; die Dornen rissen ihr Fetzen vom Kleide, und die Büsche, die das Weib mit kräftigen Armen theilte, schlugen zurückschnellend und klatschend in ihr Gesicht, aber sie kam rasch heraus auf den Weg.
Zuerst sah sie nur einen Knäuel von Weibern und zerlumpten Jungen, der sich um den Stamm einer Kiefer drängte; bei den heftigen Bewegungen der Versammelten aber theilte sich da und dort das Conglomerat von struppigen Haaren und schmutzigen Kopftüchern und ließ Flora’s weißes Hütchen mit der emporstehenden blauen Feder auftauchen.
„Lasse den Zwerg los, Fritz!“ rief ein bärenhaftes Weib.
„Aber sie schreit ja wie närrisch,“ sagte eine Jungenstimme.
„Ach was, das Piepen hört kein Mensch.“ Die Frau hatte eine breite Stumpfnase und kleine, boshafte Augen und überragte in hünenhafter Länge alle Anderen.
Jetzt sprach Flora – Käthe erkannte kaum ihre Stimme.
Ein vielstimmiges Hohngelächter antwortete ihr.
„Aus dem Wege gehen?“ wiederholte das große Weib. „Das ist der Stadtforst, Fräulein; da kann der ärmste Bürger spazieren gehen, so gut, wie die großen Herren – den will ich sehen, der mich da vertreibt.“ Sie stellte sich noch breitspuriger hin. „Da guckt her, ihr Leute! Unsereins sieht das Gesicht sonst nur in der stolzen Kutsche, wenn die Pferde um die Ecken rennen und den armen Leuten am liebsten die Beine wegfahren möchten. … Ein schönes Frauenzimmer sind Sie, Fräulein – das muß Ihnen der Neid lassen. Alles Natur, nichts angestrichen; eine Haut wie Sammet und Seide – ’neinbeißen möchte man.“ Sie bog den Kopf dicht neben das weiße Hütchen.
Die Frau, die vor Käthe hergelaufen war, wühlte sich förmlich in den Kreis. „Da kommt noch Eine!“ rief sie und zeigte mit dem Finger auf das junge Mädchen zurück.
Die Nächststehenden fuhren herum und traten unwillkürlich auseinander. Da stand Schwester Flora, weiß wie Schnee auf Wangen und Lippen; man sah ihre Kniee wanken – sie rang sichtlich nach der gewohnten stolzen Haltung.
„Die geht uns nichts an,“ schrie ein Junge und wandte Käthe den Rücken; der Kreis schloß sich wieder, noch enger, dichter als vorher.
„Käthe!“ rief Henriette in hülfloser Angst hinter der Mauer von Menschenleibern, aber der Ruf wurde sofort erstickt; man hörte deutlich, daß ihr eine Hand auf den Mund gepreßt wurde. In demselben Moment taumelten drei, vier Jungen rechts und links. Käthe stieß mit kraftvollen Armen selbst das Hünenweib auf die Seite und trat vor ihre Schwestern. „Was wollt Ihr?“ fragte sie mit lauter, fester Stimme.
Einen Augenblick standen die Angreifer bestürzt, aber auch nur einen Augenblick – es war ja nur ein Mädchen mit einem blutjungen Gesicht, das da zu Hülfe kam. Nun wurde auch sie unter lautem Gelächter mit eingeschlossen.
„Tausendsapperlot, die fragt ja so kurz und knapp wie die Herren auf dem Gericht,“ rief die Große und schlug sich klatschend auf die breite Hüfte.
„Ja, und thut so stolz, als ob sie directement von den heiligen drei Königen abstammte,“ fiel die Frau im violetten Kopftuch ein. „Hören Sie, Ihre Großmutter war aus meinem Dorfe. Schuh’ und Strümpfe hab’ ich dazumal nicht an ihren Füßen gesehen, und ich weiß auch noch recht gut, wie Ihr Großvater Hü und Hott bei dem alten Müller Klaus seinen Pferden machte –“
„Glaubt Ihr, ich weiß das nicht, oder ich schäme mich dessen?“ unterbrach sie Käthe ruhig und kalt, aber jeder Blutstropfen war ihr aus dem ernsten Gesicht gewichen.
„Wär’ auch noch schöner – ist Ihnen doch sein Geld gut gewesen, das viele, viele Geld,“ rief eine Dritte, sich dicht an das junge Mädchen hinandrängend. Sie griff nach Käthe’s seidenem Kleide und rieb den Stoff prüfend zwischen den Fingern. „Ein schönes Kleid! Ein Staatskleid! Und so mitten in der Woche und im Walde, wo die Fetzen an den Dornen hängen bleiben! Na, was schadet’s denn? Das Geld ist ja da. Spreukörbe voll haben sie bei dem Alten gefunden. Aber wo es hergekommen ist? Gelt, darnach wird nicht gefragt? Ob der Schloßmüller den armen Leuten das Korn vor der Nase weggekauft und auf seinen Böden eingeschlossen hat, viel tausend scheffelweise – das ist Ihnen sehr einerlei, Fräulein. Und ob er gesagt hat, es müßte erst so und so hoch im Preise steigen, ehe er auch nur eine Schaufel voll hergäbe, und wenn die Leute wie die hungrigen Mäuse pfiffen –“
„Lüge!“ rief Käthe außer sich.
„So – Lüge? Es ist wohl auch nicht wahr, daß wir nun den Gründern in die Krallen geworfen werden? Die nehmen uns die letzte Kartoffel aus dem Topfe. Das giebt ein Unglück. Meine Tochter geht lieber in’s Wasser, als daß sie bei den Menschenschindern arbeitet.“
„Und mein Bruder schießt sie am ersten Tage über den Haufen,“ prahlte ein halbwüchsiger Bursche.
„Ja, wie dem Zwerg da seine Tauben,“ sagte ein anderer anzüglich und mit den Augen blinzelnd und zeigte auf Henriette, die sich mit zuckendem Gesicht, in wahnsinniger Angst an Käthe anklammerte.
Da scholl in ziemlicher Nähe das Gekläff eines Hundes. Augenblicklich richtete sich Flora auf, und der ganze kalte Hochmuth, der ihr zu Gebote stand, spiegelte sich auf ihrem Gesicht. „Was geht mich der Verkauf der Spinnerei an?“ fragte sie verächtlich. „Macht das mit dem Commerzienrathe aus! Er wird Euch schon zu antworten wissen. Und nun, marsch aus dem Wege! Eure Unverschämtheit soll Euch sehr schlecht bekommen – darauf könnt Ihr Euch verlassen.“
Sie streckte den Arm mit einer herrischen Geberde gegen die Umstehenden aus, aber das große, starke Weib ergriff die feinbekleidete Hand, als sei sie zu einem freundschaftlichen Druck geboten, und schüttelte sie derb, mit gutgespielter Treuherzigkeit; dabei lachte sie aus vollem Halse, und die Anderen stimmten johlend ein. „Fräulein, Sie kriegen ja Courage, wie ein Gensd’arm – wohl, weil dort drüben“ – sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter zurück – „ein Hund gebellt hat? Das ist dem Kreiser Sonnemann sein Dachsel; ich kenn’ ihn an der Stimme, und der alte Sonnemann ist stocktaub, und sein Dachsel geht nicht von ihm weg. Die gehen miteinander nach Oberndorf in die Schenke, wie jeden Nachmittag. Hierher kommen sie nicht – da seien Sie ganz ruhig! Und es geht Sie wirklich nichts an, Sie schönes Frauenzimmer, Sie, daß die Spinnerei verkauft worden ist? Wer’s glaubt! Man braucht Sie nur anzusehen, da weiß ein Jeder gleich, wo Barthel Most holt. Sie und die alte Madame regieren und commandiren, und der Commerzienrath hat blos zu gehorchen, und weil er nun reich genug ist, da sollen die gemeinen Leute, die ihm das Geld verdient haben, abgeschüttelt werden wie Ungeziefer. Na, ändern können wir’s freilich nicht, aber bedanken wollen wir uns doch bei Ihnen, Fräulein.“
Sie rückte näher, und der funkelnde Blick aus ihren kleinen, schiefen Augen hatte etwas katzenartig Grausames.
Flora schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht. „Gott im Himmel, sie wollen uns ermorden,“ stöhnte sie tonlos mit bebenden Lippen.
Der ganze Chor lachte.
„Denken Sie nicht daran, Fräulein!“ sagte die Frau. „So dumm sind wir nicht. Da geht’s uns ja selbst,“ sie strich sich bezeichnend mit der Hand unter dem Kinne weg, „an den Kragen; was haben wir davon? Nur einen kleinen Denkzettel sollen Sie haben.“
Flora griff plötzlich, wie infolge einer plötzlichen Eingebung, in die Tasche ihres Kleides, öffnete ihr Portemonnaie und schüttete den ganzen Inhalt, Gold und Silber, auf die Erde. Sofort erweiterte sich der Kreis, und die Vordersten, meist Knaben, waren im Begriffe, sich über das Geld herzustürzen. „Untersteht Euch!“ schrie die Große und stellte sich mit ausgestreckten Armen zurückdrängend vor sie hin, daß sie wie eingekeilt standen. „Dazu ist’s nachher auch noch Zeit. Nachher, Fräulein,“ wandte sie sich bedachtsam und ironisch höflich an die schöne Dame, „erst den Denkzettel!“
„Hüten Sie sich, uns zu berühren!“ sagte Käthe. Sie behielt vollkommen ihre Fassung, während beide Schwestern dem Umsinken nahe waren.
„Ach Sie! Was mischen Sie sich denn da hinein? – Vor was soll ich mich denn hüten? Ein paar Wochen brummen,“ sie machte eine wegwerfende Bewegung, „das läßt man sich schon einmal gefallen, und mehr geben sie Einem beim Gerichte nicht für – na, für eine Ohrfeige, oder ein paar Schrammen im Gesichte. Und die sollen Sie haben, Fräulein, so gewiß wie ich dastehe,“ wandte sie sich mit erhöhter Stimme an Flora. „Ich will Ihre schneeweiße Haut malen, daß Sie zeitlebens an mich denken. Sie sollen ein Gesichtchen kriegen, so schöngestreift wie ein Tigerthier in der Menagerie.“
Blitzschnell hob sie die Hände, um mit den schmutzigen Nägeln Flora’s Gesicht zu zerkratzen; allein ebenso rasch griff Käthe zu. Mit einem einzigen Rucke packte sie die knochigen Fäuste und stieß das Weib zurück, daß der wuchtige Körper taumelnd eine Bresche in die Menschenmauer schlug. Und nun entstand ein unbeschreiblicher Tumult. Wie ein wüthend gereizter Bienenschwarm stürzte sich die Menge auf das große, kraftvolle Mädchen, das leichenblaß, aber hochaufgerichtet dastand, die Schwestern mit ihrem Leibe deckend. Flora war zu Boden gesunken; sie umklammerte, halbtodt vor Angst, den Kieferstamm und drückte das bedrohte Gesicht an seine Rinde. Das herabfallende weiße Hütchen wurde unter den Füßen der Angreifer zerstampft.
„Hülfe, Hülfe!“ schrie Henriette mit übermenschlicher Anstrengung, während alle Hände nach Käthe griffen; schon hing die schwarze Spitzenpelerine in Fetzen von ihren Schultern. Der Hut wurde ihr vom Kopfe gerissen, und die Flechten fielen gelöst über den Rücken hinab; da kreischte der Junge, der abermals seine Hände auf Henriettens Mund gepreßt hatte, wild auf. „Herr Jesus, was ist denn mit der da?“ schrie er und wühlte sich durch das Gemenge, um zu entfliehen.
Ein Blutstrom quoll über die Lippen der Kranken, die mit versagenden Blicken und tastenden Händen nach einer Stütze griff, aber Alles wich scheu zurück. Blut! … Im Nu zerstob die Menge nach allen Richtungen hin. Im Gebüsche rauschte und knackte es, wie wenn ein Rudel Wild durchbricht, dann war es still, als sei das wilde Heer, das sich eben noch so wüthend geberdet hatte, im Waldboden versunken. Und wenn auch da und dort der Kopf eines Jungen aus dem Gestrüpp lugte, um die Stelle, wo das Geld auf der Erde verstreut lag, nicht aus den Augen zu verlieren, so geschah das vorsichtig und vollkommen lautlos.
Käthe hatte die Schwester in den Armen aufgefangen und ließ sich mit ihr zu Boden gleiten. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Kiefer und bettete den Kopf der Kranken an ihrer Brust. In dieser Lage hörte das Blut allmählich auf zu strömen.
„Hole Hülfe!“ sagte sie, ohne die weinenden Augen von dem todtenähnlichen Gesichte der Kranken wegzuwenden, zu Flora, die in Angst und Ungeduld auf die Gruppe niedersah und ihre krampfhaft verschränkten Hände gegen den Busen drückte.
„Bist Du wahnsinnig?“ fuhr sie mit gedämpfter Stimme auf. „Soll ich der Meute geradewegs in die Hände laufen? Allein rühre ich mich nicht von der Stelle. Wir müssen versuchen, Henriette fortzuschaffen.“
Käthe sagte kein Wort; sie sah, daß sie an diesen grenzenlosen Egoismus vergebens appellirte. Nach verschiedenen vorsichtigen Manipulationen, bei denen Flora behülflich war, stand sie endlich auf den Füßen und trug Henriette wie ein Kind auf dem Arme; der Kopf der noch immer Bewußtlosen ruhte auf ihrer Schulter. Sie glitt förmlich über den Boden und wich dem kleinsten Steine aus, um jede gefahrbringende Erschütterung zu vermeiden. Diese Bemühungen erschwerten ihr die Last bedeutend, aber stehen bleiben und nur einmal tief Athem schöpfen durfte sie nicht.
„Ruhe aus, so lange Du Lust hast, wenn wir draußen im freien Felde sind – nur hier nicht, wenn Du nicht willst, daß ich vor Angst sterben soll!“ sagte Flora in gebieterischem Tone. Sie ging dicht an Käthe’s Seite, mit hochgehobenem Kopfe und ihrer gewohnten imposanten Haltung, aber unausgesetzt das verrätherische Gebüsch am Wege scheu beobachtend, um bei dem geringsten verdächtigen Geräusche die Flucht zu ergreifen. – Wo war die „Soldatencourage“, die Henriette heute ironisch betont hatte? Wo die stets so geflissentlich zur Schau getragene Consequenz und Sicherheit, der schroff männliche Geist? Käthe sagte sich in dieser schweren Stunde ernster Erfahrung, daß da, wo bei der Frau das edel weibliche Denken, Empfinden und Streben aufhört, die – Komödie beginnt.
Endlich standen sie draußen auf dem weiten, sonnigen Felde. Käthe stützte sich für einen Augenblick auf einen hohen Grenzstein, den eine mächtige Eiche überwölbte, während Flora einige Schritte weiter hinaustrat, um den „entsetzlichen“ Wald möglichst weit hinter sich zu haben. Die Gefahr war vorüber. Weit drüben auf dem Ackerlande arbeiteten Leute. Sie hätten nöthigenfalls einen Hülferuf hören können; man sah die Thürme der Stadt, und dort lief der Weg nach dem Parkthore der Besitzung Baumgarten.
Aber Käthe’s Augen hingen an einem Punkte, den Flora nicht sah, an dem niedrigen Dache mit den hohen Schlöten und den vergoldeten Windfahnen, das so friedlich aus dem Walde von Obstbäumen auftauchte. Sie konnte deutlich das Staket erkennen, das den Garten umschloß; es lag weit näher als das Parkthor, und dahin lenkte sie nach kurzem Ausruhen schweigend ihre Schritte.
„Nun, wo hinaus?“ rief Flora, die bereits auf dem Wege nach dem Parke schritt.
„Nach Doctor Bruck’s Haus,“ versetzte das junge Mädchen, ruhig und unbeirrt weitergehend. „Es liegt am nächsten; dort finden wir vor allen Dingen ein Bett, auf das ich Henriette niederlegen kann, und möglicher Weise auch sofortige Hülfe. Vielleicht ist der Doctor gerade zu Hause.“
Flora runzelte die Brauen und zögerte, aber sei es, daß sie das rachedürstende Weib mit den gekrümmten Fingern immer noch nahe auf ihren Fersen wähnte, oder daß sie fürchtete, zwischen dem Parkthore und dem Walde ohne Hut und in ihrer derangirten Toilette Spaziergängern zu begegnen – sie kam schweigend herüber.
So ging es über das offene Feld hin. Für Käthe war die Aufgabe eine namenlos anstrengende. Der selten betretene Weg durch den weichen Ackerboden war voller Löcher und sehr steinig; bei jedem Fehltritte, den sie machte, fühlte sie aus Furcht vor einer Wiederkehr des schrecklichen Anfalles ihr Blut fast erstarren. Dabei brannte die Sonne, sengend wie im August, auf ihrem unbedeckten Scheitel; von Zeit zu Zeit schwamm die Welt in einem unheimlich rothgelben Lichte vor ihren Augen, und dann glaubte sie, vor Erschöpfung zusammenbrechen zu müssen, aber in solchen Momenten heftete sich ihr Blick um so fester auf des Doctors Haus; es rückte ja immer näher, das liebliche Bild des ländlichen Friedens und der erquickenden Ruhe. Sie sah nun schon vollkommen klar und deutlich, wie hinter dem Staket emsig hantirt wurde, und bei aller Angst und Ermüdung kam ihr doch ein leises Gefühl der Freude. Der Mann in Hemdsärmeln nagelte dort aus Fichtenästen eine Laube zusammen, eine Laube für die Tante Diakonus. Die alte Frau konnte die weinbewachsene Hütte im kleinen Pfarrgarten nicht vergessen und hatte seitdem nie wieder so im Grünen sitzen dürfen – welche Freude nun für ihr genügsames Herz!
Und jetzt kam sie selbst die Thürstufen herab, im weißen Häubchen, die blauleinene Küchenschürze vorgebunden, und brachte auf einem Teller dem Arbeiter sein Vesperbrod. Sie sprach eifrig mit dem Manne; Beiden fiel es nicht ein, über das Staket in’s Feld hinaus zu sehen. Käthe überlegte eben, ob sie nicht doch um helfende Hände hinüberrufen sollte – in demselben Augenblicke kam auch der Doctor vom Hause her.
„Bruck!“ rief Flora mit dem ganzen frischen Silberklange ihrer Stimme über das Feld hin.
Er blieb stehen und starrte einen Augenblick nach der seltsamen Gruppe, die sich auf ihn zu bewegte; dann stieß er die Thür im Stakete auf und stürmte hinüber. „Mein Gott, was ist denn geschehen?“ rief er schon von Weitem.
„Ich bin einem tollen Mänadenschwarme in die Hände gefallen,“ antwortete Flora bitter lächelnd, aber auch ganz wieder mit jener Geringschätzung und stolzen Nachlässigkeit, die sich durch Nichts in der Welt aus der Fassung bringen lassen. „Das Gesindel hat mit seinen Drohungen Ernst gemacht; ich war in Lebensgefahr, und das arme Ding da,“ sie zeigte auf Henriette, „hat vor Aufregung darüber einen Blutsturz bekommen.“
Er sah nur von der Seite zu ihr hinüber – sie stand ja heil und unversehrt da – und griff mit beiden Armen zu, um Käthe die Kranke abzunehmen. „Sie haben sich übermenschlich angestrengt,“ sagte er, und seine Augen streiften besorgt ihre ganze Erscheinung. Man sah, wie ein nervöses Schütteln durch ihren Körper ging; sie biß krampfhaft mit den Zähnen die Unterlippe, und ihre Wangen glühten, als wollte das erhitzte Blut die zarte Sammethaut zersprengen. … Und daneben stand Flora ruhig athmend, und auf ihrem schönen Gesicht lag nur die duftige, verklärende Röthe der seelischen Erregung.
„Du hättest Deiner Schwester die Last nicht allein überlassen sollen,“ wandte er sich an seine Braut, indem er die bewußtlose Henriette behutsam weiter trug.
Bruck, wie kannst Du das von mir verlangen?“ rief sie beleidigt. „Uebrigens bedurfte es dieser Zurechtweisung Deinerseits durchaus nicht, mein Freund,“ setzte sie sehr scharf hinzu; „ich kenne meine Pflicht und wäre sehr gern aus eigenem Antriebe bereit gewesen, Henriette zu tragen, hätte ich mir nicht selbst sagen müssen, daß das bei meinem schwachen Körperbau geradezu Wahnsinn sei, und wäre Käthe nicht eine solche urgesunde, robuste Walkürennatur, die eine derartige Anstrengung sicher nicht anficht.“
Er antwortete ihr mit keiner Silbe und rief der herbeieilenden Tante zu, rasch ein Bett herzurichten. Diese lief, so schnell sie konnte, in das Haus zurück, und als die Ankommenden den Flur betraten, da stand sie schon an der geöffneten Thür eines nach Westen gelegenen Zimmers und winkte stumm und mit bestürzter Miene, da einzutreten.
Es war ihre Fremdenstube, ein von glänzendem Tageslichte erfüllter, ziemlich großer Raum mit ausgetretenen Dielen, verschabten, einst rosa angestrichenen Wänden und einem Ofenungethüm von schwarzen Kacheln. Die neuen, mit Rosen bedruckten Kattunvorhänge an den zwei Fenstern waren vielleicht der einzige Luxus, den sich die Tante Diakonus beim Umzuge gestattet hatte. Am Kopfende des Bettes stand ein uralter, mit chinesischen Figuren beklebter Bettschirm, und rings an den Wänden hingen schwarzeingerahmte, nicht besonders künstlerisch ausgeführte Scenen aus der lieblichen Idylle „Louise“ von Voß. Eine köstlich reine, mit Lavendelduft gemischte Luft wehte die Eintretenden an.
Auf der jugendlichen Stirn des Doctors lag ernste Besorgniß. Es dauerte sehr lange, bis sich unter seinen Bemühungen Henriettens Augen zu einem umschleierten Blicke öffneten. Sie erkannte ihn sofort, aber ihre augenblickliche Schwäche war so groß, daß sie die Hand nicht von der Bettdecke zu heben vermochte, um sie ihm zu reichen. Er hatte den Gartenarbeiter in die Villa Baumgarten geschickt, um die Präsidentin von dem Vorgefallenen zu benachrichtigen – sie kam sogleich. Bis dahin war im Krankenzimmer kein Wort gefallen. Flora stand in dem einen Fenster und starrte in die Gegend hinaus, und in dem anderen saß Käthe, die Hände in den Schooß gefaltet und den Blick auf das Bett geheftet, während die Tante geräuschlos ab- und zuging, um dem Doctor Alles herbeizubringen, was er brauchte.
Die Präsidentin sah sehr verstört aus; sie erschrak sichtlich, als sie Henriettens Gesicht so wachsbleich auf dem Kissen liegen sah, und mochte wohl das Schlimmste befürchten, weil die Kranke bei ihrer sanften Anrede die Wimpern nicht hob. Henriette hatte die Augen in dem Moment wieder geschlossen, als ihre Großmutter auf die Schwelle getreten war.
„Sagt mir um’s Himmelswillen, wie das gekommen ist!“ rief die alte Dame; ihre weiche, vornehm moderirte Stimme klang förmlich erschreckend laut in die bisher beobachtete Stille hinein.
Nun trat Flora aus dem Fenster und erzählte. Sie schilderte ergrimmt, mit drastischer Deutlichkeit die Scene im Walde; ihrer Darstellung nach hatte sie selbstverständlich keinen Augenblick den Muth und die Geistesgegenwart verloren, aber einer Schaar von mindestens zwanzig Furien gegenüber brauche der stärkste Geist alle seine Kraft, um nicht vor Ekel und Abscheu zu erliegen, versicherte sie.
Die Präsidentin ging währenddem ganz außer sich auf und ab; sie bemerkte in ihrer Erregung nicht einmal, daß ihre Seidenschleppe auf dem faserigen Dielenboden jenes monoton schrille Geräusch machte, das für leidende Nerven zur Tortur werden kann. „Was sagt ‚der Menschenfreund‘ nun dazu?“ fragte sie endlich stehenbleibend, und aus ihren halbzugesunkenen Augen zuckte es wie ein mörderischer Blick nach dem Doctor hin.
Er schwieg mit jener ruhigen Milde, die sein jugendlich schönes Gesicht so geistig überlegen erscheinen ließ. Henriettens Hand in der seinen haltend, schien er nur Augen für das schwach pulsirende Leben zu haben, das jeden Augenblick in das Nichts zerrinnen konnte.
Die alte Dame trat wieder an das Bett und bog sich mit zurückgehaltenem Athem über die Kranke.
„Herr Doctor,“ sagte sie nach einem momentanen Zögern, „der Zustand scheint mir sehr bedenklich – wollen wir nicht doch endlich einmal meinen alten, erfahrenen Freund und Hausarzt, den Medicinalrath von Bär, zu einer Consultation herbeiziehen? – Sie dürfen mir das nicht verargen.“
„Nicht im Geringsten, Frau Präsidentin,“ sagte er, die aufzuckende Hand der Kranken auf die Bettdecke legend. „Es ist sogar meine Pflicht, Alles zu thun, was zu Ihrer Beruhigung dienen kann.“ Er erhob sich ruhig und verließ das Zimmer, um nach dem verlangten Arzte zu schicken.
„Mein Gott, was für einen Streich habt Ihr gemacht, Henriette hierher zu bringen!“ schalt die Präsidentin hastig, mit gedämpfter Stimme, sobald sich die Thür hinter dem Hinausgehenden geschlossen hatte.
„Daran ist Käthe’s Weisheit schuld,“ versetzte Flora erbittert. „Ihr mache den Vorwurf, daß wir nun möglicherweise gezwungen sind, in dem verkommenen Neste hier wochenlang verkehren zu müssen“ – ihre Augen streiften zornig das schweigende Mädchen im Fenster.
„Und welche Indolenz, das arme Geschöpf so zu betten, daß sie bei jedem Augenaufschlag das schwarze Ungeheuer von Ofen vor sich hat! Dazu diese Fratzen an den Wänden – man könnte sich fürchten.“ Die alte Dame wandte ihr bei diesen naiven Darstellungen den Rücken und untersuchte das Bett. „Das Lager scheint passable zu sein; das Leinen wenigstens ist weiß und weich, aber ich werde doch Henriettens seidene Steppdecke herüberschicken; ebenso einen bequemen Fauteuil für den Medicinalrath, vor allen Dingen aber anderes Waschzeug. – Steingut!“ sagte sie verächtlich und schob das saubere Geschirr auf dem Waschtische zusammen, um für das kommende gemalte und vergoldete Porcellan Platz zu machen. „Gott, wie erbärmlich leben doch solche Leute! Und das fühlen sie nicht einmal – wünschest Du etwas, mein Engel?“ unterbrach sie sich mit sanfter Stimme und trat wieder an das Bett.
Henriette hatte langsam den Kopf aufgerichtet und einen sprühenden Blick um sich geworfen; jetzt lag sie schon wieder mit geschlossenen Augen da, aber ein Anschein von Kraft war insoweit zurückgekehrt, als sie die Hand der Großmama, die streichelnd ihre Rechte berührte, wegzuschieben vermochte.
„Eigensinnig, wie immer!“ seufzte die Präsidentin und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bette.
Der Medicinalrath ließ nicht lange auf sich warten, aber er kam ganz consternirt. Er konnte sich anfänglich durchaus nicht d’reinfinden, seine alte Freundin im Hause am Flusse zu sehen, bis man ihm in flüchtigen Umrissen das Vorgefallene mittheilte. Er war ein hübscher alter Herr, spiegelblank vom Kopfe bis zur Zehe und von hochmüthig zurückhaltenden Manieren. Er war Leibarzt des regierenden Fürsten, hatte für seine Verdienste den Adel, eine hübsche Anzahl Orden, Brillanten und goldene Schnupftabaksdosen erhalten, und draußen an der Brücke hielt seine prächtige Equipage.
„Fatal, sehr fatal!“ sagte er mit bedenklicher Miene an das Bett tretend. Er beobachtete die Kranke minutenlang, dann fing er an, die kranke Brust zu beklopfen. Er that das zwar vorsichtig, aber die Patientin stöhnte dennoch auf; die wiederholte Berührung verursachte ihr offenbar Schmerz.
Doctor Bruck stand schweigend mit untergeschlagenen Armen neben ihm. Er zuckte mit keiner Wimper; allein bei dem ersten Jammerlaute Henriettens zogen sich seine Brauen unwillig zusammen; in diesem vorgerückten Stadium der Krankheit war eine so anhaltende, gründliche Untersuchung vollkommen überflüssig. „Darf ich Ihnen meine Beobachtungen mittheilen, Herr Medicinalrath?“ fragte er mit gelassener Stimme, aber nachdrücklich, um ein Ende zu machen.
Der alte Herr schielte seitwärts empor. Für den bittersten, gehaßtesten Feind gab es keinen giftigeren Blick, als der aus den tiefliegenden Augen des vornehmen Arztes schoß. „Erlauben Sie, daß ich mich persönlich überzeuge, Herr College!“ antwortete er kalt und setzte seine Untersuchungen fort. „So, nun stehe ich zu Ihrer Verfügung,“ sagte er einige Augenblicke später. Er trat vom Bett zurück und folgte dem Doctor, der die Thür öffnete, in das Eck- und Arbeitszimmer.
Gleich darauf hob Henriette die Wimpern. Auf ihren Wangen lag das gefährliche Roth innerer Aufregung, und sie verlangte mit fast heftigen Geberden und Worten nach ihrem Arzte, dem Doctor Bruck.
Die Präsidentin vermochte kaum ihren Aerger über „den bodenlosen Eigensinn“ zu unterdrücken; allein sie ging ohne Widerrede, um den Wunsch der Kranken zu erfüllen. Sie kam auch durchaus nicht zu früh, wie sie gefürchtet. Der Herr Medicinalrath hatte jedenfalls von den Beobachtungen des jungen Arztes keinen Gebrauch zu machen gewußt, und noch weniger war er auf eine Berathung eingegangen – er setzte sich eben an den Arbeitstisch des Doctors, um ein Recept zu verschreiben.
Doctor Bruck verließ sofort das Zimmer, und die Präsidentin trat zu ihrem alten Freunde, um sein Urtheil zu hören. Er war ziemlich spitz und verstimmt, sprach von total verfehlter Behandlung des Leidens und warf den Vorwurf hin, daß man immer erst in den gefährlichsten Momenten „vor die rechte Schmiede gehe“. Die Großmama habe längst Henriettens eigensinniges Köpfchen brechen und den alten Hausarzt, der sie doch in ihrer Kindheit behandelt, zu Rathe ziehen müssen. In solchen Fällen sei eine Rücksicht, wie die auf Flora’s Bräutigam genommene, geradezu gewissenlos. „Vor allen Dingen müssen wir jetzt sehen, daß wir das arme Kind so schnell wie möglich in sein eigenes, bequemes und elegantes Schlafzimmerchen bringen, meine Gnädigste,“ setzte er hinzu. „Sie wird sich in ihrer gewohnten Umgebung wohler fühlen; auch bin ich dann sicher, daß meine Anordnungen strict befolgt werden, was hier voraussichtlich nicht der Fall sein würde.“
Er tauchte die Feder ein – da fiel sein Blick auf ein geöffnetes, elegantes Kästchen, das mitten unter den Büchern und Schreibmaterialien stand; es mochte kaum erst ausgepackt worden sein, denn die Emballage lag noch daneben.
Die Frau Präsidentin hatte das blühende Gesicht ihres „bewährten Freundes“ noch nie so lang, noch nie so unbeschreiblich, bis zur Geistlosigkeit verdutzt gesehen, wie in diesem Augenblicke, wo ihm die Feder aus der Hand fiel.
„Mein Gott, das ist ja der herzoglich D.’sche Hausorden,“ sagte er und tippte mit scheuem Finger an das Kästchen. „Wie kommt denn der in dieses Haus, an diese obscure Adresse?“
„Merkwürdig!“ murmelte die Präsidentin betreten. Ueber ihre bleiche Haut flog das schnelle Roth einer jähen, unliebsamen Ueberraschung. Sie hielt die Lorgnette vor die Augen und musterte eifrig den Inhalt des Kästchens. „Ich kenne den Orden und seine Bedeutung nicht –“
„Das glaube ich gern, wird er doch selten genug verliehen!“ fuhr der Medicinalrath dazwischen.
„Sonst möchte ich behaupten, die Decoration rühre noch vom letzten Feldzuge her,“ vollendete sie.
„Denken Sie nicht d’ran!“ polterte er heraus – er mußte in sehr aufgeregter Stimmung sein, da er diesen Ton anschlug. „Erstens ist der Orden nur gestiftet für Leistungen, die dem Fürstenhause persönlich gelten, und dann möchte ich den Mann sehen, der eine solche Auszeichnung jahrelang besäße, ohne daß die Welt es erführe. … Eh – wenn ich nur das Motiv wüßte, das Motiv!“ Er rieb sich unablässig wie geistesabwesend die Stirn mit der Rechten, an der mindestens drei fürstliche Huldbeweise in Brillantenfeuer glänzten – was galten sie ihm in diesem Augenblicke! Es waren Geschenke, die ihm seine fürstlichen Herrschaften von den Reisen mitgebracht, keine Auszeichnung fremder Höfe.
„Gerade dieser Orden ist das Ziel vieler Wünsche,“ fügte er hinzu; „manche hochgestellte Persönlichkeit hat sich schon vergeblich darum beworben, und nun liegt er hier, wie achtlos aus der Hand geschoben, auf diesem erbärmlichen, angestrichenen Arbeitstische. Und jenem Menschen, jenem Ignoranten, der sich durch seine Mißerfolge so gründlich blamirt hat – Pardon, meine Gnädigste! aber das muß heraus – ihm wird er an den Hals geworfen, und man hat nicht die blasse Ahnung, wofür.“
Er war aufgesprungen und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer. Die stolze Frau, die sich sonst durch Nichts so leicht aus der Fassung bringen ließ, verfolgte ihn jetzt mit ziemlich ängstlichen, rathlosen Blicken. „Ich kann mir nicht denken, daß die Decoration mit seinem ärztlichen Wirken zusammenhängt,“ warf sie unsicher hin; „wie käme er denn auch an den D.’schen Hof?“
Der Medicinalrath blieb stehen und lachte laut auf, aber es war ein gewaltsam erzwungenes Lachen. „Nun, das muß ich sagen, Sie sprechen da etwas aus, meine Gnädigste, was mir nun und nimmermehr in den Sinn gekommen wäre, weil es einfach – unmöglich ist. Es müßten sich denn alle Dinge der Welt plötzlich auf den Kopf gestellt haben, so daß die Stümperei und Unwissenheit bei unreifen Strebern ausgezeichnet und das gediegene Wissen, die gereifte Erfahrung, das wahre Verdienst mit Füßen getreten würde. Nein, daran denkt meine Seele nicht.“ – Er trat an ein Fenster und trommelte mit den Fingern auf dem Sims. „Wer weiß denn, welcher Mission er sich unterzogen hat! Er war ja für acht Tage verschwunden, und Niemand wußte wohin,“ sagte er nach kurzem Verstummen in gedämpftem Ton über die Schulter zurück. „Hm, wer kennt denn seine Beziehungen außerhalb? Solche Duckmäuser, die nie von sich und ihrem Berufe sprechen, haben stets ihre guten Gründe – es kommen ja in der ärztlichen Praxis genug Dinge vor, zu denen sich achtbare Leute nicht hergeben. Nun, ich schweige. Es ist nie meine Sache gewesen, von den dunkeln Umtrieben Anderer den Schleier zu heben; es geht ja schließlich doch Alles seinen Weg, wie der da droben es will.“ Er zeigte himmelwärts mit so gutgespieltem Gottvertrauen, daß es ihm nur seine intimste Freundin, die Frau Präsidentin, nicht glaubte; er wurde stets fromm und weich, wenn er sich zurückgesetzt oder in irgend einem Vorrecht verkürzt wähnte.
Er setzte sich wieder an den Tisch und schrieb das beabsichtigte Recept, aber so hastig und flüchtig, als sei in dem fatalen Kästchen neben ihm ein Brennpunkt, der ihm die Finger versenge. „Um Eines bitte ich Sie, meine verehrte Freundin,“ sagte er einen Augenblick innehaltend, „suchen Sie der Sache ein wenig auf den Grund zu kommen! Ich möchte gern au fait sein, ehe Bruck Lärm schlägt mit seiner zweifelhaften Auszeichnung – man kann nöthigenfalls pariren. … An Ihre diplomatische Feinheit brauche ich selbstverständlich nicht zu erinnern; die steht hoch über jedem Zweifel.“
Die alte Dame antwortete im ersten Augenblicke nicht; sie hatte ihn, so lange er seine zierlichen, mysteriösen Schriftzüge auf das Papier warf, nachdenklich beobachtet und finden müssen, daß der Freund plötzlich merkwürdig gealtert habe. Nicht etwa, daß Runzeln seine blühenden Wangen durchfurcht hätten – noch sah er wohlbeleibt und glatt aus, aber ein undefinirbares Gemisch von Besorgniß, von Niedergeschlagenheit und mürrischem Verdrossensein sprach in diesem Moment des Sichgehenlassens aus allen seinen Gesichtslinien; er sah aus wie ein Mensch, dem ein heimlich verstimmender Gedanke die Freuden des Tages beeinträchtigt und den Schlaf stört. Und sie erinnerte sich jetzt, daß er in der letzten Zeit hier und da ganz feine Andeutungen über fürstliche Launen hingeworfen hatte. Himmel, wenn sie diesen Freund verlor! Damit meinte sie durchaus nicht seinen Heimgang aus diesem irdischen Leben – sie dachte überhaupt nie an’s Sterben – sie verlor ihn nur durch seine Pensionirung; er konnte ihr nichts, gar nichts mehr sein bei Hofe, und wie sich dann Alles ändern würde, das mochte sie gar nicht ausdenken. Bah, warum denn auch? Der gute Medicinalrath aß gar zu gern Trüffeln und andere gute, aber schwerverdauliche Dinge, und starke Weine und schweres Bier liebte er auch – er begann hypochondrisch zu werden; er fing Grillen und sah Gespenster; sie mit ihren feinen Fühlfäden spürte es stets lange vorher, wenn eine Macht bei Hofe stürzen sollte, diesmal aber hatte auch nicht das leiseste Wehen eines Lüftchens die Schwenkung der reizbaren Wetterfahne angezeigt.
„Aber, bester Medicinalrath, wer sagt Ihnen denn, daß die Decoration überhaupt für den Doctor selbst bestimmt ist?“ fragte sie mit der ganzen Zuversicht der erfahrenen Weltdame. „Ich glaube nicht daran, weil ich mit dem besten Willen den Zweck nicht einsehe. Uebrigens mag die Sache zusammenhängen, wie sie will, ihm wird sie in unserer Residenz nichts nützen, denn da ist er ein- für allemal so gut wie todt. Ich will Ihnen gern den Gefallen thun und nachforschen, lediglich zu Ihrer Beruhigung –“ sie verstummte; im Nebenzimmer knarrte eine Thür; die Frau Diakonus kam herein, um etwas aus ihrer Commode zu holen.
Der Medicinalrath erhob sich und übergab der Präsidentin das Recept; dann gingen Beide durch das Zimmer, wo die Tante eben den Kasten wieder schloß. Am liebsten hätte der Medicinalrath seiner Unruhe jetzt gleich ein Ende gemacht und im Vorübergehen mittelst einer schalkhaften Bemerkung eine aufklärende Antwort herausgelockt, allein die alte Frau verneigte sich so kühl und würdevoll, mit so viel ernster Zurückhaltung, daß er gar nicht wagte, sie anzureden.
Und drüben war noch weniger zu erfahren. Der Doctor hatte die große Glasschale mit den Goldfischen aus dem Zimmer der Tante herübergebracht und war eben bemüht, den dazu gehörigen Apparat eines kleinen Springbrunnens in Gang zu bringen; die Aufwärterin schleppte frisches Wasser herbei und goß es in verschiedene flache Schüsseln auf den Tischen und in einen Kübel nicht weit vom Krankenbette, Alles, um die Luft des Zimmers möglichst zu durchfeuchten. … Wer hätte dem Manne, der in seiner Fürsorge, seiner Pflichterfüllung aufzugehen schien, gerade jetzt mit verfänglichen Andeutungen über Außendinge kommen mögen? Und der Medicinalrath fand das auch plötzlich vollkommen überflüssig. Es wurde ihm ganz leicht um’s Herz; die Sache mußte anders zusammenhängen; denn so schlicht und unbefangen, so anspruchslos wie der junge Arzt dort, gerirte sich kein Mann, der eben einer seltenen Auszeichnung gewürdigt worden war.
Henriette saß jetzt, durch Kissen gestützt, im Bette aufrecht und sah mit weitoffenen, glänzenden Augen um sich; es war starkes Fieber eingetreten. Von einem Uebersiedeln nach der Villa konnte keine Rede sein, so lebhaft auch die Präsidentin es wünschte. Sie mußte sich vorläufig damit begnügen, Henriettens Jungfer zur Pflege für die Nacht, und Alles, was das Krankenzimmer „comfortable“ machen konnte, herüberzuschicken. Käthe’s Bitte, die Nachtwache übernehmen zu dürfen, wurde weniger von ihr und dem Medicinalrath, als von Seiten des Doctor Bruck rundweg abgeschlagen. Die Thränen traten dem jungen Mädchen in die Augen, als er so kühl und fest bei seinem Ausspruche beharrte, nach welchem die pflegende Hand der Kammerjungfer unter seiner speciellen Aufsicht und Leitung völlig genügte. Es wurde demnach beschlossen, daß Flora und Käthe bis um zehn Uhr bleiben und dann durch Nanni abgelöst werden sollten.
Flora hüllte sich bei diesen Verhandlungen in consequentes Schweigen. Sie fühlte so gut, wie die Großmama, daß sie als leibliche Schwester sich bei diesem Erkranken, welches im Verein mit dem Vorfalle im Walde morgen voraussichtlich das Tagesgespräch der Residenz bilden werde, durch Käthe sich nicht beschämen lassen dürfe, und deshalb ließ sie den Beschluß wie eine Verurtheilung über sich ergehen.
Bald nach dem Weggang der Präsidentin und ihres Freundes kamen Lakaien und Hausmädchen schwer beladen aus der Villa und schoben und trugen mit geräuschloser Behendigkeit Polstermöbel und allerhand Geräthschaften in das Krankenzimmer; die überaus einfache, aber dennoch anheimelnde Fremdenstube wurde plötzlich so buntscheckig wie ein Auctionslocal. Der gestickte Ofenschirm vor den halb erblindeten, schwarzen Kacheln, das prachtvolle Waschgeräth, die apfelgrünen, seidenglänzenden Lehnstühle – wie lächerlich unpassend, gleichsam wie von einem ungünstigen Wind verschlagen, stand das Alles inmitten der vier verblaßten, getünchten Wände!
Ohne eine Miene zu verziehen, ganz in ihrer sanften, gelassenen Weise, räumte die Tante Diakonus ihr verstoßenes Eigenthum fort. Ihre Augen begegneten nicht ein einziges Mal denen des Doctors, der sich mit verschränkten Armen in eines der Fenster zurückgezogen hatte und schweigend den Veränderungen zusah; vielleicht fürchtete die alte Frau, er könne in ihrem Blick eine leise Spur des Gekränktseins finden, und das wollte sie um keinen Preis.
Mit der einziehenden gewohnten Eleganz kam sichtlich neue Spannkraft in Flora’s bisherige apathische Haltung; sie dirigirte das Arrangement, legte eigenhändig die grünseidene Decke auf Henriettens Bett und versprühte eine ganze Flasche Eau de Cologne auf den Dielen. Dann ließ sie einen schwellenden Teppich in die leere Fensternische breiten und stellte einen Fauteuil darauf, und als die Dienstleute sich entfernt hatten, warf sie sich in den Lehnstuhl und kreuzte die schmalen Füße auf einem gestickten Fußkissen. Sah es doch aus, als habe sie sich aus der Wüste auf eine kleine Oase gerettet – so eng schmiegte sich ihre Gestalt zusammen, und so fremd und kalt musternd blickte sie über Alles hin, was sich außerhalb ihrer teppichbelegten Ecke befand. Dort in dem „lächerlich kleinen“ Stückchen Spiegelglas, das ein brauner Holzrahmen umschloß, hatte sie vorhin bemerkt, daß ihr dünnes Scheitelhaar abscheulich derangirt sei. Sie hatte einen kleinen weißen Spitzenshawl vom Halse genommen und ihn graziös über die losen Löckchen gesteckt; dieses weiße klare Gewebe legte sich wie ein Heiligenschein um den reizenden Kopf. Und die Tante Diakonus mußte immer wieder hinsehen; es war und blieb doch eine wunderschöne Braut. Nun erst begriff sie ganz, daß der Doctor dieses sylphenhafte Wesen weder im tollen Treiben der Studentenzeit, noch auf den Schlachtfeldern hatte vergessen können, und ihr jetziges seltsames Benehmen, ihre finstere Schweigsamkeit, so verletzend sie auch das warme Gefühl berührte, war ja doch nur die augenblickliche natürliche Folge eben stattgehabter heftiger Gemüthserschütterungen.
Inzwischen ging der Nachmittag zu Ende. Im Westen flammten die Abendgluthen auf; die niedersinkenden kleinblätterigen Rankenfransen der Blumenampeln in den Fensternischen erschienen goldbeflittert, und die Purpurrosen auf den Kattungardinen wuchsen im Sonnenfeuer zu Riesenpäonien, die das Krankenzimmer mit feurigem Glanze erfüllten.
Henriette lag still, mit geschlossenen Augen in den Kissen. Sie hatte fast angstvoll gegen das Niederlassen der Rouleaux protestirt, „weil sie nicht an dumpfer Dämmerung ersticken wollte“; ebenso war es ihr Wunsch, daß man zwanglos aus- und eingehen und sich mit lauter Stimme unterhalten möge; sie könne das Geflüster und das „Auf-den-Zehen-gehen“ nicht ausstehen, ja, sie fürchte sich davor und meine, man sehe eine Todtkranke oder gar Sterbende in ihr. Ihr Wunsch wurde erfüllt; man bemühte sich, bei möglichster Geräuschlosigkeit vollkommen unbefangen zu erscheinen.
Während der Doctor für einige Minuten das Zimmer verließ, um ein Buch zu holen, kam die Tante Diakonus herein mit einem Präsentirteller in den Händen, und sofort verbreitete sich ein köstliches Thee-Aroma, das selbst den starken, scharfen Duft der Eau de Cologne niederkämpfte. Auf dem Brett lag eine glänzend weiße Damastserviette vom feinsten Gewebe; die Tassen waren von altem Porcellan und die silbernen Löffel altväterisch massiv und dick, lauter Erbstücke einer respectablen Familie. Und das rothe Sonnenlicht verklärte die alternde Frauengestalt, wie sie so, in wahrhaft holländischer Sauberkeit leuchtend, mit dem edlen, friedfertigen Gesicht unter dem aschblonden, ungelichteten Scheitel vor die Braut in der Fensterecke trat und ihr freundlich die Erfrischung bot.
„Selbstgebackene Waffeln?“ fuhr Flora aus ihrer halbliegenden Stellung empor. „Ach ja, der Schmorduft kam vorhin von der Küche her, bis zu mir in diese Ecke. Wie appetitlich!“ Sie schlug die Hände zusammen wie in naiver Bewunderung. „Mein Gott, wer, wie ich, so völlig talentlos für häusliches Wirken ist, der begreift absolut nicht, wie solch ein kleines Kunstwerk zu Stande kommen kann. Wie viel Geduld, aber auch wie viel Zeit mag dazu gehören!“
„Ich geize mit meiner Zeit und habe mir deshalb ein wenig Flinkheit angewöhnt,“ sagte die Frau Diakonus lächelnd. „So werde ich ziemlich rasch mit meinen Hauspflichten fertig. Ich habe über sehr viel Mußestunden zu verfügen und bin so glücklich – was viele andere stark beschäftigte Hausfrauen nicht können, nicht dürfen – an meiner geistigen Fortbildung nach Kräften arbeiten zu können. Im vergangenen Winter z. B. habe ich mir die Aufgabe gestellt, die Bibel vom ersten bis zum letzten Worte, in der Reihenfolge, durchzulesen –“
„Um des geistigen Trostes willen?“ fragte Flora.
„Deshalb nicht – ich bin bibelfest genug, um die Stellen auswendig zu wissen, an die ich mich im Leben zu halten pflege, aber der heiße politisch-religiöse Streit, der jetzt die Welt bewegt, geht auch die Frau an, und wenn man auch nicht zu den Waffen greifen kann, so gilt es doch, sich aufrichtig bekennend einer der Phalangen einzureihen, die hinter den Vorkämpfern stehen, und das kann man nur, wenn man einmal von Allem, was Schule und Predigt überliefern, absieht und möglichst vorurtheilslos an die heilige Schrift herantritt.“
Flora sah ihr mit grenzenlosem Erstaunen, weit offenen Auges in das Gesicht. Die ganze Bibel durchlesen, um der Ueberzeugung willen! Wie entsetzlich trocken und uninteressant! Dazu fehlte ihr, der Poesiereichen, die Geduld. Daß sie sich selbst mit Vorliebe der Welt gegenüber als den ernst grübelnden, forschenden Geist aufspielte, vergaß sie vollständig in diesem Momente, wo sie sich über die unvermuthete geistige Beschäftigung „der strümpfestopfenden, unermüdlich backenden und scheuernden Frau“ gründlich ärgerte. Wie kam denn die dazu, die Pfarrerswittwe, sich auch um die Welthändel zu kümmern? Ah, nun wußte man auch, wer den Doctor verdarb, wer ihm das lächerliche Ideal aufstellte, nach welchem die Frau Köchin und „geistige Gehülfin“ zugleich sein konnte.
Käthe war längst hinzugetreten und hatte der Tante das Präsentirbrett abgenommen. Mit klugem Blicke verfolgte sie die steigende Bewegung in den schönen Zügen der Schwester – sie wußte, daß sie sich zu irgend einer rücksichtslosen Aeußerung hinreißen lassen würde; deshalb bot sie ihr schleunigst den Thee an.
Flora pflückte ungeduldig mit ihren zarten Fingerspitzen an dem Taschentuche auf ihrem Schooße und dankte sichtlich verstimmt, „weil sie noch sehr alterirt sei, um etwas über die Lippen bringen zu können“, wenige Minuten darauf aber sah das junge Mädchen, wie sie eine Bonbonnière aus der Tasche zog und sich mit Eisbonbons erquickte; sie vermied es geflissentlich, in diesem Hause etwas anzunehmen. Sie wollte absolut keine Gemeinschaft mehr mit ihm. Käthe erkannte sehr wohl, daß die treulose Braut mit dem Eintritte in das alte Haus, in die einfach bürgerliche Fremdenstube den letzten Rest von Selbstbeherrschung und erkünstelter Ruhe verloren hatte; sie las in den großen, graublauen, vor verzehrender Ungeduld funkelnden Augen, daß sie dem Momente nahe gekommen sei, wo sie „endlich das Joch abschütteln wolle, abschütteln um jeden Preis“. Durch die Seele der jungen Schwester zog es wie ein inbrünstiges, angstvolles Gebet, daß nur hier, im eigenen Heim des unglücklichen Mannes, die furchtbare Entscheidung nicht erfolgen möge. Zum Glück bemerkte die alte Frau Flora’s häßliches Gebahren nicht; sie trug, ahnungslos, daß über ihrem hellen friedlichen Stillleben eine schwarze, unglückbringende Wolke hing, das Geschirr wieder hinaus, nachdem Käthe eine Tasse Thee dankbar angenommen hatte.
Das glühende Abendlicht verblaßte allmählich. Alle Purpurfarbe zog sich aus dem Krankenzimmer zurück und blieb zuletzt nur noch auf der schönen Dame im Fenster liegen – wie ein von dämonischem Feuer umzüngelter böser Engel saß Flora dort.
Die Kranke wurde unruhiger. Sie zupfte und zerrte an der grünseidenen Bettdecke und war sichtlich bemüht, sie fortzuwerfen. „Im Grün ist Arsenik – fort damit!“ flüsterte sie mit der ganzen unheimlichen Hast und Angst des Fiebers vor sich hin.
Käthe vertauschte sogleich die seidene Decke mit der kühlen, weißleinenen des Gastbettes und glättete sie über dem armen hageren Körper, den sie heute im Walde „den Zwerg“ genannt hatten. In den wunderschönen Augen der Kranken lag in diesem Augenblicke keine Spur von Verständniß. Sie rollten wild und wirr unter den halb zugesunkenen Lidern.
„Das thut gut,“ sagte sie, sich unter der Decke streckend. „Und nun lasset sie nicht wieder herein, wenn sie mich mit der vergifteten, heißen Seide ersticken will! Die Großmama ist falsch, wie Alle, die sich im Salon anlügen – sie und der alte Giftmischer, die große Autorität. Ich werde nach ihm schlagen, wenn er seine abscheulichen Finger auf meine Brust drückt,“ zischte sie erbittert durch die Zähne. Sie setzte sich plötzlich auf und ergriff Käthe’s Hand. „Nimm Dich vor ihm in Acht, Bruck!“ warnte sie mit aufgehobenem Finger, „und vor der Großmama auch! Und sie – Du weißt schon, wen ich meine; sie raucht Cigarren und fährt wie toll mit den neuen wilden Pferden, weil Du es verboten hast – sie ist die Falscheste von Allen.“
„Sehr verbunden!“ flüsterte Flora halblaut mit einem bösen Lächeln und schmiegte sich noch enger in den Polsterlehnen zusammen.
Eine unbeschreibliche Bangigkeit überschlich Käthe, deren Hand mit so innigem Drucke festgehalten wurde. Sie vermied es, den Doctor anzusehen, für den die Fiebernde sie hielt, und welcher, von dem chinesischen Schirme halb verdeckt, am Kopfende des Bettes stand.
„Weißt Du noch, wie es früher war, Doctor?“ fuhr Henriette fort. „Weißt Du noch, wie sie die Lakaien durch Wind und Wetter jagte, Dir nach, mit Briefen, vier, fünf an einem Tage? – Weißt Du noch, wie sie, fast toll vor Sehnsucht, Dir entgegenlief, wenn Du nicht zur versprochenen Minute gekommen warst? Und wie sie dann draußen die Arme um Deinen Hals schlang, wild und stark, als wollte sie Dich nie wieder lassen?“
Jetzt fuhr Flora jäh empor; ihre seidenen Gewänder rauschten und zischelten, und sie war so roth im Gesicht, als breite sich noch einmal das ebenversunkene grelle Abendlicht über ihre weißen Wangen. „Gieb ihr Morphium!“ rief sie herüber. „Das ist schon mehr Verrücktheit, als fieberhafte Aufregung, sie muß schlafen.“
Der Doctor hatte der Kranken kaum erst einen Löffel voll Medicin gereicht; er beantwortete Flora’s Aufforderung nur mit jenem halben, flüchtigen Lächeln, mit welchem man über ein thörichtes Verlangen der Unwissenheit hinweggeht, und veränderte seine Stellung nicht im Geringsten; auch die Gluth, die bei Henriettens letzten Worten über sein braunes Gesicht hinflammte, erlosch rasch wieder; er sah ruhig und kalt aus, wie vorher.
Flora sank zornig in ihren Stuhl zurück, wandte sich ab und ließ ihre Augen funkelnd und rastlos über die Gegend draußen hinschweifen.
„Hättest Du damals gedacht, daß sich das ändern würde, Bruck? Daß sie je sagen könnte, es sei ein schwerer Irrthum gewesen?“ hob Henriette von Neuem an und umklammerte nun auch mit der anderen brennend heißen Hand Käthe’s Rechte. Dem jungen Mädchen stockte fast der Herzschlag; auf den Lippen der Kranken schwebte es, woran bis jetzt Niemand, selbst die Schuldige nicht, mit dem lauten, klaren Wort zu rühren gewagt hatte. Sie bog sich rasch über die Fiebernde und legte ihr instinctmäßig die kühlen Finger auf die Stirn, als könne sie damit den unheilvollen Gedankengang in eine andere Bahn leiten.
„Ah, das kühlt!“ seufzte Henriette auf. „Aber weißt Du noch, wie Flora damals Deine Hand von meiner schmerzenden Stirn stieß? Sie war tödtlich eifersüchtig.“
Ein halb unterdrücktes höhnisches Auflachen klang aus der Fensterecke herüber. Henriette hörte es nicht. Sie war der Außenwelt völlig entrückt.
„Mich läßt der Schmerz über das, was kommen wird, nicht schlafen,“ klagte sie und schlang jetzt ihre Finger in einander und drückte sie leidenschaftlich gegen die kranke Brust. „Dann wirst Du unser Haus meiden und ein unglücklicher Mann sein, der nicht einmal unseren Namen mehr auf die Lippen nimmt. Ach, Bruck, was fragt sie danach in ihrer bodenlosen Eitelkeit, die sie Ehrgeiz nennt! Sie wird sich losreißen um jeden Preis.“
Käthe hob unwillkürlich die Arme und streckte sie in namenloser Angst über die Kranke hin. Henriette schrie auf. „Nicht die Hand auf den Mund legen, wie der schreckliche Junge im Walde!“ stöhnte sie abwehrend.
In diesem Augenblick stand Flora neben der jungen Schwester und schob sie vom Bett weg; in ihren Zügen, in allen Geberden lag ein wilder Entschluß. „Lasse sie ausreden!“ sagte sie gebieterisch.
„Ja, ausreden lassen!“ wiederholte Henriette halb lallend vor Erschöpfung, aber doch befriedigt wie ein Kind, dem man den Willen thut. „Wer soll Dir’s sonst sagen, Bruck, wenn nicht ich – ich? Wer soll Dich warnen, damit Du auf Deiner Hut bist? Halte die Augen offen! Sie fliegt Dir davon, wie die Taube vom Baum, die weiße Kokette; sie will frei sein –“
„Was sie auch faseln mag, eine Wahrheit ist darin,“ sagte Flora entschlossen dazwischen und trat dem Doctor um einen Schritt näher. „Sie hat Recht, ich kann Dir das nicht sein, was ich versprochen habe; gieb mich frei, Bruck!“ setzte sie flehend hinzu und hob die verschlungenen Hände; zum ersten Mal hörte Käthe, wie unwiderstehlich und süß ihre Stimme klingen konnte, wenn sie weich wurde.
Da war das entscheidende Wort gefallen, um das sich monatelang die abscheulichsten Intriguen gedreht hatten. Käthe hatte gemeint, es müsse mit dem ersten Laute den Verrathenen zu Boden schmettern, allein der vernichtende Blitz zündete nicht sichtbar; für das junge Mädchen war die unerschütterte Haltung des Doctors so räthselhaft, wie wenn nach einem mörderischen Schuß der scheinbar Getroffene unversehrt aus dem Pulverdampfe hervorgeht. Ernst und schweigend sah er auf die Bittende nieder, nur blaß war er, blaß wie der Tod. Er verweigerte ihr die Hand, die sie ergreifen wollte. „Zu einer solchen Auseinandersetzung ist hier nicht der Ort –“
„Aber der richtige Augenblick. Ein anderer Mund spricht für mich das aus, was ich seit Monaten auf den Lippen hatte und doch nicht in Worte kleiden konnte –“
„Weil es ein notorischer Treubruch ist.“
Sie biß sich auf die Lippen. „Die Bezeichnung ist hart und nicht zutreffend; so fest war unser Bund noch nicht geschlossen; auch bin ich mir bewußt, daß kein anderes Bild das Deine aus meinem Herzen verdrängt hat. Lächle nicht so geringschätzend, Bruck! Bei Gott, ich denke an keinen anderen Mann,“ rief sie leidenschaftlich betheuernd. „Aber ich will den Vorwurf auf mich nehmen,“ setzte sie ruhiger hinzu, „um den Preis, daß wir Beide nicht unglücklich werden.“
„Mein Glück oder Unglück lasse dabei aus dem Spiele! Du kannst nicht wissen, was ich darunter verstehe, allein so viel wirst Du Dir wohl selbst sagen, daß sie beide nicht in’s Gewicht fallen dürfen, wenn es sich um die innere Ehre und Selbstachtung des Mannes handelt. Und nun möchte ich Dich um Deiner kranken Schwester willen bitten, für jetzt zu schweigen.“ Er wandte sich ab und trat in das nächste Fenster.
Sie ging ihm nach. „Henriette hört uns nicht,“ sagte sie. Die Kranke war todesmatt in die Kissen zurückgesunken und flüsterte unaufhörlich vor sich hin, wie ein Kind, das sich selbst ein Märchen erzählt; ihr Ohr war allerdings der Außenwelt verschlossen. „Das ist ja keine Entscheidung,“ fuhr Flora in traurigem, niedergeschlagenem Tone fort. „Ich muß aber ein festes, klar bezeichnendes Wort haben. Warum hinausschieben, was mit einem raschen Entschlusse festgestellt werden kann?“ Es war abscheulich anzusehen, wie sie mit Daumen und Zeigefinger am Ringfinger der linken Hand spielend drehte.
Doctor Bruck sah über seine Schulter auf sie nieder. Es fiel Käthe abermals auf, wie er bei aller Kraft und Männlichkeit seiner Gestalt dennoch merkwürdig jung neben ihr erschien. Unter dem vollen Barte sah man beim Sprechen fast mädchenhaft keusch geformte, zartrothe Lippen, und die Ausbiegung an den Schläfen verlief so jugendlich weich, wie bei einem Jüngling; dazu die schlichten anspruchslosen Geberden und die Augen, die so leicht in befremdender Scheu schmolzen und sich seelisch gleichsam tief zurückziehen konnten vor einem anderen Blicke. Jetzt aber ruhten sie fest auf der schönen Dame, die mit ihrem lockigen Scheitel kaum seine Schulter erreichte.
„Was gedenkst Du einzutauschen für das Leben an meiner Seite?“ fragte er so plötzlich, so scharf, daß sie unwillkürlich zusammenfuhr.
„Brauche ich Dir das zu sagen, Bruck?“ rief sie und strich sich tief aufathmend, wie von einem Alp befreit, die Locken aus der Stirn. „Siehst Du nicht, wie meine ganze Seele danach dürstet, aufzugehen im Schriftstellerberufe? Kann ich das aber in dem Umfange, wie es meine Beanlagung, mein mit heißem Streben gepaartes Talent gebieterisch verlangen, wenn ich die Pflichten einer Frau übernehme? Nun und nimmermehr!“
„Wunderbar, daß Dir dies stürmische Verlangen erst jetzt, erst in den letztvergangenen Monaten gekommen ist, nachdem Du –“
„Nachdem ich neunundzwanzig Jahre lang ohne den Ruhm leben konnte, willst Du sagen,“ ergänzte sie schneidend mit dunkel überflammtem Gesicht. „Lege Dir das zurecht, wie Du willst, bringe es auf die Rechnung der Frauennatur, die schwankt und fehlgreift, bis sie das Rechte findet –“
„Weißt Du so gewiß, daß es das Rechte ist?“
„So gewiß, wie die Magnetnadel nach dem Pole zeigen muß.“
Er ging schweigend an ihr vorüber, nahm die Medicin vom Tische und trat an das Bett. Die Kranke mußte wieder einnehmen, aber sie war eingeschlummert und hielt mit beiden Händen Käthe’s Rechte fest. Es war dem jungen Mädchen, als bewege er sich automatenhaft, als sei der innere Kampf so gewaltig, daß er ihn der Herrschaft über Hand und Fuß und Auge beraube. Sie sah er nicht an; es mochte ihn wohl tief demüthigen, daß diese empörende Scene einen Zeugen hatte, aber litt sie nicht selbst qualvoll durch ihr Bleiben? Sie hatte mehrmals versucht, ihre Hand vorsichtig zurückzuziehen, um zu entfliehen, so weit sie ihre Füße tragen mochten, allein bei der geringsten Bewegung fuhr die Kranke in erschütterndem Schrecken empor.
Er versuchte, der Schlummernden den Puls zu fühlen. Käthe bemühte sich, ihm zu helfen, indem sie die Linke unter Henriettens Armgelenk schob; dabei ruhete ihre innere Handfläche einen Augenblick auf seinen Fingern. Er zuckte zusammen und wechselte so jäh die Farbe, daß sie erschrocken die Hand zurückzog. Was war das gewesen? Machte ihn der innere Aufruhr so nervös, daß ihn jede äußere Berührung entsetzte und mit zornigem Schrecken erfüllte? Sie sah seitwärts scheu zu ihm auf. Ein tiefer Athemzug hob seine Brust, während er sich wegdrehte, um die Medicin auf den Tisch zurückzustellen.
Flora hatte inzwischen unbeschreiblich erregt und ungeduldig einige Male das Zimmer durchmessen. Jetzt trat sie wieder neben den Doctor an den Tisch. „Es war unklug von mir, meine Gefühle so freimüthig zu bekennen,“ sagte sie mit zornfunkelnden Augen. Sein Schweigen und die Erfüllung seiner Berufspflicht, mit welcher er unbeirrt einen solchen Entscheidungskampf unterbrach, hatten sie furchtbar gereizt. „Du bist ein Verächter des Frauengeistes und gehörst zu den Tausenden von unverbesserlichen Egoisten, welche die Frau um keinen Preis auf eigenen Füßen sehen wollen –“
„Wenn sie nicht stehen kann, allerdings.“
Sie legte die kleine, krampfhaft zu einer Faust geballte Hand auf den Tisch und sah dem Sprechenden einen Augenblick mit festgeschlossenen, fast weißgewordenen Lippen in das Gesicht. „Was willst Du damit sagen, Bruck?“ stieß sie scharf heraus.
Ein Hauch von Röthe ging ihm über Stirn und Wangen hin, und seine Brauen zogen sich leicht zusammen; er war offenbar eine jener sensitiven Naturen, die ein scharfzugespitzter, auf gegenseitige Verletzung ausgehender Wortwechsel geradezu auf die Folter legt. „Ich will damit sagen,“ entgegnete er gleichwohl fest und mit anscheinender Gelassenheit, „daß zu diesem ‚Auf-eigenen-Füßen-stehen‘, zu welchem die strebende Frau vollkommen berechtigt ist, wenn sie damit nicht bereits übernommene ältere Pflichten und das edle deutsche Familienleben schädigt, daß zu diesem ‚Auf-eigenen-Füßen-stehen‘ ein starker, zäher Wille, ein consequentes Ausschließen der reizbaren weiblichen Eitelkeit und vor Allem wirkliche Begabung, wirkliches Talent erforderlich sind.“
„Und die letzteren Eigenschaften bestreitest Du mir?“
„Ich habe Deine Artikel über die Arbeiterbewegung und die Frauenemancipation gelesen.“ – Jetzt allerdings hatte die sonst so sanft moderirte Stimme des Arztes etwas durchdringend Schneidendes.
Flora fuhr zurück, als sei ein blitzendes Messer auf sie gezückt worden. „Wie willst Du wissen, daß ich die Verfasserin derjenigen Artikel bin, die Du gelesen?“ fragte sie unsicher, schwankend, dabei aber seine Züge in fieberhafter Spannung fixirend. „Ich schreibe unter Chiffern.“
„Aber die Chiffern circulirten bereits in Deinem großen Bekanntenkreise lange vorher, ehe die Aufsätze das Licht der Oeffentlichkeit erblickten.“
Sie wandte einen Augenblick beschämt und verlegen die Augen weg. „Gut, Du hast sie gelesen,“ sagte sie gleich darauf. „Was soll ich aber von Dir denken, daß Du dieses Streben nie mit einer Silbe berührt, daß Du nicht einmal Dein ungnädiges Mißfallen darüber ausgesprochen hast?“
„Würdest Du darauf hin Deine Feder niedergelegt haben?“
„Nein, und abermals nein.“
„Das wußte ich; deshalb ließ ich Dich gewähren bis zu unserer Vereinigung. Es versteht sich ja von selbst, daß die verständige Frau mit dem Manne geht und sich nicht isolirt in Sonderbestrebungen, es sei denn, daß sie bei starkem Pflichtbewußtsein, hochbegabt, ein hervorragendes Talent –“
„Was ich selbstverständlich nicht bin,“ unterbrach sie ihn mit nicht zu beschreibender Erbitterung.
„Nein, Flora, Du hast Geist, Esprit, aber schöpferisch bist Du nicht,“ versetzte er ernst den Kopf schüttelnd und in seine gewohnte milde Sprechweise einlenkend.
Secundenlang stand sie wie erstarrt vor diesem unumwundenen Urtheile, das sich unverkennbar auf die festeste Ueberzeugung stützte, dann aber hob sie in einem halbwahnwitzigen Gemisch von gemachtem Jubel und ausbrechendem Grimme die Arme hoch empor. „Gott sei Dank, nun fällt auch die letzte Rücksicht, das letzte Bedenken. Eine Sclavin wäre ich geworden, ein armes, niedergetretenes Weib, dem man den göttlichen Funken der Poesie aus der Seele gerissen hätte, um – das Küchenfeuer damit anzuzünden.“
Sie hatte überlaut gesprochen. Die Kranke, die vorhin der gleichmäßige Wechsel der zwei Stimmen allmählich eingeschläfert hatte, fuhr empor und blickte mit weit aufgerissenen Augen um sich. Besorgt eilte der Doctor an das Bett; er reichte ihr die Medicin und legte sanft die Hand auf ihre Stirn. Unter dieser Berührung sanken die erschreckten Augen wieder zu. Hätte sie ahnen können, die arme Leidende, welchen Sturm sie über den unglücklichen Mann heraufbeschworen, sie, die bis dahin Alles aufgeboten hatte, um den unheilvollen Bruch zu verhindern!
„Ich muß Dich ernstlich bitten, die Kranke nicht mehr zu stören,“ sagte der Doctor, den Kopf in das Zimmer zurückwendend; noch beugte er sich über das Bett und seine Hand lag auf Henriettens Stirn.
„Ich wüßte auch nichts mehr zu sagen,“ versetzte Flora mit einem mißlungenen Spottlächeln und zog die Handschuhe aus der Tasche. „Wir sind zu Ende, wie Du nach Deinen verletzenden Aussprüchen selbst wissen wirst – ich bin frei –“
„Weil ich Dir ein Talent abspreche, auf welches Du Dich capricirst?“ fragte er, mit äußerster Ueberwindung die Stimme dämpfend. Jetzt gewann die Entrüstung die Oberhand in ihm; er stand plötzlich in seiner ganzen imposanten Größe da. Alles, was ihn zuweilen so jünglingshaft erscheinen ließ, der sanfte, treue Blick, die von edler Bescheidenheit und Geduld zeugenden Geberden – Alles war verschwunden; er war ein zürnender, empörter Mann. „Ich frage Dich, um wen ich geworben habe, um die Schriftstellerin, oder um Flora Mangold? Als diese Letztere, und nur als diese hast Du damals Deine Hand in die meine gelegt, recht wohl wissend, daß ich zu denen gehöre, die ihre Frau einzig und allein für sich und ein stillbeglücktes Familienleben, nicht aber als ein in der Welt herumflackerndes Irrlicht haben wollen. Du hast das gewußt; Du hast Dich damals befleißigt, mir das zu werden; Du bist in Deiner sanguinischen Art weit darüber hinausgegangen – denn daß Du selbst die rußigen Töpfe in die Hand nehmen solltest, wie Du in übertriebenem Eifer gethan, würde ich ja nie von Derjenigen verlangen, die das geistig belebende Element, mein Stolz, meine mitfühlende, mitringende Gefährtin in meinem Daheim werden soll.“
Er schöpfte tief Athem; nicht ein einziges Mal wichen die strafenden Augen von dem schönen Mädchen, das jetzt so klein und erbärmlich, so unscheinbar vor ihm stand und sich vergebens abmühte, die kühne, trotzig herausfordernde Haltung standhaft zu behaupten.
„Ich habe die Wandlung in Dir vom ersten mißmuthigen Zuge auf Deiner Stirn an bis zu Deiner eben erfolgten Erklärung Schritt für Schritt verfolgt,“ hub er von Neuem an. „Du bist so unsäglich schwach Deinen eigenen weiblichen Schwächen gegenüber, als da sind Hochmuth, Eitelkeit, Launenhaftigkeit – und doch willst Du die Starkgeistige spielen, willst in Sachen der Frauenemancipation das große Wort reden und für Dein Geschlecht die Urtheilskraft, die Consequenz, das feste Wollen und deshalb auch die Vorrechte des Mannes in Anspruch nehmen? … Wie ich über Dein ganzes Verhalten denke, was meine eigene Seele dabei durchmacht, ob ich glücklich oder namenlos unglücklich werde, darauf kommt es hier nicht an. Wir haben uns feierlich für das ganze Leben verlobt, und dabei bleibt es. – Man sagt Dir nach, daß Du oft genug grausam mit Männerherzen gespielt und die Betrogenen schließlich dem öffentlichen Spott und Mitleid preisgegeben hast – mich stellst Du nicht an diesen Pranger – darauf verlasse Dich! Du bist nicht frei – ich gebe Dich nicht los. Ob Du eidbrüchig werden willst oder nicht – gleichviel. Ich will mein Wort halten.“
„Schande über Dich!“ rief sie außer sich. „Wirst Du mich auch zum Altar schleppen, wenn ich Dir versichere, daß ich längst aufgehört habe, Dich zu lieben? Daß ich in diesem Augenblicke, wie ich hier vor Dir stehe, nur mit Mühe den bittersten Haß gegen Dich niederkämpfe?“
Bei diesem furchtbaren Ausbruche erhob sich Käthe; es war ihr allmählich gelungen, ihre Hand zu befreien. Sie eilte mit weggewandten Augen hinaus; sie konnte unmöglich in das Antlitz dessen sehen, der eben eine Art Todesstreich empfangen hatte.
Im Flur, dessen Fenster nach Norden gingen, herrschte schon leichte Dämmerung; nur von der Küche her, in welcher noch der letzte röthliche Abendschein an den Wänden hinspielte, fiel es hell über den rothen Ziegelfußboden.
Die Tante Diakonus stand drinnen am Fenster und wusch das gebrauchte Theegeschirr. Die zurückberufene Köchin sollte erst morgen eintreffen; sie war krank geworden – deshalb lagen die kleinen Hausgeschäfte noch auf den Schultern der alten Frau. Sie nickte Käthe vertraulich mit freundlichem Lächeln zu; nicht die leiseste Ahnung von dem, was sich dort hinter der breiten Flügelthür zutrug, beunruhigte das stillfriedliche, sanfte Frauengemüth. Das junge Mädchen schauerte in sich zusammen und eilte vorüber, hinaus in den Garten.
Es war sehr kühl geworden. Ein starker Zugwind blies scharf und kältend vom Flusse her über ihr Gesicht und die nur von dem Seidenkleide bedeckten Schultern. Mit tiefathmender Brust stürmte sie ihm entgegen. Sie war ein Mädchen mit starkem Empfinden, mit heißem, kräftig kreisendem Jugendblute in den Adern; die Flammen der inneren Empörung brannten auch auf ihren Wangen, in den trockenheißen Augen und züngelten bis in die nervös klopfenden Fingerspitzen.
Sie hatte eben Schreckliches erlebt – welch ein entsetzliches Ringen zwischen zwei Menschenseelen! Und die Schuldige, die es heraufbeschworen, war ihre Schwester – dieser treulose, frivole Frauencharakter, der spielend das ernste Band zwischen Mann und Weib knüpfte, um es bei dem ersten Mißfallen, wie das Gespinnst haltloser Sommerfäden, zu zerreißen und in alle Lüfte hinausflattern zu lassen! Wohl hatte Flora sich diesmal in ihrem Opfer gründlich verrechnet; sie traf auf Stahl, wo sie ein durch die Verurtheilung des Publicums und ihr eigenes systematisch durchgeführtes, allmähliches Erkalten bereits tiefgedemüthigtes Herz leichten Spieles niederzutreten meinte, aber was halfen ihm die Festigkeit und Energie, mit denen er ihr die Stirn bot? Er war doch der Unterliegende. …
Käthe trat auf die Brücke, und die Hände auf das leicht erzitternde, schwanke Holzgeländer stützend, sah sie hinab. Die Wasser stürzten und rauschten unter ihren Füßen hin; mit jedem Steinblock, der seinen Platz im Flußbette behauptete, mit jeder starken Baumwurzel, die sich aus der Ufererde zwängte, rangen und stritten sie, daß der Gischt hochauf spritzte, und doch schwebte dort, fern, die bleiche Mondsichel inmitten der spiegelnden Fluth, und es war, als stehe sie unverrückbar still für alle Zeiten. Stand so die Liebe im Menschenherzen? Umstürmten sie vergebens die wildesten Kämpfe, und erblich sie nicht, wo sie verachten mußte, wo ihr Ideal in Trümmer ging? Nein, sie hatte das eben mit angesehen.
Wunderbare Leidenschaft! Schon einmal hatte sie unter dem Dache dort eine Menschenseele durch alle Stadien des Jammers, der Verzweiflung gehetzt. Wie die Tante dem jungen Mädchen neulich auf dem Heimgange erzählte, hatte in dem Hause am Flusse die schöne, junge Wittwe eines Herrn von Baumgarten gelebt. Der Nachfolger ihres Gemahls, der Sproß einer Seitenlinie und ein wunderschöner Cavalier, war täglich vom alten Herrenhause herübergekommen, um in das liebliche Frauenantlitz zu sehen, das sich, von Wittwenschleier und Schneppenhaube umrahmt, aus dem Fenster bog. In das Haus durfte er nicht, denn sie war sehr sittsam. Er war auch oft hoch auf seinem schwarzen Roß über die schmale Holzbrücke geritten und hatte das schnaubende, ungeberdige Thier dicht an die Hauswand gedrängt, um den Athem des schönen Frauenmundes zu spüren und ihre weiße Hand mit heißer Inbrunst zu küssen, und die das mit angesehen, hatten geschworen, daß er nach Ablauf der Trauerzeit die junge Wittwe wiederum als Herrin in das Schloß Baumgarten zurückführen werde.
Aber da war er einmal auf längere Zeit fortgewesen, an einem fremden Hofe, und die Leute hatten der Edelfrau im Hause am Flusse hinterbracht, daß er sich ein junges Ehegemahl aus hochgräflichem Geschlechte mit heimbringen werde. Die schöne Wittwe hatte nur gelächelt und desto emsiger an ihrem Fenster nach ihm ausgeschaut – sie hat an so viel Falschheit nicht geglaubt, bis das Zinken- und Trompetengeschmetter vom Schlosse herüber verkündigt hat, daß der eben zurückgekehrte Herr den Einzug seines jungen, stolzen Weibes mit einem üppigen Banket feiere.
Und Tags darauf war er mit der neuen Schloßherrin über die Holzbrücke geschritten, um sie im Hause am Flusse vorzustellen – die bunten Tulipanen auf ihrem schweren Brokatrock, den sie über den Boden hinschleppte, hatten weithin geleuchtet, und auf dem breiten Fächer in ihrer Hand hatte das hochgräfliche Wappen in Edelsteinen gefunkelt, und das rehfarbene Windspiel, das früher immer vor dem Rosse hergelaufen, war auch mitgekommen, aber diesmal lief es nicht nach dem Fenster, von wo ihm einst die weißen Hände Zucker und Kuchenbrocken herabgeworfen; es rannte ein Stückchen am Flußufer hin und deckte und winselte kläglich – und da schwamm ein schneeweißes Gewand, an dem die Wellen rissen und zerrten, um es mitzunehmen, aber die langen, blonden Flechten an dem blassen Frauenkopfe hatten sich im Wurzelgeflechte der Uferbäume verschlungen und hielten die Todte fest, für ihn, auf daß er noch einmal in die starren, weitoffenen Augen blicken sollte.
Das Fenster, an welchem sie mit der ganzen Zuversicht treuer Liebe gehofft, daß er wieder zu Roß über die Brücke kommen werde, war wohl das dort gewesen, wo Abends die Lampe des Doctors brannte. Dort hatte sie wohl auch gestanden und in bitterer Verzweiflung die Wellen vorbeirauschen sehen, die von dem lustigen Hochzeitshause daher kamen, und das heiße Verlangen hatte sie überwältigt, den schönen Leib in das brausende Gewässer zu stürzen, daß es ihn forttrage weit, weit weg von der Stätte ihres ehemaligen Glückes. Und nun, nach langen, langen Jahren wurde an derselben Stelle der gleiche Herzenskampf durchlitten – nein, nicht der gleiche! War er nicht ein Mann mit starkem Geiste? Ein Mann, den schon sein hoher Beruf auf Erden festhalten und allmählich über das nagende Leid hinwegheben mußte? Und wenn auch das unglückliche Weib, das sich durch einen raschen Sprung aus all dem Jammer in die Grabestiefe rettete, die weißen Arme aus dem Wasser hob, um ihn zu locken – er folgte ihr nicht. … Ein Schrecken durchfuhr sie. Hatte Henriette nicht gesagt: „Wer Flora einmal Liebe gebend gesehen, der begreift, daß ein Mann eher den Tod sucht, als daß er sie aufgiebt“? Und mußte er sie nicht aufgeben, nachdem sie ihm erklärt, daß sie ihn hasse?
Käthe lief angstvoll in den Garten zurück, als tauche dort am dunkelnden Ufer die ertrunkene Edelfrau mit den blonden Flechten empor und greife mit den Händen auch nach ihr.
Es dunkelte. Der Wald, der heute Zeuge eines beispiellos rohen Auftrittes gewesen, breitete sich einförmig schwarz wie ein Sargtuch über den niedrig gewölbten Hügelrücken, und das durchfurchte Ackerland lag glatt und verschlossen da und ließ nicht ahnen, daß Milliarden lebendiger Keime mit kleinen kräftigen Armen unter der Kruste wühlten und drängten, um eine wogende Halmenwelt an das goldene Licht der Sonne zu heben. Droben auf dem Dache knarrten die Wetterfahnen in dem fauchenden Abendwinde, der sich allmählich aufblies, um in der Nacht als brausender Frühlingssturm über die Erde hinzufahren. Das Gezweig der Silberpappeln am Staket schwankte,
[177] und die noch losen Fichtenäste der halbfertigen Laube knisterten unter seinem wilden Odem. Durchsichtig wie ein Schemen stieg ihr Astgeflecht empor – wenn einst das schattige Grün voll und dicht über dem Holzgerippe hing, wie stand es dann wohl um Alles, was in diesem Augenblick unentwirrt unter der gestaltenden Hand des Schicksals lag? Saß die Tante je dort in dem heißgewünschten grünen Sommerasyl, stillbeglückt, frohen Gemüthes, wie einst im kleinen Pfarrgarten? Wenn ihr Liebling unglücklich wurde, wenn sie ihn verlor, niemals!
Mit scheuem Blick bog Käthe um die westliche Hausecke. Der gedämpfte Schein einer Nachtlampe fiel aus den Fenstern des Krankenzimmers. Noch war der Kampf nicht zu Ende. In der einen Fensternische stand der Doctor, den Rücken dem jungen Mädchen zugewandt, ungebeugt, aber den rechten Arm gehoben, als fordere er Schweigen. Was mochte sie eben gesagt haben, die im dunklen Hintergrund stand, nicht so hoch von Gestalt, daß man mehr hätte sehen können, als die trotzig schüttelnde Bewegung der weißen Spitzenkante über dem goldblonden Schein [178] der Stirnlöckchen – hatte sie wieder mit Impertinenz an seinen Beruf gerührt?
Käthe fühlte in nervöser Aufregung ihre Zähne zusammenschlagen, aber es kam auch ein Zorn, eine Erbitterung über sie, als müsse sie dazwischen springen und die Treulose mit Gewalt auf ihre Pflicht zurückführen. Sollte sie nicht doch hineingehen, an seine Seite treten und der wortbrüchigen Schwester die ganze Empörung, die ganze Verachtung ihres Mädchenherzens in das Gesicht schleudern? Welch ein Gedanke! Was würde er zu dieser Einmischung einer Dritten sagen? Und wenn er diese Dritte nur mit einem kühlen, befremdeten Blicke maß, wenn er sie schweigend bei Seite schob, wie er neulich mit den „aufdringlichen“ kleinen blauen Blumen gethan – in die Erde müßte sie sinken vor Beschämung.
Käthe ging schleunigst weiter. Jetzt durchschüttelte Eiseskälte ihren Körper, und das starke Mädchen mit dem sonnenhellen Geiste und den kerngesunden Nerven überschlich ein wunderliches Grauen vor der Einsamkeit, in der sie wandelte, vor dem kraftlosen Licht der bleichgoldenen Sichel am Himmel und dem monoton gurgelnden Gemurmel der vorbeischießenden Flußwellen. Hinter dem Küchenfenster sah sie die Tante neben der blanken zinnernen Küchenlampe sitzen und Gemüse für den morgenden Mittagstisch putzen – ein milder Gegensatz zu der bewegten Scene im Krankenzimmer. So friedlich und beschwichtigend das Bild auch war, dahinein durfte sie sich mit der fieberhaften Spannung in Seele und Körper, mit ihrer Angst vor dem Kommenden nicht wagen; sie hätte ihren erregten Zustand nicht verbergen können vor den klaren Augen der alten Frau.
Die Hausthür stand noch offen, die der Küche aber war geschlossen. Käthe schlüpfte auf den Zehen durch den dunklen Flur und trat in das Zimmer der Tante Diakonus. Hier wollte sie versuchen, ruhiger zu werden, in diesem dunkelnden, köstlich stillen, anheimelnden Stübchen voll Blumenathem und sanft durchwärmter, reiner Luft. Sie setzte sich in den Lehnstuhl hinter dem Nähtisch. Die Lorbeerbäume wölbten sich zur Laube über und neben ihr; die Narcissen, Veilchen und Maiblumen auf den Fenstersimsen dufteten betäubend süß, und der Canarienvogel, der sich’s eben im Dämmerdunkel zur Nachtruhe bequem gemacht, hüpfte piepend und erregt in seinem Käfig von einem Stengel zum andern – es war doch Leben neben ihr, wenn auch nur das einer erschreckten Vogelseele. Aber ruhiger wurde sie nicht. Durch diese Räume war die schöne Verlassene im Wittwenschleier gewandelt, und die lächelnden Genien, die noch an der Stuckdecke schwebten, hatten auf ihre Schmerzensausbrüche, ihre Todesnoth niedergesehen. Käthe wehrte sich vergebens gegen die Spukgestalt und den Gedanken, daß auch Bruck den Trennungsschmerz nicht überleben werde. Henriette hatte das gesagt; sie hatte seine tiefe, heiße Liebe in der ersten Verlobungszeit gesehen – sie mußte es wissen.
Die Tante kam herein, um, wie jeden Abend, die brennende Lampe auf den Arbeitstisch des Doctors zu stellen. Sie schloß die Läden, ließ die Rouleaux herab und schürte das Feuer im Ofen; dann ging sie wieder hinaus, ohne das junge Mädchen in ihrer kleinen Fensterlaube bemerkt zu haben. Ihr leiser, schwebender Tritt erlosch schon hinter der Thür, gleich darauf aber hallten feste Männerschritte durch den Flur, und der Doctor trat in das Zimmer.
Er blieb einen Moment an der Schwelle stehen und strich sich tief aufseufzend mit der Hand über die Stirn; er ahnte so wenig wie die alte Frau, daß dort hinter dem dunklen Laub ein Menschenherz in tödtlicher Angst klopfe – drückte sich doch die Mädchengestalt, athemlos, wie zu Stein erstarrt, an die Fensterwand. War Alles vorüber? Kam er verarmt, verzweifelnd, ein einsamer Mann für immer?
Rasch durchschritt er die beiden Zimmer und trat an seinen Schreibtisch. Käthe erhob sich lautlos. Mitten im Stübchen der Tante stehend, konnte sie ihn sehen. Der Lampenschein beleuchtete grell und voll sein Profil, das noch alle Symptome aufgestürmter Leidenschaft zeigte. Er war erhitzt, dunkelroth auf Stirn und Wangen, als habe er einen weiten Weg in brennender Mittagsgluth gemacht; selbst die Augenlider erschienen geröthet. Es war auch ein heißer Weg gewesen, ein Weg über Trümmer, zerstörte Illusionen und Hoffnungen – war er am Ende, am öden Ziel, wo die schöne Fata Morgana entschwebte und die ganze schreckhafte Einsamkeit kommender Zeiten ihn anstierte?
Im Stehen schrieb er ein paar Zeilen auf einen Briefbogen und steckte das Blatt in ein Couvert. Das geschah mit hastigen Händen, in fiebernder Erregung. Auch die Adresse wurde in flüchtigen Zügen hingeworfen – wessen Name war es, den er schrieb? Gab es in dieser Stunde, außer der furchtbaren Entscheidung, noch Etwas auf Erden, an das er denken mochte? Der Brief konnte nur für Flora bestimmt sein – ein letztes Lebewohl, oder der zermalmende Richterspruch eines sterbenden Mannes?
Und nun goß er aus einer Caraffe Wasser in das milchweiße Kelchglas, in welches sie neulich ihren Frühlingsstrauß gesteckt hatte, dann schloß er einen kleinen Schrank im Schreibtisch auf und nahm ein winziges Medicinfläschchen heraus; er hielt es gegen das Licht – fünf silberhelle, farblose Tropfen fielen in das Glas.
Bis dahin hatte Käthe mit dem unheimlichen Gefühl, als stehe ihr das Herz still, wie gelähmt an ihrem Platze verharrt, aber nun kam die ganze, allmählich bis in’s Maßlose gesteigerte Aufregung ihres Inneren stürmisch zum Ausbruch. Mit einigen raschen Schritten stand sie an seiner Seite und legte die Linke auf seine Schulter; mit der Rechten umfaßte sie krampfhaft seine Hand, die das Glas eben zum Munde führen wollte, und zog sie langsam nieder.
Sie war keines Lautes fähig; ihre ganze Seelenangst, der innere Jammer, das unsägliche Mitleiden, das ihr gleichsam das Herz umwendete, malten sich in den braunen Augen, die in flehender Beredsamkeit die seinen suchten. Sie fuhr zurück. Gott im Himmel, was hatte sie gethan! Unter dem großen, erstaunt fragenden Blicke, der sie traf, sank sie vor Scham fast in die Kniee. Einige unarticulirte Worte stammelnd, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und brach in ein bitterliches Weinen aus.
Er begriff augenblicklich Alles. Das verhängnißvolle Glas auf den Tisch stellend, nahm er bestürzt ihre Hände und zog sie an sich. „Käthe, liebe Käthe!“ sagte er mit bebender Stimme und sah in das thränenüberströmte Antlitz, das sie mit einem sanften Neigen des Kopfes wegzuwenden suchte. In diesem Augenblicke erschien das prächtige, imponirende Mädchen vollkommen als das, was sie an Jahren, an Erfahrung, an fleckenloser Seele in Wirklichkeit war – als die Jugend in ihrem unangetasteten Glanze warmen rückhaltslosen Empfindens, aber auch in dem hülflosen Schrecken über eine ungeahnte Wendung.
Sie entzog ihm leise die Hände und trocknete in Hast ihre Augen mit dem Taschentuche. „Ich habe Sie schwer gekränkt, Herr Doctor,“ sagte sie, immer noch mit den Thränen kämpfend. „Ich habe eine Tactlosigkeit begangen, die Sie mir ganz gewiß nie vergessen werden. Ach Gott, wie konnte ich mich nur in diese wahnwitzige Vorstellung so verrennen, daß“ – sie biß sich auf die Unterlippe, um das krampfhafte Zucken ihres Mundes zu unterdrücken. „Gehen Sie nicht zu streng mit mir in’s Gericht!“ setzte sie mit sinkender Stimme hinzu. „Das, was ich heute schon durchleben mußte, genügt wohl, um auch einen stärkeren, als meinen Mädchenverstand, zu verwirren.“
Er sah sie kaum an; nur von der Seite streifte sein Blick den schönen, jugendlichen Mund, als wolle er nicht zeigen, wie leid ihm diese bittere Selbstanklage thue, und wie fassungslos er selbst sei. Nun aber glitt das seelenvolle Lächeln, das sie schon kannte, leise durch seine Züge.
„Sie haben mich nicht gekränkt,“ sagte er tröstend, „und wie sollte ich es wohl anfangen, mit Ihrem lauteren Gemüthe in’s Gericht zu gehen? Was Sie sich für eine Vorstellung von meinem Charakter, meiner Denkart, meinem Temperament gemacht haben mögen, um zu einem solchen Schlusse zu kommen – ich weiß es nicht; ich will darüber auch gar nicht grübeln, noch weniger aber widerlegen. Mir hat dieser Irrthum einen Lebensmoment gebracht, den ich allerdings nicht vergessen werde. Und nun beruhigen Sie sich, oder vielmehr, erlauben Sie mir, daß ich als Arzt meine Pflicht thue!“ Er ergriff das Glas und hielt es ihr hin. „Nicht die Ruhe, die Sie fürchteten, wollte ich in diesem Tranke suchen“ – er brach ab und hielt einen Augenblick inne. „Ich habe mich hinreißen lassen, heftig und leidenschaftlich zu werden, noch dazu am Krankenbette,“ hob er von Neuem an; „das könnte ich mir nie verzeihen, wenn ich nicht bedächte, daß ich doch auch, wie jeder Andere, Blut und Nerven habe, die mit dem guten Willen um die Herrschaft streiten. Ein paar Tropfen davon,“ er zeigte auf das Medicinfläschchen, „genügen, um die nervöse Aufregung zu dämpfen.“
Sie nahm das Kelchglas, das er ihr bei diesen Worten nochmals bot, aus seiner Hand und trank es folgsam bis zur Neige leer.
„Nun aber möchte ich Sie um Verzeihung bitten, daß Sie eine so häßliche, aufregende Scene, wie die da drüben, mit ansehen mußten,“ sagte er ernst und nachdrücklich. „Ich bin dafür verantwortlich; denn es hätte in meiner Macht gelegen, sie mit einigen zur rechten Zeit gesprochenen Worten zu verhindern.“ Er lächelte so bitter, so schneidend, daß es dem jungen Mädchen durch die Seele ging. „Mich plage der leidige Bettelstolz, sagen einige meiner Herren Collegen – die wenigen, die mich aus purer Gutmüthigkeit noch nicht ganz haben fallen lassen – sie behaupten das, weil ich nicht zu den ‚lauten‘ Leuten gehöre. Dieser ‚Bettelstolz‘ ist zu einer Art von Kassandrafluch für mich geworden. Die Welt nimmt das Schweigen für Unfähigkeit, für Mangel an Urtheil, und so hält man es gar nicht für nöthig, sich mir gegenüber einen moralischen Zwang anzuthun. Ich sehe Menschen, die sich als geniale, geistreiche Naturen äußerlich geriren, plump und täppisch vorgehen und kann ihr Handeln und die damit verknüpften Ereignisse mathematisch genau voraussagen – o, dieser Ekel!“ Er stieß leicht mit dem Fuße auf den Boden und schüttelte sich, als gelte es, ein verabscheutes Reptil von sich zu werfen.
Noch war er weit entfernt von der Herrschaft über sein empörtes Blut; noch stürmte die Bewegung heftig in ihm, und das frivole Wesen, das mit frevelnder Hand diese harmonische Natur aus den Fugen gerissen, dort sah es von der Wand hernieder, im weißen Iphigenia-Gewande an eine Säule gelehnt, mit gefalteten, lässig herabgesunkenen Händen und einem lieblich gedankenvollen Aufblicke; fast fromm sah das dämonische Mädchen aus. Damals hatte sie noch um seine Liebe, seinen Beifall geworben; damals war sie noch entschlossen gewesen, sein Ideal zu verwirklichen und dem künftigen „berühmten Universitätsprofessor“ die waltende gute Fee seines Daheims zu werden. Sie wäre es doch nie geworden; gerade das wäre der Boden gewesen für ihre Sucht, als schaffender Geist zu brilliren. Er hätte einen besuchten Salon, aber kein Daheim, eine in unbefriedigtem Ehrgeize sich verzehrende Weltdame, aber kein wahrhaft liebendes Weib, keine „mitringende, mitfühlende Gehülfin“ gehabt. Dagegen war er ja auch nicht mehr blind – und doch gab er sie nicht frei. Oder war nun doch das Band gelöst, nachdem Flora ihm so unumwunden den Ausdruck ihres Hasses in das Gesicht geschleudert hatte? Käthe wußte ja nicht, was sich nach ihrem Hinausgehen ereignet, soviel aber sagte sie sich, daß ihr längeres Verweilen hier in seinem Zimmer nicht statthaft sei, mochte der Würfel gefallen sein, wie er wollte.
Der Doctor hatte den finsteren Blick aufgefangen, den sie auf das Bild geworfen, und sah nun, daß sie sich zum Gehen anschickte.
„Ja, gehen Sie,“ sagte er. „Henriettens Kammerjungfer ist gekommen und hat bereits ihr Pflegeramt angetreten. Der Zustand der Kranken ist derart, daß Sie getrost in die Villa zurückkehren können, um der Frau Präsidentin, wie sie es lebhaft zu wünschen scheint, beim Thee Gesellschaft zu leisten; sie fühle sich so sehr vereinsamt, ließ sie herüber sagen. Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie können unbesorgt gehen; ich wache treulich über Ihre theure Kranke,“ wiederholte er nachdrücklich, als sie lebhaft zu protestiren versuchte. „Aber geben Sie mir noch einmal die Hand!“ Er hielt ihr die seine hin, und sie legte rasch und willig ihre schlanken Finger hinein. „Und nun, was man Ihnen auch heute noch sagen mag, lassen Sie sich nicht verleiten, mich zu verurtheilen! Schon in den nächsten Tagen wird sie,“ er nannte den Namen nicht und neigte nur, ohne hinüberzublicken, bitterlächelnd den Kopf nach Flora’s Bild, „ganz anders denken, und das ist’s, was mich consequent bleiben heißt; ich darf nicht den Vorwurf auf mich nehmen, als hätte ich einen günstigen Moment – auszunutzen verstanden.“
Sie sah befremdet zu ihm auf, und er neigte bedeutsam und so sonderbar resignirt den Kopf, als wollte er sagen: „Ja, so steht es,“ aber über Beider Lippen kam kein Wort.
„Gute Nacht, gute Nacht!“ sagte er gleich darauf – er ließ mit leisem Drucke ihre Hand fallen und trat an den Schreibtisch, während sie rasch der Thür zuschritt. Unwillkürlich wandte sie sich noch einmal auf der Schwelle um – er führte eben seltsamer Weise das leere Kelchglas an seine Lippen; in demselben Augenblicke aber auch glitt es aus seiner Hand und zersprang auf dem Boden in Scherben und Splitter. – – –
Drüben im Krankenzimmer stand Flora zum Fortgehen gerüstet, sie sah aus, als bebe jede Fiber an ihr vor nervöser Ungeduld. „Wo steckst Du denn, Käthe?“ schalt sie. „Die Großmama wartet; Du bist schuld daran, daß man uns den Thee mit Impertinenzen würzen wird.“
Käthe antwortete nicht. Sie warf den Baschlik über, den ihr die Jungfer mitgebracht, und trat an das Bett. Henriette schlief sanft; die dunkle Fieberröthe auf ihren Wangen hatte bedeutend nachgelassen. Wiederholt hauchte das junge Mädchen einen Kuß auf das bleiche, schmale Händchen, das ruhig auf der Decke lag, dann folgte sie der hinausrauschenden Schwester.
Im Flure brannte eine kleine Lampe, und ein Lakai aus der Villa, der mit der Kammerjungfer gekommen war und noch Verschiedenes herübergetragen hatte, ging wartend auf und ab. Fast zugleich mit den Schwestern trat der Doctor in den Flur, und jetzt fühlte Käthe abermals die Gluth tiefer Beschämung in ihre Wangen steigen; er reichte dem Bedienten das Billet, den vermeintlichen Todesgruß an die treulose Braut, zur Bestellung an einen in der Stadt wohnenden jungen Arzt.
Flora schritt an ihm vorüber, scheinbar, als wolle sie seine Instruction für den Lakaien nicht unterbrechen, und verschwand rasch draußen im Dunkel. Käthe aber ging noch einmal in die Küche und verabschiedete sich von der Tante. Die alte Frau schüttelte mit ernstem Gesichtsausdrucke den Kopf, als sie sich überzeugen mußte, daß „die Braut“ das Haus bereits verlassen habe, ohne sie auch nur eines flüchtigen Gutenachtgrußes zu würdigen, aber sie schwieg und ging dem Doctor nach in die Krankenstube, um noch einmal nach der Leidenden zu sehen, ehe sie sich in ihr Zimmer zurückzog.
Draußen vor dem Hause blieb Flora stehen, nachdem die Schritte des vorausgeschickten Bedienten auf der Brücke verhallt waren. Der durch die offene Hausthür fallende Schimmer der Flurlampe streifte schwach ihr Gesicht – es sah so ergrimmt, so leidenschaftlich beredt aus, als schwebe eine Verwünschung auf den halb geöffneten Lippen. Mit unaussprechlichem Hohne glitt ihr Blick über den rothen Ziegelfußboden und die weißen, kahlen Wände drinnen, dann fuhr er die äußere Frontseite entlang, als wolle er das Gesammtbild der kleinen Besitzung noch einmal umfassen.
„Ja, ja, das wäre so etwas nach meinem Geschmacke gewesen – eine Hütte und ein Herz!“ sagte sie mit einem steifen, drastisch ironischen Kopfnicken. „Einen Mann ohne Amt und Einfluß, über dem Kopfe eine spukhafte Spelunke, mitten im öden Felde, und ein isolirtes Zusammenleben zu Dreien, für welches die schmale Revenue meines väterlichen Erbtheils ausreichen müßte! Nie in meinem ganzen Leben habe ich empfunden, was es heißt, gedemüthigt werden – heute zum ersten Male kam mir in der bedrückend armseligen Umgebung das Gefühl, als sei ich herabgezerrt worden von dem Piedestal, auf das mich makellos gute Herkunft, vornehme Gestaltung der äußeren Verhältnisse und die eigene geistige Begabung gestellt haben. Gott mag geben, daß sich Henriettens Krankheit nicht zum Schlimmsten wendet! Ich könnte ihr kein letztes Lebewohl sagen; denn mich sieht dieses Haus nicht wieder. Wahrhaftig, schmachvoller ist nie ein Mädchen betrogen worden, als ich. – Ich möchte mich selbst in’s Gesicht schlagen, daß ich so blind, so bodenlos unbefangen in diese Verhältnisse hineingetappt bin.“
Sie stürmte wie wahnwitzig der Brücke zu. Das Mondlicht, das sich wie ein dünner Silberschleier über das glitzernde Flußbett hinbreitete, floß schwach an ihr nieder, und der Wind, schon halb und halb zum Sturme gesteigert, fiel sie heftig an; er zauste an ihren Kleidern und blies ihr den atlasglänzenden Umhang vom Kopfe, und die gelösten Locken hoben sich wehend und schlangenhaft züngelnd über der weißen Stirn.
„Er giebt mich nicht frei, trotz meines Flehens und meiner Gegenwehr,“ sagte sie, mitten auf der Brücke stehen bleibend, zu der Schwester, die ihr folgte und nun ohne Weiteres an ihr vorüber schreiten wollte. „Du bist dabei gewesen – Du hast gehört, was für entscheidende Worte gefallen sind. Er handelt ehrlos, erbärmlich, wie eine kalte Krämerseele, die den Untergang eines Betrogenen vollkommen ermißt, und doch auf der Erfüllung des unheilbringenden Contractes besteht. Mag er – mag er sich zeitlebens mit dem Gedanken sättigen, daß ihm ein Schatten von Recht verblieben ist – ich bin von diesem Moment an frei.“
Sie hatte bei den letzten Worten den Verlobungsring vom Finger gestreift und schleuderte ihn weit hinüber in die rauschenden Fluthen.
„Flora, was hast Du gethan!“ schrie Käthe auf und bog sich mit ausgestreckten Händen über das Brückengeländer, als könne sie den Ring noch erfangen. Er war versunken. Ob ihn die Wellen mit fortspülten, oder ob er liegen blieb auf dem Grunde, nahe dem Hause, in welchem das Unheil einzog, sobald warme, liebende Menschenherzen darin schlugen? Das junge Mädchen meinte, das blonde, todte Weib müsse aus dem glitzernden Wasserschwalle auftauchen und drohend das verächtlich fortgeschleuderte Symbol der Treue emporhalten. Schaudernd legte sie die Hand über die Augen.
„Närrchen, alterire Dich doch nicht, als sei ich selbst hineingesprungen mit Haut und Haar!“ sagte Flora mit kaltem Lächeln. „Manche Andere mit weniger Willens- und Widerstandskraft hätte es vielleicht gethan – ich werfe einfach den letzten Ring einer verhaßten Kette von mir.“ Sie hob die Linke und strich wie liebkosend über den befreiten Ringfinger. „Es war nur ein schmaler, dünner Goldreif, ‚einfach‘, wie es der da drin“ – sie nickte mit dem Kopfe nach dem Hause hin – „in seiner erkünstelten Spartanermanier zu lieben vorgiebt, und doch drückte er grob wie Eisen. Nun mag er rosten da unten – ich fange ein neues Leben an.“
Ja, sie hatte die Last „abgeschüttelt, abgeschüttelt um jeden Preis“, wie sie schon immer gesagt. Das Schreckbild einer verhaßten Ehe versank, und dafür ging „die Sonne des Ruhmes“ auf.
Flora flog davon, als brenne die Brücke unter ihren Sohlen. Käthe folgte ihr schweigend. In der Seele der jungen Schwester stürmte es erschütternd, sinnverwirrend; das klare, gesunde Urtheil, mit welchem sie an die Menschen und Dinge heranzutreten pflegte, war verdunkelt; sie stand völlig steuerlos zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wahrheit und Lüge. Geberdete sich nicht das schöne Wesen da neben ihr, dieses personificirte Gemisch von eclatantem Unrecht, von Uebermuth und grausamer Willkür, so zuversichtlich und tactfest, als könne und dürfe es gar nicht anders handeln? Zertrat Flora nicht ihr gegebenes Wort, ihre Pflichten mit gutem Fug und Recht, gerade so, wie sie jetzt mit ihren raschen Füßen über die Kiesel der Allee hinschritt? – –
Im Corridor der Villa meldete der Bediente den beiden Schwestern, daß die Frau Präsidentin Besuch habe; es seien zwei alte Damen zum Thee gekommen.
„Desto besser!“ sagte Flora zu Käthe. „Ich bin wahrhaftig nicht in der Stimmung, heute noch die Scheherazade der Großmama zu spielen. Die alte Generalin hat immer die Taschen voll Klatsch und Stadtneuigkeiten; da ist man entbehrlich.“
Sie ging, wie sie sagte, für eine halbe Stande hinein, um den Thee zu besorgen und sich dann mit ihrem „übervollen Herzen“ zurückzuziehen. Käthe aber ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen – war es doch auch, als woge ihr das fiebererregte Blut einer beginnenden Krankheit in Kopf und Herzen.
Am anderen Morgen herrschte reges Leben in der Villa Baumgarten. Gegen Mitternacht hatte eine telegraphische Depesche die Rückkehr des Commerzienrathes aus Berlin gemeldet, und eine Stunde später war er angekommen. Er hatte zwei Geschäftsfreunde mitgebracht, die in den Fremdenzimmern logirten. Die Gäste waren Koryphäen der Handelswelt; sie wollten Nachmittags ihre Reise fortsetzen, und um ihnen Gelegenheit zu geben, auf der Durchreise mehrere ihrer Bekannten in der Residenz zu sprechen, hatte der Commerzienrath in der Nacht noch ein großes Herrenfrühstück für den anderen Morgen angeordnet. Köchin und Hausmamsell hatten vollauf zu thun, und die Bedienten liefen treppauf, treppab.
Käthe hatte die ganze Nacht schlaflos verbracht. Die am Tage empfangenen Eindrücke und die Sorge um Henriette hatten sie nicht ruhen lassen. An dem einen Eckfenster ihres Zimmers hatte sie stundenlang gestanden und über die windgeschüttelten Parkbäume hinweggeforscht, ob nicht wenigstens eine im Mondschein flimmernde Spitze der Wetterfahnen auf dem Hause am Flusse zu sehen sei, aber es war wie versunken gewesen, das niedrige Haus, und still geblieben war es dort auch, obgleich Käthe jeden Augenblick gemeint hatte, es müsse Jemand die Allee heraufkommen, um mit einer schlimmen Nachricht die Schlafenden in der Villa aufzurütteln.
Und vom anderen Fenster aus hatte sie dann die Ankunft des Commerzienrathes mit angesehen. Im Nu, wie aus der Erde gestampft, waren die Dienstleute der Villa mit ihren Sturmlaternen um den Wagen postirt gewesen; die hellen Lichtflammen hatten die weißen Säulen des Porticus angestrahlt, hatten sich in dem silberfunkelnden Pferdegeschirre und den glänzenden Leibern der Goldfüchse gespiegelt und waren kräftig genug gewesen, auch das bronzirte, an der Promenade hinlaufende Gitter und mehrere herrliche Marmorfiguren aus dem Dunkel hervortreten zu lassen. Das Alles hatte hocharistokratisch ausgesehen. Dann war der Commerzienrath aus dem Wagen gesprungen, die stattliche, noch jugendlich elastische Gestalt in den eleganten Reisepelz gehüllt, in jeder seiner gebieterisch sicheren Bewegungen der reiche Mann, der eben noch reicher geworden, ein glänzender Komet, an dessen Fersen, magnetisch angezogen, der glitzernde Goldstrom sich hing. Er hatte seine Gäste in ihre Appartements geführt und erst gegen zwei Uhr das Haus mit dem voranleuchtenden Bedienten verlassen, um sich im Thurme zur Ruhe zu begeben. Dann war es allmählich still geworden in der Villa, aber der Wind hatte sein Pfeifen und Blasen um das Haus fortgesetzt und den Schlaf von Käthe’s Augen verscheucht. Erst mit Tagesanbruch war sie eingeschlummert, zu ihrem großen Verdruß; denn nun hatte sie sich verspätet, und statt um sechs Uhr Morgens, wie sie gewollt, das Haus am Flusse zu betreten, kam sie erst in der neunten Stunde dort an.
Es war ein schöner, klarer Morgen. Der ungestüme Nachtwind hatte sich zu jenem südlich warmen Hauche gesänftigt, der den Duft der ersten Frühlingsblumen im Athem behält, und der spröde zögernden Knospe schmeichelnd, aber beharrlich den braunen Schleier vom Gesichte zu ziehen sucht. … Auf des Doctors Hause zwitscherten die Vögel; das dunkle Geäst der Kirschbäume, das sich an die eine Hausecke schmiegte, erschien mit unerschlossenen, winzigen Blüthenköpfchen zartweiß gesprenkelt, und vor der glanzvollen Morgenbeleuchtung konnten sich die sprossenden Halme im Rasengrunde auch nicht mehr verstecken – der ehemalige Bleichplatz schimmerte in einem schwachen jungen Grün.
Als Käthe die Brücke passirte, floß das Wasser sonnendurchleuchtet und klar bis auf den Grund unter dem morschen Holzbogen dahin, fast sanftmüthig und friedlich – was Wunder! Die Wellen, die gestern den fortgeschleuderten Ring empfangen, hatten unterdeß ein weites Stück Weges zurückgelegt und strömten dem Ocean zu – nur sie konnten erzählen von den verrätherischen Frauenhänden, die so gewaltsam eine drückende Kette gesprengt.
Das Haus am Flusse hatte heute etwas eigenthümlich Feierliches. Das rothe Ziegelgetäfel im Flure war mit feingesiebtem, weißem Sande bestreut; der Duft einer feinen Räucheressenz schlug dem Eintretenden entgegen; auf dem kleinen Tische, nahe der Hausthür, lag eine frische Serviette, und darauf stand ein mächtiger Strauß von Tannenzweigen, Maikätzchen und Anemonen, in einer alterthümlichen, großen Thonvase. … Und die alte, getreue Köchin war auch angekommen; sie stand schon in voller Thätigkeit, mit aufgestreiften Aermeln, die glänzend weiße Schürze über die derben Hüften gebunden, als sei sie nie fortgewesen, am Küchentische, und das gute, rothbackige Gesicht sah zufrieden und glücklich aus. … Warum aber erschien die Tante Diakonus heute, am frühen Morgen, im kaffeebraunen Seidenkleide, auf dem vollen Scheitel eine weiße Spitzenbarbe, und auch an Hals und Handgelenk mit Spitzen umkräuselt? Käthe’s Herz zog sich zusammen vor Weh und Angst – geschah das Alles der Braut zu Ehren, die doch heute wiederkommen mußte, um die kranke Schwester zu besuchen?
Die alte Frau sagte kein Wort darüber. Sie schien nur sehr bewegt zu sein, und man sah es noch an den zartgerötheten Augenlidern, hörte es in der weichen Stimme, daß Thränen der Rührung geflossen waren. Sie theilte dem jungen Mädchen freudig mit, daß die Nacht für die Leidende gut verlaufen und der Anfall nicht wiedergekehrt sei.
Für diese beruhigende Nachricht küßte ihr Käthe die Hand, und da geschah das Seltsame, daß die sonst so zurückhaltende Frau plötzlich die Arme um die schöne, jugendliche Mädchengestalt schlang und sie wie eine Tochter zärtlich an das Herz zog. Dann führte sie die froh Erstaunte schweigend in das Krankenzimmer.
Henriette saß aufrecht im Bette, und die Jungfer ordnete ihr ein wenig das reiche Haar unter dem Nachthäubchen, der Doctor aber hatte sich vor einer Stunde zurückgezogen, um zu ruhen. … Das schmale, langgezogene Gesicht der Kranken mit den fleischlos hervortretenden Backenknochen und den verhängnißvollen schwarzen Ringen unter den Augen hatte in der einen Nacht einen scharf hippokratischen Zug angenommen, der Käthe erschreckte, aber der Ausdruck der Züge war ein glücklicher. Sie konnte nicht genug beschreiben, wie aufopfernd der Doctor sie pflege, wie unsäglich wohl sie sich in der gemüthlichen Fremdenstube fühle, und wie sie bei dem Gedanken schaudere, daß sie doch einmal wieder von da fort müsse. Sie bat Käthe, in die Villa zurückzukehren und ein Buch zu holen, das sie der Tante Diakonus versprochen habe – es sei in Flora’s Händen, die es ihr abgeborgt – dabei flüsterte sie der Schwester in das Ohr, sie möge dafür sorgen, daß Flora und die Großmama sie hier nicht allzu oft belästigten. Nicht die leiseste Ahnung hatte sie von dem, was sich gestern Abend an ihrem Bette zugetragen, und daß durch ihre Schuld das so lange schwebende Ungewitter zum furchtbaren Ausbruch gekommen sei.
Käthe konnte ihr kaum in die Augen sehen; sie athmete auf, als die Kranke schließlich die Bitte um das Herbeiholen des Buches erneute und sie beauftragte, auch noch Verschiedenes aus ihrem Schreibtische mitzubringen, zu welchem Zwecke sie ihr die Schlüssel einhändigte.
Nach einer Stunde kehrte das junge Mädchen in die Villa zurück. Sie war ganz erfüllt von dem beängstigenden Eindruck, den ihr Henriette gemacht hatte; das Krankengesicht mit der todtenhaft wächsernen Blässe und den eingesunkenen Zügen verfolgte sie und machte sie tieftraurig. Deshalb fuhr sie auch, im Innersten verletzt, zurück, als sie, die Treppe zur Beletage hinaufsteigend, schräg durch die offene Thür des Wintergartens den brillant hergerichteten Frühstückstisch mit seinem blinkenden Geschirr voll köstlicher Leckereien überblickte. Den ganzen Marmorfußboden des maurischen Zimmers bedeckte ein ungeheurer dicker Smyrnateppich; für warme Füße war gesorgt, und für heiße Köpfe auch – letzteres durch die auserwählten Flaschen aus dem Thurmkeller.
Käthe suchte in Henriettens Zimmer Alles zusammen, was die Kranke zu haben wünschte, und ging wieder hinab, um der Präsidentin pflichtschuldigst guten Morgen zu sagen. Ihre Tritte verhallten in dem weichen Treppenläufer; sie wurde nicht gestört von den zwei Bedienten, die unten im Corridor standen und von denen der eine ein Packet in der Hand hielt, welches der Briefträger eben gebracht hatte.
„Zum Kukuk auch, da kommt das Packet zum dritten Mal zurück!“ fluchte er und kratzte sich hinter den Ohren. „Ich hab’ die Geschichte satt bis an den Hals. Nun bin ich so freundlich und packe es morgen wieder ein und schreibe eine neue Adresse. Unser Fräulein muß auch denken, man hat auf der Gotteswelt nichts weiter zu thun.“ Er drehte das Päckchen unschlüssig hin und her. „Am allerbesten wäre das Ding drunten im Küchenfeuer aufgehoben –“
„Was ist denn darin?“ fragte der Andere.
Ein Haufen Papier, und das Fräulein hat mit ihren langbeinigen Krakelfüßen groß und breit d’raufgeschrieben: ‚Die Frauen‘, mag schon ’was Rechtes sein!“ er verstummte erschrocken und nahm sofort eine ehrerbietige Haltung an – Käthe kam eben die letzte Stufe herab und ging an ihm vorüber nach dem Schlafzimmer der Präsidentin.
Sie wurde nicht angenommen. Die herauskommende Jungfer berichtete, es sei früher Morgenbesuch da, eine Dame vom Hofe. Darauf hin ging Käthe in Flora’s Zimmer, um das besprochene Buch zu holen. Sie empfand eine heftige Abneigung, die Schwelle zu betreten; ihr Herz klopfte fast hörbar vor innerem Aufruhr, und bestürzt erkannte sie in diesem Augenblick, daß für diese Schwester auch nicht ein Funken von Sympathie in ihr lebe. Der ganze Grimm, den sie in der schlaflosen Nacht zu bewältigen gesucht, stieg wieder in ihr auf und nahm ihr fast den Athem.
Vielleicht fühlte Flora ähnlich. Sie stand mitten im Zimmer, neben dem großen, mit Büchern und Brochüren bedeckten Tische und sah mit einem sprühenden Aufblick nach der Eintretenden. Ach nein, der Zorn galt jedenfalls dem zurückgekommenen Packet. Dort lag es aufgerissen, und die schöne Empfängerin schleuderte einen ebengelesenen Brief mit einer verächtlichen Handbewegung in den Papierkorb. Fräulein von Giese, das moquante Hoffräulein, hätte das nicht sehen dürfen. Flora’s „kleiner Finger“ hatte sich bezüglich „der Frauen“ doch vielleicht ein wenig geirrt.
„Du kommst jedenfalls von Henriette,“ sagte Flora und schlug hastig den blauen Umschlag über dem ihr zurückgeschickten Manuscript zusammen. „Es geht ihr ja recht gut, wie ich höre; ich habe schon um acht Uhr hinübergeschickt und mich erkundigen lassen. Moritz ist nicht recht klug; er jagt mich mit einem Billet, das er noch in der Nacht geschrieben hat, in aller Frühe aus dem Bette, damit ich rechtzeitig Toilette mache, weil er à tout prix der Großmama und mir vor dem Frühstück seine Gäste vorstellen wolle. Als ob das Heil der Welt von dieser Vorstellung abhinge! Die Großmama wird darüber gerade auch nicht sehr erfreut sein.“
Sie sah reizend aus. Man sagt, daß der Mensch sich unbewußt nach seiner Stimmung kleide, demnach mußte Flora’s Erwachen heute ein überaus frohes und heiteres gewesen sein; denn die ganze schlanke, schöne Gestalt erschien wie in ein leuchtendes Aetherblau getaucht. Selbst in den zierlich gekräuselten Locken steckte eine glänzend blaue Atlasschleife. Mit dem Arbeitszimmer harmonirte freilich diese Toilette schlecht; es sah heute, wo der strahlend goldene Tag draußen lag, so düster und unwohnlich wie möglich aus und war allerdings weit eher ein passender Hintergrund für einen menschenscheuen Stockgelehrten, als für diese duftig blaue Fee. Aber auch der Gesichtsausdruck der schönen Dame paßte nicht mehr zu den gewählten Farben; sehr üble Laune und eine kaum zu verbergende Niedergeschlagenheit guckten aus allen Winkeln und Linien ihrer Züge. Ueber die Ereignisse des gestrigen Abends fiel kein Wort. Die waren versunken und scheinbar vergessen; selbst der beraubte Goldfinger hatte Ersatz gefunden – zwei kleine Brillantringe schmückten ihn.
Auf Käthe’s Bitte trat Flora an ein Bücherregal und nahm das verlangte Buch herab. „Henriette wird doch nicht selbst lesen wollen?“ fragte sie über die Schulter.
„Das würde Doctor Bruck schwerlich gestatten; die Frau Diakonus will das Buch lesen,“ sagte Käthe mit ruhiger, kalter Stimme und nahm das Werk in Empfang.
Ein verächtliches Spottlächeln zuckte um Flora’s Mund; in ihren Augen blitzen Verdruß und Aerger auf; sie hielt es jedenfalls für eine nicht zu entschuldigende Tactlosigkeit von Seiten der Schwester, daß sie diese Namen vor ihren Ohren noch laut werden ließ.
Käthe ging. Aber in demselben Augenblicke, wo sie die Thür öffnete, um das Zimmer zu verlassen, trat ihr der Commerzienrath entgegen. Er sah prächtig, fast strahlend frisch aus, wenn er auch in sichtlich großer Aufregung kam.
„Dageblieben, Käthe!“ rief er fast scherzhaft und breitete seine Arme aus, um sie zurückzuhalten. „Ich muß mich erst überzeugen, ob Du heil und unverletzt bist.“ Er schob sie in’s Zimmer zurück, drückte die Thür in das Schloß und warf seinen Hut auf den Tisch. „Nun sagt mir um Gotteswillen, was ist Wahres an der haarsträubenden Geschichte, die mir eben mein Anton beim Ankleiden mitgetheilt hat?“ rief er. „Die Leute haben einfältiger Weise bei meiner Ankunft geschwiegen, um mir die Nachtruhe nicht zu stören, und ich habe mir eben dergleichen unzeitige Rücksichten für die Zukunft energisch verbeten.“ Er fuhr sich mit beiden Händen durch das reiche Haar. „Ich bin ganz außer mir. Was muß die Welt von mir und meinem Tactgefühl denken! Henriette liegt auf den Tod krank, und ich arrangire sorgloser Weise ein Herrenfrühstück in meinem Hause. Ist’s denn nur wahr, das Unglaubliche? Eine Schaar Megären soll Euch attaquirt haben?“
„Nicht ‚uns‘, sondern ganz speciell mich, Moritz,“ sagte Flora. „Henriette und Käthe haben eben nur mitleiden müssen, weil sie bei mir waren. Ich kann mir nicht helfen – den größten Theil der Schuld, daß es so weit gekommen ist, muß ich Dir beimessen. Du mußtest schon bei den ersten feindseligen Kundgebungen ganz anders vorgehen; solch einer Rotte gegenüber ist ein entschlossener Mann stets Herr, wenn er’s richtig anzufangen weiß. Aber bei Deinen ewigen Rücksichten, um Gotteswillen nie und nirgends anzustoßen, bist Du schwach –“
„Ja, schwach gegen Euch, gegen Dich und die Großmama,“ fiel der Commerzienrath ganz blaß vor Aerger ein. „Du vorzüglich hast nicht geruht, bis ich mein Wort zurückgenommen und dadurch meine Arbeiter unnöthig gereizt habe. Bruck hat Recht –“
„Ich bitte Dich, verschone mich damit!“ rief Flora dunkelroth vor Zorn. „Wenn Du keine andere Autorität zu nennen weißt, auf die Du Dich berufst –“
Der Commerzienrath trat ihr rasch näher und sah ihr erstaunt prüfend in die funkelnden Augen. „Wie, noch immer so feindselig, Flora?“
„Hältst Du mich für so jammervoll schwachköpfig, daß ich meine Ansichten wechsele, wie man einen Rock aus- und anzieht?“ fragte sie herb zurück.
„Das nicht, aber ist es nicht verwegen, der ganzen gebildeten Welt zum Trotz –“
„Was geht mich die Welt an?“ Sie brach plötzlich in ein lautes Gelächter aus. „Die ganze, gebildete Welt!“ wiederholte sie. „Willst Du mir sagen, wie Du es möglich machst, sie mit Deinem bedauernswürdigen Protégé in Verbindung zu bringen?“
Der Commerzienrath faßte kopfschüttelnd ihre Hand; er war fast athemlos vor Ueberraschung. „Ja, wie ist denn das möglich? Weißt Du denn noch nicht –“
„Mein Gott, was soll ich denn wissen?“ unterbrach sie ihn ungeduldig mit ärgerlich gerunzelten Brauen und stampfte leicht mit dem Fuße den Boden.
Da wurde sehr rasch die Thür geöffnet, und die Präsidentin trat herein. Sie war einfach, in penséefarbene Seide gekleidet. Ob die starke lila Nüance ihr Gesicht so gelb und alt machte, oder ob sie infolge der gestrigen Aufregung eine schlechte Nacht gehabt – genug, sie sah sehr verfallen und dabei unverkennbar tief alterirt aus.
Der Commerzienrath eilte auf sie zu und küßte ihr ehrerbietig die Hand. Er betonte, daß er ihr schon vor einer halben Stunde habe seine Aufwartung machen wollen, aber zurückgewiesen worden sei, weil die Großmama das Schlafzimmer noch nicht verlassen und dort den Besuch der Hofdame Fräulein von Berneck angenommen habe.
„Ja, die gute Berneck kam, um mir ihr Beileid auszusprechen über Henriettens Erkranken und das abscheuliche Attentat, dem Flora ausgesetzt gewesen ist,“ sagte sie. „Wir werden heute einen anstrengenden Tag haben; die ganze Stadt ist aufgeregt über den Vorfall, und die Freunde unseres Hauses sind empört; sie kommen sicher alle, um nach uns zu sehen.“
Sie sank matt in einen Lehnstuhl; ihre Stimme klang angegriffen und den Geberden fehlte die Elasticität, die sie sonst noch so siegreich in ihrem Alter behauptete. „Uebrigens hatte die Berneck auch noch einen anderen Grund, und der stand jedenfalls in erster Linie,“ hob sie wieder an. „Ich kenne sie schon; sie ist Eine von Denen, die gar zu gern die Ersten sein wollen, die eine sogenannte gute Nachricht hinterbringen, und da fragen sie nicht viel danach, ob sie ein Hofgeheimniß verletzen, oder nicht. Denkt Euch, sie kam, um mir insgeheim zu gratuliren, weil unserem Hause Heil widerfahren werde.“ Sie erhob sich und verschlang die Hände ineinander. „Mein Gott, welches Dilemma! Ich weiß wirklich nicht, ob ich weinen oder mich freuen soll. Es ist ja so trostlos niederschlagend, daß gerade bei Hof, der ein gutes Beispiel geben sollte, das alte Sprüchwort vom Undanke immer wieder zur Wahrheit wird. Wie hat sich Bär zeitlebens aufgeopfert für die Herrschaften! Und jetzt geht man plötzlich über ihn hinweg, als habe der alte, treue Diener nicht existirt. Er ist noch so rüstig, so geistesfrisch, und doch – will man ihn pensioniren.“
„Und dazu gratulirt Dir die alte Person?“ rief Flora ärgerlich.
„Dazu selbstverständlich nicht, mein Kind,“ entgegnete die Präsidentin, ihre Stimme verstärkend, mit großem Nachdrucke. „Flora, es geschehen wunderbare Dinge in der Welt. Hättest Du das vor einer Stunde noch für möglich gehalten? Bruck soll Hofrath und Leibarzt des Fürsten werden.“
„Verrücktes Hofgeschwätz! Auf was Alles werden wohl diese müßigen Köpfe noch verfallen! Sie combiniren wirklich das Blaue vom Himmel herunter,“ lachte Flora auf. „Hofrath und Leibarzt! Und solchen Blödsinn hörst Du ruhig mit an, Großmama, und lässest Dich auch noch deshalb beglückwünschen?“ Sie brach abermals im ein schallendes Gelächter aus.
„Nun, das muß ich sagen, lebt man denn hier in der Residenz so weltenfern von der Civilisation, daß keine Zeitungen gelesen werden?“ rief der Commerzienrath die Hände zusammenschlagend. „Ihr wißt wirklich nichts, rein gar nichts von Dem, was geschehen ist, was uns so nahe angeht? Und ich komme deshalb einen Tag früher zurück. Die Freude hat mir keine Ruhe gelassen. Alle Zeitungen sind voll von der wunderbaren Operation, die Bruck in L…..g ausgeführt hat; in allen Kreisen Berlins wird augenblicklich davon gesprochen. Der Erbprinz von R., der gegenwärtig in L…..g studirt, ist mit dem Pferde gestürzt; er ist so schwer und unglücklich am Kopfe verletzt gewesen, daß sich kein Arzt zu der Operation hat verstehen wollen, selbst der tüchtige Professor H. nicht. Denn aber ist es erinnerlich gewesen, daß Bruck im letzten Feldzuge einen ähnlichen Fall behandelt und zum Erstaunen Aller glücklich durchgeführt hat. Darauf hin hat man ihn sofort telegraphisch berufen –“
„Und das soll Dein Bruck, Dein Protégé gewesen sein?“ unterbrach ihm Flora – sie versuchte zu lächeln, aber diese weiß gewordenen Lippen schienen versteinert, wie das ganze, plötzlich leichenhaft erblichene schöne, impertinente Gesicht.
„Es war allerdings mein Bruck, wie ich ihn jetzt mit Stolz nenne,“ bestätigte der Commerzienrath mit sichtlicher Genugthuung. Er war ja so froh über diese glückliche Wendung. Zwar Scrupel hatte er sich längst nicht mehr gemacht über sein Verschweigen – der bereits halb vergessene grauenhafte Vorfall hatte ihn ruhig schlafen lassen; denn er war ein echtes Kind seiner Zeit, ein Egoist, der bei der Wahl: „Er“ oder „Ich“ keinen Augenblick im Unklaren war, daß das „Ich“ betont werden müsse. Aber nun war es doch gut, daß Alles so gekommen, und Bruck sich durch eigene Kraft, wie er, der Commerzienrath, ja vorausgewußt, wieder emporgerungen. „Uebrigens macht auch zu gleicher Zeit eine Broschüre von ihm unglaubliches Aufsehen in den medicinischen Kreisen,“ fuhr er fort. „Er hat für die Operation im Allgemeinen einen völlig neuen Weg entdeckt, der von unberechenbarer Tragweite sein soll. Es ist nicht mehr zu leugnen – Bruck geht einer großen Zukunft entgegen.“
„Wer’s glaubt!“ sagte Flora mit seltsam erloschener Stimme. Verzweifelt gespannt in jedem Gesichtszuge, glich sie einem Spieler, der sein Letztes auf eine Karte setzt. „Mit Deinem hohlen Pathos überzeugst Du mich nicht. Entweder liegt hier eine Namensverwechselung vor, oder – die ganze Wundergeschichte ist erfunden.“
Bei dieser hartnäckigen, trotzigen Behauptung büßte auch der Commerzienrath seine sprüchwörtlich gewordene Langmuth ein, die er den Damen seines Hauses gegenüber jederzeit an den Tag legte. Er stampfte zornig mit dem Fuße auf und wandte sich ab.
Die Präsidentin stand am Tische und ließ ihre weißen, welken Finger in nervöser Erregung auf der Tischdecke spielen. Ihre Augen fixirten unruhig die Enkelin. Sie begriff recht wohl, was in ihr vorgehen mußte, die den nun so gefeierten Mann so schmählich verkannt und verleumdet hatte. Es war eine jämmerliche Niederlage, aber gerade in solchen Momenten mußte die gut erzogene Weltdame sich ohne Weiteres zurecht finden können.
„Dein Sträuben wird Dir wohl nichts helfen, Flora,“ sagte sie gelassen. „Du wirst schließlich doch glauben müssen. Ich für meinen Theil – so wunderlich mir auch dabei zu Muthe ist – zweifle nicht mehr. Der Herzog von D. ist der Mutterbruder des verunglückten Erbprinzen; er mag wohl sehr erfreut und glücklich sein über die Rettung seines Neffen, denn gestern Abend sah ich den D.’schen Hausorden auf Bruck’s Schreibtische liegen.“
„Und das sagst Du mir jetzt erst, Großmama?“ schrie Flora wie wahnwitzig auf. „Warum nicht gestern noch? Warum hast Du mir das verschwiegen?“
„‚Verschwiegen‘?“ wiederholte die Präsidentin so geärgert, daß ihr Kopf in jenes leise nervöse Schütteln verfiel, das alten Leuten bei zorniger Erregung leicht eigen ist. „Wie impertinent! – Ich möchte wissen, was mich veranlassen könnte, dergleichen geheim zu halten, höchstens der Umstand, daß man in den letzten Monaten Bruck’s Namen vor Deinen Ohren kaum noch nennen durfte. Ich habe das allerdings auch möglichst vermieden –“
„Weil mein Verhalten vollkommen nach Deinem Geschmacke war, chère grand’ mère –“
„Bitte recht sehr, nur weil es mir im Innersten widerstrebt, Zeugin leidenschaftlicher Ausbrüche zu sein. Du bist ja seine erbittertste Gegnerin, hast ihn schärfer gerichtet, als die mißgünstigsten unter seinen Collegen; das leiseste Bemühen, ihn zu entschuldigen, ruft stets heftige Scenen hervor. Der arme Moritz und Henriette wissen ein Lied davon zu singen. Und hast Du nicht eben gezeigt, in welcher Weise Du eine Nachricht aufnimmst, die zu seinen Gunsten spricht?“ Wie tief gereizt mußte sie sein, daß sie – anstatt das fatale Vergangene nunmehr todtzuschweigen, wie es sonst ihre Art war – noch einmal Flora’s häßliches Benehmen vor den Augen der Anderen vorüberführte!
Flora schwieg. Sie stand am Fenster, den Rücken den Anwesenden zugekehrt; an ihren fliegenden Athemzügen sah man, daß sie heftig mit sich kämpfte.
„Sage mir doch, wann ich Dir die Mittheilung hätte machen sollen!“ fuhr die Präsidentin fort. „Vielleicht gestern, wo Du beim Nachhausekommen kaum den Kopf zur Thür hereinstecktest, um mir und meinem Besuche guten Abend zu bieten? Oder im Hause des Doctors selbst, wo ich keinen Augenblick mit Dir allein war, und wo Dich das pauvere Hauswesen Deines Bräutigams in die übelste Laune versetzte?“
„Das war Dein Kummer, liebe Großmama, wie Du die Güte haben wirst, Dich zu erinnern; was mich betrifft, so übertreibst Du.“
Käthe öffnete weit die ehrlichen, braunen Augen vor Erstaunen über dieses kecke Verleugnen – das gestern gegen die „spukhafte Spelunke“ geschleuderte Anathema klang noch in ihren Ohren.
„Mit Dir ist schwer rechten; ich kenne Dich schon. Bei aller bis zum Ueberdrusse an den Tag gelegten derben Wahrhaftigkeit verschmähst Du doch die Schlupfwinkel des Leugnens nicht, wo es Dir gerade paßt,“ zürnte die Präsidentin und schob mit einer ziemlich heftigen Handbewegung das vor ihr auf dem Tische liegende Manuscriptenpacket weiter. Der Umschlag löste sich wieder, und der mit den „langbeinigen Krakelfüßen“ geschriebene Titel kam zum Vorscheine.
„Ah, spricht das wieder einmal vor auf seinem Zickzackwege durch die Welt?“ fragte sie und zeigte mit dem Finger auf die Papiere. Ihr Ton bewies, daß die Frau der weisen Mäßigung auch schneidend malitiös werden konnte. „Ich dächte, Du gönntest ihm endlich die Ruhe im Papierkorb. Dieses fortgesetzte Angebot von Seiten eines meiner Angehörigen und die consequente Zurückweisung der Buchhändler wird mir nachgerade unerträglich. Ich möchte wissen, wie Du es aufnehmen würdest, wenn eines von uns Deine ‚hervorragende geistige Begabung‘ auch nur mit einem Worte anzweifeln wollte, und da lässest Du es Dir alle vier, fünf Wochen schwarz auf weiß sagen –“
„Echauffire Dich nicht unnöthig, Großmama! Du könntest leicht irren, wie gewisse andere Leute auch,“ unterbrach Flora sie zornbebend; ihr Blick streifte dabei entrüstet die junge Schwester. Der Backfisch hatte ja schon gestern Abend ein ähnlich absprechendes Urtheil mit angehört. „Du bist verstimmt, weil Du an Bär eine einflußreiche Stimme bei Hofe verlierst; je nun, ich verdenke Dir das im Grunde nicht, liebste Großmama, denn Bruck wird sich schwerlich dazu verstehen, Deine kleinen Interessen bei unseren Herrschaften zu vertreten, vielleicht nicht einmal mir zu Liebe; das ist fatal für Dich, aber ich sehe trotzdem nicht ein, weshalb ich armes Opfer es nun ausbaden soll. Ich werde mir erlauben, mich zurückzuziehen, bis das Wetter im Hause wieder klar ist.“ Sie raffte die auseinanderfallenden Blätter des Manuscriptes zusammen und verschwand wie eine blaue Wolke hinter der Thür ihres Ankleidezimmers.
„Sie ist doch unberechenbar excentrisch,“ sagte die Präsidentin mit einem Seufzer. „Von ihrer Mutter hat sie nicht eine Ader; die war die Sanftmuth und Fügsamkeit selbst. … Mangold hat sehr gefehlt darin, daß er sie so frühe die Honneurs in seinem Hause machen ließ. Ich habe genug dagegen geeifert, aber das war Alles in den Wind gesprochen. Du weißt ja am besten, Moritz, wie obstinat Mangold sein konnte.“
Käthe schritt nach der Thür, um das Zimmer zu verlassen. Die allzufrühe Selbstständigkeit war für Flora allerdings verderblich gewesen, das ließ sich nicht mehr leugnen, aber das junge Mädchen konnte es doch nicht mit anhören, daß ihrem verstorbenen Vater in so verletzender Weise der Vorwurf gemacht wurde, daß – er der Frau Schwiegermutter aus guten Gründen das Herrscheramt in seinem Hause verweigert habe.
Der Commerzienrath folgte ihr und ergriff ihre Hand. „Du bist so blaß, Käthe, so erschrecklich ernsthaft und still,“ sagte er. „Ich fürchte, Du stehst noch unter dem Eindrucke des gestrigen Vorfalles und leidest, armes Kind.“ Das klang nichts weniger als vormundschaftlich.
„So verändert in der Gesichtsfarbe und so nachdenklich ist Käthe schon seit einigen Tagen,“ warf die Präsidentin rasch ein. „Ich weiß, was ihr fehlt: sie hat Heimweh. Du darfst Dich darüber nicht wundern, bester Moritz. Käthe ist an das Stillleben in kleinbürgerlichen Verhältnissen gewöhnt; dort wird sie vergöttert; um das reiche Pflegetöchterchen dreht sich schließlich Alles in dem kleinen Hauswesen. Wir können ihr das mit dem besten Willen nicht bieten. Wir leben zu sehr in der Welt; unsere gesellschaftlichen Formen, die Elemente unserer Kreise sind so ganz andere, daß sie sich bei uns entschieden unbehaglich und bedrückt fühlen muß“ – sie trat näher und streichelte[WS 6] mit linder Hand die Wange des jungen Mädchens – „hab’ ich nicht Recht, mein Kind?“
„Es thut mir leid, aber ich muß ‚nein‘ sagen, Frau Präsidentin,“ versetzte Käthe mit ihrer festen Stimme; dabei bog sie den Kopf mit einer entschiedenen Bewegung zurück – es nahm sich aus, wie ein Protest gegen jegliche fernere Liebkosung. „Ich werde nicht vergöttert, und es dreht sich auch nicht Alles um ‚den Goldfisch‘“ – sie lachte leise und schalkhaft aus – „der arme Goldfisch spürt die Zügel einer consequenten Erziehung mehr als je; ein Versehen im Hauswesen wird mir weit schwerer verziehen, seit ich die reiche Erbin bin. Und so bedrückend fremd, wie Sie meinen, sind mir die vornehmen Elemente Ihrer Kreise auch nicht. Der Staatsminister von B. ist einer der Auserwählten, die zu dem kleinen Abendzirkel meiner Pflegeeltern gehören. Unser Salon ist freilich so eng, daß keine Spieltische aufgestellt werden können, aber einige Professoren der Akademie, Freunde des Doctors, halten interessante Vorträge; öfter kehren auch musikalische Celebritäten bei uns ein, und dann wird unverdrossen, mit wahrer Lust auf meinem schlechten Pianino musicirt.“ Um ihre Lippen schwebte wieder der ganze Liebreiz jugendlicher Heiterkeit, aber auch ein Zug von Sarkasmus trat hervor – sie hatte in der That eine „streitbare Ader“ in sich.
„Ich bin, Gott sei Dank, so erzogen, daß ich dem Heimweh nicht die geringste Macht einräume, sobald ich weiß, daß ich irgendwo nöthig bin,“ wandte sie sich an den Commerzienrath. „Damit lasse Dich nicht schrecken, Moritz! Erlaube mir vielmehr, auf unbestimmte Zeit hierzubleiben – Henriette’s wegen!“
„Mein Gott, ich habe ja selbst keinen anderen Wunsch, als Dich hier zu behalten,“ rief er mit einem Feuer, das selbst dem jungen Mädchen verwunderlich erschien.
Die Präsidentin stand wieder am Tische und ließ die Blätter eines vor ihr liegenden Buches unter ihrem Daumen hinlaufen, und die gesenkten Augen hingen so nachdenklich an diesem Spiel, als sehe und höre sie nichts anderes. „Es versteht sich ja von selbst, daß Du bleibst, so lange es Dir gefällt, meine liebe Käthe,“ sagte sie gleichmüthig, ohne aufzusehen. „Nur darf dieses Bleiben beileibe nicht den Anstrich einer Aufopferung erhalten; dagegen müssen wir uns entschieden verwahren. Nanni pflegt unsere Kranke musterhaft, und auch meine Jungfer ist angewiesen, Nachts beizuspringen, wenn es nöthig ist. Du könntest sie ohne Sorge verlassen.“
„Mag doch das Motiv sein, welches es will, theuerste Großmama, es genügt, daß Käthe in unserer Mitte zu bleiben wünscht,“ fiel der Commerzienrath lebhaft ein – er konnte den Blick nicht wegwenden von dem Mädchen, das sich unverkennbar die eigene Ueberzeugung durch beschwichtigende Worte nicht übertäuben ließ. „Sieh, im frohen Vorgefühl, daß wir Dich hier behalten werden, mein Kind, habe ich den neuen Flügel“ – er unterbrach sich und küßte ekstatisch Daumen und Zeigefinger der rechten Hand – „Du bekömmst ein Instrument, Käthe, gegen welches das drüben im Musiksalon ein Klimperkasten ist; ich habe es, sage ich, gleich direct hierher dirigirt.“
„Aber, Moritz, so ist das nicht gemeint,“ rief das junge Mädchen rückhaltslos mit großen, erschrockenen Augen. „Gott bewahre mich! Dresden ist und bleibt meine Heimath und die Villa Baumgarten meine Besuchsstation“ – sie lachte mit ihrem ganzen Muthwillen auf; „soll ich den Flügel immer als Gepäckstück mitschleppen?“
„Ich bilde mir ein, daß Du eines Tages in Bezug auf Dresden ganz anders denkst,“ versetzte er mit einem feinen, ausdrucksvollen Lächeln. „Der Flügel wird morgen hier eintreffen und bis auf Weiteres in Deinem Zimmer placirt werden.“
Die Präsidentin klappte denn Deckel des Buches zu und legte die schmale, weiße Hand darauf. „Du triffst andere Dispositionen, als ausgemacht war,“ sagte sie anscheinend gelassen. „Das bringt mich zwar sehr in Verlegenheit, aber ich bescheide mich gern. Ich werde heute noch an die Baronin Steiner schreiben, daß ihr für den Monat Mai angekündigter Besuch unterbleiben muß.“
„Aber ich sehe nicht ein, weshalb –“
„Weil wir sie nicht unterbringen können, bester Freund. Käthe’s Zimmer war für die Gouvernante bestimmt, die sie mitbringen wollte.“
Der Commerzienrath zuckte die Achseln. „Dann thut es mir leid – meine Mündel bleibt selbstverständlich, wo sie ist.“
Er opponirte! Er wagte es, mit kühler Ruhe in das zornblitzende Auge der empörten alten Dame zu sehen und es natürlich zu finden, daß die Frau Baronin von Steiner Käthe weichen müsse – er, der sonst Himmel und Erde in Bewegung setzen mochte, der kein Opfer scheute, wenn es galt, vornehme Gäste in sein Haus zu ziehen! Es wich von ihm plötzlich der im Verkehr mit exclusiven Kreisen angeflogene feine Lack der Außenseite, und die plumpe, gemeine Natur des Parvenü kann zum Vorschein. Er war ja nun selbst von Adel, und dazu reicher als die meisten seiner jetzigen Standesgenossen – hatte er doch eben wieder eine immense Goldernte eingeheimst – er konnte herausfordernd auf seine Tasche klopfen und – er that es.
Die alte Dame biß sich auf die Lippe. „Ich werde unverzüglich die nöthigen Schritte thun,“ sagte sie und nahm ihre Schleppe auf, um zu gehen. „Beneidenswerth ist die Situation, in die ich ohne mein Verschulden gedrängt bin, durchaus nicht – das muß ich sagen,“ warf sie mit hochgezogenen Brauen, in bitterem Tone über die Schulter hin.
„Und das um meinetwillen?“ rief Käthe und trat mit ausgestreckter Hand einen Schritt näher, um das Hinausgehen der Präsidentin zu verhindern. „Moritz, es kann doch Dein Ernst nicht sein, daß ich junges Ding die Freunde der Frau Präsidentin verdrängen soll? Das geschieht ganz gewiß nicht. Habe ich denn nicht mein eigenes Heim? Ich quartiere mich sofort in der Mühle ein, wenn Frau von Steiner kommt.“
„Das wirst Du bleiben lassen, meine liebe Käthe; dagegen protestire ich selbst mit allen Kräften,“ versetzte die Präsidentin mit vornehmer Kälte, und jetzt brach aller Hochmuth, der dieser stolzen Weltdame innewohnte, aus ihren Augen. „Ich bin gewiß tolerant – Deine verstorbene Mutter hat sich nie über Unfreundlichkeit meinerseits zu beklagen gehabt, aber ein solch intimer Verkehr zwischen Villa und Mühle, ein solch ungenirtes ‚Hinüber und Herüber‘ widerstrebt mir denn doch in tiefster Seele, am allerwenigsten aber möchte ich diese Beziehung der scharfen Kritik meiner sehr streng denkenden Freundin ausgesetzt wissen.“ Sie neigte steif grüßend den Kopf. „Ich bin im blauen Salon zu finden, wenn Du mir die Herren vorstellen willst, Moritz.“ Damit ging sie hinaus.
Der Commerzienrath wartete mit spöttischer Miene, bis das Rauschen der Seidenfalten draußen verklungen und die entgegengesetzte Thür im Musikzimmer sehr hörbar zugefallen war, dann, indem sich seine Lippe höhnisch hob, lachte er leise in sich hinein.
„Da hast Du Deine Lection, Käthe!“ sagte er. „Gelt, es stecken recht scharfe Krallen in den Sammetpfötchen. Ja, kratzen kann sie, die alte Katze, daß es eine Art hat. Ich armer Tropf könnte Wundenmaale genug aufweisen, aber, Gott sei Dank, ihr Schicksal erfüllt sich endlich auch. Sie erlebt das Schlimmste, das ihr passiren kann: sie wird ungefährlich. Mit Bär’s Pensionirung ist ihr Einfluß bei Hofe und in der Gesellschaft gebrochen.“ Er rieb sich die Hände in lächelnder, unaussprechlicher Befriedigung. „Du weichst nicht um eine Linie, lieb Herz! Du hast mehr Rechte in meinem Hause als alle Anderen zusammen – merke Dir das!“
Er wurde unterbrochen. Ein eintretender Diener meldete, daß die fremden Herren in der Beletage den Herrn Commerzienrath erwarteten. Eiligst griff Moritz nach seinem Hute; er wollte Käthe den Arm reichen, aber diese schlüpfte verlegen an ihm vorüber, hinaus in den Corridor. Der Herr Vormund mit der befremdenden Zärtlichkeit in Ton und Geberden gefiel ihr ganz und gar nicht; seine kühlen, geschäftsmäßigen Briefe waren ihr lieber gewesen. Und welche merkwürdige Veränderung war sonst noch mit ihm vorgegangen! Unwillkürlich dachte sie an ihren neulichen Empfang in diesem Hause; noch hörte sie den ängstlichen Flüsterton, mit welchem der Commerzienrath sie auf den Respect hingewiesen, den sie der Präsidentin schulde, und jetzt machte er unehrerbietige Mienen hinter ihrem Rücken und fing an, ihrer bisher wirklich unumschränkten Machtvollkommenheit in seinem Hause unliebsame Grenzen zu ziehen. Das Alles erschreckte das junge Mädchen, war ihr unbegreiflich und so unheimlich, wie das dunkelpurpurne Zimmer voll dumpfer Luft und Bücherstaub, dem sie jetzt tiefaufathmend den Rücken wandte, um in das Haus am Flusse zurückzukehren.
Das Krankenzimmer im Doctorhaus sah am Nachmittag genau so aus, wie gestern, als man Henriette hineingetragen. Auf ihre leidenschaftlichen Bitten hin hatte der Doctor die vornehmen Eindringlinge aus der Villa wegschaffen lassen. Draußen im weiten Flur, auf dem rothen Backsteingetäfel standen sie in Reih’ und Glied, die apfelgrünen Lehnstühle, der elegante Ofenschirm, und um die einfache Thonvase mit dem Tannenstrauß gruppirte sich das vergoldete Waschgeschirr. Das Steingut war wieder zu Ehren gekommen, und die altmodischen Polsterstühle mit ihren schwarzen Serge-Bezügen standen an ihrem ehemaligen Platze. Dagegen sprang das erfrischende Silbergefunkel der kleinen, zerstäubenden Zimmerfontäne aus einem Kranz von grünen Topfgewächsen, und auf einem Tisch stand der große Käfig mit Henriettens Kanarienvögeln, den man auf den sehnsüchtigen Wunsch der Kranken aus der Villa herübergeschafft hatte. Die flinken, goldgelben Geschöpfchen schlüpften, wie daheim, ungenirt aus und ein; sie umschwirrten das Bett, holten Zuckerkrumen aus den wächsernen Fingern der kranken Herrin und wiegten sich auf den schwebenden Blumenampeln an der Zimmerdecke.
Nanni, die Kammerjungfer, war gegen Mittag entlassen worden, damit sie in der Villa ausschlafen könne, und die Tante Diakonus hatte die Pflege für die Tagesstunden übernommen. Die alte Frau war noch im braunseidenen Kleide, aber sie hatte eine breite, weiße Leinenschürze darüber gebunden, um das Seidengeräusch zu dämpfen.
Henriette wußte bereits um die Wandlung, die sich so plötzlich vollzogen. Die Jungfer war von draußen hereingekommen und hatte ihr zugeflüstert, daß eben ein Herr vom Hofe im Flur feierlich von der Frau Diakonus empfangen und in das Zimmer des Doctors geführt worden sei. Ein Herr vom Hofe bei Bruck, der zuletzt nur noch Armenarzt gewesen war! Dazu hatten die festliche Toilette der Tante, ihr freudig verklärtes Gesicht die Aufmerksamkeit der Kranken erregt; sie war unruhig geworden und hatte mit Forschen und Fragen nicht nachgelassen, bis sich der Doctor an ihr Bett gesetzt und ihr in seiner ruhigen, einfachen Art und Weise Mittheilung von den Vorgängen gemacht hatte. Das Alles war geschehen, während Käthe in Flora’s Zimmer dem Auftritte beiwohnte, den die Hofdame von Berneck und der Commerzienrath mit ihrer blitzartig einschlagenden Neuigkeit hervorgerufen hatten.
Nachmittags saß Käthe am Krankenbett. Der Doctor war zu einer Audienz beim Fürsten befohlen, und die Tante hatte sich für eine halbe Stunde freigemacht, um einige häusliche Anordnungen zu treffen; die beiden Schwestern waren zum ersten Mal wieder allein. Auf Henriettens Gesicht lag ein wahrer Glanz unausgesprochener Freude und Glückseligkeit; Ruhe und Schweigen war ihr auferlegt worden. Der Doctor hatte ihr streng verboten, nochmals den Jubel laut werden zu lassen, in welchen sie bei seiner Mittheilung ausgebrochen war und der ihn tief erschreckt hatte. Sie war auch folgsam gewesen und hatte weder ihn, noch die Tante im Laufe des Tages mit weiteren Fragen belästigt, aber jetzt, wo die ernsten Augen des Arztes nicht warnten, wo die Thür hinter der ängstlich besorgten alten Frau zugefallen war, jetzt richtete sie sich plötzlich in den Kissen auf. „Wo bleibt Flora?“ fragte sie gespannt und hastig flüsternd.
„Du weißt, daß die Großmama von Stunde zu Stunde herübersagen läßt, der Boden brenne ihr unter den Füßen, aber sie könne nicht fort, man sei drüben von Beileidsvisiten dermaßen umringt, daß ein Losmachen sich noch immer nicht bewerkstelligen lasse.“
„Mein Gott, die Großmama!“ wiederholte die Kranke geärgert und sich ungeduldig herumwerfend. „Wer verlangt denn nach ihr? Mag sie doch drüben bleiben. Ich spreche von Flora!“
Henriette verschlang die Hände fest ineinander und hob sie mit einer leidenschaftlichen Geberde empor. „Käthe, ist das eine glanzvolle Rechtfertigung! Gott sei Dank, daß ich sie erleben durfte! Wenn nur Bruck sich nicht hinreißen läßt, auf seinem Rückweg vom Schlosse in der Villa einzukehren! – Hier, vor meinen Augen muß ihm Flora zum ersten Mal wieder gegenüber stehen, hier. Ich lechze danach, sie im Staube vor ihm zu sehen.“
„Rege Dich nicht auf, Henriette!“ bat Käthe mit zitternder Stimme.
„Ach was – lass’ mich reden!“ entgegnete sie hastig. „Wenn Bruck nur wüßte, zu welchen Qualen er mich verurtheilt mit seinem Sprechverbot! Die unterdrückte innere Aufregung beklemmt mir die Brust bis zum Zerspringen, genau wie gestern der Strom, der sich dann so erschreckend Luft machte.“ – Sie stützte den Ellenbogen auf und vergrub die Hand in dem reichen Blondhaar, von dem sie längst das Battisthäubchen weggeschüttelt hatte. „Weißt Du noch, wie Flora die Reise, von der Bruck berühmt zurückgekehrt ist, höhnisch und verwegen, ihm in das Gesicht hinein, eine Vergnügungstour nannte?“ fragte sie und sah unter der gesenkten Stirne hervor mit Augen voll Erbitterung zu der Schwester auf; sie verfiel in denselben Ton wie gestern in ihren wilden Fieberphantasien, die eine so furchtbare Entscheidung herbeigeführt hatten. Käthe schauerte in sich zusammen. „Erinnerst Du Dich, wie sie Moritz schalt und verlachte, weil er der Wahrheit nahe kam und vermuthete, daß Bruck an ein Krankenbett nach L…..g gerufen sein könne? Nein, und wenn sie auf den Knieen Abbitte leistet, sie kann diesen Frevel, diesen beispiellosen Uebermuth kaum sühnen. Nur einen einzigen Blick möchte ich jetzt in ihre Seele thun. Welche niederschmetternde Beschämung! Sie kann beim ersten Begegnen die Augen weder zu ihm, noch zu uns aufschlagen.“
Käthe hatte die Hände im Schooß gefaltet, und die Wimpern lagen tief auf ihren Wangen, als sei sie die Schuldige. Das leidenschaftlich erregte Mädchen da vor ihr ahnte nicht, daß diese erste Begegnung nicht mehr stattfinden konnte, daß sich Flora’s Fuß nie wieder in „die spukhafte Spelunke“ verirren würde. Sie wußte so wenig, wie alle Anderen, daß sich die Braut gewaltsam befreit, daß das Symbol des geschlossenen Bundes, der „einfache“ Goldreif, draußen im Fluß liege, wenn ihn nicht die Wellen längst fortgespült hatten.
„So sprich doch auch ein Wort, Käthe!“ grollte Henriette. „Du muß Fischblut in den Adern haben, daß Dich die Vorgänge so ruhig lassen. Freilich, Du hast noch keinen besonders tiefen Einblick in die Verhältnisse thun können, und den Persönlichkeiten gegenüber magst Du auch noch nicht den richtigen Standpunkt einnehmen. Bruck z. B. kann Dich kaum interessiren; Du siehst ihn zu selten und hast sicher noch keine zehn Worte mit ihm gesprochen, aber Du bist doch schon Zeuge von Flora’s abscheulichen Rücktritts-Manövern gewesen, hast die herzlosesten Aussprüche von deren Lippen gehört – ich sollte meinen, so viel Gerechtigkeitsgefühl, so viel Verlangen – ich möchte sagen ‚Durst‘ nach gerechter Strafe, nach einem rächenden Ausgleich müsse in jeder gesunden Menschennatur liegen.“
Jetzt sah Käthe mit einem seltsam flimmernden Blick auf; das war sicher kein Fischblut, das in so jäh emporschießender Welle Stirn und Wangen, selbst den runden, schneeweißen Hals heiß und purpurn färbte; es wallte unbezwinglich auf und ließ sie einen Augenblick völlig vergessen, daß sie am Krankenbett sitze und als gewissenhafte Pflegerin auf kein erregendes Thema eingehen dürfe. „Und wenn dieses Rachewerk sich wirklich vollzieht, wenn Flora beschämt ihren Irrthum zugiebt, welchen Werth könnte diese Umkehr für den beleidigten Mann haben?“ fragte sie gepreßt. „Flora hat ihm, wie Du selbst sagst, ihre Abneigung unverhohlen gezeigt, und wenn er in den Fürstenstand erhoben würde, es könnte doch unmöglich den Widerwillen in Liebe zurückverwandeln.“
„Bei einer so eitlen, ehrgeizigen Seele, wie Flora, ohne Weiteres,“ versetzte Henriette in bitter verächtlichem Ton. „Und Bruck? Du wirst sehen, er geht bei ihrer ersten Annäherung über das Geschehene hinweg, als sei es nie gewesen.“ – Den Kopf zurückhaltend schloß sie einen Moment die Augen. – „Ja, wenn die Liebe nicht wäre, dieses ewig unlösliche Räthsel!“ sagte sie halb flüsternd vor sich hin. „Und er liebt sie wie vordem; wie ließe sich sonst sein Ausharren, sein geduldiges Ertragen erklären?“ Sie hob die Wimpern wieder, und ein Gemisch von tiefem Schmerz und bitterer Ironie brannte in ihren unirdisch glänzenden Augen. „Und wenn ihn aus ihrem schönen Gesicht ein Teufel anblickte, und wenn ihre Hände nach ihm schlügen, er würde sie doch lieben und diese Hände zärtlich küssen.“ Das Lächeln, das so scharfe Linien in ihre abgezehrten Wangen grub, hatte etwas Herzzerreißendes; sie suchte es auch zu verbergen, indem sie das Gesicht in die Kissen drückte. „Ihre Umkehr wird mithin hohen Werth für ihn haben,“ sagte sie nach einer momentanen Pause entschlossen, mit gewaltsam beherrschter Stimme; „er wird glücklich werden, und deshalb muß auch von unserer Seite Alles geschehen, daß die Zeit der Verirrung nie mehr berührt wird.“
Käthe sagte kein Wort mehr. Die Kranke erwartete mit kaum bezähmbarer Ungeduld den Moment, wo sie den Mann, den sie als ihren Arzt vergötterte, wieder glücklich sehen würde. Was sollte werden, wenn Flora nicht kam, wenn Henriette endlich doch erfahren mußte, daß die treulose Braut der langen Qual eigenmächtig ein rasches, gewaltsames Ende gemacht hatte? „Dann wirst Du unseren Namen nie mehr auf die Lippen nehmen,“ hatte Henriette gestern in ihren Fieberphantasien gegen Bruck geklagt. In Käthe’s Seele dauerte der chaotische Zustand fort, der sie schon gestern Abend betroffen gemacht. Die Gesetze der Moral hatten ein scharfes Gepräge für sie, und sie war noch unerfahren genug, Lohn und Strafe stets als gerechte Folgen vorausgegangener Handlungen zu denken – und nun in diesem wunderlichen Weltgetriebe wurde alles Ernstes gewünscht und gehofft, daß unerhörter Uebermuth und systematische Pflichtverletzung nicht nur straflos ausgehen, sondern auch noch eines seltenen Glückes theilhaftig werden sollten. Man bemühte sich, das Vergehen todtzuschweigen; man hätschelte die Sünderin und dankte ihr wo möglich auf den Knieen für ihre Umkehr, die, wenn sie wirklich erfolgte, nicht einmal wahre, innere Reue, sondern nur durch den Umschwung der äußeren Verhältnisse hervorgerufen worden war. Und er, den sie moralisch mit Füßen getreten, nahm er sie wirklich augenblicklich wieder an sein Herz, wenn sie sich herabließ, zu ihm zurückzukehren? Ganz sicher; hatte er sie doch nicht beigegeben, selbst nachdem sie ihm erklärt, daß sie ihn hasse. Jetzt fühlte Käthe einen mächtigen Zorn in sich aufglühen gegen die unselige Schwachheit, die einen Mann so erbärmlich, so unmännlich handeln ließ. Sie hätte so recht von Herzen ihren Groll ausweinen mögen über diese Erfahrung, die ihr das Leben und sogar die schöne, strahlende Welt für einen Augenblick verdunkelte, aber sie verbiß trotzig das wunderliche Schmerzgefühl und saß äußerlich fast noch „fischblütiger“ da, als vorher. Weinen? Was ging sie denn die ganze abstoßende Geschichte weiter an? Sie hatte nun nichts, gar nichts mehr dabei zu bedeuten, als das Hochzeitsgeschenk für die Schwester – etwa ein Teppich oder ein Sophakissen – das sie nunmehr schleunigst anfangen müsse, wenn wirklich die Hochzeit zu Pfingsten stattfinden sollte.
Die Tante kam herein, legte einen frischgebrochenen Syringenzweig voll junger Blätter auf die Bettdecke und brachte der Leidenden einen Gruß vom Frühling, der gar so golden, so helltönig und würzig draußen hinziehe und einen wahren Genesungsbalsam in seinem Athem trage. Sie bestand darauf, ihren Platz am Bett wieder einzunehmen, und erklärte Käthe’s Anwesenheit im Krankenzimmer für den Moment als vollkommen überflüssig; draußen im Garten möge sie sich ein wenig Bewegung machen und frische, sonnige Gottesluft athmen; das thue ihr sichtlich noth; die gestrige Alteration und Anstrengung sei noch auf ihrem Gesicht zu lesen.
Das junge Mädchen ging rasch hinaus. Ja, Luft und Sonnenschein, das waren zwei gute Freunde, die ihr stets das Gefühl innerer Kraft und des Jungseins wonnig zum Bewußtsein brachten, die den Blick klärten und alles angekränkelte Empfinden über den Haufen bliesen. Und die Tante hatte Recht, die Welt war so maienhaft, so blüthenverheißend, und die schwach wehende, sonnentrunkene Luft hauchte „Genesungsbalsam“ in Leib und Seele. Käthe trat hinaus auf die Freitreppe; ihr schöner Busen wogte in tiefen, zitternden Athemzügen. Sie hob und streckte unwillkürlich die Arme, die fest und doch mädchenhaft gerundeten mit den stählernen Muskeln. Und die Stufen hinabsteigend, ließ sie den Blick in die blaue Fremde hinein fliegen, über das niedere Staket hinweg, über die Wiesengründe draußen, über das sie durchschneidende, rasch strömende Gewässer mit den Dorfhäusern und Kirchthürmen an seinen fernen Ufern – wunderliches Menschenherz, das angesichts dieser Herrlichkeit doch so gepreßt blieb!
Und dort, vom Holzschuppen her, der am Gartenzaun stand, klang liebliches Gezwitscher, und blauschwarzes Gevögel mit metallisch funkelndem Rücken und rostbrauner Kehle tummelte sich um die offene Bodenluke – die ersten Schwalben waren da. Die Bodenluke war ihr alter Nistplatz. Käthe hatte schon als Kind, im Grase liegend, ihr Aus- und Einfliegen beobachtet, aber wie einsam und verloren hatte damals das Zwitschern geklungen in das eintönige Wellengemurmel und die um das verschlossene Haus webende athemlose Stille hinein, die hie und da das Fallen einer reifen Frucht von den Obstbäumen unterbrach! Jetzt schmetterten auch vornehme, verzogene Stubenvögel aus den offenen Fenstern; der Rauch des Heerdfeuers zog hoch droben als dünner, sonnenvergoldeter Schleier über den Rasenplatz hin; am Schuppen stand auch das Hundehaus, und der ungeberdige, struppige Köter riß an seiner Kette und schnappte nach einem schönen, lichtgelben Huhn, das sich dummdreist immer wieder in seine Nähe wagte, um einige versprengte Getreidekörner aufzulesen. Die Köchin hatte auf Wunsch der Tante Diakonus einen prächtigen Hahn und fünf Hennen aus ihrem Dorfe mitgebracht – es sollte Alles werden, wie im alten, lieben Pfarrhause. …
Käthe scheuchte die krakelnde Henne aus dem Bereiche des zornig knurrenden, gereizten Hundes und wandelte langsam unter den Obstbäumen hin. Der vorjährige, dürre Graswuchs zu ihren Füßen erschien da und dort gesprenkelt mit jener Bläue, die selbst das älteste, verdrossenste Menschenauge noch aufleuchten macht – die ersten Veilchen blühten, und das große stattliche Mädchen bückte sich so emsig danach, wie es einst kaum der kleine Rücken des Müllermäuschens gethan. … Fast verwundert dachte sie jetzt daran, daß sie ja eigentlich als einzige Erbin ihres Großvaters vor wenigen Wochen noch Herrin hier gewesen sei; das Capital, das der Doctor für die kleine Besitzung hingegeben, gehörte ihr – es lag wohl auch in dem bewußten eisernen Schranke, das mühsam ersparte, redlich erworbene Scherflein, vermischt mit dem Reichthume, den der Kornwucher aufgehäuft. Sie schrak zusammen und verschüttete unwillkürlich die gepflückten Veilchen auf den Rasen. Das schneidende Gefühl namenloser Demüthigung und erlebter Schande überkam sie, wie gestern inmitten der erbitterten Weiberschaar. Da hatte sie noch im ersten Aufschrecken gegen die entsetzliche Beschuldigung protestirt, aber nun, so oft das harte, mürrische, grobe Gesicht ihres Großvaters vor ihr auftauchte, mußte sie sich eingestehen, daß er recht wohl das grausame Wort von den „pfeifenden Mäusen“ gesagt haben konnte; sie ballte in stummer Qual krampfhaft die Hände. Daß sie mütterlicherseits aus den untersten Schichten der Gesellschaft stammte, wußte sie ja; nie war ihr auch nur der Wunsch gekommen, daß es anders sein möchte – sie leitete vielmehr ihre prächtige Mitgift, Kraft und tadellose Gesundheit, dankbar von „dem Großmütterlein“ her, das in frischer Waldluft mit kräftigem Arme die Holzaxt geschwungen, aber die Gemeinheit der Gesinnung, die Brutalität, mit welcher der ehemalige Müllerknecht einen erbarmungslosen Druck auf die Armuth ausgeübt, um zu einem großen Vermögen zu gelangen, erfüllten sie mit Ekel und Abneigung, und an den eisernen Spind mit seinen aufgespeicherten Schätzen mochte sie gar nicht mehr denken.
Ohne es zu wissen, war sie, am Flusse hingehend, in einen förmlichen Sturmschritt verfallen. Da, wo der Zaun das Grundstück begrenzte und mit seinem Weißdorngeflecht noch ein Stück des abschüssigen Ufers hinablief, blinkten weiße Glasscherben, die Splitter des kleinen Glases, aus welchem sie gestern Abend die nervenberuhigende Mischung getrunken. Die Köchin hatte die Trümmer, an welche sich eine beschämende Erinnerung für das junge Mädchen knüpfte, achtlos hingeworfen, damit das Wasser sie mit fortnehme. Ein schmerzender Stich durchfuhr Käthe’s Herz, und brennende Thränen traten ihr in die Augen, wie jedesmal, wenn sie an die gestrige Scene im Zimmer des Doctors dachte. Sie hatte sich mit ihrem „tollen Kopf“ entsetzlich blamirt. Und wenn der milddenkende, feinfühlende Mann auch sofort ein beschwichtigendes Wort, eine Entschuldigung für sie auf den Lippen gehabt, innerlich hatte er doch jedenfalls verwundert lächeln müssen über „die große, körperstarke Person“ mit den kindisch schwächlichen, sentimentalen Vorstellungen in ihrem Gehirn. Aber solch eine Uebereilung ihres bis zur Schwachheit mitleidigen Herzens passirte ihr auch gewiß nicht wieder! Lieber wollte sie für grausam, boshaft, ja, für eine böse Sieben gelten. Und der Doctor sollte gewiß nicht wieder über sie lächeln – ah, dazu fand er auch bald genug keine Veranlassung mehr. Wie lange noch, da wurde Henriette in die Villa zurückgebracht; die Verbindung zwischen „Hüben und Drüben“ wurde abgebrochen, und der Doctor „nahm nicht einmal mehr die Namen Derer in der Villa auf die Lippen“. Nach Allem, was gestern Abend geschehen, was sie als einziger Zeuge mit angehört, mit angesehen, war die gehoffte Umkehr Flora’s unmöglich, mochte Doctor Bruck auch mit aller Energie auf seinem Rechte bestehen – heute noch mußte er die Ueberzeugung gewinnen, mußte sich Alles entscheiden, wenn die Braut ausblieb. Oder that er doch, was Henriette befürchtete? Hatte er das Verlangen nicht unterdrücken können, bei seiner Rückkehr vom fürstlichen Schlosse in der Villa einzukehren, um Flora von der glücklichen Wandlung in seinem Leben nunmehr persönlich in Kenntniß zu setzen? Dann sagten ihm die zwei kleinen Brillantringe an ihrem Finger sofort, und zwar deutlicher als jedes erklärende Wort, was er noch zu hoffen habe.
Käthe lief in diesem Augenblicke vom Ufer weg auf den Rasengrund zu; ein abscheulicher Lärm, der möglicher Weise bis in’s Krankenzimmer dringen und Henriette erschrecken konnte, erhob sich in der Nähe des Schuppens; das Hühnervolk zerstob, entsetzt aufschreiend, nach allen vier Winden, und der Hofhund stürzte sich mit nachschleifender Kette wüthend auf die gelbe Henne, die ihn geärgert hatte. Käthe war ihm sofort auf den Fersen; sie packte sein schmutzig weißes, zottiges Fell im Genicke, in demselben Momente, wo bereits die Schwanzfedern seines unglücklichen Opfers umherflogen.
Sie lachte wie ein Kind über das zerzauste Huhn, das sich kläglich krakelnd im Holzschuppen verkroch, und zog den Hund nach seiner Hütte zurück. Das ungeberdige Thier sträubte und sperrte sich mit allen Kräften; es versuchte, nach der kräftigen Mädchenhand zu schnappen, die es unerbittlich wieder in die Gefangenschaft schleifte.
Für einen Dritten mochte dieser Kampf um die Herrschaft etwas Beängstigendes haben; denn der Hund war tückisch wild, groß, von sehnigem, gedrungenem Gliederbau, und die rothfleckige Zeichnung auf Rücken und Flanken gab ihm ein tigerartiges Ansehen, aber er wand und stemmte sich vergeblich. Käthe stieß mit der freien Linken den ausgehobenen Kettenhaken wieder in den eisernen Ring der Mauer und sprang, den Hund plötzlich loslassend, weit zurück; er fuhr ihr wüthend nach und erwischte noch den Saum ihres Kleides, den er in Fetzen riß.
„Bösewicht!“ drohte sie mit dem Finger und nahm das Kleid auf, um den Schaden zu betrachten. Sie hörte eilige Schritte von der Brücke her kommen; sie wußte auch, daß es der Doctor war, der von der Stadt zurückkehrte, aber sie sah nicht auf. Sie hoffte, er werde in das Haus gehen, ohne sie weiter zu beachten. Wer konnte denn wissen, ob er nicht direct aus der Villa und vielleicht in sehr trüber Stimmung kam? Er war ohnehin so still und in sich gekehrt, so wortkarg heute; fast wollte es ihr scheinen, als habe er gestern Abend mit dem sanften, unerklärlich weichklingenden „Gute Nacht, gute Nacht!“ einen Abschluß seines bisherigen Wesens und Verhaltens andeuten wollen.
Er ging nicht in das Haus, sondern direct auf Käthe zu. Drohend hob er den Stock gegen den boshaft knurrenden, kläffenden Hund, der plötzlich mäuschenstill wurde und sich demüthig neben seiner Hütte hinstreckte. Der Doctor nahm einen Stein und trieb den Kettenhaken noch tiefer in den Ring. „Ich werde das Thier doch wohl abschaffen müssen; es ist zu wild und ungeberdig,“ sagte er, sich aufrichtend und den Stein fortwerfend. „Seine scharfe Wachsamkeit wiegt den Schrecken nicht auf, den er verursacht. Sie sind freilich mit ihm fertig geworden; ich glaube, im Bewußtsein Ihrer Kraft lassen Sie sich leicht verführen, tollkühn zu sein.“ Er sagte das in ernstem, nahezu tadelndem Tone, jedenfalls hatte er den Vorgang im Näherkommen durch das Ufergebüsch mit angesehen.
Sie lachte. „Glauben Sie das ja nicht! Ich habe meine wohlgemessene Dosis Aengstlichkeit in der Seele, wie jedes andere Mädchen auch,“ entgegnete sie freimüthig. „Vor fremden Hunden habe ich sogar eine ganz besondere Scheu und gehe ihnen gern aus dem Wege. Aber in kritischen Augenblicken muß man sich doch zu helfen wissen; angeborene Schwächen dürfen nicht aufkommen; da beiße ich die Zähne fest zusammen und greife unbedenklich zu, und das mag denn so furchtbar tapfer aussehen.“
Der Doctor hatte mit den Augen eine Schwalbe verfolgt, die vom Schuppen wegflog, und jetzt lächelte er auch, aber ohne Käthe anzusehen. Es kam ihr vor, als sei dieses Lächeln ein ungläubiges; jedenfalls blieb er dabei, sie wolle sich heldenhaft hervorthun und poche unweiblich genug auf ihre Kraft, und das entsprach durchaus nicht ihrem Geschmacke, am wenigsten aber der Wahrheit.
„Sie zweifeln?“ fragte sie mit einem halb ernsten, halb schelmischen Aufblicke. „Wissen Sie auch, daß die Heldin da vor Ihnen erst seit Kurzem das letzte Restchen Furcht vor Nachtdunkel und Geisterspuk von der Seele geschüttelt hat?“ Ein köstlicher Humor umspielte ihre Lippen und vertiefte die Wangengrübchen. „Sie können sich wohl denken, daß in der alten Schloßmühle Kobolde und Heinzelmännchen in allen Ecken hocken und rumoren; dem fürstlichen Erbauer fällt es auch bisweilen ein, aus seinem wackeligen Rahmen zu steigen, um höchsteigenhändig die Kornsäcke auszuschütten, und gespenstige Müller, die vor alten Zeiten ihren Mahlkunden das Mehl verkürzt haben, fehlen auch nicht. Suse hat mir selbstverständlich von diesen unumstößlichen Thatsachen nicht ein Tüpfelchen vorenthalten, und ich war so festgläubig, als sei ich in einer thüringer Spinnstube aufgewachsen. Von diesem wundervollen Gruseln durften aber der Papa und meine Lukas um Alles nicht merken – Suse wäre sehr gescholten worden, und ich schämte mich auch –, da galt es denn, sich zu überwinden und zähneklappernd, aber ohne Widerrede in tiefster Dunkelheit bis auf den Hausboden hinaufzusteigen, wenn es auf Grund der Erziehungsconsequenz befohlen wurde.“
„Sie haben sich also von jeher gewöhnt, an Ihre innere Kraft hohe Anforderungen zu stellen. Wie mag es da kommen, daß es Ihnen so leicht wird, beim Manne eine That der Feigheit und Schwäche vorauszusetzen?“
Sie stand plötzlich wie mit Blut übergossen. „Sie haben mir gestern meine Uebereilung verziehen,“ sagte sie sichtlich verletzt und nicht ohne Trotz und strich, sich abwendend, wiederholt die Löckchen aus der Stirn, lediglich um die Flammengluth auf ihrem Gesichte zu verdecken.
Er schüttelte den Kopf. „Diesen Ausdruck sollten Sie doch nicht wieder gebrauchen, nachdem ich Ihnen versichert, daß Sie mir nichts zu Leide gethan haben,“ versetzte er, unwillkürlich seine schöne, klangvolle Stimme dämpfend, als berühre er eine geheime Beziehung zwischen sich und dem Mädchen, um welche die ganze übrige Welt nicht wissen dürfe. „Ich wollte vorhin nur sagen, daß ich umsonst der Wurzel nachspüre, aus der Ihre gestrige Befürchtung entsprungen sein mag.“
Käthe ließ die Augen über das Haus hingleiten; sie sah wieder geklärt, lieblich und rosig aus wie eine Apfelblüthe, und um ihre Lippen zuckte es wie verhaltenes Lachen – der flechtengekrönte Kopf mit dem kindisch schelmischen Gesichte saß fast befremdend jung auf der junonischen Gestalt. Sie zeigte nach dem verhängnißvollen Eckfenster. „Vor alten Zeiten hat dort eine schöne Edelfrau gelebt –“
„Ach, die romantische Geschichte, die man sich auch in den Spinnstuben erzählt!“ unterbrach er sie. „Also das tragische Ende der Verlassenen ist’s gewesen –“
„Das nicht allein. Henriette hauptsächlich hat mir bange gemacht –“
„Henriette ist krank; ihr tief erschüttertes Nervenleben drängt ihr Denken und Empfinden aus der natürlichen Bahn. Sie aber sind gesund an Leib und Seele.“
„Ja, gewiß, aber es giebt Dinge, für die man in seiner Jugend und Unkenntniß keinen Maßstab, kein eigenes Urtheil hat –“
„Für die Liebe, zum Beispiel,“ fiel er ein, und ein rascher, scheuer Seitenblick streifte das Mädchen.
„Ja,“ bestätigte sie einfach.
Er senkte den Kopf und stieß, in tiefes Nachdenken versunken, mechanisch mit der Stockspitze gegen einen mächtigen Würfel aus Sandstein, welcher, der Hausthür gegenüber, mitten im Rasengrunde lag. Früher war er für die kleine Käthe ein wunderlicher, aber hübscher Tisch gewesen, lediglich zu dem Zwecke hingestellt, daß Kinderhände gefallenes Obst, Blumen und gesammelte Steinchen darauf legen sollten. Jetzt erkannte sie in ihm das ehemalige Postament einer Statue noch sah man den
[228] Trümmerrest eines kleinen Fußes mit zarten Zehen auf der grünmoosigen oberen Fläche.
Käthe strich mit ihrer schlanken Hand schmeichelnd über die zierliche Form. „Das ist eine Nymphe oder Muse gewesen,“ sagte sie. „Das schlanke Geschöpfchen hat schwebend, mit gehobenen Armen auf der einen Fußspitze gestanden; ich kann mir die ganze Gestalt auf der einen hochgeschwungenen Linie des Füßchens aufbauen. Vielleicht war ihr schöner Kopf seitwärts der Brücke zugewendet, und sie hat auch den Reiter über die Brücke kommen sehen, und dann die stolze Schloßfrau in der bunten Brokatschleppe –“ sie verstummte unwillkürlich und sah ihm in das Gesicht; er war offenbar weit fort mit seinen Gedanken; er hörte nicht, was sie sagte, und das, was ihn beschäftigte, war sicher sehr deprimirend; zum ersten Male sah sie in diesem edelschönen, ruhig beherrschten Antlitze einen ausgesprochen gramvollen Zug. Flora! Sie war der Fluch dieses Mannes; er ging an seiner Leidenschaft für sie zu Grunde.
Das plötzliche Schweigen des jungen Mädchens machte ihn aufblicken. „Ach ja,“ sagte er sich sichtlich zusammennehmend, „die wirthschaftlichen Leute, die lange Zeit hier gehaust, haben sich das Vergnügen gemacht, die Statuen herabzustürzen. Der ganze Garten muß mit diesen Sandsteinfiguren bevölkert gewesen sein; rings im Gebüsche finden sich noch viele Postamente. Ich werde dem Grundstücke seine ehemalige Gestalt zurückzugeben suchen. Man sieht, trotz der Verwilderung, noch deutlich den Plan, der dem Garten zu Grunde gelegen hat.“
„Dann wird es sehr hübsch und sehr vornehm hier werden, aber der Blick in’s Grüne, in diese köstliche, verwachsene Wildniß geht verloren; Ihr Arbeitszimmer –“
„Mein Arbeitszimmer wird vom nächsten October an eine liebe Freundin meiner Tante bewohnen,“ unterbrach er sie gelassen. „Ich siedle im Herbst nach L…..g über.“
Sie sah ihn bestürzt an und faltete unwillkürlich die Hände. „Nach L…..g?“ wiederholte sie. „Mein Gott, Sie wollen sich von ihr trennen? Und was sagt sie dazu?“
„Flora? Sie geht selbstverständlich mit mir,“ sagte er eiskalt, aber in seinen Augen lohte es auf wie ein schmerzlicher Zorn. „Glauben Sie, ich werde Ihre Schwester hier zurücklassen? Sie dürfen ruhig sein.“ Wie schneidend seine Stimme klang!
Käthe hatte von der Tante gesprochen, allein sie war nicht fähig, das Mißverständniß zu berichtigen; so betroffen machte sie seine Antwort – er schien seiner Sache so gewiß. „Sie waren eben in der Villa?“ fragte sie schüchtern, und doch fieberhaft gespannt.
„Nein, ich war nicht in der Villa,“ betonte er – klang es doch, als persiflire er sie, der feinfühlende Mann, der sonst nie seine Zunge zu einer Geißel des Spottes machte. „Ich bin überhaupt heute noch nicht so glücklich gewesen, Jemand von drüben zu sehen. Moritz hätte ich gern begrüßt, aber die Herren, die sich eben von ihm verabschiedeten, als ich an der Villa vorüberging, kamen so laut und heiter vom Frühstückstisch, daß ich es vorzog, unerkannt zu passiren.“
Er hatte demnach Flora heute noch nicht gesprochen, und dennoch diese Zuversicht! Es war zum Verzweifeln! Käthe wünschte sich weit weg aus diesem Dilemma – sie kam sich vor wie des Priamos unglückselige Tochter, die einzige Wissende unter den Verblendeten. Es war gut, daß in diesem Augenblicke die gezüchtigte Henne abermals unvorsichtig auf ihren erbitterten Feind losspazierte. Käthe fand dadurch einen Vorwand, das Gespräch abzubrechen; sie scheuchte das Thier über den Rasen hin in den Schuppen zurück, schloß die Thür und schob den Riegel vor.
Als sie sich wieder umdrehte, sah sie den Doctor noch neben dem Postamente stehen, aber sein Gesicht war in starrem Hinüberblicken der Brücke zugewendet. Er war blaß geworden. Sein Profil mit den hartgeschlossenen Lippen unter dem Barte erinnerte sie an jenen Moment in der Schloßmühlenstube, wo sie ihn nach der Todesart ihres Großvaters gefragt hatte; er rang mit einer heftigen inneren Bewegung. Unwillkürlich folgte sie der Richtung seines Blickes, und wenn dort der Schatten der ertrunkenen Edelfrau über den Fluß hingeschwebt wäre, sie hätte nicht entsetzter aufschrecken können, als beim Anblicke der schönen Schwester, die so graziös, so vollkommen unbefangen über den Holzbogen daherkam, als sei sie gestern Abend mit einem „fröhlichen Wiedersehen“ auf den Lippen von hier weggegangen. War es möglich? Sie glitt schlangenhaft leicht über die Stelle, auf der sie sich für frei und auf immer getrennt von dem mißachteten Manne erklärt hatte; nur Stunden waren vergangen, seit sie seinem Heim, seinem Grund und Boden mit den härtesten Ausdrücken der Verachtung für alle Zeiten den Rücken gewendet, und jetzt kehrte sie das schöne, lächelnde Gesicht der „spukhaften Spelunke“ wieder zu; ihre Füße betraten flink und zuversichtlich den Rasengrund; keine Welle zischte empor, kein Lüftchen regte sich, um ihr von Schuld, Willkür und beispiellosem Wankelmuth vorzuflüstern, und der Sonnenschein umschmeichelte und vergoldete die feingliederige Gestalt, als sei sie ihm das liebste Erdenkind.
Sie war dunkel gekleidet. Schwarze reiche Spitzenkanten lagen auf den blonden Locken; sie umwogten den schneeweißen Hals und fielen in langen Enden tief über die Schultern hinab, wie die gesenkten dunklen Flügel eines Engels der Nacht. Hinter ihr ging der Commerzienrath; er sah sehr animirt aus; er führte die Präsidentin so respectvoll am Arme, daß sich Käthe alles Ernstes besann, ob sie von seinem höhnischen Blicke am heutigen Morgen und den Auslassungen über „die alte Katze mit den Sammetpfötchen“ nicht etwa nur geträumt habe.
Der Doctor ging jetzt langsam den Kommenden entgegen, während Käthe starr, wie festgewurzelt, am Schuppen stehen blieb und unbewußt den vorgeschobenen Riegel umklammert hielt. Sie sah, wie man sich gegenseitig begrüßte, genau wie sonst auch. Nichts Außergewöhnliches war geschehen, kein böses Wort gefallen. Der Commerzienrath umarmte beglückwünschend den Doctor; die Frau Präsidentin zeigte gütig und verbindlich lächelnd ihre weißen Zahnspitzen – und Flora? Ihre Wangen erschienen allerdings momentan wie in eine lebhafte Rosengluth getaucht, und der sonst so selbstbewußte Blick irrte vom Antlitze des Doctors weg auf den Rasen nieder, aber sie streckte in gewohnter biderber Weise die Hand aus, und die Fingerspitzen wurden erfaßt, wenn auch nicht festgehalten, ganz wie neulich bei Käthe’s Ankunft, und als sich Doctor Bruck umwandte, da waren seine Züge geradezu steinern ruhig.
Schon beim Betreten des Gartens hatte Flora die junge Schwester mit einem spöttischen Kopfschütteln vom Scheitel bis zu den Fußspitzen rasch gemustert und dann eine offenbar boshaft witzige Bemerkung über die Schulter zurück dem Commerzienrath hingeworfen, jetzt aber, als sie näher getreten war, sah Käthe, daß auch etwas wie unterdrückter Aerger, ja eine Art von Feindseligkeit in ihren blinzelnden Augen aufglomm.
„Nun, Käthe? Hast Dich ja schon recht hübsch hier eingenistet,“ rief sie ihr zu. „Thust ja wirklich, als seiest Du zu Hause und trügst den Schlüsselbund zu allen Thüren und Kästen am Gürtel.“
Das junge Mädchen antwortete nicht. Sie ließ die Hand vom Riegel gleiten und wandte das Gesicht mit den strenggeschlossenen Lippen langsam der Schwester zu. Ob die Uebermüthige dort nicht erschrak, ob sie sich nicht schämte vor dem Laute der eigenen Stimme, hier auf dieser Stelle? „Mich sieht dieses Haus nie wieder,“ hatte sie gestern gerufen, und jetzt stand sie bereits auf der ersten Thürstufe, um einzutreten, um zurückzukehren in „die bedrückend armselige Umgebung“.
„Nimmst Du Flora’s Scherz übel, mein Liebling?“ fragte der Commerzienrath, rasch zu Käthe tretend. Er legte ihren Arm in den seinen. „Du kannst Dir das getrost gefallen lassen, bist Du doch auch ein reizendes Hausmütterchen. Du sahst zum Malen hübsch aus unter dem bunten Hühnervolke. Warte nur, Du sollst einen Geflügelhof bekommen, wie er sich prächtiger nicht denken läßt.“
Die Präsidentin, die eben majestätisch die Steinstufen hinaufstieg, hielt einen Moment inne, als versage ihr der Athem – sie drehte den leicht nervös zitternden Kopf verächtlich nach dem zärtlichen Vormunde zurück, dann beschleunigte sie ihre Schritte. „Hirnloser Schwätzer! Er ist und bleibt sein Lebenlang der abgeschmackte Commis Voyageur!“ murmelte sie erbittert Flora zu, die schnell das Taschentuch vor den Mund hielt, um nicht in ein lautes Gelächter auszubrechen.
Käthe ließ wie unbewußt ihre Hand auf dem Arme ihres Schwagers liegen. Sie hörte kaum, was er sagte; sie bemerkte auch nicht die seltsame Ueberraschung, mit welcher Doctor Bruck, stumm und starr wie eine Bildsäule, das Paar an sich vorüberschreiten ließ; sie sah nur, daß Flora an der schmalen Hand, die sie eben mit dem Taschentuche zum Munde führte, einen schwarzen Halbhandschuh trug; das feine durchbrochene Seidengewebe harmonirte mit den Spitzen, die über die ganze Gestalt gleichsam hinrieselten; dies machte die weiße Haut wie Elfenbein aufleuchten und ließ die Finger schlank hervortreten. Die zwei kleinen Brillantringe funkelten nicht mehr am Ringfinger, „der einfache Goldreifen, der grob wie Eisen drückte“, blinkte matt über dem Handschuh. Unmöglich! Dort rauschten ja die Wellen über ihn hin. Käthe hatte plötzlich die Empfindung, als sei sie der natürlichen Ordnung aller Dinge entrückt, als dürfe sie ihren gesunden Augen und Ohren nicht mehr trauen.
„Nun?“ fragte die Präsidentin erstaunt im Hausflur stehen bleibend; sie zeigte pikirt mit finster zusammengezogenen Brauen auf das umherstehende Geräth aus der Villa.
„Henriette hat die Entfernung der Möbel so lebhaft gewünscht, daß ich nachgeben mußte,“ sagte Doctor Bruck mit tonloser Stimme kalt und gleichgültig.
„Sie hat auch vollkommen Recht. Es war eine wunderliche Idee – nimm mir’s nicht übel, Großmama! – das Krankenzimmer dermaßen vollzustopfen,“ warf Flora achselzuckend hin. „Das arme Ding leidet ohnehin schwer an Brustbeklemmung; es mag ihr zu Muthe gewesen sein, als solle sie mit all dem dicken Polsterzeug erstickt werden.“
Die Großmama hatte eine herbe, schneidende Antwort auf den Lippen, das sah man; allein sie schwieg in Rücksicht auf den Doctor und die in der Küchenthür stehende Magd und rauschte nach dem Krankenzimmer. Beim Eintreten fuhr sie ein wenig zurück – Henriette hatte sich weit aus dem Bette geneigt. Sie sah so erschüttert aus, und ihre weitgeöffneten, glänzenden Augen hingen mit einem so verzehrenden Ausdrucke an der sich öffnenden Thür, daß die Präsidentin befürchtete, mitten in einen Fieberparoxysmus zu kommen. Sie beruhigte sich indeß sofort, als die Kranke sie in der gewohnten kühlen Weise begrüßte; sie sah auch, daß der Blick voll unaussprechlicher Spannung Flora galt, welche unmittelbar nach ihr auf die Schwelle getreten war.
Die schöne Schwester ging direct auf die Tante Diakonus zu, die sich beim Eintreten der Damen erhoben hatte, und reichte ihr so zuvorkommend die Hand, als wolle sie den Händedruck nachholen, den sie gestern Abend vergessen hatte; dann wandte sie sich nach dem Bette. „Nun, Schatz,“ sagte sie zu der Kranken, „es geht Dir ja vortrefflich, wie man hört –“
„Und Dir, Flora?“ unterbrach Henriette sie mit kaum bezähmbarer Ungeduld, während sie dem hinzutretenden Commerzienrath, ihn zerstreut begrüßend, die Hand gab.
Flora verbiß mit Mühe ein moquantes Lächeln. „Mir? Ei nun, leidlich! Die gestrige Alteration spukt mir allerdings noch in den Nerven, aber ich habe ja Willen und Selbstbeherrschung genug, um sie niederzuhalten. Gestern freilich sah es schlimm aus in mir; ich war krank; ich glaube, ich bin halb wahnwitzig gewesen vor nervöser Aufregung; wenigstens bin ich mir nicht ganz klar über mein nachheriges Thun und Lassen – was Wunder! Daniel in seiner Löwengrube ist kaum übler daran gewesen, als ich in der ungeheuerlichen Situation. Unter solchen barbarischen Fäusten –“
„Nun, davor hat Dich Käthe tapfer geschützt,“ sagte Henriette ergrimmt. „Wie ein Schild hat sie vor Dir gestanden und den Streich aufgefangen, die arme, brave Käthe! – Moritz, sie haben ihr die Kleider vom Leibe gezerrt, die Flechten von der Stirn niedergerissen –“
„Dieses wunderschöne Haar!“ fiel die Tante mit sanftem Bedauern ein und strich zärtlich über die glänzenden Wellen, die von der Stirn des jungen Mädchens zurückfielen.
„Nun ja, sie haben ihr arg mitgespielt, die Furien!“ gab Flora mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln zu, „aber ich muß mir’s denn doch ausbitten, daß ich dafür nicht allein verantwortlich gemacht werde. Ihre Manie, ewig in starrer Seide zu gehen, trägt zumeist die Schuld. Das Volk neidet uns nun einmal den Reichthum und die Eleganz; das seidene Kleid reizte die Weiber, und da hat sie denn – und leider auch wir – anhören müssen, daß ihre Großmutter barfuß gegangen und der Schloßmüller vordem Knecht gewesen ist, daß der Kornwucher ihr ganzes großes Vermögen zusammengescharrt hat, und was dergleichen liebliche Dinge mehr waren. Käthe’s Erscheinen hat unsere peinliche Situation nur verschlimmert; die Erbitterung gegen die reiche Erbin war grenzenlos – habe ich nicht Recht, Käthe?“
„Ja, Flora,“ versetzte das junge Mädchen bitterlächelnd, mit bebender Stimme. „Ich werde viel thun müssen, um einigermaßen gutzumachen, was mein Großvater an der Menschheit gesündigt hat.“
Während Flora sprach, hatte sich die Gestalt der Präsidentin förmlich gestreckt vor innerer Genugthuung. Die schonungslose Bloßlegung des „scandalösen Stammbaumes“ klang wie Musik in ihren Ohren; sie fixirte lauernd den Commerzienrath. Der neugebackene Edelmann mußte vor dem Gedanken zurückschrecken, daß das Volk mit den Fingern auf die Frau an seiner Seite zeigen und ihr Herkommen, den Ursprung ihres Geldes auf der Straße ausschreien würde. „Ach geh’, Käthe, das klingt denn doch gar zu kindlich naiv und empfindsam!“ sagte sie den Kopf hin- und herwiegend. „Wie wolltest Du denn das anfangen?“
Flora lachte. „Sie will ihren kostbaren Geldspind öffnen und die Actien unter das Volk streuen.“
„Wie Schwester Flora aus Angst um ihren tadellosen Teint gestern mit ihrer Börse gethan,“ warf Henriette beißend, in persiflirendem Tone ein; der aufwallende Groll drängte selbst das fieberhafte Verlangen, die Braut bereuend im Staube vor dem Doctor zu sehen, für einen Augenblick in den Hintergrund.
„Einer solchen Gedankenlosigkeit werde ich mich wohl nicht schuldig machen,“ sagte Käthe gelassen, aber ernst abweisend zu Flora, die sich ärgerlich über Henriettens anzügliche Bemerkung auf die Lippen biß. „Ruht Fluch und Unsegen auf dem Gelde –“
Der Commerzienrath unterbrach sie mit einem lauten Gelächter. „Kind, lasse Dir doch nicht bange machen! Unsegen! Ich sage Dir, das Glück hängt sich Deinem Erbe förmlich an die Fersen; die Gewinnantheile, die ich gegenwärtig durch ein neues glückliches Arrangement erziele, sind geradezu riesig.“
Die breiten Lider der Präsidentin, die meist mit einer gewissen vornehmen Müdigkeit die Augäpfel halb verschleierten, hoben sich bei dieser Schilderung. Das eine Wort „Gewinnantheil“ machte diese großen Augensterne gierig flimmern, wie es vielleicht kaum in ihrer Jugend das Verlangen nach Siegen ihrer Schönheit vermocht.
„Riesig?“ wiederholte sie kurz mit fliegendem Athem. „Das sind die meinen nicht. Ich will sofort verkaufen und mich an dem neuen Unternehmen betheiligen.“
„Das läßt sich leicht arrangiren, theuerste Großmama; ich werde heute noch die nöthigen Schritte thun. Ja, ja, der gemeine Mann sagt ganz richtig; wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu, und nie ist das Wort wahrer gewesen, als in unserer wunderbaren Zeit. Der Capitalist ist ein Fels, dem die Wogen von selbst ihre Schätze zuwerfen –“
„In den Augen der Ruhigdenkenden nicht, Moritz,“ sagte Doctor Bruck. Er war vorhin bei Henriettens lebhaftem Widerspruch an das Bett getreten und hatte sanft beruhigend ihre Hand zwischen die seinen genommen – so stand er noch. Er sah sehr vornehm aus; noch trug er den Frack unter dem Ueberzieher und den Handschuh an der Linken, sein schönes, bärtiges Gesicht aber, das er jetzt voll den Anwesenden zuwandte, zeigte noch schärfer den eigenthümlich leidensvollen Zug, den Käthe heute zum ersten Male bemerkt hatte. „Man ist schon seit längerer Zeit mißtrauisch,“ fuhr er fort, „und fängt an, diesen mühelosen Erwerb mit einem sehr harten Wort zu bezeichnen –“
„Schwindel willst Du sagen,“ unterbrach ihn der Commerzienrath belustigt. „Liebster Doctor, allen Respect vor Dir und Deinem Wissen, aber in kaufmännischen Dingen überlasse mir die Beurtheilung! Du bist ein ausgezeichneter Arzt, hast eben Deinen Namen zu einem weltberühmten gemacht –“
In diesem Augenblicke richtete sich Henriette aus ihrer halbzurückgesunkenen Stellung auf. „Weißt Du das, Flora?“ fragte sie heftig, wie athemlos, wie halb erstickt von dem überwältigenden Triumphgefühle.
„Freilich weiß ich’s, Du Närrchen, obgleich der Herr Doctor es bis jetzt nicht der Mühe werth gefunden hat, mir in höchsteigener Person Mittheilung von seiner glücklichen Cur in L…..g zu machen,“ antwortete Flora unbefangen und leichthin, und ihre Augen begegneten in beispielloser Herausforderung denen der Schwester. „Ich weiß auch, daß ihn plötzlich die fürstliche Gnadensonne bescheint, wie selten einen Sterblichen. Natürlich ist das noch Hof- und Staatsgeheimniß, das vorderhand nicht einmal – die Braut wissen darf.“ Ein bezaubernd schalkhaftes Lächeln ließ ihre leuchtenden, scharfen Zähne sehen, und der Rosenhauch, der bei den letzten Worten plötzlich ihre Wangen anflog, stand ihr unvergleichlich.
Henriette ließ bitter enttäuscht den Kopf in die Kissen sinken – selbst sie hatte sich in diesem chamäleonartigen Frauengeist verrechnet.
Die Präsidentin, die in der Nähe des Doctors stand, klopfte ihm mit fast zärtlicher Zuthulichkeit auf die Schulter. Als so gleichberechtigt in ihrem Verwandtenkreise hatte sie ihn bisher noch nicht behandelt. „Dürfen wir noch nichts Näheres erfahren? Sind die Präliminarien noch nicht beendet?“ fragte sie schmeichelnd mit ihrer wohllautenden Stimme.
„Er kommt ja eben vom Fürsten,“ sagte die Tante, ohne den stolz strahlenden Blick von ihm wegzuwenden.
„Ah, also ist Herrn von Bär’s Pensionirung wirklich Thatsache?“ Die alte Dame fragte das mit vornehm gleichgültiger Haltung, aber sie hielt den Athem zurück.
„Das weiß ich nicht – danach frage ich auch nicht,“ versetzte der Doctor ruhig abweisend. „Der Fürst wünscht, daß ich – so lange ich mich hier noch aufhalte – sein langjähriges Fußübel in Behandlung nehme –“
„So lange Du Dich hier noch aufhältst, Bruck?“ unterbrach ihn Flora stürmisch. „Willst Du gehen?“
„Ich werde mich mit Anfang October in L…..g habilitiren,“ versetzte er kalt; er sah sie nicht an. Sein Blick haftete auf dem knospenden Apfelbaume vor dem Fenster.
„Wie, Sie haben Stellung und Titel bei unserm Hofe ausgeschlagen?“ rief die Präsidentin und schlug die Hände in bestürztem Erstaunen zusammen.
„Der Titel ist mir nicht erlassen worden“ – ein leises, ironisches Lächeln stahl sich über sein Gesicht – „es ist jedenfalls nicht etiquettegemäß in Serenissimus’ Augen, sich von einem titellosen Heilbeflissenen herstellen zu lassen. Er besteht darauf, mich zum Hofrathe zu ernennen.“
Bei seinen letzten Worten streckte ihm die Tante Diakonus, mit einer tiefen Rührung kämpfend, die Hand entgegen, und er – sonst die scheue Zurückhaltung selbst – umschlang mit beiden Armen die zarte Gestalt der alten Frau und drückte sie fest und innig an seine Brust. Das Leid, die bittere Heimsuchung, welche diese Beiden standhaft zusammen getragen, isolirte sie in diesem Augenblicke der Sühne vollkommen vom Kreise der Umstehenden.
Flora wandte sich ab und trat geräuschvoll in das Fenster; sie nagte sich die Unterlippe fast blutig; man sah, es zuckte ihr in den Händen, die treue Frau wegzustoßen von dem Platze, den sie, die pflichtvergessene Braut, verwirkt hatte.
„Er geht ja aber fort, Tantchen,“ sagte Henriette mit ihrer heiseren, tonlosen Stimme vom Bette herüber.
„Ja, seinem Ruhme, seinem Glücke entgegen,“ antwortete die alte Frau und hob unter Thränen lächelnd den Kopf von seiner Schulter. „Ich will gern hier zurückbleiben in dem Heim, das seine Sohnesliebe mir geschaffen hat, wenn ich ihn draußen geachtet, geehrt und befriedigt durch seinen großen Beruf weiß. Meine Mission an seiner Seite ist ohnehin bald zu Ende – eine Andere tritt an meine Stelle.“ Die Zärtlichkeit wich aus ihrer Stimme; sie sprach mit tiefem Ernste, und die sonst so milden Augen hafteten fest, fast streng auf dem schönen Mädchen im Fenster. „Sie mit ihrem reichen Geiste weiß jedenfalls die Heiligkeit, aber auch die oft herben Anfechtungen seines Berufes weit lebendiger zu erfassen, als ich, und wird ihm deshalb gewiß ein Daheim schaffen, das ihm, unabhängig von den äußeren Strömungen, gleichmäßig ein harmonisch-inniges Familienleben bietet.“ Das Betonen des einen Wortes ließ Käthe deutlich erkennen, daß die Tante Flora’s gestriges häßliches Gebahren sehr wohl bemerkt und als Launenhaftigkeit aufgefaßt hatte.
„Das ist Alles recht schön und gut, meine beste Frau Diakonus, und ich zweifle auch keinen Augenblick, daß Flora eine ganz tüchtige Frau Professorin werden wird,“ sagte die Präsidentin kühl – der indirect ermahnende Ton, welchen die simple Pastorswittwe ihrer Enkelin gegenüber anzuschlagen wagte, verdroß sie sichtlich –; „allein zu einem anmuthenden Familienleben gehören heutzutage auch comfortable Räume, und das Beschaffen derselben macht mir augenblicklich große Sorge. Ich komme eben von einer erschöpfenden Berathung mit dem Möbelfabrikanten; er behauptet, nunmehr – Gott weiß aus welchem Grunde – die längst bestellten Boule-Möbel für Flora’s Salon bis zu Pfingsten absolut nicht liefern zu können. Flora hat sich währenddem mit der Wäschelieferantin herumgezankt, die auch so fabelhaft langsam ist und die Vollendung der Ausstattung erst bis Anfang Juli in Aussicht stellt. Was fangen wir an?“
„Wir warten,“ sagte Doctor Bruck in seiner einsilbigen Weise und griff nach Hut und Stock, um Beides fortzutragen.
Die Präsidentin fuhr ein wenig zusammen; sie sah ziemlich perplex aus, und eine gewisse Aengstlichkeit schlich durch ihre Züge, aber sie faßte sich rasch und klopfte ihn leicht auf die Schulter. „Das ist brav, liebster, bester Doctor! Sie helfen uns selbst aus der peinlichsten Verlegenheit, während ich mich auf berechtigten Widerspruch Ihrerseits gefaßt gemacht hatte. Diese Pfingsten waren mir fast zu einem drohenden Gespenst geworden. Sie hielten so fest an dem einmal bestimmten Tage.“
„Gewiß, allein meine Uebersiedelung nach L…..g macht eine Abänderung sogar nothwendig,“ entgegnete er gelassen und ging hinaus.
„Und was meint die Braut?“ fragte die Tante Diakonus mit ungewisser Stimme; sie war augenscheinlich sehr betreten über die geschäftsmäßig kühle Ruhe des Doctors und das plötzliche verlegene Schweigen der Anwesenden.
Flora wandte ihr ein heiter strahlendes Gesicht zu. „Mir ist die gegönnte Frist insofern hochwillkommen, als meine künftige Lebensstellung plötzlich eine so ganz andere werden wird. Da bedarf es der Vorbereitung, der inneren Sammlung und Einkehr. Mein Gott, es ist ja doch ein himmelweiter Unterschied! Von der Frau eines Universitätsprofessors mit großem Namen verlangt die Welt ein ganz anderes Auftreten, ganz andere Capacitäten, als von einer einfachen Doctorsfrau, möge ihr Mann immerhin Hofrath und Leibarzt eines Fürsten sein.“ Ein unbeschreiblicher Hochmuth sprühte förmlich aus der zarten, hoch emporgerichteten Gestalt; in jedem Worte klang innerer Jubel, mühsam unterdrücktes Frohlocken mit – sie stand auf dem Gipfel ihrer glühendsten Wünsche.
Der Commerzienrath rieb sich vergnügt die Hände. Er hätte losplatzen und ihr in das Gesicht lachen mögen; die Präsidentin aber kämpfte sichtlich mit einer ärgerlichen Aufwallung. Jetzt maßte sich wohl gar die Enkelin an, mit ihrer „Partie“ noch um so und so viel Staffeln höher zu steigen, als selbst sie, die hochgestellte fürstliche Beamtenfrau.
„Wohin versteigst Du Dich, Flora!“ rügte sie, in zorniger Mißbilligung den Kopf schüttelnd.
„In meine glänzende Zukunft, Großmama,“ antwortete sie mit einem kleinen, übermüthigen, boshaften Lächeln. Sie drehte der Präsidentin mit einer so ausdrucksvollen Geberde den Rücken, als sei sie nun mit einer unerquicklichen Vergangenheit vollkommen fertig und wolle mit keinem Worte mehr daran erinnert sein.
„Und nun ergebe ich mich Ihnen auf Gnade und Ungnade, lieb Tantchen,“ sagte sie zu der alten Frau, die jeder Bewegung der schönen Braut mit klugem, prüfendem Blicke gefolgt war. „Machen Sie mit mir, was Sie wollen! Ich unterwerfe mich Allem; nur zeigen Sie mir den Weg, auf welchem ich Leo glücklich machen kann! Ich will nähen, kochen“ – bei den letzten Worten streifte sie flink die Handschuhe ab, als wolle sie sofort Ernst machen und an den Kochherd treten. „Ah!“ stieß sie erschrocken heraus und fuhr mit der Hand, wie fangend, durch die leere Luft – der „einfache Goldreif“ war ihr beim Abziehen des Handschuhs vom Finger geglitten. Niemand hatte ihn zu Boden fallen hören; man suchte, allein es war, als habe ihn die Luft aufgesogen.
„Er wird zwischen Deine Kissen gefallen sein, Henriette,“ klagte Flora. Sie war ganz bleich geworden „Erlaube, daß wir Dich für einen Moment emporheben und nachsehen –“
„Das kann ich nicht zugeben,“ erklärte die Tante entschieden. „Henriette darf nicht beunruhigt, nicht unnöthig aus ihrer bequemen Lage gebracht werden –“
„Unnöthig!“ wiederholte Flora vorwurfsvoll und schmollend wie ein Kind. „Es ist ja mein Verlobungsring, Tantchen.“
Käthe schauderte in sich zusammen bei diesen Worten. War Flora wirklich ein solches Kind des Glückes, daß eine Art Wunder ihr den Ring wieder in die Hände zurückgespielt hatte, oder log und trog sie mit dreister Stirn so entsetzlich? Sie suchte vergebens in den ängstlich umherforschenden Augen dieser Sphinx zu lesen.
„Das ist ein fataler Zufall,“ sagte die Tante Diakonus, „aber verloren kann ja der Ring nicht sein. Wir werden ihn heute noch bei Henriettens Umbetten finden, dann soll ihn mein Dienstmädchen sofort in die Villa tragen.“
„Ich werde es ihr fürstlich vergelten; ich will ihr die Hand mit Gold füllen, wenn sie ihn mir heute Abend noch bringt,“ versicherte Flora; eine peinliche Unruhe war über sie gekommen; es kostete ihr offenbar Mühe, sich geduldig zu fügen.
Die Präsidentin und der Commerzienrath schoben sich jetzt Stühle an das Bett und nahmen Platz neben der Kranken, die sich mit keinem Worte mehr an den Verhandlungen betheiligt hatte. Nur einmal war der blonde Kopf jäh emporgetaucht, und ein bitter höhnischer Zug hatte die zum Sprechen geöffneten Lippen umzuckt. Bei der Versicherung der Großmama, daß sie nicht begreife, aus welchem Grunde der Möbelfabrikant die Ablieferung der Möbel verzögere, hatte sie hinüberrufen wollen: „Weil sie bereits halb und halb abbestellt gewesen sind.“ Aber noch zur rechten Zeit wurde sie sich bewußt, daß nun mit keinem Worte mehr an das Vergangene gerührt werden dürfe.
Die Tante ging hinaus, um einige Erfrischungen zu besorgen, und Käthe folgte ihr. Ekel und Widerwillen trieben sie aus dem Zimmer, in welchem sich eben die empörendste Komödie abgespielt hatte. Sie bat die Tante, ihr das kleine Geschäft der Bewirthung zu überlassen, und die alte Frau legte willig den Schlüsselbund in ihre Hand. „Hier, mein liebes, liebes Kind, meine treue, ehrliche Käthe,“ sagte sie weich und in so bebenden Lauten, als kämpfe sie mit einem tiefen Aufseufzen.
Sie legte den Arm um den Leib des jungen Mädchens und schmiegte sich in zärtlicher Zuneigung an die schöne Gestalt. „Mich überkömmt es wie süßes Ausruhen, wenn ich in Ihr offenes, frisches Gesicht sehen darf. Ich muß immer an Luther’s vielliebe Käthe denken, an die tapfere Frau, die stark und muthig an die Seite des streitbaren Mannes getreten ist.“ Jetzt schlüpfte in der That ein beklommener, sorgenvoller Seufzer über ihre Lippen; sie entließ das hocherröthende Mädchen aus ihren Armen und kehrte in das Krankenzimmer zurück.
Käthe holte die Kaffeebüchse und den zu Ehren des Tages gebackenen Napfkuchen aus der Speisekammer, und während die dicke, freundliche Magd frisches Holz unter den Wasserkessel legte, füllte sie die hübsche, blaue Glasschale, die schon gestern beim Thee figurirt hatte, mit Zucker und rieb den krystallenen Confectteller blank. Sie schnitt eben den Kuchen in Stücke, als sie Jemand aus dem Krankenzimmer kommen hörte. Die Küchenthür war so angelehnt, daß ein breiter Spalt blieb, und durch diese Oeffnung sah sie Flora in den Hausflur treten.
Die schöne Braut sah sich ungewiß und rathlos um; die Zimmereintheilung der „Spelunke“ war ihr ja völlig fremd, aber es war, als ob der Strahl dieser suchenden Augen den Doctor magnetisch berührt und angezogen hätte. Er trat in diesem Augenblicke aus dem Zimmer der Tante.
Flora flog auf ihn zu und breitete die Arme aus. Das lange, schwarze Kleid schleppte über den Boden hin, und die dunklen Schleierfalten wogten ihr nach, wie gelöste, offen niederfließende Haarsträhne. Mit den bleichen Händen, die sich kinderklein und schmal aus dem zurückfallenden schwarzen Spitzengekräusel streckten, mit dem mattweißen Gesicht erschien sie wie eine jener gespenstischen, schönen Frauen, die der Volksglaube aus den Gräbern steigen und mordend über junges Leben herstürzen läßt.
„Leo!“ vibrirte es wie ein Hauch, und doch klingend durch den Flur.
Käthe horchte mit stockendem Athem hoch auf – es ging ihr durch Mark und Bein. War das wirklich Flora’s Stimme? Kam dieser köstliche, innige Klang voll weicher Abbitte, voll bebender Sehnsucht wirklich von den Lippen, die so schnöde verurtheilende Worte sprechen, die so schneidend verächtlich lächeln konnten? Das junge Mädchen wandte die Augen weg und sah vor sich nieder; das Messer zitterte in ihrer Hand. Sie hätte so gern die Thür ganz geschlossen, um nicht zu sehen und nicht gesehen zu werden, aber sie fand, wunderlich genug, weder Muth noch Kraft, sich von der Stelle zu bewegen. Draußen erfolgte keine Antwort, aber auch kein Schritt wurde hörbar.
„Leo, sieh mich an!“ sagte Flora lauter, halb flehend, halb gebieterisch. „Wozu die Marter, die Deinem eigenen Herzen widerstrebt? Ich weiß es, Du kämpfst mannhaft, aber unter Schmerzen Dein heiligstes Gefühl nieder, um hart zu erscheinen, um mich zu strafen. Und wofür? Weil ich gestern halb wahnwitzig war vor Aufregung und nicht wußte, was ich that und sagte. Leo, mein Leben, das Dir gehört, war in Gefahr gewesen, noch kochte das Blut in mir, und – da reiztest Du mich auch noch.“
Käthe sah unwillkürlich empor. Neben ihr stand die Magd mit einem breiten Grinsen auf dem guten, dicken Gesichte; es war jedenfalls sehr ergötzlich, daß die Dame da draußen ihrem jungen Herrn etwas abbitten mußte. Dieser Anblick brachte augenblicklich Leben in das junge Mädchen; sie ordnete rasch die Kuchenstücke auf dem Teller, nahm ihn in die Hand und trat entschlossen in den Flur. Sie sah noch, wie der Doctor mit fest verschränkten Armen, das Gesicht von der Bittenden weggewendet, regungslos durch die offene Hausthür in die Gegend hinaus starrte; wie fahl erschienen seine braunen Wangen und wie fest und erbittert biß er die Zähne zusammen, während Flora’s unheimlich düstere Gestalt an seinem Halse hing, so weich und geschmeidig und innig fest sich anschmiegend wie der Vampyr der Volkssage.
Bei dem ziemlich lauten Geräusch der aufgestoßenen Thür fuhr der Doctor empor, und in demselben Moment traf sein scheu irrender Blick Käthe’s Augen. Als sei er auf dem schlimmsten Verbrechen betroffen, so schrak er zusammen – Flora folgte erstaunt der Richtung seines Blickes, aber die schönen Mädchenhände, die sich in seinem Nacken fest verschlungen hatten, lösten sich darum nicht. „Ach, mein Gott, es ist ja nur Käthe, Leo!“ sagte sie und drückte den Kopf fester an seine Brust.
Käthe huschte wie auf der Flucht vorüber in das Krankenzimmer. Ihr Herz schlug fast laut vor Schrecken und schamvoller Bestürzung; sie hatte eine Liebesscene à la Romeo und Julie unterbrochen. Mit bebenden Händen stellte sie den Teller auf den Tisch, lockte auf Henriettens Verlangen, die ein Attentat ihrer Lieblinge auf Kuchen und Zucker befürchtete, die umherschwirrenden Kanarienvögel in die kleine Volière und schloß hinter ihnen das Thürchen.
Da sah sie im Käfige auf dem sauberen, weißen Sande den gesuchten Goldreifen liegen; er war seltsamer Weise durch die Messingstäbe geflogen, ohne das geringste Klirren zu verursachen, und ebenso unhörbar auf der weichen Sandschicht niedergefallen. Käthe nahm ihn heraus und ließ ihn in die Tasche gleiten – und nun hätte sie wieder hinausgehen und den Kaffee fertig machen sollen, aber sie schüttelte sich fast vor Angst und Abneigung. Es war ihr, als solle sie in den Tod, in die Hölle gestoßen werden. Sie entfernte sich nicht um einen Schritt vom Tische und machte sich unnöthig mit den Kanarienvögeln zu schaffen, während die Präsidentin mit ihrer angenehmen, sanft gedämpften Stimme von Flora’s „Trousseau“ sprach und der Tante Diakonus an den Fingern herzählte, was nun infolge der Ortsveränderung noch nachbestellt werden müsse; die alte Frau durfte keinen Augenblick in Zweifel bleiben, daß ihr berühmter Neffe in der schönen Banquiertochter eine Art Prinzessin heimführe.
Käthe wurde rascher aus ihrer Pein erlöst, als sie dachte. Der Doctor trat schon nach wenigen Minuten in das Zimmer, und nun schlüpfte sie, ohne aufzusehen, an ihm vorüber. Der Flur war leer. Flora mußte in den Garten gegangen sein. In der Küche knarrte die Kaffeemühle; vielleicht hatte das mißtönende Geräusch, und nicht, wie sie vermuthet, ihr Erscheinen, die Versöhnungsscene so schnell zu Ende geführt.
Das Küchengeschäft war bald beseitigt, und während die Magd eine frische Schürze vorband, um das Kaffeebret hineinzutragen, trat Käthe in das Fenster und betrachtete den Ring, den sie unter Herzklopfen aus der Tasche gezogen. … „E. M. 1843“ stand auf der Innenseite – Ernst Mangold – es war also der Trauring von Flora’s Mutter, den sie in der Hand hielt.
Sie stand wie gelähmt vor dem Uebermaß von Frivolität, mit welchem Flora sich zu helfen und jedes Bedenken zu überwinden gewußt hatte. Das war eine jener Frauennaturen, die sich stets der augenblicklichen Situation zu bemächtigen verstehen, die bei jedem Umschwung elastisch wieder auf die Füße zu stehen kommen und mit einem kecken Ignoriren des unliebsamen Geschehenen, mit der Zuversicht des Uebermuthes die Fäden der Intrigue leise und glücklich auch an dem veränderten Terrain wieder anheften. Und das war die Schwester, vor deren weit überwiegenden Geistes- und Charaktereigenschaften ihr junges Herz demüthig gebangt hatte.
Das kleine unscheinbare Symbol der Gattentreue, das Flora’s sanfte Mutter bis an den Tod getragen, war entweiht durch das Gaukelspiel der Tochter. Es brannte Käthe zwischen den Fingerspitzen; sie hätte es am liebsten so weit von sich schleudern mögen, daß es keine Menschenhand wieder aufzufinden vermocht hätte, aber es war und blieb das ererbte Eigenthum der Schwester und mußte zurückgegeben werden.
Sie verließ sofort die Küche und trat hinaus auf die Thürstufen. Dort stand Flora am Staket und sah hinaus in das Weite. Sie wandte dem Hause den Rücken zu und hatte die Arme unter dem Busen gekreuzt, und durch die Maschen des Spitzenschleiers entlockte die Sonne dem blonden Haar ein goldenes Flimmern. Der Hofhund bellte unaufhörlich und erbost die stumme, fremde Gestalt an, und die Hühner umschritten scheu die leise rauschende Damenschleppe, die sich so lang und düster über den Rasen hinbreitete.
Das Hundegebell übertönte Käthe’s Tritte, Flora bemerkte ihr Kommen nicht eher, als bis die Schwester dicht neben ihr stand. Sie fuhr herum; ihr zarter Teint war betupft mit rothen Spuren der Aufregung; sie war offenbar in der ärgerlichsten Stimmung, und nun falteten sich die Brauen noch finsterer, und ihre Augen sprühten in ausbrechendem Zorne.
„Bist Du schon wieder da, wie ein unvermeidlicher Deus ex machina? Ungeschicktes Ding, vorhin so hereinzupoltern!“ fuhr sie Käthe in einem Tone an, als stehe nicht die stolze Erscheinung einer erwachsenen jungen Dame, sondern ein ungezogenes, boshaftes Schwesterlein vor ihr, das zeitweilig noch mit der Ruthe Bekanntschaft machen müsse.
Eine gerechte Erbitterung quoll fast unbezwingbar in Käthe empor – so fromm war ihr Naturell nicht, und so sanftmüthig floß ihr frisches Jugendblut auch nicht in den Adern, daß sie einer ungezogenen Begegnung auch noch die andere Wange hingehalten hätte, aber sie beherrschte sich. „Ich bringe den Ring,“ sagte sie kurz und kalt.
„Gieb her!“ Flora’s Züge glätteten sich; sie nahm hastig den kleinen Reifen von der hingehaltenen Handfläche und steckte ihn an den Finger. „Ich bin sehr froh, daß er wieder da ist, der Ausreißer. Es ist ein so fatales Anzeichen –“
„Du willst in dem Falle doch nicht von einem bösen Omen sprechen?“ Dem jungen Mädchen versagte fast die Stimme, angesichts dieser bodenlosen Dreistigkeit.
„Ei warum denn nicht? – Glaubst Du denn, Leute von
[247] Geist müßten nothwendig frei vom Aberglauben sein? Napoleon der Erste war abergläubisch wie eine Spittelfrau, wenn Du das noch nicht weißt, meine Kleine – und ich, ich leugne wenigstens das Omen nicht.“ Sie sah die Schwester so fest, so herausfordernd an, als wolle und werde sie mit diesem einen durchdringenden und gebieterischen Blicke jedweden selbstständigen Gedanken, ja jede unbequeme Rückerinnerung an das Vergangene in dem jugendlichen Mädchenkopfe niederzwingen. Aber sie stand vor einer unerbittlich Wahrhaftigen, der die Empörung das Blut heiß nach dem Kopfe trieb. „Du vergissest, daß du gestern Abend nicht allein dort gestanden hast,“ sagte das junge Mädchen und deutete nach der Brücke.
Flora lachte zornig auf. „Das hat Unsereins davon, wenn es sich solch ein Jüngstes nicht mindestens zehn Schritte vom Leibe hält. Das ist so die echte Backfischmanier, wichtig und vertraulich zu thun, als ob man um Gott weiß was Alles wüßte, und täppisch und tactlos immer wieder eine unangenehm klingende Saite im Menschenherzen zu berühren, die man gern vergessen möchte. Habe ich nicht schon drinnen erklärt, daß der gestrige Auftritt im Walde mein ganzes Blut- und Nervenleben so wahnsinnig aufgestürmt hatte, daß ich für Alles, was nachher geschehen ist, nicht verantwortlich gemacht werden dürfe? Meine sehr liebe Käthe, Du willst mir in Deiner unerschöpflichen Weisheit sagen, daß sich an meinen Verlobungsring überhaupt kein Omen mehr knüpfen könne, weil – nun, weil er da drüben im Flusse liege, gelt, Schatz?“ – Sie lachte abermals kurz auf. – „Wie, wenn ich nun bei aller Leidenschaftlichkeit und Sinnesverwirrung, bei allem Grolle über eine ungerechte, vorurtheilsvolle Kritik, die mir schonungslos in das Gesicht gesagt worden war, schließlich dennoch ein menschliches Rühren gespürt und mein süßes Kleinod nicht von mir geworfen hätte? Hast Du das Ringlein fallen hören, Kind? Unmöglich! Denn – hier sitzt es ja,“ sie drehte den Reifen spielend am Finger, „nachdem es vorhin wirklich Miene gemacht hat, mich freiwillig zu verlassen –“
„Weil es Dir zu weit ist. Du hast schlankere Finger als Deine verstorbene Mutter,“ fiel Käthe unerbittlich ein; sie bebte am ganzen Körper vor Entrüstung.
Flora aber fuhr mit einer Geberde empor, als wolle sie mit den Händen nach ihr stoßen. „Natter Du!“ murmelte sie ergrimmt. „Ich habe auf den ersten Blick hin gewußt, daß Deine bäurisch plumpe Gestalt einen widerwärtigen Schatten auf meinen Lebensweg werfen würde. Wie kannst Du Dich unterstehen, mir nachzuspüren, meinem Thun und Lassen wie ein Spion nachzuschleichen? Du mir? Sind das die ehrenhaften Grundsätze, welche Dir die ‚vortreffliche‘ Lukas einzupauken vorgegeben hat?“
„Meine Lukas lasse aus dem Spiele!“ sagte Käthe, diesem maßlos leidenschaftlichen Ausbruche plötzlich eine kühle, imponirende Ruhe entgegensetzend. „Daß ich so denke und handle, das hat die Erziehung nicht verschuldet; ich weiß, diese ‚ehrenhaften Grundsätze‘ stecken mir von meinem braven Vater her im Blute; ich verabscheue die Komödie im Menschenverkehre und will eher zeitlebens verstummen, als daß ich eine Lüge gut heiße. Bist Du gewohnt, Deine Umgebung mit einem so kühnen Vorgehen zu verblüffen und dermaßen einzuschüchtern, daß sie zu Deinem falschen Spiele stillschweigt, so glückt Dir das bei mir nicht, so jung und so wenig weltgewandt ich auch noch sein mag. Ich lasse mich nicht verwirren – ich habe gesunde Augen und ein starkes Gedächtniß –“
„Ei, das sind allerdings robuste Naturgaben, vor denen ein anderes Menschenkind mit seinen fein nüancirten inneren Regungen und Antrieben freilich nicht aufkommen kann,“ rief Flora. Sie hatte, während Käthe sprach, einige Male Miene gemacht, ironisch lachend zu gehen und den „moralisirenden Backfisch“ stehen zu lassen; sie hatte die Hände geballt, sich auf die Lippen gebissen und erbarmungslos das spärliche Grün von den saftstrotzenden Zweigen eines Busches gezupft – aber gegangen war sie doch nicht, und jetzt sprach sie so überlegen und gefaßt, als habe sie nicht einen Augenblick das innere Gleichgewicht verloren. „Ob Du mich verstehen wirst, Kind?“ – sie zuckte die Achseln – „ich glaube es kaum. Du hältst Deinen langweiligen Maßstab der sogenannten Moral mit kindlicher Gläubigkeit fest und missest die Seelen daran, wie der Krämer die bestimmte Ellenzahl, gleichviel, ob das Zeug grob oder fein, grün oder roth ist, aber ich will mich bemühen, deutlich zu werden.“
Sie trat einen Schritt näher, sodaß die junge Schwester ihren balsamischen Athem wehen fühlte. „Nun ja, Du hast Recht,“ sagte sie gedämpft, und ließ einen raschen Seitenblick über die Fensterreihe des Hauses hinfliegen, „mein Verlobungsring liegt dort im Flusse. Ich habe ihn von mir geworfen in einem Anfalle höchster Verzweiflung, mit dem Gefühle unaussprechlichen Ekels vor dem Leben der Armseligkeit an Bruck’s Seite. Mädchen Deines Schlages werden das freilich nicht begreifen. Ihr wählt Euch den Mann, je nachdem er sein Auskommen, eine einnehmende Gestalt und – einen hübschen Bart hat, und ist das ‚Ja‘ einmal gesprochen, dann geht Ihr mit ihm durch Dick und Dünn, und das ist ja auch ganz brav; solche Mädchen werden rechtschaffene Mütter wohlerzogener Söhne; sie hocken im heimischen Neste und schließen furchtsam und demüthig die Augen, wenn ein Adler vor ihnen in die schwindelnde Höhe steigt. Zu einem solchen Adler aber geselle ich mich; da, wohin er sich versteigt, weht meine Lebensluft; ich halte mich an seiner Seite; ich jauchze ihm zu und ermuthige ihn in seinem stolzen Fluge –“
„Um ihn, wenn ein heimtückischer Schuß seine Flügel lähmt, für eine Krähe zu erklären und ihn feige zu verlassen,“ fiel Käthe ein – dieser Einwurf brandmarkte mit wenigen Worten den ganzen schamlosen Verrath der selbstsüchtigen Schwester, und die ihn ausgesprochen, sie stand da mit untergeschlagenen Armen, die verkörperte ernstzürnende, in ihren Gefühlen tiefverletzte Weiblichkeit. „Und wenn Du noch gegangen wärest, verstohlen und schweigend, wie es doch sonst die Art der Treulosigkeit ist, aber Du hast erst noch dem bittersten Hasse Luft gemacht, hast Dich an dieser Stelle für die Verrathene, Betrogene erklärt, und jetzt stehst Du wieder auf dem mißachteten Boden –“
„Als Bruck’s vergötterte Braut, die erst einem schweren Irrthume verfallen mußte, bis sie die ganze Größe des ihr bestimmten Glückes einzusehen vermochte,“ ergänzte Flora mit triumphirendem Hohne. Sie maß die Schwester von unten bis oben mit einem boshaft funkelnden Blicke. „Schau, Du kannst ja auch ganz allerliebst impertinent sein, Kleine! Ich bin förmlich frappirt von der hübschen Wendung, die Du vorhin meinem Gleichnisse gegeben hast. … Ei nun ja, eine ganz respectable Dosis bürgerlichen Hausverstandes ist Dir ja nicht abzusprechen, aber sie reicht gerade so weit, um die Ausbrüche einer genialen Natur, einer Feuerseele mißzuverstehen – was weißt Du von einem psychologischen Räthsel! Hätte ich gestern von abtrünniger Freundschaft gesprochen, dann hättest Du Recht, Dich über meine plötzliche innere Wandlung zu scandalisiren und sie für Komödie zu halten, denn aus Freundschaft wird niemals Liebesleidenschaft, wohl aber liegen Haß und Liebe in der Menschenseele eng zusammen; sie entzünden sich an einander, und dem glühend gezeigten Hasse liegt oft ein Uebermaß von Liebe zu Grunde. Ihr, mit Eurem stumpfen Gefühle, fasset das freilich nicht. Ihr kocht dem beleidigten Manne ein Lieblingsessen, um ihn zu versöhnen, während eine Natur wie die meine in eclatanter Sühne für ihn ein Verbrechen begehen, für ihn den Tod erleiden kann.“
Sie legte ihre geballte Rechte unter den Busen, als drücke sie sich bereits ein Stilet in das Herz. „Und nun lasse Dir sagen: Nie habe ich Bruck leidenschaftlicher, hingebender geliebt, als seit ich weiß, daß er wie ein Märtyrer gelitten, wie ein Held geschwiegen hat, seit ich mir sagen muß, daß ich ihn tödtlich gekränkt habe, aber auch noch nie“ – sie erfaßte plötzlich Käthe’s Hand und zog sie an sich, und die schmalen Finger, die sich um das warme, blühende Fleisch des jungen Mädchens klammerten, waren kühl wie der Zugwind, der jetzt vom Wasser herkam – „noch nie,“ flüsterte sie Käthe in’s Ohr, „war ich so glühend eifersüchtig. Merke Dir das, mein Kind! … Hier ist mein Revier. Und wenn mir auch nichts ferner liegt, als Dich für gefährlich zu halten – Du bist ihm durchaus nicht sympathisch, das habe ich längst gemerkt, auch hat er ja bis in alle Ewigkeit nur Aug’ und Ohr für mich – so bin ich doch nicht gewohnt, irgend ein Menschenkind neben mir zu dulden, das so absichtlich die Angenehme spielt. Dein ‚hausmütterliches‘ Schalten und Walten hier, Dein ungenirtes Kommen und Gehen in diesem Hause gefällt mir nicht. Du wirst das in Zukunft bleiben lassen – verstanden, Schatz?“
Das hieß deutlich und energisch gesprochen, und nun faltete sie ihre rauschende Schleppe zusammen und schritt so eilig dem Hause zu, als wolle sie jede Erwiderung abschneiden – ein ganz überflüssiges Manöver, denn das junge Mädchen hatte die blaßgewordenen Lippen fest geschlossen. Auf ein solch gerüttelt volles Maß des Uebermuthes, der Willkür und der beispiellosesten Doppelzüngigkeit hatte die ehrliche, unverdorbene Jugend keine Antwort.
Es war im Mai. Die Bäume hatten bereits ihren Blüthenschnee wieder von sich geschüttelt, und der prachtvolle, krokusbesäumte Hyacinthenflor, der sich, Aufsehen erregend, über das weite Rasenparterre vor der Villa Baumgarten hingebreitet, war längst verblüht. Dafür färbten sich die Dolden der Syringenbüsche weiß und lila; das glänzende Kettengeschmeide des Goldregens schaukelte halbentfaltet an den Zweigen; aus den Blätterbüscheln der Rosenbäume streckten sich die spitzen, grünen Fühlfäden der ersten Knöspchen, und der Schatten auf den Zickzackwegen der Boscage und in der alte Lindenallee wurde intensiver. Der Fluß brauste wieder klarwellig durch die grünen Guirlanden seines Ufergebüsches, und über das alte, liebe Haus hinter ihm flocht sich ein maienduftiges Gewebe, das mit jedem neuen Morgen weniger von den weißen Mauern sehen ließ – die dicken, kräftigen Weinstöcke trieben ihre safttropfenden Ranken bis unter das vorspringende Dach hinauf.
Das Fremdenzimmer stand wieder leer. Henriette war längst in die Villa übergesiedelt; sie hatte sich scheinbar wieder erholt, ja, es schien sogar ein momentaner Stillstand in ihrer Krankheit eingetreten zu sein, und diese Wohlthat schrieb die Tante Diakonus einzig und allein Käthe’s Pflege zu. Die beiden Schwestern führten in der Beletage ein reiches, isolirtes Zusammenleben, das einen wunderbaren Reiz erhalten hatte, seit der neue Flügel in Käthe’s Zimmer stand. Aber nicht allein die Pflege der Schwester, auch der intime Verkehr mit der Tante hatte günstig auf Henriette eingewirkt; sie war in dem einfachen, gemüthlichen Fremdenzimmer anders geworden in ihren Lebensansichten und Lebensgewohnheiten – die Stille eines zurückgezogenen Lebens, die sie früher wie ein Gespenst geflohen, heimelte sie jetzt an, und sie blieb ruhig und wunschlos, mochte auch unter ihren Füßen der Gesellschaftstrubel noch so geräuschvoll werden.
Das Haus des Commerzienrathes aber war nie geselliger gewesen, als gerade jetzt, nachdem sein Besitzer geadelt worden. Es fanden sich manche neue, sehr willkommene Elemente ein, denen zu Ehren verschiedene Festivitäten arrangirt werden mußten, und darin waren die Erfindungsgabe der Präsidentin und die Börse des Commerzienrathes unerschöpflich. Der Mann hatte ein wunderbares Glück. Nie hörte man von einem Verluste, von einem Mißlingen; wo die Wünschelruthe seines Geschäftsgenies einschlug, da sprudelte die Goldquelle – man schätzte ihn nach Millionen. Und er verstand es, wie selten ein Glückskind, die neue Glorie der Auszeichnung vor so vielen anderen Erdgeborenen zu tragen, sie interessant und zum nie versiechenden Gesprächsthema für Hoch und Niedrig zu machen. Die Promenade vor der Villa Baumgarten war zur fashionablesten geworden; man zeigte die herrliche Besitzung, die sich Tag für Tag verschönerte, den Fremden; man sprach von den kostbaren Gemälden und Sculpturwerken, von den seltenen Sammlungen, die der Commerzienrath unablässig hinter den marmorverzierten Wänden aufspeicherte, von der Silberkammer, mit der sich die des fürstlichen Hofes kaum messen könne; man blieb gefesselt stehen, wenn eine seiner Equipagen vor dem Portale hielt, und wunderte sich, daß die leichten, aufstiebenden Wölkchen, die der trockene Frühlingswind von den Sandwegen über den Rasen hinstreute, nicht Goldstaub waren.
Es wurde fortwährend gebaut; ganze Strecken des Parkes waren deshalb kaum mehr zu passiren. Man schritt an aufgethürmten Quadern und schneeweißen Marmorblöcken hin, die beim Bau und der Einrichtung neuer Pferdeställe verwendet wurden – die alten, sehr geräumigen waren der Passion des Commerzienrathes für schöne Pferde längst zu eng geworden. Große Berge ausgegrabenen Erdreichs versperrten die Wege – für den sehr umfangreichen See, dem diese Massen Platz machen sollten, war das Terrain nicht günstig; er und das Palmenhaus, eine beabsichtigte Merkwürdigkeit für die Residenz, verschlangen Unsummen. Zu alledem erschien eines Tages auch noch eine Anzahl Bauhandwerker und machte sich an einem hübschen, großen Pavillon zu schaffen, der bis dahin unbenutzt und verschlossen gestanden hatte. Er lag eine ziemliche Strecke von der Villa entfernt, im Dickicht, aber von seinen oberen Fenstern aus hatte man doch den Blick auf die Promenade und die Stadt. Das zierliche Haus erhielt einen eleganten Anbau; es wurden neue Fenster mit ungebrochenen Scheiben eingesetzt, und dann und wann zog der Commerzienrath Tapetenproben oder Zeichnungen für das Parquet aus der Tasche und bat die Präsidentin, auszuwählen. Sie wurde zwar jedes Mal sehr spitz und ungnädig, und Flora kicherte in das Taschentuch, aber wählen mußte die alte Dame doch, und wenn sie auch dabei versicherte, daß die Ausbesserung der alten Baracke sie ganz und gar nicht interessire, daß sie zeitlebens übergenug für die Instandhaltung der Villa zu denken und zu sorgen habe, und sich nicht auch noch um das „Logirhaus“ fremder Geschäftsfreunde kümmern könne, welches sie doch niemals mit einem Fuße betreten werde. Sie ignorirte denn auch den Neubau, trotz des beharrlich fortgesetzten und stets herüberklingenden Hämmerns und Pochens, wie nur je die herrschsüchtige Gemahlin eines Regierenden ihren zukünftigen Wittwensitz ignoriren kann.
Zwischen diesem Trubel, diesem hastigen Beginnen und Vollenden aber kam und ging der Commerzienrath wie ein Zugvogel. Er verreiste sehr oft in Geschäften, aber nur noch für kurze Zeit, wie er manchmal sagte, dann wollte er sich ein schönes Rittergut kaufen und Landedelmann werden. Hatte er aber einmal „ein paar Erholungstage“, dann war er sehr viel in der Beletage; den Nachmittagskaffee trank er regelmäßig droben, zum großen Aerger der Präsidentin, die dadurch ihr Lieblingsstündchen im Wintergarten verlor – sie war selbstverständlich viel zu aufmerksam, um „den lieben Moritz“ bei der verdrießlichen Kranken und dem jungen Backfisch allein zu lassen, und brachte das Opfer, stets fast zugleich mit ihm zu erscheinen.
Käthe war das sehr erwünscht; sie empfand nun einmal eine unüberwindliche, beklemmende Scheu vor dem Schwager und Vormunde, seit er sich so wunderlich zuvorkommend und zärtlich ihr gegenüber und dabei so falsch, so heimtückisch bei äußerlich unveränderter Liebenswürdigkeit gegen die Präsidentin zeigte. Sie nahm unwillkürlich die befangene Zurückhaltung der erwachsenen Dame an, wo sie sich früher harmlos kindlich gezeigt hatte. Aber gerade das schien ihn zu belustigen und in seiner seltsamen Art zu bestärken. Er las ihr ihre Wünsche von den Augen ab; er hatte längst seine Einwilligung gegeben, daß der unbenutzte Theil des Mühlengartens an die Arbeiter verkauft werde – nie setzte er dem Wohlthätigkeitssinne des jungen Mädchens irgendwie Schranken, und war ihre Börse auch noch so oft leer, er füllte sie ohne Widerrede. „Du darfst Dir den Spaß schon erlauben, Käthe – ich werde bald einen zweiten Eisenspind anschaffen müssen,“ sagte er dabei im Hinblick auf das staunenswerthe Anwachsen des Capitals. Sie nahm eine solche Aeußerung stets mit finsterem Schweigen auf – er hatte auf ihre ernsten Fragen mit all’ seinen diplomatischen Wendungen und Finessen die Anklage des Volkes, daß ihr Reichthum auf erbarmungslose Weise erwuchert sei, nicht widerlegen können, auch ließ die Präsidentin keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie diesen Vorwurf begründen konnte – das kindlich naive Ergötzen, mit welchem Käthe es früher „so über alle Maßen hübsch“ gefunden, reich zu sein, hatte sich in eine Art von Furcht und Angst vor den Geldmassen verwandelt, die so riesig, auf so dämonenhafte Weise anschwollen, als müßten sie eines Tages in gerechter Vergeltung erdrückend über sie herstürzen.
Sie war überhaupt ernster geworden; das sonnige Lächeln, das ihr erregbares, heiteres Temperament sonst so oft und rasch über ihre Züge hinfliegen ließ, zeigte sich nur selten. So recht herzensfreudig war sie nur noch im Hause am Flusse, und auch da nur in gewissen Stunden. Die Tante Diakonus unterrichtete nämlich seit lange eine Anzahl bedürftiger Kinder unentgeltlich im Nähen und Stricken – das geschah Jahr aus, Jahr ein an den Mittwoch- und Sonnabendnachmittagen. In diesen kleinen Kreis hatte sich Käthe mit der freudigen Bewilligung der alten Frau eingeschmuggelt. Der Umgang mit Kindern war ihr völlig neu und machte Saiten in ihrer Seele erklingen, die sie bis dahin nicht geahnt hatte – es war die zärtlichste Hinneigung zu den kleinen Geschöpfen und die plötzliche Erkenntniß, daß sie im Grunde ihres Herzens den Beruf, die jungen Wesen an Leib und Seele zu stützen, sie kräftig und gesund zu erhalten und bildend auf sie einzuwirken, jedem anderen weit vorziehe.
Sie kleidete die Kinder, wo es noth that – in ihrem Nähkorb lag stets ein angefangenes Röckchen oder Schürzchen; sie sorgte – was die Tante Diakonus nicht hatte ermöglichen können – nun auch für ein reichliches Vesperbrod während der Unterrichtsstunden, und eine wahre Augenweide war es für die alte Frau, wenn das junge Mädchen mit dem Korb voll Obst und Brödchen erschien und mit wahrhaft mütterlicher Würde an den schönsten, rothbackigen Apfel eine Belohnung zu knüpfen wußte. Für den Sommer verlegte die Tante den Unterricht in den Garten; die Kinder, meist in den engsten und dumpfesten Straßen der Stadt wohnend, sollten nun auch die Wohlthat genießen, sich in reiner, gesunder Luft auf dem Rasen, unter schattigen Obstbäumen, tummeln zu dürfen. Käthe hatte zu dem Zweck hübsche, tragbare Bänke angeschafft, zugleich aber auch eine Anzahl Bälle und Reifen für die Spiel- und Erholungsstunde, die sich nunmehr an die Unterrichtszeit anschloß.
Flora war tieferbittert über diesen Verkehr, der sie, ihrer Meinung nach, in ihren Rechten, ihrer Beziehung zu der Tante beeinträchtigte, aber sie war klug genug, das im Haus am Flusse nicht verlauten zu lassen – man kam ja bei „der Alten“ stets so schlecht an, wenn man „das große Mädchen mit der Plebejerröthe auf dem Sommerschen Gesicht nicht für eine wahre Musterkarte aller erdenklichen Tugenden hielt“. Die schöne Braut kam auch täglich in das Haus; sie hatte sich weiße, mit Stickerei garnirte Latzschürzchen dutzendweise machen lassen und erschien nie ohne diesen häuslichen Schmuck, der ihr allerliebst stand. Den Vorwurf konnte man ihr nicht machen, daß sie nicht Alles aufgeboten hätte, den Beifall der Tante Diakonus zu erringen. Sie setzte ihr zartes Gesicht der Gluth des Küchenfeuers aus, um Pfannkuchen backen zu lernen; sie ließ sich über das Einmachen der Obstfrüchte und Gemüse, über die Behandlung der Wäsche belehren und nahm wohl auch einmal der Magd das Bügeleisen aus der Hand, um versuchsweise ein Stück Hauswäsche zu plätten, allein so groß auch das Opfer war, das damit gebracht wurde, es vermochte nicht, die alte Frau aus der überaus höflichen, aber doch sehr reservirten Haltung, die sie seit jenem unheilvollen Abend angenommen, herauszulocken – es war, als ob sie genau wisse, daß Flora nach dergleichen Anstrengungen wie zu Tode erschöpft in ihr Ankleidezimmer wankte, dort die Schürze mit einer halbunterdrückten Verwünschung in die Ecke schleuderte, und sich dann zur Erholung meist in den Wagen warf, um die Runde bei den Freundinnen zu machen, deren schwer zu verbergender Neid eine unerschöpfliche Quelle der Genugthuung für sie war. Diese Freundinnen behaupteten einstimmig, die Frau Universitäts-Professorin in spe liege mit ihren bauschenden Falbeln wie ein radschlagender Pfau im Coupé, und ihr Uebermuth sei kaum noch zu ertragen.
Der jähe Umschwung in Doctor Bruck’s Carrière wurde noch immer wie ein Wunder angestaunt. Daß der zuvor kaum noch mitleidig über die Achsel angesehene, so hart verurtheilte und verfehmte junge Arzt plötzlich als fürstlicher Hofrath durch die Straßen der Residenz schritt, konnte Mancher nur schwer begreifen. Der Mann wuchs nun in den Augen des Publicums und der gesammten Hofgesellschaft himmelhoch, und weil er durch seine Uebersiedelung nach L…..g für die Zukunft unerreichbar wurde, so wollte jeder Leidende womöglich noch von ihm hergestellt sein. So kam es, daß Doctor Bruck auf einmal mit einer kaum zu bewältigenden Praxis förmlich überbürdet war. Sein angefangenes Manuscript blieb unberührt auf dem Schreibtisch liegen; er schlief in der Stadtwohnung, aß meist eilig im Hotel, das angebotene Couvert im Hause des Commerzienrathes consequent ablehnend, und mußte die flüchtige Besuchszeit in der Villa und bei der Tante Diakonus, wie er sich ausdrückte, seinen Patienten abstehlen.
Käthe sah ihn nicht oft, und deshalb fiel es ihr um so mehr auf, wie sehr er sich verändert habe – jedenfalls in Folge der Anstrengung, meinte sie. Er sah bleich und ermüdet aus, und sein früher wohl zurückhaltendes, nachdenklich stilles, aber überaus mildes Wesen war einer finsteren Verschlossenheit gewichen. Mit Käthe hatte er seit jenem Moment, wo sie ihn, von Flora’s Armen umstrickt, im Flur überrascht hatte, kaum zwei Worte gewechselt, und zwar in so scheuer, schnell abbrechender Weise, daß sie sich nicht verhehlen konnte, er zürne ihr ihres damaligen unwillkommenen Erscheinens wegen. Sie ging ihm deshalb auch verletzt, mit einem Gemisch von Trotz und Verlegenheit aus dem Wege, wo sie nur konnte.
In seinem Verhalten zu Flora dagegen war nicht die leiseste Wandlung eingetreten; er war genau ein so ernster, würdevoller Bräutigam, wie an dem Tage, wo Käthe die Verlobten zum ersten Male zusammen gesehen. Sie mußte manchmal denken, der ganze entsetzliche Auftritt im Fremdenzimmer der Tante Diakonus sei entweder ein toller Spuk ihrer eigenen Phantasie gewesen, oder Doctor Bruck müsse vergessen und unliebsame Erinnerungen in seinem Gedächtnisse so spurlos auslöschen können, wie selten ein Mensch. Flora mochte freilich erwartet haben, daß mit ihrer Bitte um Verzeihung, mit ihrer offen an den Tag gelegten Reue sofort wieder jenes schöne, innige Verhältniß eintreten werde, wie es zu Anfang ihrer Brautschaft bestanden. Mußte er nicht, bei seiner unzerstörbaren Leidenschaft für sie, namenlos glücklich sein, sie nun unwiderruflich besitzen zu dürfen? Vielleicht barg er tief innen dieses Glück, aber zeigte es nur nicht, und seine schöne Braut tröstete sich mit dem Gedanken, daß ein Mann wie Bruck allerdings nicht so rasch versöhnlich sein dürfe; wußte sie doch, daß mit der Hochzeit, die nunmehr für den September festgesetzt worden war, Alles anders werden müsse.
Mittlerweile war der 20. Mai, Flora’s Geburtstag, herangekommen. Auf allen Tischen ihres Zimmers dufteten Blumen, welche die guten Freundinnen herkömmlicher Weise gebracht hatten. Auch die Fürstin hatte der Braut des Hofraths, welcher mit Gnadenbeweisen förmlich überschüttet wurde, ein prachtvolles Bouquet geschickt, und von den „stolzesten Granden“ des Hofes waren Glückwünsche in der schmeichelhaftesten Form eingelaufen. Ja, es war ein Tag des Triumphes für die schöne Braut, ein Tag, an welchem sie wieder einmal so recht bestärkt wurde in ihrer felsenfesten Ueberzeugung, daß sie wirklich ein Liebling der Götter, eine für einen auserwählten Lebensweg Geborene sei.
Und doch lag ein leichter Schatten auf ihrer Stirn, und sie runzelte öfter ungeduldig und ärgerlich die Brauen. Auf dem Tische inmitten des Zimmers, zwischen den Gaben der Großmama und der Schwestern, stand eine hübsche Tischuhr von schwarzem Marmor; Doctor Bruck hatte sie am frühen Morgen mit einem begleitenden Glückwunschbillet geschickt und sich für die Vormittagsstunden wegen seines Nichterscheinens entschuldigt, da er einen Schwerkranken vorläufig nicht verlassen dürfe.
„Ich begreife Leo nicht, daß er nichts Hübscheres für mich zu finden gewußt hat, als das steinerne Unding da,“ sagte sie, verdrießlich auf die Uhr zeigend, zu der Präsidentin, die das Bouquet der Fürstin aus der Vase genommen hatte und unablässig daran roch, als müsse es einen ganz besonderen Duft ausströmen. „Ein schwarzes Geburtstagsgeschenk giebt man doch nicht gern; ich für meinen Theil finde es zum Mindesten geschmacklos.“
„Die Uhr ist vollkommen passend, gerade in Deinem Geschmacke gewählt, Flora; sie soll jedenfalls das wunderlich tiefsinnige Arrangement dieses Zimmers vervollständigen,“ sagte Henriette. Sie lag auf dem rothen Ruhebette und streifte mit einem spöttischen Blicke die schwarzen Säulenstücke in den vier Zimmerecken.
„Unsinn! Du weißt so gut wie ich, daß ich diese Einrichtung nicht mitnehmen kann. Moritz hat das Zimmer nach meiner speciellen Angabe eingerichtet, wie es ist, aber geschenkt hat er mir meines Wissens weder Möbel noch Ausschmückung. Ich möchte den Kram auch um Alles nicht mitschleppen; man sieht sich ebenso satt und müde an einer stereotypen Zimmereinrichtung, wie an einer oft getragenen Toilette. Was in aller Welt soll ich nun mit der schwarzen Figur da in meinem L…..ger Boudoir anfangen, das lila decorirt und mit Bronzegeräth geschmückt sein wird?“
„Ein frisches Bouquet wäre mir auch lieber gewesen, aber Du bist ja nicht sentimental, Flora,“ meinte Henriette, nicht ohne einen boshaften Anflug in der Stimme. Käthe aber, heute zum ersten Male schneeweiß gekleidet, stand neben einem herrlich entwickelten Myrthenbaume, welchen die Tante Diakonus selbst gezogen und herüber geschickt hatte, und ließ die Hand mit einem wehmüthigen Lächeln wie schmeichelnd über die feinblättrigen, biegsamen Zweige gleiten. Niemand beachtete das selten schöne Geschenk, dessen Hingabe jedenfalls ein schweres inneres Opfer gekostet hatte.
Nach Tische hielt man sich im Balcon- und Empfangszimmer auf, weil immer noch Gratulanten kamen und gingen. Sämmtliche Thüren der Zimmerreihe waren zurückgeschlagen; es war ein herrlicher Aufenthalt, dieses untere Stockwerk. Durch das vergoldete Bronzegitter des Balcons zogen weiche Lüfte, die den Duft vom jungen Lindenlaube der Allee und aus den halboffenen Blüthenknospen der Boscage herübertrugen, und in die hohen Fenster fiel das goldene Maienlicht; nur dem dunkelpurpurnen Zimmer vermochte es keinen Reflex abzulocken, das sah grämlich und kalt aus wie immer, und dem weichen Gefühle mußte der aufgehäufte Reichthum lebender Blumen zwischen diesen vier Wänden geradezu grausam erscheinen.
Henriette lag in einem Schaukelstuhle, der offenen Balconthür gegenüber. Sie hatte auch gern „maienhaft wie Käthe“ aussehen wollen und ihr hageres Figürchen in eine ganze Wolke weißer Mullgarnirungen gesteckt, aber fröstelnd hüllte sie den Oberkörper in einen weichen Shawl von gesticktem Crêpe de Chine, und darüber her wogte aufgelöst ihr reiches, blondes Haar, das sie seit dem letzten schweren Leidensanfalle nicht mehr aufnestelte. So still liegend und vom halbgedämpften Sonnenlichte überspielt, mit den weitoffenen, blauglänzenden und schwarzbewimperten Augen, der kalkweißen Haut, die nur in der Nähe der zarten Schläfen ein fieberhaft rother Anhauch betupfte, sah sie heute aus wie ein Wachspüppchen. Sie hatte Käthe an den Flügel im Musiksalon geschickt und wartete nun mit in den Schooß gefalteten Händen auf den Anfang des Schubert’schen Liedes „Lob der Thränen“. Da verdunkelten sich plötzlich die Fieberflecken auf dem schmalen Gesichtchen zum tiefsten Carmin, und die verschränkten Hände fuhren unwillkürlich nach dem Herzen – Doctor Bruck trat in den Salon.
Flora flog ihm entgegen und hing sich an seinen Arm. Sie ließ ihm kaum Zeit, die Anderen zu begrüßen, und zog ihn in ihr Zimmer, damit er ihre Geburtstagsgeschenke ansehe. Die schöne Dame, die so lange ihrem ganzen Thun und Lassen den Stempel der Gelehrsamkeit, der ernstgrübelnden Forschung aufzudrücken verstanden, zeigte heute, an ihrem neunundzwanzigsten Geburtstage, die naive Grazie einer Sechszehnjährigen, und in dieser Wandlung war sie mit ihrem lieblich belebten Gesicht und dem weichen Spiel der schlanken, biegsamen Glieder auch wirklich jugendlich reizend.
Käthe stand am Notenschrank und suchte nach dem begehrten Lied, als das Brautpaar hinter ihr weg nach Flora’s Zimmer schritt; sie sah sich nur flüchtig um, wobei sie einen halbverlegenen Gruß vom Doctor erhielt, und suchte dann um so emsiger.
„Sieh, Leo, mit dem heutigen Tage schließe ich die Vergangenheit ab, in der ich so schwer geirrt und mich nahezu um mein Lebensglück gebracht hätte,“ sagte Flora drüben mit unwiderstehlich süßer Stimme, während Käthe einen dicken Notenstoß aus dem Schranke hob. „Ich will die Erinnerung an jenen schlimmen Abend nicht wieder wachrufen, wo ich alle Herrschaft über mich verloren und in der Aufregung und Gereiztheit Aussprüche gethan habe, um die meine Seele, mein Herz selbst nicht wußten, aber um der Wahrheit willen, und weil ich mir doch das selbst schuldig bin, muß ich Dir sagen, daß auch Du damals geirrt hast, was Dein absprechendes Urtheil betrifft. Es war nicht der Trieb, mich hervorzuthun, der mich der Schriftstellerei zugeführt hat, sondern in der That die Begabung – deutlich gesagt – der Genius. Frage mich nicht weiter! Ich kann Dir nur versichern, daß ich meinen Weg gemacht haben würde, und zwar durch mein Werk ‚Die Frauen‘, das Du ja nicht kennst. Es ist nach Aussprüchen von competenter Seite wohl geeignet, meinen Namen rühmend in alle Welt hinauszutragen, aber wie könnte es mir jetzt wohl noch einfallen, an Deiner Seite meinen eigenen Weg zu gehen und meine speciellen Fähigkeiten geltend machen zu wollen? Nein, Leo, ich werde mich einzig und allein in Deinem Ruhme sonnen, wie es der Frau ziemt, und damit mir auch in Zukunft die Versuchung nie wieder nahe tritt, müssen diese Blätter, das Resultat emsigen Studiums und des poetischen Quells, der nun einmal in meiner Seele quillt und sprudelt, aus der Welt verschwinden.“
Käthe umschritt in diesem Augenblick, das endlich gefundene Notenblatt in der Hand, den Flügel. Sie sah, wie Flora das Manuscript mit einigen Streichhölzchen entzündete und es auflodernd in den Kamin warf. Die schöne Braut wandte dabei den Kopf nach der Fensterseite zurück, wo jedenfalls der Doctor stand; vielleicht wünschte sie, er möchte den Versuch machen, sie in ihrem Beginnen zu hindern, allein kein Schritt wurde hörbar; keine rettende Hand streckte sich aus, um das „kostbare“ Brennmaterial den Flammen zu entreißen. Der Brandgeruch, den der Frühlingswind in das Zimmer zurücktrieb, wehte in den Musiksalon, und während Flora mit fest eingeklemmter Unterlippe und seltsam glimmenden Augen vom Kamin zurücktrat, nahm Käthe hastig den Platz am Flügel ein und begann sofort die Liszt’sche Phantasie über das „Lob der Thränen“.
Käthe wollte Bruck’s Antwort nicht hören, denn es war ihr schrecklich, stets unfreiwillige Zeugin der Scenen zwischen den Verlobten zu sein – Bruck mußte sie zuletzt hassen. Aber sie war namenlos empört über die abermalige Komödie, die sich eben wieder vor ihren Augen abgespielt. Das abgegriffene, wandermüde Manuscript, das aus seinen „Zickzackwegen durch die Welt“ von competenter Seite wiederholt als nicht brauchbar zurückgeschickt worden war, es hatte die Rolle eines thränenwerthen Opfers spielen müssen, das die Seelengröße, die hehre Selbstüberwindung eines hochbegabten, sich und ihren Genius verleugnenden Weibes dem strengen Herrn und Gebieter brachte.
Es wurde drüben gesprochen. Käthe hörte durch die Melodie, welche ihre Hände energischer als sonst den Tasten entlockten, die ernste, unbewegte Stimme des Doctors, aber sie verstand zu ihrer eigenen Beruhigung kein Wort, und als sie schloß, da kam auch Flora schon wieder herüber, um in das Balconzimmer zurückzukehren. Diesmal hing sie nicht an Bruck’s Arm; sie hielt das Bouquet der Fürstin in der Hand und ging neben dem Doctor her, verdrossen wie ein gescholtenes Kind, das aber nicht zu widersprechen wagt – Flora hatte ihren Herrn und Meister gefunden. … Ein zorniger Seitenblick streifte die am Flügel sitzende Schwester, die eben die Hände von den Tasten sinken ließ. „Gott sei Dank, daß Du fertig bist, Käthe!“ sagte sie stehen bleibend. „Du lärmst ja auf dem Instrument, daß man sein eigenes Wort nicht versteht. Schau, Deine eigenen Sachen spielst Du ja ganz nett – das sind eben harmlose Kindermelodien ohne alle Tiefe – an Schubert und Liszt aber solltest Du Dich nicht wagen; dazu fehlt Dir das Verständniß und vor Allem die Fertigkeit.“
„Henriette hat die Pièce zu hören gewünscht,“ entgegnete Käthe gelassen und schloß den Flügel. „Für eine fertige Clavierspielerin habe ich mich nie ausgegeben –“
„Nein, Herzenskäthe, das hast Du niemals gethan, bist auch keine Virtuosin, die Bockssprünge mit ihren Fingern macht,“ fiel Henriette ein; sie stand plötzlich, wie hingeweht, auf der Schwelle des Musiksalons, „aber das Mädchengemüth möchte ich kennen, das Schubert inniger aufzusagen vermöchte, als Du – oder meint Schwester Flora, die Thränen, die Einem dabei in die Augen treten, weine und heuchle man aus purer Gefälligkeit?“
„Kranke Nerven, Kindchen – weiter nichts!“ lachte Flora und folgte dem Doctor in den Salon, von wo die Präsidentin ihn gerufen hatte.
Die alte Dame saß drüben mit etwas echauffirtem Gesicht, in der einen Hand die Lorgnette, in der anderen einen Brief, den ein Bedienter eben gebracht hatte. „Ach, liebster, bester Hofrath,“ – sie gebrauchte diesen Titel, so oft er sich anbringen ließ; denn er schmeichelte ihrem Ohre trotz alledem und alledem – „da schreibt mir eben meine Freundin, die Baronin Steiner, daß sie in den nächsten Tagen hierher kommen will, um Rath und Hülfe bei Ihnen zu suchen. Sie ist ganz trostlos über ihren kleinen Enkel, den Stammhalter der alten Familie von Brandau – der Junge hinkt seit einiger Zeit ein wenig, und die tüchtigsten Aerzte tappen im Dunkeln über den Ursprung des Leidens. Wollen Sie das Kind untersuchen und in Behandlung nehmen?“
„Sehr gern, vorausgesetzt, daß die Dame nicht allzu große Ansprüche an meine Zeit macht.“ Er kannte schon diese hocharistokratisch sich geberdenden Damen, die gar zu gern „warten lassen“ und einen angehenden Schnupfen wie eine Todeskrankheit respectirt sehen wollen.
Die Präsidentin war sichtlich verletzt durch die gleichgültige Art und Weise, mit welcher ihre Bitte aufgenommen wurde; sie antwortete nicht.
„Die Baronin ist sehr pikirt über meinen neulichen Absagebrief,“ wandte sie sich an Flora, „der Zettel da“ – sie tippte mit der Lorgnette auf das Briefblatt – „strotzt von Anzüglichkeiten, und wenn nicht Sorge und Angst an sie heranträten, würde sie mir wohl nie wieder geschrieben haben; wie mich das schmerzt, kann ich kaum sagen. Sie will nun im ersten besten Hôtel wohnen, von wo aus unser Hofrath am ersten zu erreichen ist, und bittet mich wenigstens um die Gefälligkeit, ihr eine Wohnung von fünf Zimmern auszumachen.“ Jetzt zuckte ein wahrhaft vernichtender Blick unter den breiten Lidern hervor nach dem jungen Mädchen im weißen Kleide, das ihr gegenüber hinter einem Stuhle stand und, die Hände auf die Lehne desselben gelegt, mit niedergeschlagenen Augen den Verhandlungen zuhörte, wobei abwechselnd Erröthen und Blaßwerden über das liebliche Gesicht hinflogen – war doch jedes Wort ein Vorwurf für sie.
„Mein Gott, es ließe sich ja schließlich in der Beletage einrichten, wenn die gute Steiner nicht à tout prix fünf Zimmer haben müßte,“ fuhr die Präsidentin fort. „Aber sie braucht doch nothwendig einen Salon für sich und ihre Tochter Marie, ein Wohnzimmer für den kleinen Job von Brandau und seine Gouvernante, und allermindestens drei Schlafzimmer – die Jungfer kommt ja auch mit.“ Sie stützte sorgenschwer und tief verstimmt den Kopf in die Hand.
„Das will Alles in Allem sagen, daß Käthe für die Besuchszeit dieser wildfremden und anmaßenden Frau Baronin im Wege ist,“ fuhr Henriette scharf und zornig heraus.
„Ich habe mich bereits erboten, in die Mühle zu gehen,“ sagte die junge Schwester ohne eine Spur von Empfindlichkeit und strich beschwichtigend mit der Hand über Henriettens Haar.
„O nein, da weiß ich etwas Besseres, Käthe – wenn Du denn einmal weichen mußt,“ rief die Kranke mit aufleuchtenden Augen. „Wir bitten die Tante Diakonus um das liebe, traute Fremdenzimmer für Dich; ich weiß, sie wird ganz glücklich sein, Dich drüben zu haben, denn Du bist ja ihr Augapfel. … Dein Flügel wird hinübergeschafft, und da darf ich dann auch kommen, so oft ich will“ – sie verstummte plötzlich mit einem Blicke auf den Doctor. Dieser hatte sich zuerst abgewendet und durch das Fenster gesehen, und jetzt kehrte er ihr das tiefverfinsterte Gesicht zu, und das, was sie aus seinen Augen ansprühte, war heftiger, zürnender Widerspruch; sie traute ihren Sinnen kaum – er war gar nicht mehr er selbst.
„Ich finde es praktischer und schlage deshalb vor, daß der Knabe mit seiner Erzieherin in meinem Hause einquartiert wird,“ sagte er kalt und gezwungen.
Die Präsidentin rückte und zupfte verlegen an der Schleierwolke unter ihrem Kinn, auch konnte sie ein flüchtiges, ironisches Lächeln kaum unterdrücken. „Das wird sich schwerlich arrangiren lassen, bester Hofrath,“ versetzte sie. „Meine alte Freundin wird sich um keinen Preis von Job trennen wollen, und dann – Sie haben keinen Begriff davon, wie entsetzlich verwöhnt der Junge ist. Unser kleiner, lieber Erbprinz ist nicht so exquisit logirt, wie dieser einzige und letzte Sproß der Brandau’s; das dürre, häßliche Kerlchen schläft unter Atlasdecken und seidensammtenen Vorhängen. Mein Gott ja, die Familie kann das, und findet solch eine luxuriöse Umgebung selbstverständlich. Unsereins kommt aber in Verlegenheit, wenn es gilt, sie zu logiren.“
„Und weshalb ziehst Du es vor, das kleine Scheusälchen – dieser gefeierte letzte Sproß der Brandau ist nämlich der ungezogenste, nichtsnutzigste Bengel, den die Welt hat – der armen Tante Diakonus in’s Haus zu bringen, Leo?“ fragte Henriette heftig und gereizt den Doctor; sie war urplötzlich in jene krankhafte Aufregung verfallen, welche sie öfter Dinge sagen ließ, die sie nachher bitter bereute. „Was hat Dir denn Käthe gethan? Ich sehe es längst mit Ingrimm, wie ungerecht und vorurtheilsvoll Du gegen sie bist, ist sie Dir nicht vornehm genug, weil der Schloßmüller ihr Großvater war? Nie fällt es Dir ein, sie auch nur anzureden, und das ist doch geradezu lächerlich, denn sie ist und bleibt Flora’s Schwester, so gut wie ich. Unter uns Allen waltet das trauliche ‚Du‘ – nur sie ist die Ausgestoßene.“
„Mein lieber Schatz, dieses ‚Du‘ ist mir längst ein Dorn im Auge, und wenn es auf mich allein ankäme, dann dürftest Du es so wenig gebrauchen, wie Käthe auch,“ fiel Flora ein. „Aufrichtig gestanden, ich gönne keiner Anderen auch nur das Iota von einem Vorrechte, das mir allein zusteht. In Bezug auf Dich will ich Gnade für Recht ergehen lassen – mag es dabei bleiben, von Käthe’s Seite aber würde ich mir eine solche Vertraulichkeit zu Leo ganz ernstlich und energisch verbitten.“ Sie schlang ihren Arm um die Schulter des Doctors und schmiegte sich mit einem zärtlichen Aufblicke eng an seine hohe Gestalt.
Machte es diese Berührung in Gegenwart der Anderen, oder war er innerlich so bestürzt und empört über Henriettens rücksichtslose Vorwürfe – der Doctor fuhr empor, als halte ihn eine Schlange und nicht ein schöner, weicher Mädchenarm umschlungen, und sein Gesicht war weiß und blutlos wie der Tod.
Käthe wandte sich ab und wollte das Zimmer verlassen – sie hätte laut aufweinen mögen, so entsetzlich wehe hatte man ihr gethan, aber sie verbiß standhaft die Qual und bemühte sich, ihre äußere Haltung zu behaupten; da wurde die Thür geöffnet, auf die sie zuschritt, und der Commerzienrath trat herein. Wunderlich, sie vergaß in diesem Augenblicke völlig die Abneigung, die sich ihr während der letzten Zeit in das Herz geschlichen; sie dachte nur daran, daß er ihr Vormund sei, Vaterstelle bei ihr vertreten und sie schützen müsse, und in Folge dieses Antriebes trat sie neben ihn und legte die Hand auf seinen Arm.
Er sah sie überrascht, aber froh lächelnd an und drückte ihre Hand unter schalkhaftem Augenblinzeln mit seinem Arme fest an das Herz. Die Hände hatte er nicht frei; er trug eine kleine Kiste, die er auf den Tisch stellte, hinter welchem die Präsidentin saß. Sein Eintreten unterbrach eine unsäglich peinliche Scene und Henriette, die sie herbeigeführt, hätte ihm jetzt um den Hals fallen mögen für den heiteren, frohmüthigen Ton, den er in seiner Unbefangenheit anschlug.
„Nun bin ich getröstet; da ist endlich mein Angebinde für Dich eingetroffen, Flörchen,“ sagte er. „Mein Berliner Agent entschuldigt sein Zögern mit der Umständlichkeit der Fabrikanten.“ Er lüftete den Deckel. „Apropos, ich habe auch noch eine Geburtstagsfreude für Dich,“ unterbrach er sich in leichtfertig scherzendem Tone. „Eben sagt man mir, daß Du gerächt bist; heute Morgen ist die Hauptheldin des Attentates im Stadtforste, die mit den gefahrdrohenden Nägeln, verurtheilt und ihr eine ganz bedeutende Gefängnißstrafe zuerkannt worden; die Anderen, entweder noch sehr jung oder zu der Missethat von der Anstifterin verführt, wie sich herausgestellt hat, sind meist mit einem blauen Auge davon gekommen.“
„Ich will nicht hoffen, daß Flora diese Nachricht wirklich als Geburtstagsfreude aufnimmt,“ rief Henriette. „Allerdings, Strafe muß sein, und der großen, wilden Megäre kann es nicht schaden, wenn sie durch Stillsitzen ein wenig zahm gemacht wird, allein für uns selbst hat in jenem entsetzlichen Auftritt etwas so namenlos Beschämendes und Niederschlagendes gelegen – es ist schrecklich, sich so verhaßt und verwünscht zu wissen, und die Verhaßteste von uns Allen ist Flora – daß Du besser gethan hättest, Moritz, gerade heute darüber zu schweigen.“
„Meinst Du?“ lachte Flora. „Moritz kennt mich besser; er weiß, daß ich hoch über der sogenannten Volksstimme stehe und, um populär zu werden, nie einen Finger rühre. Und Du hast früher nicht anders gedacht, Henriette. Ich möchte wissen, was Du noch vor acht Monaten gesagt haben würdest, wenn irgend Jemand die Volksinteressen in unseren Salons betont und vertreten hätte – das waren Dir ‚böhmische Dörfer‘. Aber seit Käthe da ist, sind diese Fragen in unserer Beletage so über alle Gebühr an der Tagesordnung, daß Einem angst und bange wird vor so viel spartanischer Tugend und unfehlbarer Mädchenweisheit. Es sollte mich sehr wundern, wenn unsere Jüngste nicht bereits in ihrem Kochbuch Braten und Suppen aufgeschlagen hätte, die nothwendig sind, um die Büßende bei Kräften zu erhalten.“
„Das nicht,“ entgegnete Käthe muthig und ernsthaft in das vor Spott und Sarkasmus zuckende schöne Gesicht der impertinenten Schwester hinein; „aber nach ihren Familienverhältnissen habe ich mich erkundigt – sie hat vier kleine Kinder, und ihr unverheiratheter Bruder, der in Moritzens Spinnerei beschäftigt war und für die halbverwaiste Kleine mitgesorgt hat, liegt schon längere Zeit krank danieder. Es versteht sich von selbst, daß diese fünf hülflosen Menschen unter der nothwendigen Strafe nicht mitleiden dürfen, und da will ich lieber gleich sagen, daß ich die Verpflegung in die Hand genommen habe, bis die zwei Versorger wieder arbeitsfähig sind.“
Der Commerzienrath fuhr herum – er schien denn doch einen Widerspruch auf den Lippen zu haben. „Ja, Moritz,“ sagte das junge Mädchen rasch mit einem ausdrucksvollen Blick, „das sind so Momente, wo mir vor dem Geldschrank meines Großvaters weniger graut.“
Die Präsidentin rückte ungeduldig auf ihrem Lehnstuhl hin und her – diese crasse Sentimentalität ging ihr über den Spaß. „Das sind ja recht hübsche Eröffnungen! Wie wunderlich und verdreht sich doch solch ein Kindskopf die Welt malt! In gefährlichere Hände kann der Reichthum gar nicht kommen,“ rief sie tiefgeärgert. „Ja, nicht wahr, bester Bruck, da stehen Sie nun auch und sehen sich nachdenklich die Hand an, die sich so hülfsbedürftig an Moritzens Arm anklammert und dabei doch so willkürlich und eigenmächtig das Geld zum Fenster hinauswirft, das er mit mehr Strenge verwalten sollte?“
Käthe zog augenblicklich die Hand zurück. Sie sah noch, wie die Augen des Doctors unverwandt und finster auf ihren Fingerspitzen hafteten und dann erschrocken über die gegenüberliegende Wand hinstreiften.
„Ach, Großmama, ein Blick der Mißbilligung ist das ganz sicher nicht gewesen,“ rief Flora scharf; sie trat mit einer ungestümen Geberde ein wenig zurück und beobachtete argwöhnisch den Farbenwechsel auf dem schönen Gesichte des Verlobten. „Bruck war ja selbst immer so eine Art Enthusiast für das sogenannte Volkswohl –“
„Aber jetzt doch nicht mehr, mein Kind – jetzt, wo er bei Hofe verkehrt und die Gnade des Fürsten besitzt, wie kaum ein Anderer?“
„Und weshalb sollte ich diesem Verkehre meine Grundsätze unterordnen?“ fragte der Doctor anscheinend ruhig, allein seine Stimme klang unsicher und bewegt, als habe er noch mit inneren Stürmen zu kämpfen.
„Mein Gott, Sie werden doch nicht mit diesen Umsturzmenschen, diesen Socialdemokraten, gehen wollen?“ rief die Präsidentin ganz bestürzt und alterirt.
„Ich glaube, schon einige Male ausgesprochen zu haben, daß ich gar keiner dieser heftig streitenden Parteien angehöre, eben aus Humanität. Ich bemühe mich, den klaren Ueberblick zu behalten, den der Parteihaß stets trübt und welcher doch so nothwendig ist, wenn man zum wahren Menschenwohle wirken will.“
Währenddem hatte der Commerzienrath geschäftig die Kiste ausgepackt. Ihm war es stets höchst fatal, wenn das Gespräch auf ein Gebiet hinüberspielte, wo die Meinungsdifferenzen ihm das häusliche Behagen, wenn auch nur für einen Moment, störten. Er entfaltete maisgelben Atlas und veilchenfarbenen Seidensammet. „Zwei Toiletten zu Deinem ersten Debüt als Frau Professorin auf dem Balle und in der Soirée,“ sagte er unmittelbar nach Bruck’s Ausspruche zu Flora.
Er hatte seinen Zweck erreicht – der Glanz, den er hinbreitete, war zu verführerisch für Damenaugen; selbst Henriette vergaß momentan ihren Groll, als auch noch elegante Fächer und Cartons mit Pariser Blumen und Federn das reiche Geburtstagsgeschenk vervollständigten. Aber noch war der Inhalt der Kiste nicht erschöpft. „Die anderen Damen meines Hauses dürfen nicht leer ausgehen, um so weniger, als ich einstweilen eine Reise nicht in Aussicht und mithin für die nächste Zeit nicht die Gelegenheit habe, Etwas mitbringen zu dürfen,“ fuhr der Commerzienrath fort.
Die Präsidentin nahm mit süßem Lächeln einen kostbaren Spitzenshawl in Empfang, und Henriette erhielt eine weiße Taffetrobe, in Käthe’s widerstrebende Hand aber drückte der Commerzienrath mit einem eigenthümlich verständnißvollen, vielsagenden Blicke ein ziemlich umfangreiches Etui.
Dieser eine Blick rief blitzschnell in der Seele des jungen Mädchens einen wahren Sturm der widerwärtigen Empfindungen wach, die sie in der letzten Zeit zu ihrem eigenen Befremden so sehr gegen den Schwager und Vormund eingenommen. Nein, und abermals nein! So seltsam feurig und so innig vertraut, als gelte es ein Geheimniß, um das nur sie Beide wüßten, durfte und sollte er sie nicht anblicken – sie wollte sich das ein- für allemal verbitten. Scham, Abneigung und der fast unbezwingliche Drang, ihren Widerwillen gleich jetzt, vor Aller Ohren, unverhohlen auszusprechen, das Alles kämpfte in ihr und mochte sich wohl auf ihrem Gesicht spiegeln, wenn es auch mißverstanden wurde.
„Nun, Käthe, ist es Dir so etwas Neues, beschenkt zu werden?“ fragte Flora. „Was hat Dir denn Moritz zugesteckt? Einmal müssen wir es doch erfahren, das süße Geheimniß – gieb nur her, Kind!“ – Sie fing das Etui auf, das eben im Begriff war, auf die Erde zu fallen, und drückte auf die Feder. Ein blaßrothes Feuer entströmte den Steinen, die, als Halsband aneinandergereiht, auf schwarzem Sammet lagen.
Die Präsidentin nahm die Lorgnette vor die Augen. „Superbe gefaßt! Eigentlich zu künstlerisch, zu antik für die Imitation, wenn sie auch modern und selbst von hochgestellten Damen augenblicklich sanctionirt wird. … Der Glasfluß ist merkwürdig rein und feurig.“ Sie blinzelte angestrengt hinüber und streckte nachlässig die Hand aus, um sich das Etui zur näheren Besichtigung auszubitten.
„Glasfluß?“ wiederholte der Commerzienrath beleidigt. „Aber, Großmama, wie können Sie mich denn für so entsetzlich unnobel halten? Ist denn auch nur ein Faden hier unecht?“ – Er fuhr mit der Hand durch die knisternden Stoffe. „Ich kaufe grundsätzlich nie Imitation – das sollten Sie doch aus Erfahrung wissen.“
Die Präsidentin biß sich auf die Lippen. „Das weiß ich, Moritz – ich bin nur ganz consternirt der Thatsache gegenüber; das sind Rubinen-Exemplare, wie sie, meines Wissens, unsere liebe Fürstin nicht einmal aufzuweisen hat.“
„Dann thut mir der Fürst leid, daß ihm die Mittel dazu fehlen,“ rief der Commerzienrath unter übermüthigem Lachen. „Uebrigens müßte ich mich schämen, gerade Käthe etwas Werthloses zu schenken, Käthe, dem Goldkind, das in zwei Jahren aus dem eigenen Besitze jedes beliebige Capital entnehmen und sich Juwelen anschaffen kann, so viel sie Lust hat. Wie würde sie dann die Imitation als eine Beleidigung verächtlich in die Ecke werfen!“
„Ich glaube das selbst,“ fiel die Präsidentin mit kühler Ironie ein; „Käthe hat eine merkwürdige Passion für alles Schwere, in welchem recht viel Geld steckt – das beweisen ihre ewigen Taffettoiletten. Aber, mein Kind“ – sie heftete die Augen scharf auf das junge Mädchen, das die bebenden Hände wieder auf der Stuhllehne gefaltet und keine Miene gemacht hatte, das Geschmeide zurückzunehmen – „auch die Art, sich zu kleiden, muß vom Tactgefühle, vom guten Ton ausgehen, wenn man denn einmal gern zur feinen Welt gehören möchte. Achtzehn Jahre und Brillanten passen nicht zusammen – an einen Mädchenhals gehört ein schlichtes Kreuz oder Medaillon am Sammetbande, allerhöchstes eine einfache Perlen- oder Korallenschnur.“
„Ich bitte Dich, Großmama, Käthe bleibt doch nicht immer achtzehn Jahre und auch nicht immer ein Mädchen,“ rief Flora mit frivolem Muthwillen. „Das weiß ich am besten, gelt, Käthe?“
Die Augen des Mädchens flammten auf vor beleidigter Scham und vor Unwillen; sie wandte sich stolz ab, ohne auch nur mit einer Silbe zu antworten.
„Schau, wie sie erhaben aussehen kann, die Kleine!“ lachte Flora gezwungen auf – es gelang ihr nicht, ein Gemisch von Aerger und Verlegenheit ganz zu verbergen. „Thut sie doch, als hätte ich an das strengste Amtsgeheimniß mit meiner unschuldigen Ausplauderei gerührt! Ist’s denn ein Verbrechen, wenn man den Wunsch hat, sich zu verheirathen? Geh’, kleine Prüde! Was man in einem vertraulichen Augenblicke bekennt, das muß man auch öffentlich nicht verleugnen.“ Sie schob die schneeweißen Finger spielend unter die funkelnden Rubinen und sah schelmisch und vielsagend blinzelnd den Commerzienrath von der Seite an. „Wahr ist’s, Moritz – das ist in der That ein Collier – wie es nur die Frau eines Millionärs tragen kann.“
Bei diesen Worten erhob sich die Präsidentin. Sie raffte mit ungewohnter Hast und unsicheren Fingern Brief und Lorgnette auf und raffte die Mantille über die Schultern, um zu gehen. „Magst Du auch immer streng auf Echtheit halten, bester Moritz,“ sagte sie vornehm gelassen; „der Champagner, den wir Mittags auf Flora’s Wohl getrunken haben, war es nicht; er macht mir unerträgliches Kopfweh. Ich muß mich für einige Stunden niederlegen.“
Inmitten des Salons wandte sie sich noch einmal zurück. „Wenn ich mich erholt haben werde, möchte ich Dich um eine Entscheidung bitten,“ setzte sie hinzu, indem sie dem Commerzienrath den Brief hinhielt. „Lies ihn – Du wirst finden müssen, daß die Baronin nicht zum zweiten Mal zurückgewiesen und beleidigt werden darf. Ich habe mich neulich gefügt um des lieben Friedens willen, aber nun bin ich nicht mehr in der Lage, so unverantwortlich nachzugeben. Leute unseres Standes lassen sich denn doch nicht wie Marionetten, je nach Gefallen, dirigiren und wohl gar als unbequem abschütteln. Das bedenke wohl, Moritz!“
Mit kalter Strenge in den Zügen und einem hochmüthigen Kopfnicken ging sie hinaus.
„Da wirst Du einen schweren Stand haben, Moritz,“ sagte Flora nach der Richtung zeigend, wo die Präsidentin verschwunden war. „Die Großmama ist gerüstet und bewehrt bis an die Zähne –“
Der Commerzienrath lachte hell auf.
„Nun, Du sollst sehen, sie wird nicht einen Zoll breit von dem Terrain, das Du ihr allzu bereitwillig und unumschränkt eingeräumt hast, an eine Andere abtreten wollen. Ich habe Dich oft genug gewarnt, sieh Du nun auch zu, wie Du mit ihr fertig wirst!“ Sie unterbrach sich plötzlich und erfaßte besorgt Bruck’s Hand. „Sage mir nur um des Himmels willen, was mit Dir ist, Leo?“ rief sie leidenschaftlich erregt. „Du kämpfst mit einem inneren Schmerze, den Du mir verbergen möchtest. Magst Du auch Andere täuschen, das Auge der Liebe täuschest Du nicht. Hier und hier“ – sie fuhr mit ihren weißen Fingern über seine Stirn, die bis an die Haarwurzeln erröthete – „sehe ich Linien, die mich ängstigen. Du strengst Dich offenbar zu sehr an. Weißt Du, daß ich mir die Freiheit nehmen und von heute an einen unserer Diener in Deine Stadtwohnung beordern werde, um diese lästigen Spießbürger unerbittlich zurückzuweisen, die Dein ärztliches Wirken kaum noch mit Steinen beworfen haben und nun Dich zu Grunde richten mit ihrer Zudringlichkeit?“
Henriette starrte die zuversichtliche Sprecherin wie fassungslos an, und der Commerzienrath räusperte sich und strich wiederholt mit der Hand über sein feines Bärtchen, um einen moquanten Ausdruck zu verbergen, über das Gesicht des Doctors aber, das vorhin allerdings eine unerklärliche, erschreckende Starrheit angenommen hatte, ging jetzt schattenhaft ein schneidendes, bitterverächtliches Lächeln hin. „Das wirst Du nicht thun, Flora,“ sagte er rauh und sehr gebieterisch. „Jede unbefugte Einmischung in meine Praxis muß ich mir entschieden verbitten – heute und immer. Ich habe übrigens im Interesse eines Schwerkranken, den heftige Gemüthsbewegungen geistig und körperlich gebrochen, ein Wort mit Dir zu reden,“ wandte er sich an den Commerzienrath. „Möchtest Du mir wohl eine Besprechung unter vier Augen gestatten?“
„Eines Schwerkranken?“ wiederholte der Commerzienrath nachsinnend. Er runzelte gleich darauf finster die Brauen, und ein harter, widerwilliger Zug entstellte seinen Mund. „Ach ja, ich weiß schon,“ sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung; „es ist der wagehalsige Mosje, der Kaufmann Lenz. Der Mensch hat auf die unvernünftigste Weise in’s Blaue hinein speculirt und möchte sich nun mit einem tiefen Griffe in meinen Seckel retten; ich bedanke mich.“
„Willst Du mir dergleichen nicht lieber drüben aussprechen?“ fragte der Doctor mit starkem Nachdrucke. „Wir Beide sind heute noch die Einzigen, die der Mann in seine furchtbare Lage eingeweiht hat; nicht einmal seine Frau weiß darum –“
„Nun meinetwegen; ich werde ja hören, inwiefern er Dich zum Vermittler gemacht hat, glaube aber schwerlich, daß ich ihm auch nur eine Fingerspitze reichen werde. Es ist eine total verlorene Sache, sag’ ich Dir.“ Er zuckte kalt die Achseln; den einst wirklich gutherzigen Mann hatten Glück und Geld unempfindlich gemacht – er war völlig unfähig geworden, sich in eine von qualvollen Sorgen hin- und hergepeitschte Menschenseele hineinzudenken. „Im Uebrigen hast Du am allerwenigsten Ursache, Dich seiner anzunehmen, er hat[WS 7] auch einen Stein aufgehoben, um Dich zu bewerfen.“
„Soll das wirklich maßgebend für mich sein?“ fragte Bruck ernst über die Schulter, während er sich anschickte, dem Commerzienrathe in das anstoßende Zimmer voranzugehen. – Der Mann der Wissenschaft erschien in diesem Augenblicke hochherrlich und imponirend neben dem jäh erröthenden Geldmenschen.
Die drei Schwestern blieben allein. Flora schellte übelgelaunt nach ihrer Jungfer, damit sie die Geschenke des Commerzienrathes wegräume, und Käthe griff nach ihrem Sonnenschirme.
„Willst Du in’s Freie, Käthe?“ fragte Henriette, die sich wieder in ihren Schaukelstuhl gekauert hatte.
„Es ist heute Arbeitsstunde bei der Tante Diakonus; ich habe mich schon verspätet und muß eilen –“ das junge Mädchen verstummte unwillkürlich; Schwester Flora warf einen Carton mit Blumen so heftig in die Korbwanne, welche die Kammerjungfer herbeigeholt hatte, daß ein ganzer Regen zarter, weißer Blüthenglocken über die Stoffe hinflog.
„Wie mich dieses Thun und Treiben anekelt, kann ich gar nicht sagen,“ rief sie ergrimmt. „Diese Tante, dieses personificirte Pflichtgefühl, hat meinte heutige Einladung zum Kaffee abgelehnt, weil die kleinen Damen aus unserem verrufensten Stadtviertel beileibe nicht unverrichteter Dinge fortgeschickt werden dürfen, und Fräulein Käthe beeilt sich selbstverständlich aus demselben Grunde, zu der Farce eine ernsthafte Miene voll Pflicht und Tugend zu machen.“
Sie biß sich auf die Lippen und wartete, bis sich die Jungfer entfernt hatte, dann aber erfaßte sie Käthe, die eben schweigend das Zimmer verlassen wollte, am Arm und hielt sie zurück. „Nur einen Augenblick Geduld! Ich muß Dir sagen, daß Du mich durch Dein Gebahren in eine Rolle drängst, die ich auf die Dauer unmöglich durchführen kann – bis zum September ist eine lange Zeit. Was liegt näher, als daß die Tante von der Braut ihres Neffen dieselbe heroische Selbstüberwindung verlangt, wie sie das Muster von Schwester an den Tag legt? – Ich soll die ungewaschenen Kinderfinger zwischen die meinen nehmen und lammgeduldig Masche um Masche von den Nadeln heben, bis solch ein vernagelter Taglöhnerkopf die Manipulation des Strickens begriffen hat. Ich soll nöthigenfalls schmutzige Gesichter waschen, wirre Zöpfe strählen und stundenlang mit den unappetitlichen Menschenkindern Ringelreihe spielen – ich hab’s versucht – brr! Und wenn ich darauf hin mein Mitwirken unterlasse, da geschieht es, daß ich durch die Ohrenbläsereien der guten Tante in Bruck’s Augen zu einem wahren Ungeheuer gestempelt werde, das – unweiblich und herzlos – die süße Kinderwelt nicht liebt. Aus diesem Grunde verbiete ich Dir nochmals, ein- für allemal diese Art Verkehr im Hause meines Bräutigams, kraft meines guten Rechtes – hörst Du?“
„Ich höre, werde aber nichts destoweniger thun, was mir mein eigenes Gewissen nicht verbietet,“ versetzte Käthe fest und ruhig und schob mit einer energischen Geberde die Hand der Schwester von ihrem Arm. „Deinem guten Recht, das Du übrigens selbst mißachtet und in meiner Gegenwart als überlästig ausgeboten hast –“
„Ja wohl, ja wohl!“ rief Henriette dazwischen – sie stand plötzlich neben Käthe, und ihre Augen funkelten in unversöhnlichem Haß die übermüthige Schwester an.
„Also diesem Recht trete ich in keiner Weise nahe, dessen bin ich mir bewußt,“ fuhr Käthe fort. „Schlimm aber steht es um Dich, wenn Du in jeder menschenwürdigen Handlung Anderer ein feindliches Element siehst, das Deine Stellung gefährdet –“
„Gefährdet?“ wiederholte Flora unter spöttischem Gelächter die Hände zusammenschlagend. „Liebste, weiseste aller Moralpredigerinnen, das ist ein kleiner Irrthum. Eine Liebesleidenschaft, die sich das Alles bieten läßt, was ich mit gutem Vorbedacht als Feuerprobe über Bruck verhängt hatte, kann durch nichts mehr auf Erden gefährdet werden.“
„Traurig genug!“ murmelte Henriette mit heiserer, fast erstickter Stimme und zornig geballten Händen. „Ich muß mir immer wieder Bruck’s männliche Festigkeit in seinem ganzen sonstigen Verhalten und Auftreten in’s Gedächtniß zurückrufen, um ihn nicht als – Schwächling zu verurtheilen.“
„Es handelt sich eben nur um die Spanne Brautzeit bis zum September,“ fuhr Flora fort, Henriettens Einwurf mit spöttischem Achselzucken einfach übergehend, „und es ist nichts anderes, als ein höfliches Zugeständniß meinerseits, der Alten gegenüber; ich wünsche mich mit ihr zu vertragen. In L…..g ändert sich freilich Alles; da fallen dergleichen Rücksichten von selbst weg, und was Bruck betrifft, so wird er in den ersten Wochen unserer Ehe einsehen, daß eine Frau, wie sie die Tante für ihn wünscht, nicht nur eine beschämende Last, sondern geradezu eine Unmöglichkeit für ihn sein würde. Dann erst kann er meinen Werth vollkommen erkennen, wenn der Salonverkehr seines Hauses, dem ich präsidire, den rechten Lüstre über seine hervorragende Stellung wirft; wenn er mich stets in gewohnter Eleganz und Sicherheit auf meinem Posten findet, ohne daß mein Fernhalten von Hauswesen und Kinderstube pecuniäre Opfer seinerseits fordert. Ich habe bereits Alles berechnet; nach Abzug meiner Toiletten- und Nadelgelder bleibt wir von meinen Revenüen so viel übrig, daß ich den Gehalt einer perfecten Köchin, der Wirthschaftsmamsell, der Kinderfrau und der Gouvernante aus meiner eigenen Tasche bezahlen kann.“
Sie sah bei den letzten Worten auf ihre glänzenden, rosenfarbenen Nägel, dann wandte sie mit einer langsamen stolzen Bewegung den Kopf seitwärts – der deckenhohe Spiegel warf ihre Gestalt zurück, diese blendende Erscheinung, bei deren Anblick man sich allerdings unmöglich denken konnte, daß sie je in trauter Häuslichkeit einen kleinen Liebling auf den Knieen wiegen, am Krankenbettchen Märchen erzählen und in der Kinderstube das sein werde, was die treue Mutter sein soll, das tröstende Licht, das keine Nacht aufkommen läßt, die höchste Instanz, die mit einem Kusse jeden Streit schlichtet, die unermüdlich stützende Hand, an der das Kind geistig und physisch laufen lernt.
Und ihr Blick irrte wie schönheitstrunken weiter und blieb vergleichend an dem weißgekleideten Mädchen hängen, hinter welchem die blausammtene Portière niederfiel. Von diesem Grunde hoben sich die jugendlich schwellenden Glieder, die unvergleichliche Schönheit der Gesichtsfarben unter der dicken Flechtenkrone, die im reinsten Perlmutterweiß schwimmenden dunklen Augensterne herrlich ab, und wenn die schöne Flora in ihrem Gesammtausdrucke das wissende Weib repräsentirte, das bereits tief in das Leben geschaut hat, so stand da neben ihr ein jungfräulich keuscher Schwan in naiver Unschuld und fleckenloser Seelenreinheit. Vielleicht mißfiel ihr das. Sie lächelte das Spiegelbild spöttisch an und nickte hinüber.
„Ja, ja, meine Kleine, so veilchenhaft bescheiden wirst Du nicht immer bleiben, und die häuslichen Bestrebungen, zu denen Dich die Lukas in so unvernünftig übertriebener Weise erzogen, sind bei Dir ebenso wenig am Platze, wie bei meiner künftigen Lebensstellung. Moritz wird Dir nie das unharmonische Geklingel mit dem wirthschaftlichen Schlüsselbunde gestatten – darauf verlasse Dich, und wenn er Dir galanter Weise sogar zehnmal einen Geflügelhof in Aussicht stellt! Gerade er mit seinem neugebackenen Adel wird in Bezug auf die etiquettengemäß weißen, geschonten Hände seiner Frau penible sein, wie kaum unser Allerdurchlauchtigster.“
Käthe war längst erröthend aus dem Bereiche des Spiegels getreten. „Das mag Moritz halten, wie er will. Was geht das mich an?“ fragte sie in halbgewendeter Stellung, aber die Augen groß und verwundert auf das Gesicht der Schwester richtend.
„Aber ich bitte Dich, Flora, wie kannst Du so tactlos sein. Moritz in so unumwundener Weise vorzugreifen?“ rief Henriette erschreckt; sie fixirte mit einem besorgten, verlegenen Seitenblick Käthe’s Gesichtsausdruck.
„Ach was, er kann mir nur dankbar sein, wenn ich ihm den Weg ein wenig glatt und eben mache. Und glaubst Du denn, ich spräche da etwas aus, das Käthe nicht selbst längst wüßte? Es giebt kein Mädchen über fünfzehn Jahre, das nicht mit den Fühlfäden des Sehnens und Wünschens unausgesetzt sondirte und sofort wie durch einen elektrischen Schlag fühlte, wenn ein Männerherz sich ihm zuneigt. Die das nicht zugeben, sind entweder zu dumm oder raffinirte Coquetten.“ Sie maß wieder ihr Spiegelbild vom Kopfe bis zu den Fußspitzen und zog die Löckchen tiefer in die Stirn. „Wer vorhin Augen gehabt hat, zu sehen, wie unsere Kleine sich vertrauensvoll und hingebend anzuschmiegen weiß, der kann nicht mehr fehlgehen – gelt, Käthe, Du verstehst mich?“ Jetzt lächelte sie mit frivol blinzelnden Augen unter dem hochgehobenen Arme weg die junge Schwester an.
„Nein, ich verstehe Dich nicht,“ versetzte das Mädchen mit stockendem Athem; ein undefinirbares Gemisch von heftigem Widerwillen und böser Vorahnung stieg in ihr auf und machte sie ängstlich.
„Komm, Käthe, wir wollen gehen,“ sagte Henriette und schlang ihren Arm um die Hüften der großen, schlanken Schwester, um sie nach der Thür zu ziehen. „Ich leide ein solch indiscretes Verhör nicht,“ setzte sie, zornig mit dem Fuße stampfend, hinzu.
„Bah, echauffire Dich nicht, Henriette!“ lachte Flora. Sie reichte Käthe das Etui mit dem Geschmeide hin. „Hier, Kleine, Du wirst doch die Steine nicht in dem offenen Salon liegen lassen, wo die Dienerschaft aus- und eingeht?“
Käthe legte unwillkürlich und naiv wie ein Kind die Rechte, in welche der Schmuck gedrückt werden sollte, auf den Rücken. „Mag doch Moritz sie wieder an sich nehmen,“ sagte sie kurz und bestimmt. „Deine Großmama hat darin ganz Recht – es ist ein unpassendes Geschenk; an meinen Hals gehört ein solcher Schmuck nicht.“
„Und an diese gutgespielte Unbefangenheit soll ich glauben?“ rief Flora ärgerlich und wie gelangweilt. „Geh’! Einem so großen, vierschrötigen Mädchen steht die kindische Ziererei nun einmal nicht an. Da liegt er noch, der Spitzenshawl, den Moritz der Großmama mitgebracht hat – sie verschmäht ihn; sie ist empfindlicher als Deine Schwestern, die es selbstverständlich finden, daß Dein Geschenk Alles, was er hier für uns ausgebreitet hat, an innerem Werthe mindestens vierfach aufwiegt – und über das Warum dieser Auszeichnung wolltest Du allein im Unklaren sein? Mache Dich nicht lächerlich! Hörst Tag für Tag das Hantiren drüben im Pavillon – Alle im Hause, bis auf die aus- und eingehenden Handwerker hinab, wissen, daß die Wohnung für die Großmama hergerichtet wird, damit die junge Frau Commerzienräthin in diese brillanten Räume einziehen kann – nun, kleine Unschuld, soll ich noch deutlicher werden?“
Bis dahin hatte das junge Mädchen regungslos gestanden und mit zurückgehaltenem Athem und aufdämmerndem Verständniß die Redewendungen der Schwester so erschreckten Auges verfolgt, als sehe sie eine buntschillernde, gefährliche Schlange allmählich sich entringeln. Nun aber irrte ein stolzes Lächeln um ihre blaßgewordenen Lippen. „Bemühe Dich nicht – ich habe Dich endlich verstanden,“ sagte sie bitter – dem Metallklang ihrer Stimme hörte man den inneren Schrecken an – „Du hast es weit klüger angefangen, als Deine Großmama, mir den ferneren Aufenthalt in diesem Hause unmöglich zu machen.“
„Käthe!“ schrie Henriette auf. „Nein, darin irrst Du. Flora ist wie immer entsetzlich rücksichtslos gewesen, aber böse gemeint waren ihre Anspielungen sicher nicht.“ Sie schmiegte sich eng an die Schwester an und sah ihr zärtlich in das Gesicht. „Und wenn auch, weshalb sollten Dich denn derartige Neckereien aus dem Hause treiben, Käthe?“ fragte sie halb ängstlich und zögernd in schmeichelndem Flüstertone. „Bist Du wirklich so ahnungslos der Liebe gegenüber geblieben, die Dir so unzweideutig gezeigt wird? Sieh, ich habe jetzt oft den heißen Wunsch zu sterben, wenn es aber wahr würde, daß Du als Herrin hier, in unserem väterlichen Heim, einzögest, dann –“
Käthe wand sich ungestüm aus den zarten Armen, die sie umstrickten. „Niemals!“ rief sie, den Kopf heftig schüttelnd, zornig, erbittert, wie es nur ein stolzes, plötzlich in allen seinen Tiefen unsanft und schonungslos aufgerütteltes Mädchengemüth sein kann.
„So – also niemals?“ wiederholte Flora sarkastisch. „Vielleicht ist Dir die Partie nicht vornehm genug – wie? Wartest wohl auf irgend einen verschuldeten Grafen oder Prinzen, der moderner Weise nicht das Dornröschen selbst, sondern ihre Geldsäcke aus dem Zauberbanne erlöst? Ei nun, die Jetztzeit ist ja nicht arm an solchen Ehen! Wie aber die unglückliche Mitgabe, die Frau, dabei fährt, weiß man auch. … Willst Du immer wieder hören, daß Dein Großvater hinter den Müllerpferden hergegangen und Deine Großmutter barfuß gelaufen ist, dann heirathe nur in eine solche adelsstolze Familie! Uebrigens möchte ich wirklich wissen, was Du an Moritz auszusetzen hast, oder vielmehr, was Dich berechtigt, seine Hand zurückzuweisen. Du bist allerdings sehr reich, aber was es für einen bedenklichen Haken dabei hat, wissen wir. Du hast viel Jugendfrische, allein schön bist Du nicht, meine Kleine, und was Dein Talent betrifft, mit welchem Du allerdings in günstigen Momenten zu brilliren verstehst, so ist das ein von ehrgeizigen Lehrern künstlich angefachtes Geistesfünkchen, das sehr schnell wieder erlöschen wird, sobald das fette Honorar aufhört.“
„Flora!“ unterbrach sie Henriette empört.
„Schweig’! Ich rede jetzt in Deinem Interesse,“ sagte Flora, mit einer kräftigen Handbewegung die schwache Gestalt der Kranken bei Seite schiebend. „Oder möchtest Du Moritz leidenschaftlicher verliebt in Dich sehen, als er sich giebt, Käthe? Liebes Kind, er ist ein gereifter Mann, der über das Heldenspielen in einem Backfischroman längst hinaus ist. Es fragt sich überhaupt, ob Du je um Deiner selbst willen gewählt wirst – bei solchen kleinen Millionärinnen kann man das nie wissen. … Ich begreife Dich nicht. Du hast Dich bis zu diesem Augenblicke auf die Krankenpflegerin capricirt, wie kaum eine aussichtslose alte Jungfer, weil – es eigentlich von keiner Seite gewünscht wurde, und nun, da Henriette ihre ganze fernere Existenz an Dein Bleiben im Hause knüpft, willst Du gehen? Ich für meine Person würde auch ruhiger in der Ferne sein, wenn ich unsere Schwester unter Deinen pflegenden Händen wüßte, und was Bruck anbelangt – nun, Du hast Dich allerdings eben wieder überzeugen müssen, wie wenig sympathisch Du ihm bist, armes Kind; er will lieber den ungezogenen Schreihals, den Job Brandau, in seinen vier Wänden dulden, als Dein häusliches Schalten und Walten, aber ich weiß trotz alledem gewiß, daß er seine Patientin, die er schließlich doch hier ihrem Schicksale überlassen muß, Dir am liebsten übergiebt, an der sie mit Liebe hängt.“
Henriette lehnte mit kreideweißen Wangen an der Wand – sie war keines Wortes fähig, so tief erbitterten sie die unbeschreibliche Nonchalance, der beispiellose Uebermuth, mit welchem Flora Alles, was die Schwesterherzen demüthigen mußte, an das Licht zerrte. Käthe jedoch hatte ihre äußere Fassung vollkommen wiedergewonnen.
„Darüber werden wir Zwei uns allein verständigen, Henriette,“ sagte sie ganz ruhig, aber die Lippen, welche die Stirn der Kranken küssend berührten, die Finger, die sich mit innigem Druck um ihre Hand legten, waren kalt wie Eis. „Du gehst doch wohl jetzt hinauf in Dein Zimmer;“ sie sah nach ihrer Uhr, „es ist Zeit, daß Du Deine Tropfen nimmst. Ich komme bald zurück.“
Sie ging hinaus, ohne noch einen Blick auf Flora zu werfen.
„Eingebildetes Ding! Ich glaube gar, sie nimmt es auch noch übel, daß man sie nicht für die erste Schönheit erklärt und daß nicht auch Männer wie Bruck an ihrem Siegeswagen ziehen,“ sagte die schöne Dame mit sarkastisch zuckenden Mundwinkeln, und während Henriette schweigend ihr Geschenk und die Kapsel mit dem Rubinschmucke forttrug, schritt sie, eine Melodie trällernd, nach dem Zimmer, in welches sich die beiden Herren zurückgezogen, und klopfte ungenirt mit dem Finger an, weil es, wie sie durch die Thürspalte hinüberrief, sehr ungalant sei, „das Geburtstagskind“ heute allein zu lassen.
Käthe wanderte lange ziellos durch den Park, durch alle Laubgänge und Alleen in die entlegensten Partien hinein. So aufgeregt, wie sie war, mochte sie der Tante Diakonus nicht unter die Augen treten; sie wußte, die alte Frau würde theilnahmvoll fragen, und dann mußte sie beichten, und wahrscheinlicherweise gehörte die alte Freundin auch zu Denen, die ihre Verbindung mit dem Commerzienrath wünschten – sie machten ja in dem Punkte Alle Front gegen sie, Flora, Henriette, der Doctor. Egoisten waren sie Alle, das wußte sie nun. Aber sie ließ sich nicht in den glänzenden Käfig sperren; sie flog ihnen davon. Das dachte sie bitter, mit finsterem Trotze und blieb einen Augenblick mit müden Füßen vor der Ruine stehen, bis wohin sie sich verirrt hatte. Die Sonne stand schon tief – es war Abendsonnenlicht, das die Lüfte, den dunklen Tannenwald im Hintergrunde und den fluthenden Wasserring um die Ruine von zwei Seiten her mit Purpur- und Goldtinten glühend tränkte und färbte. Wie ein Gebild aus schwarzem Marmor hob sich die Hügelform mit dem Thurme von dem glitzernden Grunde, und die vollblätterige Nußbaumgruppe stand vor ihr wie eine vielzackige dunkle Silhouette, durch deren Geäst nur da und dort die Farbengluthen tropften.
Mit einem feindseligen Blick starrte das junge Mädchen über das Wasser hinüber. Dort oben, wo die schwere, dunkelrothe Seidengardine hinter der mächtigen Spiegelscheibe wie ein unheimlicher Blutstrom niederrollte, stand der vielberufene Geldschrank. Bis dahin hatte sie ihn gefürchtet; heute haßte sie diese vier engen eisernen Wände, die ihr Ich, ihr warmschlagendes Herz aus dem Dasein löschten und sich selbst an die Stelle eines jungen Mädchens mit idealen Hoffnungen und Wünschen und tiefer Sehnsucht nach wahrem, stillem Lebensglück drängten. Wer auch kam und um ihre Hand freite, er liebäugelte mit dem eisernen Ungethüm, das sich an ihre Fersen heftete; jeder Blick, der begehrend auf sie fiel, galt der Millionärin, jeder warme Händedruck dem Papiergespenst, „das immer neue Summen aus der Welt an sich zog.“ Und das bedachte der Herr Commerzienrath von Römer auch – der reiche Mann wollte noch reicher werden. Wahrlich, heimtückischer war das Nagen des Wurmes auch nicht, das allmählich von innen eine köstliche Frucht verzehrte, als dieser ewig bohrende, das Selbstgefühl vernichtende Gedanke, den Flora boshaft lachend in die Seele der jungen Schwester geschleudert.
Und dort unten, an der Basis des Thurmes gähnte die dunkle Kellerluke, wo die kostbaren Weine des reichen Mannes feurig gegen die einzwängenden Faßdauben und Flaschen pochten. Der Commerzienrath hatte erst kürzlich wieder die Präsidentin und seine drei Schwägerinnen hinuntergeführt. Die Eisenbahn hatte wieder einmal zahllose Fässer und Körbe herangerollt, und sie alle fanden Platz in den mächtigen Gewölben, die ihre Steinbögen weit und tief in den Leib des Hügels hineintrieben.
Es wehte eine herrlich kühle, reine und trockene Luft da unten; die Steinfließen des Fußbodens blinkten wie polirt; kein Staubkörnchen, nicht das dünnste Spinnwebfädchen hing an den Steinrippen, die sich oben zur Kuppel kreuzten, und das Kellergeräth, das Trinkgeschirr, die grünen Römer, die Champagnergläser, Alles funkelte und gleißte; man sah, daß hier dienende Hände ohne Unterlaß fegten und spülten, strenger und peinlicher als im glänzenden Salon. Und da, wo die edelsten Sorten, Faß an Faß, lagerten, wo nur ein schwacher Schein des Tageslichtes hoch oben an der Gewölbdecke dämmerte, da standen auch in der dunkelsten Ecke die zwei Tonnen mit dem historischen Schießpulver, so frisch und unversehrt, daß Käthe neulich lachend gemeint hatte, die ehrwürdigen Reliquien würden wahrscheinlich von Zeit zu Zeit erneuert, wie der berühmte Tintenfleck auf der Wartburg. Diese Ecke aber war und blieb ihr unheimlich; sie begriff nicht, wie der reiche Mann sie Tag und Nacht unter seinen Füßen dulden konnte; und wenn sie sich auch nur die gespenstige Ahnfrau der Baumgarten mit umherleuchtender Fackel hin- und herirrend dachte, dann sträubte sich ihr das Haar.
Ihr Blick stieg an den geschwärzten Quadern empor – ein einziger Funke, der von dem Kellerlicht wegsprang – und das alte wie für die Ewigkeit gekittete Thurmgefüge barst auseinander, und Alles, was Menschenhände an Schätzen in dem Mauerviereck gierig zusammengerafft, es stürmte, in Atome zerstückelt, gen Himmel. Auch die eisernen Wände zersprangen, und die Papiere, an denen der Fluch der Bedürftigen hing, zerstoben und zerflatterten nach allen Winden.
Dem jungen Mädchen graute vor der eigenen Seele, durch die der Gedanke huschte, es möchte so sein, auf daß ihr Ich erlöst werde von der goldenen Maske, nach der die Gelddurstigen strebten. Entsetzt vor dem Bilde der Zerstörung, das die eigene Phantasie heraufbeschworen, hatte sie die Augen bedeckt, und nun ließ sie die Hände sinken und sah tiefaufathmend in die blaugoldigen Lüfte, in welchen, hoch über dem Thurme, Henriettens Taubenschaaren kreisten, und dort vor dem Fenster des scheinbar schiefhängenden Mauerstückes, das auf seinem Rücken den letzten herrlichen Colonnadenrest trug, hing der Amselbauer des dort hausenden Dieners. Rosmarin und Goldlack standen auf dem Sims, und darüber her fiel eine Gardine maiengrüner und maienduftender Hopfenranken. Das Vögelchen sang aus allen Kräften in das Gelärm der flügelklatschenden Tauben hinein, und den grasigen Abhang herab waren geräuschlos die Rehe gekommen und äugten über das Wasser hinweg nach dem großen schlanken Menschenkind, das eben so häßlich, so verzweiflungsvoll geträumt hatte.
Die Rehe und die Tauben kannten sehr gut das junge Mädchen, das stets in den Taschen Brod und Körner mitbrachte, aber heute hatte sie nur ein stummes Abschiedwinken mit der Hand für sie, ob auch das Taubenvolk sich jetzt auf den Rasen niederstürzte und seine Kecksten recognoscirend und bettelnd auf die Brücke vorausschickte. Käthe ging weiter am Flußufer hin, und bald mischte sich ferner Kinderjubel mit dem Rauschen des Wassers. Die kleinen Schülerinnen der Tante Diakonus spielten noch im Garten, und trotz der tiefen Niedergeschlagenheit, trotz der Seelenschmerzen, deren Wesen und Ursprung sie zum Theil nicht einmal begriff, weckten diese Laute ein warmes Freudengefühl in Käthe. Ach nein, die kleinen Geschöpfe da drüben mit den unschuldigen Augen und den jungen fröhlichen Herzen sahen nicht die Millionärin in ihr; sie wußten noch nichts von dem eisernen Geldschranke; sie nahmen unbefangen und dankbar das gereichte Vesperbrod und fragten nicht, wer es bezahlt habe. In den jungen Seelen lebte sie als die Tante Käthe, um deren Liebesbeweise man sich stritt und zankte, welcher man sehnsüchtig entgegenlief und in deren Ohr das ängstliche Bekenntniß kleiner Vergehen oder die weinende Klage über ein erlittenes Unrecht vertrauensvoll geflüstert wurden. Nein, dort wurde sie geliebt, aufrichtig geliebt um ihrer selbst willen.
Sie verdoppelte ihre Schritte; je näher sie dem Hause kam, desto mehr wurde ihr zu Sinne, als kehre sie heim aus der Irre. Dort trat die Magd zwischen den zwei gewaltigen Pappeln hervor, die zu beiden Seiten der Brücke standen, und wanderte, den Henkelkorb am Arme, nach der Stadt, um die Abendeinkäufe zu machen – das war auch eine treue Seele, die nicht um des Geldes willen an der Herrschaft hing; ihr gutmüthiges, offenes Gesicht gehörte so recht in das gemüthliche Heimwesen am Flusse.
Von den Kindern war nichts zu sehen, als Käthe über die Brücke kam – sie spielten hinter dem Hause; dafür machte sich der Haushahn um so breiter auf dem Rasenplatze; er schlug mit den farbenglänzenden Flügeln und krähte, daß es weit über das Feld hingellte; die Hühner unterbrachen ihr Scharren und schielten mit schiefgehaltenem Kopfe nach der Mädchenhand, die ihnen oft Futter hinstreute, und der Hofhund begnügte sich mit einem begrüßenden Schwanzwedeln. Er war jetzt gut Freund mit Käthe, bellte sie nie an und hatte sich mit der Zeit so viel Bildung angeeignet, die gelbe Henne nunmehr auch unangefochten vor seiner Nase hinspazieren zu lassen.
Die Hausthür stand weit offen, und die Magd war ausgegangen; mithin befand sich die Tante im Hause. Käthe stieg eben die Stufen seitwärts hinauf, als sie im Flure den Doctor sprechen hörte. Wie festgewurzelt blieb sie stehen.
„Nein, Tante, der Lärm belästigt mich. Meine Kopfnerven machen mir augenblicklich zu schaffen,“ sagte er. „Wenn ich mich für Momente in den grünen Winkel hier flüchte, so will ich ausruhen; ich brauche Ruhe, Ruhe.“ – War er es wirklich, der gelassene Mann, in dessen Stimme so viel nervöse Ungeduld, so viel zitternde Pein mitsprach? „Es ist ein Opfer, das ich von Dir verlange, Tante, ich weiß es, aber trotz alledem bitte ich Dich dringend, diese Unterrichtsstunden für die wenigen Monate, die ich noch hier sein werde, auszusetzen. Für diese Zeit will ich herzlich gern ein Zimmer in der Stadt miethen und eine Lehrerin bezahlen, damit Deinen Schülerinnen kein Nachtheil erwächst –“
„Um Gott, Leo, Du brauchst ja nur zu wünschen,“ unterbrach ihn die Tante erschrocken. „Wie konnte ich denn ahnen, daß Dir dieser Verkehr plötzlich so unangenehm ist? Nicht ein Laut mehr soll Dich stören – dafür lasse mich sorgen! Mich dauert nur Eines dabei – Käthe –“
„Immer dieses Mädchen!“ brauste der Doctor auf, als verliere er bei dieser leisen Klage den letzten Rest von Geduld und Selbstbeherrschung. „An mich denkst Du nicht.“
„Aber ich bitte Dich, Leo, was ficht Dich an? Ich glaube gar, Du bist eifersüchtig auf die Liebe und Zuneigung Deiner alten Tante,“ rief die alte Frau erstaunt und ungläubig lachend.
Er schwieg; das junge Mädchen draußen hörte, wie er einige Schritte nach der Hausthür machte.
„Meine arme Käthe! Es ist völlig undenkbar, daß ihr geräuschlos wohlthuendes Walten, ihre ganze Erscheinung irgend einem Menschen auf Gottes Erde unangenehm sein könnte,“ sagte die Tante, leisen Trittes ihm nachgehend. „Ich habe noch kein Mädchen gesehen, das so prächtig Kindesunschuld und Frauenwürde, Verstandesschärfe und Innigkeit des Gemüthes in sich vereinte. Das zieht mich unwiderstehlich zu ihr hin, und ich meine, so ungerecht dürfte auch mein Leo nicht sein, daß er neben seiner vergötterten Braut kein anderes weibliches Wesen gelten ließe.“
Käthe schrak zusammen – der Doctor brach in ein sardonisches Gelächter aus, so laut und erschütternd, daß sie sich davor entsetzte. Unwillkürlich hob sie den Fuß zur Flucht – nein, sie blieb. Das spöttische Lachen galt ihr – sie wollte wissen, wie der Doctor die gute Meinung der Tante, die ihr allerdings die Gluth der Beschämung in die Wangen trieb, widerlegen werde.
„Du bist sonst eine so kluge, klarsehende Frau, Tante, aber hier läßt Dich Dein Scharfblick kläglich im Stich,“ sagte er, das Lachen in jäher, unheimlicher Weise abbrechend. „Immerhin! Ich werde selbstverständlich Deine Ansichten nicht anfechten – wer vermag sich denn selbst in das Gesicht zu schlagen? Ich habe Dich nur um Eines zu bitten: daß unser Zusammenleben bis zu meiner Abreise sich genau wieder so gestalte, wie es vordem war – wir wollen allein sein. Du hast Dich früher ohne die Gesellschaft junger Damen vollkommen zufrieden gefühlt; suche Dich für die wenigen Monate meines Hierseins wieder in die ungestörte Einsamkeit zu finden – ich will Niemand hier aus- und eingehen sehen.“
„Also auch Käthe nicht?“
Ein starkes Aufknirschen des über die Steinfließen hingestreuten Sandes drinnen ließ das junge Mädchen vermuthen, daß der Doctor ungeduldig mit dem Fuße auftrete. „Tante, soll ich denn durchaus gezwungen werden –“ rief er erbittert, seine Stimme war kaum zu erkennen.
„Behüte Gott – Alles wie Du willst, Leo!“ unterbrach ihn die alte Frau erschrocken und doch ihr schmerzliches Bedauern nicht verbergend. „Ich werde mich bemühen, die Verbannung so schonend wie möglich einzuleiten, damit sie nicht allzu wehe thut. … Aber, mein Himmel, wie erregt Du bist. Leo, und wie fieberisch Deine Hand brennt! Du bist krank. Du opferst Dich für Deine Patienten. Nun, wenigstens hier in Deinem Heim werde ich Dir Ruhe verschaffen – darauf verlasse Dich! Darf ich Dir nicht ein Glas Limonade mischen?“
Er dankte mit beruhigter Stimme und verabschiedete sich. Käthe hörte, wie die Tante nach der Küche ging, wahrscheinlich, um das verspätete Vesperbrod herzurichten. Gleich darauf trat der Doctor unter die Hausthüre.
Da, dicht neben der Thüreinfassung, lehnte das junge Mädchen an der Wand; mit blassem Gesicht, die Zähne fest zusammengebissen, starrte sie neben dem herabsteigenden Manne weg in die leere Luft – sie wollte ihn nicht sehen.
Er schrak bei ihrem Anblick zusammen und blieb einen Moment wortlos vor ihr stehen, die unbeweglich wie ein Wachsbild in ihrer Stellung verharrte. „Käthe!“ rief er leise, ängstlich zögernd wie Jemand, der einen in einem schweren Traum Befangenen zu erwecken sucht.
Sie richtete sich in ihrer ganzen Höhe und schlanken Schönheit auf und stieg langsam die Stufen herab. „Was wünschen Sie, Herr Doctor?“ fragte sie, drunten auf dem Rasen stehend, über die Schulter nach ihm zurück. Auch diese Bewegung hätte noch den Eindruck des Automatenhaften gemacht, wäre nicht der empört flammende Blick gewesen, den sie jetzt auf den Doctor richtete.
Er erröthete heiß wie ein Mädchen und trat zu ihr. „Sie haben gehört –“ fragte er unsicher, aber gespannt in jeder Gesichtslinie.
„Ja,“ unterbrach sie ihn bitter lächelnd, „jedes Wort, und habe damit selbst schlagend bewiesen, wie recht Sie thun, Ihr Haus von fremden Eindringlingen zu säubern – die Wände haben Ohren.“ – Sie ging noch einige Schritte vom Hause weg, als könne sie nicht entfernt genug von der Schwelle stehen, die sie nicht mehr betreten sollte.
Er hatte sich währenddem gefaßt; er warf seinen Hut auf einen Gartentisch in Käthe’s Nähe und richtete seine hohe Gestalt aus der vorgeneigten Stellung empor, die er im ersten Zusammenschrecken angenommen. Aus seinen Wangen war die Röthe gewichen, aber es sah aus, als athme er auf, als sei es ihm erwünscht, daß eine solche Wendung eingetreten, daß ihm der Zufall zu Hülfe gekommen sei. „Die Furcht belauscht zu werden hat keinen Theil an dem, was ich vorhin meiner Tante ausgesprochen. Dieses stille Haus hat keine Geheimnisse, und das, was man in seine Brust verschließen muß, wird auch nicht laut zwischen Wänden, die keine Ohren haben,“ sagte er mit ruhigem Ernste. „Sie haben jedes Wort gehört – dann wissen Sie auch, daß mich nur der Wunsch nach momentanem Ausruhen bestimmt, ungestörte Stille zu fordern. Ich muß es leider gleich von vornherein aufgeben, diesen meinen rohen Egoismus entschuldigend zu motiviren. Sie können sich sicher nicht denken, daß es Seelen giebt, die fortgesetzt gleichsam auf der Flucht sind vor Gedanken und – Gestalten, aber vielleicht wird es Ihnen leichter, sich den schmerzlichen Zorn, die Qual eines Verfolgten vorzustellen, der erschöpft dem schützenden Heim zueilt und gerade da sich vor denen sieht, die er flieht.“
Sie sah mit ihren klugen Augen scheu prüfend zu ihm empor, der ihr während des Sprechens näher getreten war. Ja, es war ihm tiefer Ernst mit dem, was er sagte; er schilderte nicht nur die Qual eines solchen Verfolgten, er empfand sie auch in diesem Augenblicke wirklich und leibhaftig, das sah sie an seinem seltsam verstörten Blicke, an dem fahlen Erbleichen, das sein Gesicht gleichsam überschauerte; allein – vor seiner Braut floh er doch nicht, auch auf die unschuldigen Kinder konnte sich das Gesagte unmöglich beziehen; sonst aber verkehrte Niemand hier – außer ihr; mithin verhielt es sich in Wirklichkeit so, wie sie sich bereits tiefverletzt eingestanden: sie war ihm als Zeugin verschiedener Auftritte zwischen ihm und Flora lästig und unerträglich geworden; er mochte ihr wenigstens in seinem Hause nicht mehr begegnen, und die Unterrichtsstunden wurden nur sistirt, um ihr jeden Vorwand zum ferneren Aus- und Eingehen abzuschneiden. Diese Ueberzeugung machte ihre lieblichen Züge in dem Ausdrucke eisig lächelnden Unglaubens förmlich erstarren.
„Sie haben gar keine Verpflichtung, Ihre strenge Maßregel zu motiviren – Sie sind Herr hier, und das genügt,“ versetzte sie frostig. „Aber welche unbegrenzte Verehrung müssen Sie für die Frau Baronin Steiner hegen, daß Sie ihr die heißersehnte Ruhe opfern und ihren ungeberdigen Enkel sammt Gouvernante[WS 8] in das Haus nehmen wollen!“ – Das war eine herbe Zurechtweisung aus dem Mädchenmunde, der allerdings stets fest zu sprechen gewohnt war, noch nie aber gezeigt hatte, bis zu welcher Schneidigkeit die weiche Glockenstimme sich schärfen konnte. „Ach nein, thun Sie das nicht!“ rief sie in plötzlicher leidenschaftlicher Steigerung und streckte die Hand gegen ihn aus, als er überrascht und betreten die Lippen zu einer Entgegnung öffnete; „ich möchte nicht, daß Sie sich aus leidiger Höflichkeit zu einer Bemäntelung herbeiließen, und anders sprächen, als Sie denken. – Weiß ich doch nur zu gut, welche Beweggründe Sie leiten!“ Sie kämpfte sichtlich zornige Thränen nieder. „Ich habe einige Mal ungeschickter Weise Ihren Weg gekreuzt und begreife vollkommen die Erbitterung, mit welcher Sie vorhin sagten: ‚Immer dieses Mädchen!‘ … Ich kann mir ja selbst dieses Ungeschick nie verzeihen, obgleich ich in Wahrheit nur ein einziges Mal schuldig gewesen bin, d. h. mit Vorbedacht mich eingemischt habe. Sie aber gehen noch unerbittlicher mit mir in’s Gericht – Sie verfolgen mich dafür.“
Doctor Bruck widersprach mit keinem Worte, allein es war, als schließe er gewaltsam die Lippen gegen die Versuchung, zu sprechen. Seine Augen sahen seitwärts mit einem festen, ausdrucksvollen Blick auf sie nieder, und die Rechte, die er auf den Gartentisch gestützt hatte, zog sich wie im Krampfe zusammen. In dieser Stellung, in allen Linien seines schönen Gesichts lag das Grundgepräge dieses Männercharakters, die Verschlossenheit, die Willenskraft, die sich nur im äußersten Falle eine Erklärung abringen läßt.
„Ich bin mit innerem Widerstreben hierher zurückgekehrt,“ hob sie wieder an. „Die alte Dame da drüben“ – sie zeigte in der Richtung nach der Villa Baumgarten – „hat mit ihrem Präsidentenstolz meine Kindheit vergiftet, wo es ihr irgend möglich war, und die bitteren Thränen, die sie mit ihrer fortgesetzten Impertinenz meiner armen Lukas damals erpreßt, kann ich ihr nie vergessen. Sie wissen, wie mir bei meiner Ankunft vor dem Zusammentreffen mit meiner geistesstolzen Schwester Flora bangte, und wie ich angesichts der Villa am liebsten Kehrt gemacht und zur selben Stunde die Rückreise in mein Dresdener Heim angetreten hätte – wäre ich doch gegangen! Neben dem Beamtenstolze und der geistigen Ueberhebung macht sich nun auch der unerträgliche Geldhochmuth breit – es weht eine von Goldstaub und Anmaßung erfüllte Luft dort drüben, in der auch das lebensfrischeste Denken und Empfinden verkümmern muß. Meiner ganzen Natur nach bin ich unfähig, in einem solchen Boden Fuß zu fassen, aber hier“ – mit gehobenem Arme deutete sie über Haus und Garten hin – „hier war ich heimisch; hier hätte ich selbst meine Dresdener Heimath vergessen können, warum – ich weiß es ja selbst nicht.“
Wie lieblich stand sie im schneeweißen Kleide da, den flechtengeschmückten Kopf sinnend gesenkt! „Die alte prächtige Frau hat mir’s angethan, glaub’ ich,“ setzte sie mit einem hellen Aufblicke hinzu, „ihre edle, einfache Erscheinung verhilft mir immer wieder zu innerem Gleichgewicht; sie geht leise und geräuschlos ihren Weg, und wenn man auch nie einen eigentlichen Widerspruch von ihren Lippen hört, nie ein eigensinniges Beharren bemerkt, so weicht sie doch nicht um eine Linie von dem, was sie für gut und recht hält, ab. Das thut wohl im Hinblicke auf so viel inhaltslose Vornehmthuerei, auf so viel lügenhafte Aufbauschung und Aufgeblasenheit und auch – so manche beklagenswerthe Schwäche, in die leider selbst der männliche Geist verfallen kann.“ Die Brauen finster faltend, warf sie einen kleinen, blüthenschweren Zweig, den sie unterwegs gepflückt und bisher spielend zwischen den Fingern gedreht hatte, verächtlich weit von sich.
Diese eine Bewegung reizte und empörte den vor ihr stehenden Mann sichtlich. Ein düsteres Feuer glomm in seinen Augen auf – er hatte sie verstanden. „Sie haben vorhin eine Tugend der ‚alten, prächtigen Frau‘ aufzuzählen vergessen: die Milde und Vorsicht im Richten,“ sagte er scharf und strafend. „Nie würde sie ein so unbedingt verdammendes Urtheil in der unfehlbaren Weise aussprechen, wie Sie eben gethan, weil sie weiß, wie leicht man mißversteht, und daß gar manchmal – wie es sich denn auch in dem von Ihnen betonten Fall verhält – gerade hinter der vermeinten Schwäche sich ein Aufbieten aller inneren Kraft verbirgt.“ Er sprach in heftiger Steigerung; die schlichte Gelassenheit, die er nicht einmal bei dem mächtigen Wechsel seiner Lebensstellung auch nur momentan eingebüßt, war von ihm gewichen.
Wohl senkte Käthe in der ersten Bestürzung die Wimpern tief auf die heißen Wangen, aber sie fühlte sich im Recht; er war namenlos schwach gegen sich selbst, in seiner Liebesleidenschaft, wie in seiner Abneigung – das letztere hatte sie ja eben an sich selbst erfahren müssen. Sie warf trotzig den Kopf zurück.
In diesem Augenblicke kamen die kleinen Schülerinnen im Haschespiele um die Hausecke gelaufen. Käthe erblicken und jubelnd auf sie losstürmen war Eins. Daß der Doctor mit seinem tiefverfinsterten Gesicht neben dem Mädchen stand und die Hände abwehrend ausstreckte, kümmerte die fröhliche Schaar nicht – im Nu war die schlanke, weiße Gestalt umringt; die kleinen Hände stießen und drängten sich gegenseitig weg, Jedes wollte die Aermchen um „die schöne Tante“ legen, oder wenigstens eine ihrer Hände erhaschen.
Trotz ihrer inneren Bewegung hätte Käthe beinahe hell aufgelacht; denn so fest sie auch auf ihren Füßen stand, sie schwankte unter dem Anpralle der elastischen Kinderleiber und konnte sich ihrer kaum erwehren, der Doctor aber ergrimmte, wie sie ihn ihn noch nie gesehen. Er schalt die Kleinen zudringlich, schob sie unsanft weiter und gebot ihnen mit harter Stimme, sich wieder hinter das Haus zu verfügen und dort zu warten, bis man sie entlasse.
Die Kinder schlichen betrübt und eingeschüchtert davon.
Käthe biß sich auf die Unterlippe, und ihr umflorter Blick verfolgte die kleinen Mädchen, bis sie hinter der Hausecke verschwunden waren. „Wie gern ginge ich mit ihnen, um sie zu beruhigen, aber ich werde natürlich nicht um einen Schritt auf dem Terrain zurückgehen, das ich bereits für immer verlassen habe,“ sagte sie mit einem Gemisch von Schmerz und heftigem Zürnen.
„Beruhigen!“ antwortete der Doctor in persiflirendem Tone. „Möchten Sie mich nicht auch noch zum Unmenschen stempeln, wie ich vorhin als Schwächling bezeichnet wurde? – Trösten Sie sich – solch’ ein Kindergemüth trägt die Beruhigungsmittel in sich selber; Lachen und Weinen wohnen eng zusammen. Hören Sie, wie dort drüben bereits wieder gekichert wird?“ – Er zeigte mit einem flüchtig um seine Lippen spielenden Lächeln über die Schulter zurück. „Ich wette, das gilt mir und meiner Strenge. Ich habe um Ihretwillen die ausgelassene Schaar in die Schranken gewiesen – ich konnte das nicht sehen; wie mögen Sie es dulden, daß man Sie heftig attaquirt? Die Kinder sind schlecht erzogen –“
„Weil sie mich lieb haben? Gott sei Dank, daß es so ist! Ja, Gott sei Dank, daß ich wenigstens da noch glauben darf!“ rief sie, die festverschränkten Hände auf die Brust pressend. „Oder wollen Sie mich vielleicht auch angesichts dieser Zuneigung glauben machen, daß der Zärtlichkeitsbeweis einzig und allein meinem Geldschranke gelte? – Ach nein, auf dieser trostvollen Ueberzeugung stehe ich fest; da lasse ich mich nicht auch weghetzen – darauf verlassen Sie sich!“ Wie herzzerschneidend klang diese bittere Verwahrung von den jungen Lippen!
Er trat erstaunt zurück.
„Welche seltsame Idee –“
„Ach, ist es Ihnen wirklich so verwunderlich, daß ich endlich aufgerüttelt bin aus meiner mehr als kindischen Vertrauensseligkeit, die da gemeint hat, warmes Fühlen und braves, redliches Wollen gelten auch etwas in der Welt? Nicht wahr, es hat lange genug gedauert, bis der schwerfällige deutsche Michel in meiner Seele die Augen aufgeschlagen hat, um zu sehen, daß er sich unsterblich lächerlich mache mit seinen altmodischen Ansichten von gut und schlecht, von Wahrheit und Lüge?“ Sie wurde ganz blaß und schauerte in sich zusammen. „Es ist etwas Schreckliches um die plötzliche Erkenntniß, daß man eigentlich gar nicht mehr existirt als das, was man ach eingebildet hat zu sein, als ein junges Menschenkind mit der Berechtigung, dereinst auf seine Art glücklich zu werden.“
Er wandte schweigend die Augen von ihr weg, und sie fuhr nach einem tiefen Athemholen fort: „Sie haben mich bei unserer ersten Begegnung gefragt, wie ich mein plötzliches Reichwerden auffasse; ich bin erst in diesem Augenblicke fähig, Ihnen darauf die richtige Antwort zu geben. Ich komme mir vor, wie verunglückt in diesem Geldmeere; es strecken wohl Viele die Hand aus, aber nicht, um mich meiner selbst wegen an sich zu ziehen, sondern nur, weil die Goldwogen mir folgen.“
Der Doctor fuhr wie entsetzt empor. „Um Gott, wie kommen Sie zu dieser grauenhaften Vorstellung?“
Sie lachte herzerschütternd auf. „Das fragen Sie noch? Zwingt man mich nicht täglich, stündlich, diese grauenhafte Vorstellung mit der Gottesluft zu athmen, mit jedem Tranke zu schlürfen? Da soll man mich in meinem lieben Dresdener Heim nur cajoliren, weil ich der ‚Goldfisch‘ bin; meine Lehrer nähren das schwache Fünkchen des musikalischen Talentes in mir nur um des reichen sicheren Honorars willen, das ich zahle, und der Vormund freit um die Mündel, weil er sie – am besten zu taxiren versteht.“
Sie hatte, indem sie vor sich hinsprach, den Blick ziellos über den Abendhimmel schweifen lassen; jetzt sah sie den Doctor an – er hatte eine Bewegung gemacht, als gehe ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. „Ist das bereits Thatsache?“ stammelte er und strich sich wiederholt über die Augen, wie wenn ihn ein Schwindel überkomme. „Und es macht Ihnen wohl tiefen Kummer, sich vorstellen zu müssen, daß auch Moritz so denke?“ setzte er nach einem augenblicklichen Schweigen gepreßt hinzu.
Betroffen horchte sie auf – seine Stimme klang so auffallend matt und gebrochen. „Mehr noch verletzt es mich, daß sich Jedes für berechtigt hält, in dieser Angelegenheit mitzusprechen,“ entgegnete sie, und ihre schöne, kraftvolle Gestalt majestätisch aufrichtend, stand sie da, die verkörperte Abwehr gegen fremde Anmaßung. Sie schüttelte den Kopf mit einem bitteren Spottlächeln. „Solch ein armer Goldfisch, wie muß er sich allen Ernstes wehren, wenn er nicht in den Händen der Egoisten zum erbärmlichen Spielball werden will, und ich will nicht – absolut nicht! Sehen Sie sich vor, Herr Doctor! Sie gehören auch zu denen, die meinen, ein verwaistes junges Mädchen müsse sich dirigiren lassen, wie der Vortheil, das Behagen Anderer sein Kommen und Gehen erheische. Hier verbannen Sie mich, und dort möchten Sie mir eine Kette um den Fuß legen, damit ich bleibe. Ich möchte wissen, was Sie zu dieser Willkür berechtigt, oder nein“ – ihre Lippen zuckten im Kampfe mit aufquellenden Thränen – „ich möchte mit Henriette fragen: ‚Was habe ich Ihnen gethan?‘“
Das letzte dieser in leidenschaftlicher Klage herausgestoßenen Worte erlosch ihr auf den Lippen – der Doctor hatte ihr Handgelenk umfaßt. Seine kalten Finger drückten wie Eisen.
„Kein Wort mehr, Käthe!“ raunte er ihr in Lauten zu, die sie erschreckten. „Ich weiß zum Glück, daß nicht eine Spur von komödienhafter Falschheit in Ihnen lebt, sonst müßte ich glauben, Sie hätten die raffinirteste Folterqual ersonnen, um mir ein streng behütetes Geheimniß zu entreißen;“ er ließ ihre Hand fallen; „aber auch ich will nicht – absolut nicht!“
Er schlug die Arme über der Brust zusammen und entfernte sich um einige Schritte, als wolle er rasch nach dem Hause gehen, aber plötzlich wandte er sich dem wie erstarrt dastehenden Mädchen wieder zu. „Es interessirt mich übrigens, zu erfahren, inwiefern ich Ihnen eine Kette um den Fuß legen möchte, damit Sie bleiben,“ sagte er ruhiger. Er kam zurück und blieb vor ihr stehen.
Käthe erröthete tief; einen Augenblick zögerte sie in mädchenhafter Scheu, dann aber versetzte sie entschlossen: „Sie wünschen, daß ich die – Herrin in der Villa Baumgarten werde –“
„Ich – ich?“ Er drückte die geballten Hände gegen die Brust und brach in jenes hohnvolle Lachen aus, das sie schon vorhin bei seiner Unterredung mit der Tante erschreckt hatte. „Und wie begründen Sie diese Beschuldigung? Warum soll ich wünschen, Sie als Herrin der Villa Baumgarten zu sehen?“ fragte er, sich mühsam bezwingend.
„Weil Sie, wie Flora sagt, Henriette nicht so ohne Weiteres ihrem Schicksale überlassen wollen,“ antwortete sie mit der ganzen entschlossenen Aufrichtigkeit, die auf eine entschiedene Frage kein Ausweichen zuläßt. „Sie finden, daß ich meine arme Schwester mit hingebender Liebe pflege, und um ihr das Haus des Commerzienrathes, unser ehemaliges Vaterhaus, auch als fernere Heimath zu sichern, soll ich die schwesterliche Liebe und Hingebung noch weiter bethätigen, indem ich – die Frau des Commerzienrathes werde.“
„Und Sie glauben, daß ich an der Spitze einer derartigen Familienintrigue stehe? Sie glauben das ernstlich? Haben Sie vergessen, daß ich mich gleich zu Anfang dieser aufopfernden Pflege und Ihrem längeren Bleiben in Römer’s Hause widersetzt habe?“
„Seitdem hat sich Vieles geändert,“ entgegnete sie rasch und bitter. „Sie werden im September M. für immer verlassen; dann kann es Ihnen gleichgültig sein, wer in der Villa schaltet und waltet; Ihr Behagen wird nicht mehr gestört durch eine unsympathische Persönlichkeit –“
„Käthe!“ stieß er heraus.
„Herr Doctor?“ Sie hielt, den Kopf stolz hebend, seinen flammenden Blick ruhig aus. „Der Gedanke eines solchen Arrangements liegt eigentlich sehr nahe, und nur einem so langsam capirenden Wesen wie mir konnte es passiren, so lange blind an all’ dem vorüberzugehen,“ setzte sie scheinbar gelassen hinzu. Es war etwas Ueberlegenes in ihrem Tone und Wesen, als sei sie plötzlich um Jahre an Erfahrung und Erkenntniß gereift. „Dann käme kein fremdes Element in den Familienkreis; die ganzen häuslichen Einrichtungen könnten bleiben, wie sie sind, Bequemlichkeiten und Gewohnheiten in der Villa, wie drüben im Thurme würden nicht alterirt; Nichts, nicht einmal mein eiserner Spind in Moritzens ‚Schatzkammer‘ brauchte von seiner Stelle gerückt zu werden; das ist so praktisch gedacht –“
„Und leuchtet Ihnen so sehr ein, daß Sie nicht einen Augenblick schwanken, zu bleiben,“ ergänzte er fliegenden Athems mit einem so ungeduldig verzehrenden Blicke, als zürne er den Lippen, daß sie nicht rasch genug bestätigten.
„Nein, Herr Doctor, Sie triumphiren zu früh,“ rief sie mit einer Art von wilder Schadenfreude. „Der obstinate Goldfisch durchbricht das Netz. Ich gehe, ich gehe heute noch. Ich kam vorhin nur, um mich von der Frau Diakonus zu verabschieden, und würde daher gelächelt haben über das Verbannungsdecret, das Sie gegen mich richteten, wenn es mich nicht so schmerzlich berührt hätte. Meine Schwestern haben mir vorhin die blinden Augen geöffnet und mir in prächtiger Perspective ‚das Glück‘ gezeigt, das man für mich beabsichtigt. Ich hatte im Moment der Eröffnung das Gefühl, als gäbe es aus dem blauen Salon der Frau Präsidentin nur noch einen Weg für mich, den directen, sofortigen nach der Eisenbahn, die mich heimbefördere, und ich wäre auch gegangen, wenn ich mich nicht meiner übernommenen Pflichten erinnert hätte. Ich gehe nicht für lange, nur für die Zeit, in der ich Moritz von der Ferne aus überzeugt haben werde, daß er mir nie und nimmer mit einer anderen, als seiner streng vormundschaftlichen Beziehung kommen darf, daß ich ihm stets die entschiedenste Abneigung zeigen werde, sobald er Miene macht, einen anderen Ton, als den des väterlichen Berathers anzuschlagen.“
Ihr Busen hob sich in tiefen, befreienden Athemzügen, und die heiße Gluth, die ihr Gesicht bis an die Haarwurzeln überströmte, war das hinreißende Erröthen widerstrebender Scham, aber man sah, sie wollte es um jeden Preis klar werden lassen zwischen sich und dem Manne, der sich, während sie sprach, emporrichtete, hoch und elastisch, als werde plötzlich eine niederdrückende Wucht von seinen Schultern genommen.
„Seit dem Tage, wo wir Henriette so schwer leidend in Ihr Haus brachten, besteht ein schönes Verhältniß zwischen der Frau Diakonus und meiner armen Schwester,“ fuhr Käthe rascher fort; „ich kann ruhigen Herzens gehen, wenn die Tante sich Henriettens annimmt. Um diesen Liebesdienst wollte ich sie bitten; deshalb kam ich hierher. Ich werde ihr nun von Dresden aus schreiben; denn Sie begreifen wohl, daß die von Ihrem Grund und Boden Verbannte auch nicht einmal die kurze Strecke von hier bis zu dem Hausflure je wieder beschreiten wird.“
Mit diesen Worten ging sie an ihm vorüber. „Leben Sie wohl, Herr Doctor!“ sagte sie mit einer leichten Verbeugung und schritt nach der Brücke. Jenseits des Holzbogens, beim Umschreiten der Pappel, wandte sie den Kopf noch einmal nach dem lieben, alten Hause zurück. Dort an der Ecke lugten die Kinderköpfchen neugierig und kichernd eines über dem anderen, neben dem Gartentische aber stand der Doctor, beide Hände sonderbar schwer auf die Tischplatte stützend, und aus seinem aschfahlen Gesichte starrten die Augen mit einem fast wilden Blicke ihr nach.
Seltsames Mädchenherz! Sie flog ohne Besinnung über die Brücke zurück, über den verpönten Weg, den sie nie mehr beschreiten wollte – sie wäre noch weiter gelaufen, in die weite Welt hinein, ihm zu Hülfe.
„Ach, Sie sind krank?“ stammelte sie, ihre warmen, geschmeidigen Hände angstvoll auf die seinen legend.
„Nein, nicht krank, Käthe – nur das, was Sie mir, wenn auch in einem anderen Sinne, schuld gegeben – ein erbärmlicher Schwächling!“ stöhnte er und strich sich mit einer heftigen Geberde das nach vorn gefallene reiche Lockenhaar aus der Stirn zurück. „Gehen Sie, gehen Sie! Sehen Sie denn nicht, daß ich in einem Seelenzustande bin, für den jedes Wort der Theilnahme, jeder warme Blick zum Dolchstoß wird?“ rief er rauh, und doch bog er sich blitzschnell nieder und preßte seine Lippen fest und heiß, wie in wahnsinnigem Schmerz auf die Mädchenhand, die noch auf seiner Linken lag.
Erschreckt fuhr das junge Mädchen zusammen, allein sie fühlte ihr Herz von einem nie gekannten, beseligenden Zärtlichkeitsgefühl überströmen, und es schwebte ihr auf den Lippen zu sagen: „Nein, ich gehe nicht – Du bedarfst meiner.“ Da stand er jedoch schon wieder hochaufgerichtet vor ihr und winkte mit schmerzentstelltem Gesicht stumm, aber gebieterisch nach der Brücke – und jetzt floh das Mädchen, als schreite der Engel mit dem feurigen Schwerte hinter ihr. …
Einige Stunden später stieg sie in Hut und Schleier, eine Reisetasche in der Hand, eine Seitentreppe der Villa geräuschlos herab – sie ging, wie sie gekommen war, plötzlich, unerwartet. Henriette hatte, wenn auch tödtlich bestürzt und unter heißen Thränen, dennoch in die schleunige Abreise und mehrwöchentliche Abwesenheit der Schwester gewilligt, da sie sich selbst sagen mußte, daß auf Flora’s unumwundene, tactlose Mittheilungen hin nun eine Reihe peinlicher Auftritte für alle Theile folgen würde. Sie war auch damit einverstanden, daß Käthe stillschweigend gehe und von Dresden aus ihre Willensmeinung äußere, während sie selbst es übernahm, die Verwandten von der Abreise in Kenntniß zu setzen. Dafür stellte sie die Bedingung, daß Käthe sofort zurückkehre, gleichviel wann, und möge sie auch sein, wo sie wolle, sobald die kranke Schwester eine Stütze brauche und sie rufe.
Henriette blieb droben an der Treppe stehen und streckte der Scheidenden die Hände nach, während Käthe den Schleier über die verweinten Augen zog. Wie ein Lichtmeer wogte es durch das Haus; alle Gasflammen loderten, und am Portale fuhr donnernd eine Equipage nach der anderen vor. Für einen Moment war Käthe gezwungen, in einen Seitencorridor zu flüchten; dort, an die Wand gedrückt, sah sie Damen in eleganter Abendtoilette vorüberrauschen. Die Lakaien schlugen die Thüren des blauen Salons weit zurück, und drinnen stand Flora im spitzenbesetzten, blaßrothen Seidenkleide, strahlend schön und vornehm lächelnd wie ein Fürstenkind, und begrüßte die Gäste, die um ihretwillen kamen – der Commerzienrath gab ihrem Geburtstag zu Ehren eine große Soirée.
Bei diesem Anblick war es der Lauschenden draußen, als gingen schneidende Schwerter durch ihre Seele. Dort stand die Uebermüthige, umschwebt vom Glück, das ihr förmlich bettelnd nachgelaufen war, ob sie es auch verächtlich mit dem Fuße fortgestoßen hatte – und hier verbarg sich die Hoffnungslosigkeit, scheu wie die Sünde. Warum war aller Glücksreichthum, die ganze Fülle von Liebesseligkeit auf dieses eine Haupt gehäuft, das ihrer entbehren konnte, während die andere Schwester inmitten ihrer Goldschätze hungernd und entsagend durch das Leben gehen sollte?
Die Thürflügel fielen zu, und Käthe eilte hinaus in den Park, von einer Verzweiflung erfüllt, wie sie nur ein junges, heißes Herz zu erschüttern vermag, und während die Kammerjungfer droben ahnungslos ihrer harrte, um auch ihr beim Ankleiden für die Soirée behülflich zu sein, pochte sie an das erleuchtete Mühlenfenster und berief Franz, sie nach dem Bahnhof zu begleiten. …
Seitdem waren mehr als drei Monate verstrichen. Nie hatte sich Käthe so eifrig in ihr Musikstudium versenkt, wie in dieser Zeit, aber auch ihr übriges Wissen hatte sie auszudehnen und zu vertiefen gewußt mit jener fieberhaften Hast, die in angestrengter Arbeit und Thätigkeit – Vergessenheit sucht. Henriette hatte eine Art Tagebuch für sie angefangen, das sie allwöchentlich schickte. Diese Blätter erzählten ihr, wie sich seit ihrer Abreise das Leben in der Villa weiterspann. Sie las nur zwischen den Zeilen, daß die Präsidentin förmlich neu auflebe, aber auch anmaßender und despotischer als je im Hause herrsche; unumwundener dagegen sprach Henriette aus, daß die Großmama Käthe’s plötzlichen Entschluß, „um des dabei an den Tag gelegten Tactes willen“, geradezu in den Himmel hebe, während Flora die Achseln zucke und von Backfischstreichen spreche. Der Commerzienrath hatte mehrere Tage mit ihr gegrollt, ihrer unbefugten Einmischung wegen. Er war an jenem Abend, wo ihm Henriette in einer Ecke des Musiksalons leise das Geschehene mitgetheilt, blaß geworden vor Schreck und Verdruß, und nur die Anwesenheit der Gäste hatte eine heftige Familienscene verhindert, die jedenfalls um so erbitterter ausgefallen wäre, als auch Flora den ganzen Abend sehr verstimmt und pikirt gewesen war – der Bräutigam hatte sich mit Berufspflichten entschuldigt und war in der Geburtstagssoirée nicht erschienen.
Der Commerzienrath hatte gleich zu Anfang an Käthe und die Doctorin geschrieben und „behufs einer Aussprechung“ seinen Besuch in Dresden für den Juni angekündigt, allein das Tagebuch theilte in jener Zeit mit, daß häufiger als je Depeschen in der Villa einliefen, daß der Commerzienrath weit mehr in Berlin als daheim und mit Geschäften vollständig überbürdet sei. Der Besuch unterblieb; nur selten kam ein flüchtiger Geschäftsbrief von der Hand des Vormundes, und die letzte Geldsendung hatte – was bisher nie geschehen – der Buchhalter abgeschickt.
Käthe athmete auf; der gefürchtete Conflict war ohne allen Zweifel beseitigt. Der Herr Vormund hatte aus ihrem Antwortschreiben die Ueberzeugung gewonnen, daß er niemals hoffen dürfe, und sich vernünftiger Weise beschieden. Das junge Mädchen hätte nunmehr als Pflegerin zurückkehren können, dem aber widersetzte sich die Doctorin energisch, weil Käthe, wie sie oft tadelnd und bekümmert aussprach, so sehr verändert, mit dem Verluste ihres jugendlichen Frohsinns und ihrer frischblühenden Gesichtsfarbe heimgekommen sei. Zudem hatte die Baronin Steiner in der That mit ihrem Gefolge für zwei volle Monate Einzug in der Villa gehalten und sich dermaßen ausgebreitet, daß kein Winkelchen in der Beletage unbesetzt geblieben war.
Käthe selbst schauderte bei dem Gedanken an eine Rückkehr, so lange die Uebersiedelung nach L…..g nicht stattgefunden hatte. Sie wußte nur zu gut, daß sie jetzt nicht mehr monatelang mit äußerer Ruhe inmitten der dortigen Verhältnisse ausharren könne – bedurfte es doch selbst in Dresden all’ ihrer Kraft, nicht zu zeigen, daß sie ihren inneren Frieden verloren habe, daß sie fast übermenschlich ringe mit der süßen, zwingenden Gewalt, die sich ihrer Seele bemächtigt, und welche die Menschen Sünde nannten. Henriette hatte ja auch noch nicht „gerufen“, trotz ihrer leidenschaftlichen Klagen über die Sehnsucht nach „der starken, besonnenen Schwester“; sie sprach im Gegentheil mit enthusiastischem Danke von der Aufopferung, mit der sie von Seiten der Tante einstweilen gepflegt und verhätschelt werde. Ihr Tagebuch war eigentlich auch nur eine fortlaufende Schilderung, in der zwei Menschen die Hauptrolle spielten, der Doctor und die Tante. Alles, was sich im Hause am Flusse ereignete, wurde getreulich mitgetheilt, und war es auch nur der jähe Tod der gelben Henne, die endlich doch ein tückisches Zuschnappen des grimmen Feindes vor der Hundehütte aus der Welt befördert, oder der außergewöhnliche Traubenreichthum, der in diesem Jahre am Weinspalier hing; selbst ein neu angeschafftes silberweißes Kätzchen, „das sich auf dem Sopha der Tante breit mache“, wurde als Merkwürdigkeit aufgezählt – das waren die harmlosen Momente, sonst aber trug das Tagebuch eine düstere Färbung. Manche Stellen lasen sich, als müßten die Briefblätter noch thränenfeucht sein, andere wieder so leidenschaftlich fortreißend, als sei aus den schreibenden Fingern Feuer in die Feder geströmt. Ueber das bräutliche Verhältniß zwischen Flora und dem Doctor fiel auch hier kein Wort, wohl aber wurde angstvoll geklagt, daß der Letztere in Folge seiner aufreibenden ärztlichen Thätigkeit sich auffallend verändere; nur den Kranken gegenüber sei er mild und geduldig, im geselligen Umgange dagegen verfinstert, wortkarg wie nie und sichtlich reizbar; in seiner äußeren Erscheinung verfalle er zum Befremden Aller.
So war allmählich der Zeitpunkt herangerückt, auf welchen man die Hochzeit festgesetzt hatte. Flora hatte es unterlassen, die ferne Stiefschwester einzuladen; sie habe den Kopf voll – schrieb Henriette – eine Reihe von Fêten, die ihr zu Ehren noch gegeben würden, lasse sie kaum zu Athem kommen; dazu sei sie capriciös wie immer, auch bezüglich ihrer Aussteuer und der Vermählungsfeierlichkeiten – es werde fortwährend noch ausgewählt und geändert zur Verzweiflung der Lieferanten. Henriette befand sich in unbeschreiblicher Aufregung; sie betonte wiederholt, daß sie in dem Hochzeitstrubel um keinen Preis allein bleiben wolle. Die Tante Diakonus werde ihr in „den entsetzlichen Tagen“ voraussichtlich keine Stütze sein, da sie selbst schon jetzt unter dem Trennungsweh leide und oft auffällig verstimmt und bewegt sei. Diese Klagen steigerten sich von Blatt zu Blatt, bis eines Abends, wenige Tage vor der Hochzeit ein Telegramm einlief, welches lautete: „Komme sofort! Ich bin auch körperlich sehr elend.“
Da galt kein Zögern; auch die Doctorin war damit einverstanden, daß Käthe gehe – und das junge Mädchen selbst? Ein Nervenschauer um den anderen durchschüttelte sie aus Angst vor dem Kommenden, und dabei jubelte sie auf in unbeschreiblicher Seligkeit, daß sie den noch einmal sehen sollte, der – ihr Schwager wurde.
Da stand sie nun an einem Septembermorgen wieder in der Schloßmühlenstube. Sie war mit dem Nachtzuge gefahren und eben angekommen. Bei ihrer Abfahrt hatte sie Franz telegraphisch ihre Ankunft mitgetheilt, und liebevoller hätten Mutterhände ihre Aufnahme nicht vorbereiten können, als die alte Suse gethan. Die große, von dem durch die Kastanienwipfel hereinfallenden grünen Dämmerlichte angehauchte Stube war erfüllt von den Düften der Heliotropen, Rosen und Reseden, die auf den Fenstersimsen standen; saubere Decken lagen auf allen Tischen; im Alkoven lockte ein blüthenweißes Bett, und auf dem großen Eichentische mit den plump ausgespreizten Füßen stand die wohlbekannte kupferne Kohlenpfanne, mit ihrer Gluth den Kaffee warm erhaltend. Sogar der selbstgebackene Kuchen war noch fertig geworden und stand, zuckerbestreut, in bräunlicher Schöne neben der vergoldeten Tasse, dem Prachtstücke aus dem Glasschranke der seligen Schloßmüllerin.
Nun schütterten die schneeweiß gescheuerten Dielen wieder unter den Füßen des jungen Mädchens, und durch die offenen Fenster kam das Rucksen der Tauben und das Tosen des fernen Wehres – sie war daheim. Von hier aus wollte sie die kranke Schwester besuchen und um keinen Preis die Gastfreundschaft im Hause des Commerzienrathes annehmen, mochte auch die Frau Präsidentin die Nase rümpfen über den anstößigen Verkehr zwischen Villa und Mühle.
Käthe war in einer seltsamen Stimmung. Furcht vor dem ersten Wiedersehen in der Villa, schmerzliche Sehnsucht nach dem Hause am Flusse, dessen Wetterfahnen sie mit hochklopfendem Herzen von dem südlichen Eckfenster aus erblickte, und das sie doch nicht betreten durfte, leidenschaftliche Ungeduld, der hohen Gestalt, wenn auch nur noch ein einziges Mal, zu begegnen, die sie hier in der Mühle zum ersten Male gesehen und – das sagte sie sich ja täglich unter tausend Schmerzen – seit jenem Momente geliebt hatte: das Alles wogte in ihr, und daneben schlich eine unerklärliche Bangigkeit und Beklemmung. Schon seit Monaten füllten die Sensationsnachrichten von dem Zusammenbrechen des Gründungsschwindels in Wien und später in der preußischen Hauptstadt die Spalten der Zeitungen. In allen öffentlichen Localen, in allen Salons war der welterschütternde Einsturz dieses modernen Thurmes zu Babel das Tagesgespräch, und selbst in dem kleinen ästhetischen Cirkel der Doctorin hatte man die Ereignisse wiederholt erörtert. Während der Eisenbahnfahrt von Dresden nach M. waren sie auch das ununterbrochene Gesprächsthema der Mitreisenden gewesen – man hatte haarsträubende Dinge erzählt und noch Schrecklicheres prophezeit, und nun sah Käthe mit eigenen Augen eine der Folgen dieser Calamität. In das Gelärme der Tauben und das Rauschen des Wehres hinein klang das laute Durcheinander von Menschenstimmen, und schräg hinter der letzten Kastanie hervor konnte das junge Mädchen den großen Kiesplatz vor der Spinnerei überblicken; er wimmelte, genau wie an jenem Tage des Attentates, von Arbeitern, die bald mit allen Zeichen der Niedergeschlagenheit, bald heftig streitend und drohend unter einander verkehrten – die Actiengesellschaft, welche die Spinnerei von dem Commerzienrathe gekauft, hatte Bankerott gemacht; eben war die Gerichtscommission in der Fabrik erschienen, und die Leute stoben im ersten Schrecken wie Spreu aus einander.
„Ja, ja, so geht’s,“ sagte Franz, der eben Käthe’s kleinen Koffer heraufgetragen hatte. „Den Leuten war’s zu wohl, und sie meinen, es ginge ihnen noch lange nicht gut genug; nun gehen sie von einer Hand in die andere und kommen mit der Zeit vom Pferde auf den Esel. ’s ist aber auch eine schlimme Zeit, eine heillose Zeit. Jeder will sein Geld mit Sünden verdienen und womöglich die Ducaten von der Straße auflesen, und man kann’s den Kleinen kaum noch verdenken, die Großen machen’s ja nicht besser.“
„Wohl dem, der sein Schäfchen in’s Trockene bringt!“ fuhr Franz, gemächlich auf die Tasche klopfend, fort. „Ehrlich verdient und fein stet und redlich vermehrt, das ist meine Parole; dabei kann man ruhig schlafen. Wer sich auf das Speculiren nicht versteht, der soll’s bleiben lassen. Da ist der Herr Commerzienrath drüben – den ficht freilich die ganze Geschichte nicht an; der sitzt bombenfest, weil er ein kluger Kopf ist und eine feine Nase hat.“ Er hob mit wichtiger Anerkennung den Zeigefinger. „Kam gestern erst wieder von Berlin, stramm wie immer. Ich hatte gerade Mehl an die Bahn gefahren – hui, wie da seine zwei Schwarzen, seine Prachtpferde, vorbeisausten! Der versteht’s wie Keiner. Die Leute meinten, er hätte gewiß wieder einmal gehörig eingestrichen, so munter sah er aus und so recht wie Einer, der Millionen commandirt. Er war diesmal lange fort und wär’ wohl auch gestern Abend nicht gekommen, wenn sie heute nicht Polterabend drüben feierten.“
Polterabend! Und übermorgen war die Hochzeit, und gleich nach der Trauung sollte das junge Paar abreisen. Käthe wußte das ja; sie hatte es oft genug in Henriettens Tagebuche gelesen, und doch durchfuhr sie ein jähes, schmerzvolles Erschrecken, als es Menschenlippen so selbstverständlich aussprachen.
„Es soll hoch hergehen heute Abend,“ sagte Suse, indem sie der jungen Herrin eine Tasse Kaffee präsentirte. „Ich sprach gestern dem Herrn Commerzienrath seinen Anton, der sagte, es kämen so viele Gäste, daß sie nicht Platz genug schaffen könnten. Ein Theater haben sie gebaut, und eine Menge Fräulein aus der Stadt sollen verkleidet kommen, und das Grüne zum Putzen wird wagenweise aus dem Walde geholt.“
Es schlug Elf auf dem Thurme der Spinnerei, als Käthe nach der Villa ging. Noch klang das verworrene Stimmengeräusch von der Fabrik her an ihr Ohr, als sie den Mühlenhof durchschritt, aber kaum war die kleine Bohlenthür in der Mauer, die das Mühlengrundstück von dem Parke trennte, hinter ihr zugefallen, als auch schon tiefe, so recht vornehme Parkstille sie umfing.
Franz hatte Recht: hier überkam Einen das Gefühl, daß der wüste Lärm des Geldmarktes den reichen Mann und seine wohlgeborgenen Schätze nicht anfechte, daß die Alles verschlingenden Unglückswogen nicht einmal bis zu seinen Sohlen hinauflecken durften. Ah, dort dehnte sich ein herrlicher Wasserspiegel hin. Er fing den Azur des wolkenlosen Morgenhimmels auf – ein riesiger Sapphir von fleckenloser Reinheit! Der Teich war fertig, unglaublich rasch fertig geworden durch die massenhaft auf diesen kleinen Fleck concentrirte Menschenkraft und riesige Geldopfer. Schwäne durchfurchten die blaufunkelnde Fluth, und dem Ufer nahe schwankte ein buntbewimpelter Nachen an der Kette. Als Käthe gegangen war, hatte der Park in heller Maienblüthe gelegen – jetzt schien alles Grün tief schattirt, wie ein nachgedunkeltes Gemälde; über das sanfte Farbengemisch der Frühlingsblumen waren die Sonnenflammen sengend hingelaufen und hatten dafür die Blüthenfackeln der Cannas, die kerzenartig aufstrebenden Gladiolen auf jedem zwischen der Boscage hervortretenden Rasenspiegel angezündet.
Wie viele Hände mußten bezahlt werden, um dem Parke das Gepräge peinlicher Sauberkeit und Pflege zu bewahren! Kein abgefallenes Blättchen lag auf den Wegen; kein Grashalm bog sich über die vorgeschriebene Linie; keine verdorrende Blüthe hing an den Zweigen. Und dort zwischen den köstlich schattirten Gruppen von Laubholz trat jetzt die imposante Façade des neuen Marstalles hervor; auch an ihr war ununterbrochen gearbeitet worden; ihr Emporwachsen war ein so zauberhaft rasches, als habe eine Riesenkraft das Mauerwerk mit seinen Stuckverzierungen aus der Erde getrieben. Und hier förderte in der That die treibende Macht, das Geld, fort und fort; hier sprang der Goldquell in unverminderter Stärke, ob auch auf der Börsenbühne die großen Brunnen verschüttet waren – nein, nicht einer der elektrischen Schläge, welche die Geschäftswelt so mörderisch durchzuckten, hatte seinen Lauf hierher gelenkt.
Unter der kühlen Wölbung der Lindenallee hinschreitend, kam Käthe der Villa näher und näher. Noch nie war ihr das kleine Feenschloß so aristokratisch unnahbar erschienen, als heute in dieser tiefgoldenen Morgenbeleuchtung, mit der aufgezogenen, farbenglänzenden Flagge auf seiner Plattform – das flatternde Willkommenzeichen wogte, festlich einladend, hoch in den Lüften. Unwillkürlich legte das junge Mädchen die Hand auf das ängstlich pochende Herz – sie war nicht eingeladen, und doch kam sie. Es war ein schwerer Gang, es war ein großes Opfer der Schwesterliebe, dieses Niederkämpfen der eigenen stolzen Natur. Hinter dem Bronzegitter des untern Balcons lief das Löwenhündchen der Präsidentin auf und ab und kläffte die Kommende wie immer feindselig an, und die Papageien im blauen Salon accompagnirten kreischend durch die weit offenen Glasthüren.
Als Käthe unter das Portal trat, huschte eine Dame an ihr vorüber; sie hielt das Taschentuch vor das Gesicht, aber über den Spitzenbesatz hinweg streifte ein scheuer Blick aus furchtbar verweinten Augen das junge Mädchen. Käthe erkannte sie – es war die schöne, üppige, in Luxus schwelgende Frau eines Majors; die Eleganz ihrer Toiletten war in der Residenz sprüchwörtlich geworden. Sie eilte um die Hausecke, in das Dunkel der Boscage, jedenfalls, um erst die Thränenspuren zu beseitigen, ehe sie die von Spaziergängern wimmelnde Promenade betrat.
„Dem Manne bleibt auch nichts Anderes übrig, als ‚die Kugel vor den Kopf‘ – das Bett unter dem Leibe soll ihm genommen werden,“ hörte Käthe, an der halb offenen Thür der Portierstube vorübergehend, einen Bedienten sagen. „Geschieht ihm ganz recht – was braucht denn solch ein Officier in Papieren zu speculiren, von denen er nicht den Pfifferling versteht! Nun kommt die Frau und heult unserm Herrn was vor, und der soll nun den Karren aus dem Moraste holen – das könnte ihm fehlen! Wenn er allen Denen helfen wollte, die in den letzten Tagen dagewesen sind, da könnte er nur den Ziegenhainer in die Hand nehmen und den Staub von den Schuhen schütteln – da blieb’ ihm nichts.“
Abermals ein Opfer der entsetzlichen Katastrophe! Käthe schauerte in sich zusammen und stieg unbemerkt die Treppe hinauf. In der Beletage war es feierlich still – mechanisch schritt sie zuerst nach dem kleinen Salon, den sie bewohnt, und öffnete die Thür. Die Frau Baronin Steiner herrschte allerdings hier nicht mehr, aber das Zimmer war auch nicht angethan, einen andern Gast wieder aufzunehmen. Sämmtliche Möbel waren ausgeräumt – dafür standen große, schöndrapirte Tafeln die Wände entlang und trugen auf ihren Flächen einen förmlichen Bazar von Ausstattungsgegenständen, den mit großer Ostentation aufgebauten, wahrhaft fürstlichen „Trousseau“ der Frau Professorin in spe; in der Mitte des Salons aber wogte von einem Kleiderständer nieder milchweißer Atlas, umhaucht von Spitzenduft und mit Orangenblüthen besteckt, und so hoch auch das Postament war, der schwere Stoff schleppte doch noch weit über das Parquet hin – Flora’s Brautanzug! Käthe drückte mit weggewandten Augen die Thür wieder zu – einige Secunden später lag sie tieferschüttert in Henriettens Armen, die in einen so exaltirten Jubel ausbrach, als werde sie durch diese Ankunft aus namenloser Pein erlöst.
Die kranke Schwester war allein. Man habe heute im Hause keine Zeit für sie, klagte sie; der Commerzienrath richte Flora die Hochzeit aus, und zwar mit einem beispiellosen Aufwand. Er wolle bei dieser Gelegenheit der Residenz wieder einmal zeigen, wie hoch er Alle überrage, wenn er auf seinen Geldsäcken stehe – das sei nun einmal seine Schwäche. … Ganz ihrer unabhängigen Art und Weise gemäß, hatte sie es unterlassen, den Verwandten anzuzeigen, daß sie Käthe telegraphisch berufen habe. Das sei doch völlig überflüssig, meinte sie mit großen, erstaunten Augen auf Käthe’s betroffenes Kopfschütteln hin; sie habe es stets betont, daß die Schwester eines Tages zurückkommen werde, um sie zu pflegen – man wisse das im Hause gar nicht anders, und was ein mögliches unvorbereitetes Zusammentreffen mit dem Commerzienrath betreffe, so möge sie ganz ruhig sein, er habe jedenfalls „eine neue Flamme“ in Berlin; er sei die beiden letzten Male – vorzüglich aber gestern – ziemlich zerstreut[WS 9] zurückgekehrt, und habe auf Flora’s Neckereien hin nur schlau gelächelt und durchaus nicht geleugnet.
Käthe schwieg auf alle diese Mittheilungen; sie hatte zuletzt nur den einen Gedanken, daß es allerdings die höchste Zeit für sie gewesen sei, zurückzukehren. Sie fand die Kranke maßlos aufgeregt; der hohle, erstickende Husten schüttelte den schattenhaft abgezehrten Körper viel häufiger als früher; die Hände brannten wie Kohlen, und der Athem ging so schwer, so mühsam aus und ein. Henriette hatte es bisher auch bei den heftigsten Leiden nie „zu Thränen kommen lassen“ – sie hatte einen unglaublich starken Willen, heute aber waren ihre schönen Augen verweint bis zur Unkenntlichkeit. Sie verzehre sich in Angst, daß Bruck bei all seiner Liebe für Flora doch vielleicht sehr unglücklich werden würde, klagte sie, ihr Gesicht an Käthe’s Brust verbergend, und obgleich nie ein unvorsichtiges Wort darüber gefallen, sei sie dennoch fest überzeugt, daß die Tante genau so denke und sich gräme. … Käthe wies sie mit der schneidenden Antwort zurecht, daß das einzig und allein Bruck’s Sorge sei und bleiben müsse; Niemand habe mehr Anlaß gehabt, tiefe Einblicke in Flora’s selbstsüchtiges Wesen zu thun, als gerade er; wenn er trotzalledem darauf bestehe, sie zu besitzen, so werde er sich auch mit seinem Schicksal abzufinden wissen, möge es fallen, wie es wolle. … Henriette fuhr ganz erschrocken empor, so rauh klang das Gesagte; es lag überhaupt etwas so bestürzend Fremdes, eine Art starrer Zurückhaltung und Abgeschlossenheit in der Erscheinung der jungen Schwester, als sei auch sie mit sich und ihrem Schicksal fertig – nach schweren Kämpfen. …
Kurze Zeit nachher stieg Käthe, die kranke Schwester vorsichtig stützend, auf der kleinen Treppe in das untere Stockwerk hinab, „um sich zu melden“. Sie kamen durch den schmalen Corridor, in welchen Käthe bei ihrer Abreise für einen Moment geflüchtet war. Er lief den großen Saal entlang, der fast den ganzen Raum des einen Seitenflügels der Villa nahezu beanspruchte – in ihm wurden die berühmten Hausbälle des reichen Mannes abgehalten.
„Es ist Probe für heute Abend, und dabei wird noch fortdecorirt und geschmückt,“ sagte Henriette aufhorchend und heiser und höhnisch vor sich hinlachend – pathetische Declamation, hie und da durch intensives Pochen und Hämmern unterbrochen, scholl durch die Thüren. – „Wie ekeln mich diese Mädchen da drinnen an! Sie möchten sämmtlich, wie sie auch auf der Bühne stehen, der Braut die Augen auskratzen, und doch faseln sie in grenzenlosem Schwulst von der schönsten Blume, die ihrem Kranz entrissen werde, von dem Dichtergenius, der ihre Stirne geküßt habe, und was dergleichen poetische Aderlässe mehr besagen. Und Moritz mit seiner maßlosen Verschwendung benimmt sich dabei wie ein Narr. Gestern Abend, unmittelbar nach seiner Rückkehr von Berlin, hat er die Handwerker wie Buben gescholten; die Decoration mußte als ‚trödelhafter Plunder‘ sofort von den Wänden gerissen werden, weil die Leute in zwei dunklen Ecken Wollstoffe statt Seidendamast verwendet hatten; er wird nachgerade abstoßend mit seinem ewig herausgekehrten Millionärbewußtsein. Da sieh her!“
Sie schob unhörbar eine der Thüren etwas weiter auf. Durch den nur schmalen Spalt sah man die Bühne nicht, auf der die Probe abgehalten wurde; dagegen präsentirte sich schräg seitwärts ein prachtvoller Baldachin von goldbefranztem Purpursammet – er sollte sich heute Abend über dem Brautpaar wölben.
„Wie wird er mit seinem blassen, finsterbrütenden Gesicht sich ausnehmen unter dem komödienhaften Firlefanz dort!“ flüsterte Henriette und drückte den blonden Kopf wie in ausbrechender Verzweiflung tief bewegt an die Gestalt der Schwester. „Und sie wird wieder neben ihm stehen, siegend, triumphirend wie immer, in der wohlstudirten Toilette von weißem Mull und kindlich naiven Margarethenblümchen, wie sie der unschuldsvollen Braut am Polterabend zukommt. Ach Käthe, es ist etwas so Seltsames, Unbegreifliches um diese ganze Geschichte; ich habe jetzt so oft das Gefühl, als laure ein unglückseliges Geheimniß dahinter, so etwas wie ein heimlich glimmender Feuerbrand unter grauer Asche.“
Im Eßzimmer saß die Präsidentin mit Flora und dem Commerzienrath beim Frühstück. Die Braut war im eleganten, rosa bordirten Schlafrock, und ein Morgenhäubchen bedeckte die aufgewickelten Locken. Käthe erschrak fast, so grau und scharf erschien das Römergesicht der schönen Schwester ohne die goldene Glorie der Stirnlöckchen; heute sah sie zum ersten Male, daß Flora die Jugend hinter sich habe, daß endlich das ruhelose Bestreben, sich hervorzuthun, die glühende Ehrsucht anfingen, das herrliche Oval unerbittlich in harter, einwärtssinkender Linie zu verlängern.
„Mein Gott, Käthe, wie kommst Du denn auf die Idee, uns gerade heute in’s Haus zu fallen?“ rief sie emporschreckend, im rückhaltslosen Aerger. „In welche Verlegenheit bringst Du mich! Nun muß ich Dich wohl oder übel mit in’s Gefolge stecken. Ich habe aber schon zwölf Brautjungfern – eine dreizehnte kann ich nicht brauchen, wie Du Dir wohl selbst sagen wirst“ – sie unterbrach sich mit einem leisen Aufschrei und fuhr zurück.
Der Commerzienrath hatte mit dem Rücken nach der Thür zu gesessen und eben ein Glas Burgunder zum Munde geführt, als Flora’s Ausruf den Eintritt der Schwestern signalisirte. War ihm das Glas in Folge der Ueberraschung entglitten, oder hatte er es unsicher, mit abgewendeten Augen auf den Tisch gestellt, – genug, der volle, dunkelpurpurne Inhalt ergoß sich über das weiße Damasttuch und benetzte auch Flora’s Kleider.
Der reiche Mann stand einen Augenblick starr, verwirrt, mit völlig entfärbtem Gesichte und stierte erschreckten Auges nach der Thür, als trete dort ein wesenloses Phantom, nicht aber das imposante Mädchen mit den ernsten Zügen und der ruhigen, festen Haltung herein. Aber er faßte sich rasch. Mit einer lebhaften Entschuldigung gegen Flora drückte er auf die Tischglocke, um helfende und säubernde Hände herbeizurufen, dann eilte er auf Käthe zu und zog sie in das Zimmer herein. Und da ließ sich auch nicht eine Spur vom verschmähten Liebhaber in seinem ganzen Wesen entdecken; er war in jedem Worte, in seinem kühlen Händedrucke ganz und gar der väterlich gesinnte Vormund von ehedem, der sich freute, seine Mündel wohlbehalten zurückkehren zu sehen. Er klopfte sie wohlwollend auf die Schulter und hieß sie willkommen.
„Ich habe nicht gewagt, Dich einzuladen,“ sagte er; „auch war ich in der letzten Zeit geschäftlich zu sehr überbürdet, um viel an Dresden denken zu können – Du wirst das verzeihen –“
„Ich bin einzig und allein als Henriettens Pflegerin gekommen,“ unterbrach ihn Käthe rasch, aber ohne den leisesten Anklang von Gekränktsein über Flora’s ungezogene Begrüßung.
„Das ist lieb und gut gemeint, mein Kind,“ sagte die Präsidentin mit aufgehelltem Gesichte; jede, auch die letzte Befürchtung erlosch in ihr angesichts dieser unbefangenen Begegnung. „Aber wohin mit Dir? In Deinem ehemaligen Zimmer ist Flora’s Trousseau aufgestellt und –“
„Sie werden mir deshalb nun doch erlauben müssen, mich in meinem eigenen Daheim einzuquartieren, wie ich auch bereits gethan habe,“ fiel Käthe höflich mit bescheidener Zurückhaltung ein.
„Es wird mir vorläufig nichts Anderes übrig bleiben,“ versetzte die alte Dame lächelnd und sehr gut gelaunt. „Heute Nachmittag wird unser Haus zum Bersten überfüllt sein – dazu leben wir in einem Trubel, wie ich ihn noch nicht gesehen; mit Mühe haben wir uns an den Frühstückstisch gerettet. Vom Morgengrauen an wird gehämmert, probirt –“
„Ja, sie declamiren drüben, daß die Balken zittern,“ sagte Henriette boshaft und legte sich müde in einen Lehnstuhl zurück, den ihr der Commerzienrath hingerollt hatte. „Im Vorübergehen hörten wir ‚Pallas Athene‘, die ‚Rosen von Kaschmir‘ und die ‚neue Professur‘ in lieblichem Versegemengsel –“
„Hu!“ stieß Flora heraus und legte zornig beide Hände auf die Ohren. „Es ist geradezu unverschämt, mir ein solches Dilettantenproduct vorzuleiern, mir, die ich mit meinen reizenden Festspielen stets und immer, vorzüglich bei Hofe, excellirt habe. Und da soll man nun stillsitzen und keine Miene verziehen, während man sich vor Spott und Lachen die Zunge abbeißen möchte –“
Die Präsidentin unterbrach sie mit einer hastigen Handbewegung; eben traten die darstellenden Damen, die vor der Probe Chocolade im Eßzimmer getrunken hatten, herein, um ihre zurückgelassenen Hüte und Sonnenschirme zu holen.
Flora schlüpfte in das anstoßende Boudoir der Großmama.
Mit affectirter Freude eilte die Hofdame, Fräulein von Giese, auf Käthe zu und begrüßte sie als eine „Langentbehrte“; auch dem Commerzienrathe reichte sie die Hand zum Gruße. „Schön, daß wir Sie hier treffen, mein bester Herr von Römer!“ rief sie. „Da können wir Ihnen doch vorläufig danken für die bewunderungswürdige Art und Weise, mit der Sie unsern kleinen Polterabendscherz unterstützten. Wahrhaftig superbe, zauberhaft!“ Sie küßte entzückt ihre Fingerspitzen. „Solche Feerien aus ‚Tausend und einer Nacht‘ kann man allerdings auch nur in der Villa Baumgarten arrangiren – darüber ist die ganze Welt einig. – Apropos, haben Sie schon von dem Unglücke des Major Bredow gehört? Er ist fertig, total zu Grunde gerichtet – alle Kreise sind alarmirt. Mein Gott, in welcher entsetzlichen Zeit leben wir doch! Sturz folgt auf Sturz, in so rapider Weise –“
„Major Bredow hat aber auch wahnsinnig genug in den Tag hinein speculirt,“ sagte die Präsidentin gleichmüthig und stützte behaglich den Ellenbogen auf die gepolsterte Lehne ihres Fauteuils. „Wer wird denn so toll, so ohne Sinn und Verstand vorgehen?“
„Die Frau, die schöne Julie, ist schuld – sie hat zu viel gebraucht; ihre Toiletten allein haben jährlich dreitausend Thaler gekostet.“
„Bah, das hätte sie auch fortsetzen können, wenn der Herr Gemahl mit seinem Anlagecapital vorsichtiger gewesen wäre, aber er hat sich an Unternehmungen betheiligt, die von vornherein den Schwindel an der Stirn getragen haben.“ – Sie zuckte die Achseln. „In solchen Fällen muß man mit einer Autorität gehen, wie ich zum Beispiel; gelt, Moritz, wir können ruhig schlafen?“
„Ich mein’ es,“ versetzte er lächelnd mit der lakonischen Kürze der Ueberlegenheit und füllte sein Glas mit Burgunder – er leerte es auf einen Zug. „Ganz ungerupft bleibt man bei einem solchen eclatanten Zusammensturz selbstverständlich auch nicht; da und dort entschlüpft ein kleines Capital, das man ‚spaßeshalber‘ riskirt hat – Nadelstiche, an denen sich bekanntlich Niemand verblutet –“
„Ach, da fällt mir eben ein, daß ich ja heute die Börsenzeitung noch nicht erhalten habe,“ fiel ihm die Präsidentin in’s Wort und richtete sich lebhaft auf. „Sie kommt sonst pünktlich um neun Uhr in meine Hände.“
Er zog gleichgültig die Schultern empor. „Wahrscheinlich ein Versehen auf dem Postamte, oder das Blatt hat sich in mein Brief- und Zeitungspaket verirrt und ist mit hinüber in den Thurm gewandert; ich werde nachsehen.“ Dabei stellte er sein Glas nieder.
„Pardon, meine Damen!“ sagte er mit Hindeutung auf sein rasches Trinken. „Ich fühlte plötzlich, daß mein gefürchteter Kopfschmerz im Anzuge; er kommt blitzschnell, und ich pflege ihn mit einem schnellgenossenen Glase Wein aus dem Felde zu schlagen.“ Vorhin hatte er in der That ausgesehen, als dringe ihm die dunkle Gluth des Rothweins bis unter die Stirnhaut.
Er entkorkte rasch eine Flasche Sect und füllte mehrere auf dem Büffet stehende Gläser. „Ich bitte, mit mir auf das Gelingen unserer heutigen Abendvorstellung zu trinken,“ sagte er, ein Glas hebend, zu den Damen, welche die Krystallkelche ergriffen und seinem Beispiele folgten. „Die Blumenfee mit ihrem reizenden Gefolge soll leben. Die Jugend und die Schönheit, und das herrliche Leben selbst, das ja Keinem von uns feindlich ist, ja auch der süßen Gewohnheit des Daseins ein Hoch!“
Die Gläser klangen, und die Präsidentin schüttelte leise lachend den Kopf.
Käthe war unwillkürlich in die Fensternische zurückgewichen, in deren Nähe Henriettens Lehnstuhl stand. Sie sah, wie sich bei dem tactlosen Trinkspruche die Wimpern der Kranken feuchteten, wie sie sich im schmerzlichen Zorne auf die Lippen biß – die süße Gewohnheit des Daseins war für sie ein Marterrost, und „das herrliche Leben“ ließ sich „feindlich“ genug jeden Athemzug mit Schmerzen abkaufen. Die junge Mündel hatte kein Glas genommen, und der Herr Vormund hatte ihr auch keines angeboten. Der Blick des Mädchens glitt dunkel und ernstsprühend über seine lebhaft erregten Züge. Sie hatte nie geahnt, daß auch hinter diesem glatten, leidenschaftslosen Männerantlitze ein innerer Sturm aufwogen könne – und da war er in den unstät flackernden Augen, in dem leisen, convulsivischen Beben der Lippen, in der ungewöhnlich lustig forcirten Stimme.
Es war, als fühle der reiche Mann den Blick – er sah unwillkürlich nach der Fensternische, dann stellte er rasch sein Glas auf den Tisch und fuhr sich mit beiden Händen hastig über Stirn und Haar; zu dem Kopfschmerze, der diesmal der Weincur zu spotten schien, hatte sich für einige Secunden nun auch ein leichter Schwindelanfall gesellt.
Der Polterabendlärm in der unteren Etage steigerte sich Nachmittags bis zur Unerträglichkeit. Die adeligen Rittergutsbesitzer aus der Umgegend fuhren vor und mußten einlogirt werden. Aus der Stadt wurden Korbwannen voll „Theaterstaat“ herbeigeschleppt – die Darsteller sollten sich in der Villa costümiren. Friseure und Schneidermamsells rannten aus und ein, und dazwischen trabten die Gärtnergehülfen immer noch von den Treibhäusern her nach der Villa, keuchend und schweißtriefend unter der Last mächtiger Palmen, Orangen- und Gummibäume.
Bei all’ dem dumpfen Geräusche unter ihrem Zimmer war Henriette doch in einen scheinbar erquickenden Nachmittagsschlummer gesunken. Im anstoßenden Cabinete saß Nanni, die Kammerjungfer, und nähte mit flinken Händen Silberflitter auf eine Gazewolke, deren die immer noch fieberhaft arbeitenden Tapezierer drunten im Saale bedurften. Käthe öffnete leise die Thür und empfahl dem Mädchen, wachsam zu sein und das Zimmer nicht zu verlassen, bis sie zurückkehre – dann ging sie hinab, um in der Mühle verschiedene Anordnungen zu treffen.
Sie vermied es, den Hauptcorridor zu betreten – er wimmelte von ab- und zugehenden Menschen – und bog in den neben dem Saale hinlaufenden Gang ein. Er war weniger belebt, aber in der schmalen Thür, auf die er mündete und welche in’s Freie führte, stand der Commerzienrath, den Strohhut auf dem Kopfe und augenscheinlich im Begriff, nach dem Thurme zu gehen. Er gab dem Lakai Anton, der ihn speciell bediente und deshalb mit ihm die Ruine bewohnte, einige in der Stadt zu besorgende Aufträge. „Lasse Dir Zeit!“ rief er dem Forteilenden nach. „Erst nach sechs Uhr will ich mich umkleiden.“
Käthe schritt leise und langsam weiter; sie hoffte, er werde nun auch die Schwelle verlassen und in den Garten hinaustreten, allein er schob mechanisch die Hände in die Seitentaschen seines leichten Ueberziehers und ging nicht. Zu seinen Füßen liefen einige Stufen hinab; er stand ziemlich hoch und konnte von da aus ein bedeutendes Stück seines herrlichen Parkes übersehen, und das fesselte ihn offenbar an seinen Platz. Hatte er denn noch nie diesen Anblick in seiner überraschenden Schönheit so empfunden wie jetzt, wo die Spätnachmittagsbeleuchtung, in die sich bereits rosige Tinten des Abendlichtes stahlen, darüber hinfloß? … Immer wieder zeigte die Bewegung seines Kopfes, daß er die Augen rundum schweifen lasse, aber das junge Mädchen sah auch, daß sein Oberkörper unter fliegenden, gepreßten Athemzügen förmlich bebte; sie sah, wie sich seine Hände in den Taschen krampfhaft ballten, wie die Rechte plötzlich aufzuckend nach der Stirn fuhr und sich über die Augen legte. Er kämpfte jedenfalls mit dem Unwohlsein, über welches er heute Morgen geklagt und das er standhaft verbiß, um die Abendfestlichkeiten nicht zu stören.
Sie trat jetzt geflissentlich fester auf, und bei dem Geräusche fuhr er herum.
„Dein Kopfweh hat sich verschlimmert?“ fragte sie theilnehmend.
„Ja – und ich habe in diesem Augenblicke wieder einen beängstigenden Anfall von Schwindel gehabt,“ antwortete er mit unsicherer Stimme und drückte sich den Hut tiefer in die Stirn. „Kein Wunder! Hätte ich eine Ahnung gehabt von den tausend Widerwärtigkeiten, die mit dieser Polterabendfeier verknüpft sind, ich hätte ganz gewiß davon abgesehen,“ setzte er gefaßter, aber auch mit einer ihm sonst fremden Art von Poltern hinzu. „Diese bornirten Handwerkerköpfe haben in meiner Abwesenheit Alles verkehrt gemacht; sie haben mich und meine Intentionen nicht begriffen, und was sie in einer vollen Woche zusammengekleistert und ‑genagelt haben, das mußte heruntergerissen und in Zeit von zwölf Stunden neu hergestellt werden. Nun haben wir den Lärm und die beispiellose Hetzerei bis auf den letzten Moment, wo die Gardine in die Höhe gehen soll.“
Er stieg die Stufen herab, langsam und zögernd, als schwimme bereits Alles wieder vor seinen Augen.
„Soll ich zurückgehen und Dir ein Glas Selterswasser holen?“ fragte sie, auf der Schwelle stehenbleibend. „Oder wäre es nicht besser, den Arzt zu holen?“
„Nein – ich danke Dir, Käthe,“ versetzte er in seltsam weichem Tone, und sein feuchter Blick überflog schimmernd, wie messend das schlanke Mädchen, das seiner Besorgniß so ungekünstelt Ausdruck gab. „Uebrigens irrst Du sehr, „wenn Du meinst, Bruck sei so leicht erreichbar. Der läßt sich von seiner Praxis hetzen bis zum letzten Augenblick; ich glaube, man wird ihn übermorgen vom Krankenbette zur Trauung holen müssen.“ Ein sarkastisches Lächeln, als mache er sich innerlich über die ganze Welt lustig, flog über seine Lippen. „Das beste Mittel habe ich selber“ – sagte er gleich darauf – „meinen kühlen Thurmkeller. Ich bin eben im Begriffe, hinüberzugehen und die Weine für heute Abend herauszugeben; die frische Kellerluft wird wirken wie eine kühlende Compresse.“
Käthe knüpfte die Hutbänder unter dem Kinne fester und trat heraus auf die Thürstufen.
„Und Du gehst noch in die Mühle? Hoffentlich nicht weiter?“ meinte er, nach seiner Uhr sehend; diese einfache Frage klang so nachlässig hingeworfen, und doch kam es Käthe vor, als stocke der Athem dabei.
Die Stufen herabsteigend, sagte sie ihm, was sie nach der Mühle führe, dann ging sie mit einem freundlichen Kopfneigen über den Kiesplatz, während der Commerzienrath die Richtung nach dem Thurme einschlug. Hinter dem ersten Strauche des nächsten Boskets sah sie noch einmal unwillkürlich nach ihm hinüber; er war unverkennbar leidender, als er eingestehen mochte. Schon wieder ging er zögernd, wie mit einknickenden Knieen; er hatte den Hut in den Nacken geschoben, als stürme ihm die Fiebergluth abermals nach dem Kopfe, und seine Augen irrten ziellos über den Park hin.
Jetzt brauste es auch ihr durch das Gehirn; ein dunkles Angstgefühl überkam sie. Der kranke Mann mit dem unsicheren Gebahren allein im Thurmkeller! Wie ein Fiebergespenst jagte der grauenhafte Gedanke, der sie einst angesichts der Ruine gepackt, an ihr vorüber. „Ich bitte Dich, Moritz, sei vorsichtig mit dem Kellerlicht!“ rief sie ihm angstvoll zu.
War er zu tief im Nachgrübeln versunken gewesen, oder hatte sich bereits jene nervöse Reizbarkeit seiner bemächtigt, die vor jeder lauten Menschenstimme erschrickt: er fuhr wild empor, als habe ihn ein Schuß getroffen.
„Was willst Du damit sagen?“ rief er heiser zurück. „Wie? Siehst Du Gespenster am hellen Tage, Käthe?“ setzte er gleich darauf hinzu; er brach in ein schallendes Gelächter aus, das etwas tief Beschämendes für die jugendliche Warnerin hatte, und verschwand mit einem spöttisch grüßenden Handwinken und sehr stramm gewordener Haltung im nächsten Laubgange.
Kaum eine halbe Stunde später ging Käthe am Flusse hin. Die Geschäfte waren erledigt, und so viel Zeit blieb ihr noch, verstohlen das alte, liebe Doctorhaus wiederzusehen. Wie schlug ihr das Herz, als sie durch das bewegliche Laub der Uferbirken die in der Sonne glühenden Wetterfahnen flimmern sah! Wie erschrak sie bei jedem verrätherischen Knirschen des Sandgerölles unter ihren Füßen! Sie kam wie eine Vertriebene, die einen letzten Blick in das gelobte Land werfen will. Und nun lehnte sie an der Pappel, die den Holzbogen flankirte – an dieser Stelle hatte Sie das letzte unverwischliche Bild in ihre Seele aufgenommen; wie aus Goldgrund hatten sich die lauschenden Kinderköpfchen neben der Hausecke draußen von der strahlenden Landschaft abgehoben, und dort an dem Gartentische war der kraftvolle, strenge Mann in unbegreiflicher Gemüthserschütterung zusammengebrochen.
Jetzt war es still auf dem tiefbeschatteten Rasengrunde. Die Obstbäume, die sie in prangender Maienfrische gesehen, bogen sich unter der Last ihrer Früchte, die gelb und rothbackig das unscheinbar gewordene Laub überstrahlten und die Lüfte mit dem köstlichen Aroma der Reife erfüllten, und am Weinspalier des Hauses hing der vielgerühmte Traubenreichthum in tiefer Bläue. Nur einen einzigen schüchternen Blick nach dem Eckfenster, wo der Schreibtisch stand! Der Doctor war ja nicht daheim; er eilte von einem Krankenbette zum andern „bis zum letzten Augenblicke“. Und in dem Zimmer wohnte er auch nicht mehr. Weiße, spitzenbesetzte Gardinen hingen hinter den Scheiben; auf dem Sims, zwischen den Töpfen mit vollblühenden Alpenveilchen, lag ein schneeweißes Kätzchen, und jetzt hoben sich zwei strickende Hände, und ein Frauenkopf mit silberweißem Scheitel unter dem sauberen Mullstrich bog sich darüber her – die alte Freundin der Tante Diakonus war bereits eingezogen. Er hatte auch diese Brücke hinter sich abgebrochen; er war reisefertig, und
[331] übermorgen kam „der letzte Augenblick“, wo die stolze, herzlose Schwester neben ihm stand, im weißen Atlaskleide, um – „die Salonrepräsentantin des berühmten Mannes“ zu werden. Hatte sie einst schwerer gekämpft, die schöne, blonde Edelfrau, als das Mädchen, das jetzt, bitterlich weinend, die Arme um den schlanken Stamm legte und an die rauhe, harte Rinde die Stirn preßte, bis sie ihr schmerzte? Jene war geliebt worden, und wenn auch verlassen, traf sie keine Schuld, hier aber nagte an dem Herzen einer Ungeliebten sündhafte Eifersucht, und die sie beneidete, war – die eigene Schwester.
Starke Männerschritte hinter ihr machten sie aufschrecken. Der Müller Franz ging mit einer über die Schulter gelegten Eisenstange vorüber, um nach dem oberen Wehre zu sehen, wie er sagte. Diese Begegnung, die ihr das Blut in das Gesicht trieb, scheuchte sie von ihrem Lauscherposten, und während Franz rasch weiter eilte, ging sie langsam am Ufer hin. Sie konnte sich noch nicht entschließen, in die Villa zurückzukehren – mit ihrer Toilette für heute Abend war sie ja längst fertig, ehe Henriette, die trotz ihrer Hinfälligkeit um jeden Preis dem Festspiel beiwohnen wollte, ihren armen, elenden Körper so geschmückt hatte, daß die Spuren der verheerenden Krankheit weniger hervortraten.
Hier war es so köstlich einsam. Niemand sah ihre gerötheten Augen, und wie sie zornig mit ihrem widerspenstigen Herzen rang, mit ihrer sündigen Sehnsucht, die sie hierher getrieben hatte – ja, sie allein – Schande über sie, wenn sie sich selbst anlog und ihr leidenschaftliches Verlangen beschönigte! Nicht das traute Haus, nicht die liebenswürdige alte Frau drinnen hatte sie wiedersehen wollen, und es war auch nicht ihre feste Ueberzeugung gewesen, daß er nicht daheim sein könne – sie hatte es doch gehofft, und nun, wo sich ein anderes Gesicht als das seine am Eckfenster gezeigt hatte, war ihr das traute Fleckchen Erde öde und sonnenverlassen erschienen.
Der voranschreitende Müller war ihren Blicken entschwunden – sie kam der Ruine näher. Der Wasserring glitzerte von ferne und das auseinandertretende Gebüsch ließ sie den eleganten Brückenbogen übersehen, der sich über den Graben schwang. … In diesem Augenblicke beschritt ihn vom Thurme her ein Mann mit großem, rothblondem, tief auf die Brust hinabreichendem Vollbarte. Er trug eine blaue Arbeiterblouse unter dem lässig übergeworfenen Rocke und jagte mit seinem Stocke die zwei Rehe vor sich her. Sie stoben förmlich über die Brücke und flohen in den Park hinein.
Käthe würde den Mann nicht weiter beachtet haben – Handwerker verkehrten ja oft im Thurme – wenn sein Gebahren sie nicht stutzig gemacht hätte. Der Commerzienrath liebte die Rehe zärtlich; er konnte sehr böse werden, wenn er eines im Parke umherirrend fand – und nun jagte der Fremde die scheuen Thiere geflissentlich über das Wasser! War er einer jener Erbitterten, die dem beneideten Reichthume Schaden zufügen [332] und Schabernack anthun, wo sie können? … Er schlug den Weg ein, der nach dem großen Parkthore und auf die Landstraße hinausführte; sie verfolgte ihn mit den Augen, bis ihn das Dickicht aufnahm – welche Aehnlichkeit! Seiner Haltung und Größe, seinem ganzen Körperbau nach hätte der Mann im Arbeiterrocke ein blonder Zwillingsbruder des Commerzienrathes sein können.
Sie blieb wider Willen gefesselt stehen und sah nach dem Thurme, von wo er gekommen war – wie herrlich gruppirte sich hier die Landschaft um die Ruine, und mit welch’ künstlerischem Tacte und Gefühle hatte der aus der Ferne herbeigerufene Baumeister das Vorhandene zu benutzen verstanden, um die Mauerreste mit einem so ergreifend romantischen Zauber zu umspinnen! Es war wieder still geworden; nur das Flügelklatschen der Tauben, die über dem Thurme kreisten, klang schwach herüber – wie kleine Silberkähne durchschifften die graziösen Luftsegler den klaren, roth angehauchten Abendhimmel und schlüpften durch die Lücken der Mauerkrone, die scharfzackig in das Aetherblau hineinschnitt – nein, nicht die Mauerkrone! Ein urplötzlich speiender Krater war es, der unter donnerndem Krachen eine Garbe schwarzen Schwalles riesenhoch in den Himmel hineinschleuderte. Der Boden wurde dem Mädchen buchstäblich unter den Füßen weggerissen – sie stürzte, wie hingeschmettert – dann schwemmten kühle Wassermassen an sie heran.
Was war das? .. Alles, was laufen konnte, stürzte aus der Villa und rettete sich hinaus in den Garten – das Haus hatte in seinen Grundvesten bis zum Einsturze gewankt. – Ein Erdbeben! Wie entgeistert, athemlos standen die Menschen draußen, jeden Augenblick erwartend, daß sich die Erde zu ihren Füßen aufthun werde. Schon spie sie Wasserbäche dort über die niedriger gelegenen Rasenspiegel hin; die Lüfte athmeten Brandgeruch und streuten Atome zu Zunder gebrannter Stoffe auf den Kies. … Die mächtigen Scheiben des stolzen Hauses waren zersprungen; und im großen Saale lagen die deckenhohen Spiegel zerschmettert auf dem Parquet, und von dem luftigen Bau der Bühne waren die Sammet- und Seidendraperien abgeschüttelt, und die Arbeiter hatten sich nur mit Mühe vor den schwer niederstürzenden Bronzeverzierungen und Stangen gerettet.
Von der Promenade her stürmten jetzt die Spaziergänger herein, unter ihnen Anton, der aus der Stadt zurückkehrte. „Dort, dort!“ schrieen die Leute der Präsidentin zu, die sich halbohnmächtig auf Flora’s Schulter stützte, und zeigten über den Park hin. Dort brannte es – dicke, schwarze Rauchwolken quollen auf, so intensiv, daß man besonders brennbare Stoffe wie Raketen einzeln in dunkler Nacht emporschießen sah.
„Das Pulver im Thurme hat explodirt,“ rief Jemand aus der Mitte des Menschenknäuels.
„Unsinn!“ antwortete Anton, nahezu lachend, obgleich ihm die Zähne vor Schrecken und Entsetzen zusammenschlugen. „Das taube Zeug explodirt längst nicht mehr, und die paar frischen Prisen, die der gnädige Herr aus Jux d’rüber hergestreut hat, heben keinen Ziegelstein von seinem Platze.“
Trotzdem rannte er wie toll parkeinwärts, quer über die schwimmenden Rasenflächen – er wußte ja seinen Herrn dort drüben, wo es brannte. Der ganze Menschenschwarm brauste hinter ihm drein, während auf dem nahegelegenen Stadtthurm die Feuerglocke zu läuten begann.
Welche Verwüstung! Was war in einer flüchtigen Secunde, die kaum zu einem Athemzug genügte, aus dem paradiesischen Gefild geworden, zu welchem ein verschwenderischer Aufwand von Gold und Arbeit den ehemaligen Lustgarten eines erloschenen Rittergeschlechtes umgewandelt hatte! Wie ein Springquell, der spielend Kiesel in die Lüfte wirft, so hatte dort, wo der schwarze Qualm den Himmel verfinsterte, ein Höllensprudel die Mauerquadern gepackt und in weitem Bogen verstreut, hier einen Granitwürfel tief in den weichen Rasenboden einwühlend, dort starke Baumwipfel wie Rohr unter der Steinwucht einknickend, und drüben nach Süden hin stand das Palmenhaus wie ein gläsernes Sieb, doppelt flimmernd und glitzernd mit seinen Scherbenzacken; ein wahrer Steinhagel mußte sich, wie aus boshafter Knabenhand geschleudert, gerade auf „das Glaswunder“ der Residenz gelenkt haben.
Es war ein Anblick, wohl geeignet, das Haar sträuben und die athemlos Herbeieilenden zurücktaumeln zu machen, als das letzte hohe, verbergende Buschwerk hinter ihnen lag. Hatte die Ahnfrau der Baumgarten in der That die Lunte angelegt, um dem komödienhaften Spiel, das der Parvenü mit den ehrwürdigen Ueberresten ihrer Stammburg trieb, ein Ende zu machen? Aber sie mußten Eisen in die Mauerfugen gegossen haben, die Alten. Wohl war das obere Gelaß mit der Zackenkrone auf dem Scheitel zerstückelt und nach allen vier Winden hingeschleudert worden; von dem unteren Theil des Gemäuers dagegen hatte die Riesengewalt nur eine kleinere Hälfte abzusprengen vermocht; sie lag, herabgestürzt, aber noch festgefügt und unzerstörbar zusammenhaltend, nahe dem Graben, während die andere trutzig und dräuend wie vorher in die Lüfte ragte; aus ihrem Schlund loderten die bleichgelben Flammen empor, jeden Balkensplitter, jeden Zeugfetzen gierig von den Innenwänden leckend.
„Mein armer Herr!“ stöhnte Anton und streckte die Arme verzweiflungsvoll über den Graben hin. Da drunten gurgelten und brodelten die Wasser, die der furchtbare Stoß aus ihren Ufern gehoben und weithin über den Park verschüttet hatte; nun stürzten sie sich zurück in ihr niedriger gelegenes Gebiet, Sand und Rasenstücke und blutige, zerrissene Tauben- und Dohlenleichen mit sich schleppend. Der zierliche Brückenbogen war spurlos verschwunden, der schönberaste, eiförmige Hügelrücken in klaffende Spalten geborsten, und die alten Nußbäume, die er genährt, und die sein Schmuck gewesen, hatte er ausgestoßen; sie lagen hingestreckt, die Aeste wie die Geweihe zweier im erbitterten Kampfe verendeter Hirsche ineinander verrannt.
Was half es, daß immer neue Menschenschaaren zuströmten, daß die Feuerspritzen heranjagten? Da war nichts zu retten. Wer suchte noch dort in dem lodernden Krater die kostbaren Möbelstücke, die berühmte Humpensammlung, die Bild- und Sculpturwerke und Elfenbeinschnitzereien, die reichen Teppiche? Wie in entsetzlichem Hohne war eine der purpurnen Seidengardinen, unversehrt aus dem Fenster fliegend, am Sims hängen geblieben und fiel grauenhaft unbeweglich über die Außenseite des Thurmrestes, wie wenn das Blut unmerklich rinnend einer breiten Wunde entströmt.
Und die Menschen raunten sich von aufgehäuften Gold- und Silberschätzen zu – oder nein, es waren ja Papiere gewesen, Papiere, die den Besitz von Fabriken, Grubenwerken, Landstrecken und dergleichen in unermeßlichem Werthe verbürgten und welche der alte, feste Thurm mit seinen Mauern, seinen unbesieglichen Schlössern und seinem Wassergürtel wie ein Drache gehütet hatte. Wo waren sie? Wo die Eisenplatten, die sie umschlossen? Waren die Geldspinde unzersprengt hinabgestürzt in das Kellergewölbe, inmitten der Flammengluth eine Auferstehung ertrotzend?
Und was war aus ihm geworden, aus dem reichen Manne, von welchem Anton bestimmt wissen wollte, daß er sich vor einer Stunde nach dem Thurm begeben habe, um Weine aus dem Keller zu holen? Alles starrte mit stockendem Athem in das Flammengewoge, während der treue Diener händeringend den Graben umkreiste und den Namen seines Herrn immer wieder über das Wasser hinüberrief. Es war doch eine unverzeihliche Marotte gewesen, Schießpulver da aufzubewahren, wo man mit dem offenen Kellerlicht hantirte.
„Die verkommene historische Merkwürdigkeit hat das nicht gethan; dazu ist ein ganz anderer Sprengstoff nöthig gewesen,“ sagte einer der zuerst herbeigeeilten Spaziergänger, ein Ingenieur, laut und sehr bestimmt in das Stimmengewirr hinein.
„Aber wie wäre denn der in den Keller gekommen?“ stammelte Anton stehenbleibend, indem er den Sprecher blöde und verständnißlos mit seinen angstverschwollenen Augen ansah.
Der Herr zuckte schweigend, mit einer zweideutigen Miene die Achseln und wich mit den Anderen zurück – die Spritzen begannen ihre Arbeit.
Und nun zischten die Wasserstrahlen empor, und die Glocke auf dem Stadtthurm läutete unermüdlich, so lange sich das Feuer ungeberdig gegen seinen Erzfeind aufbäumte; von der Villa her schleppte die Feuerwehr Bretter und Stangen, um eine improvisirte Brücke über den Graben zu schlagen, und der Lärm und das Menschengetümmel wuchs und schwoll von Secunde zu Secunde. Da scholl mitten in das Getöse hinein ein markdurchschütternder Schrei – dort drüben, der Ruine ziemlich nahe, auf dem Wege vom oberen Wehre her, hatten sie den Müller Franz gefunden; ein schwerer Stein hatte ihn zu Boden gerissen und ihm die Brust zerquetscht – der Mann war todt.
Es war, als pflanze sich der Schrei, den die Frau des Müllers im Hinstürzen über den Entseelten ausgestoßen, von Kehle zu Kehle fort – ein solch unbeschreiblicher Stimmenaufruhr wogte über den Park hin.
„Moritz – sie haben ihn gewiß gefunden!“ murmelte die Präsidentin aufschreckend. Sie war unweit des Hauses auf einer Gartenbank zusammengesunken; weiter hatten sie ihre Füße nicht getragen. Jetzt machte sie abermals eine krampfhafte Anstrengung, sich zu erheben – vergebens! Die bisher so standhaft ignorirte Altersschwäche machte sich angesichts einer wirklichen Gemüthserschütterung in bestürzender Weise geltend. „Haben sie ihn? Ist er todt? Todt?“ lallte sie, und die sonst so fest, so vornehm- und kühlblickenden Augen irrten, weit aufgerissen, in wilder Angst den Weg entlang, der in der Richtung der Ruine den Rasenplatz durchschnitt; dabei umklammerte sie Flora’s Arm, die neben ihr stand.
Die schöne Braut war die einzige, die ihre Fassung behauptete. Welch ein Contrast! Dort über den Bäumen zog schwelend und träge der dicke Qualm und färbte weithin den Himmel mit einem schmutzigen Schiefergrau, und hier, vor dem Hause mit seinen zertrümmerten Spiegelscheiben, seinen umgestürzten Orangeriekübeln unterhalb des Balkons, verliefen und versickerten nur langsam die angeschwemmten Wasser und sammelten sich zu rinnenden Bächen in den tiefen Furchen, welche die Räder der Feuerspritzen in die Kies- und Rasenfläche gerissen – dazu das wahnwitzige Geschrei, das durch die Lüfte gellte, das geräuschvolle Vorüberstürzen immer neuer Menschenmassen von der Stadt her, und inmitten dieser Verwüstung, dieses Tumultes eine schneeweiße Braut, weiße Maßliebchen an der Brust und in den blonden Locken, bleich bis in die Lippen, aber zuversichtlich und überlegen in der äußeren Haltung wie immer – eine gegen jedes persönliche Unglück Gefeite.
„Wenn Du meinen Arm nur einmal loslassen wolltest, Großmama!“ sagte sie ungeduldig. „Ich könnte Dich möglicherweise überführen, daß Du Gespenster siehst. Weshalb soll und muß denn Moritz durchaus verunglückt sein? Bah – Moritz mit seinem fabelhaften Glück! Ich bin überzeugt, er ist heil und ganz drüben mitten im Getümmel, und unsere kopflose Dienerschaft, die es, nebenbei gesagt, nicht der Mühe werth hält, nach uns zu sehen, und nur dann und wann im Vorüberrennen albernes Gewäsch in den Himmel hineinschreit, diese bornirten Menschen, sage ich, sehen ihre Herrn mit offenen Augen nicht.“ – Ihr Blick streifte das nasse Terrain, dann sah sie auf ihren Fuß, der sich im weißen Stiefelchen unter den Garnirungen des Tarlatankleides vorschob. „Man wird denken, ich sei auch ein wenig verrückt geworden,“ meinte sie achselzuckend, „aber ich muß hinüber –“
„Nein, nein, Du bleibst,“ rief die Präsidentin und grub ihre Finger in die Falten des weißen Kleides. „Du wirst mich nicht allein lassen mit Henriette, die noch hülfloser ist als ich und mir nicht beistehen kann. O mein Gott, ich sterbe. Wenn er todt wäre, wenn – was dann?“ Ihr Kopf fiel tief auf die Brust, die in Brillanten flimmerte – wie entsetzlich alt sah die Frau aus! Ihre gelbe Moiréschleppe umbauschte wie in grellem Hohn die gebeugte Greisengestalt.
Henriette kauerte auf der anderen Seite der Bank, aschfarben vor Erregung, und mit entsetzten Kinderaugen in das Weite starrend. „Käthe! Wo nur Käthe bleibt?“ sagte sie mit bebenden Lippen wieder vor sich hin, als sei ihr der Satz eingelernt worden.
„Gott im Himmel, schenke mir Geduld!“ murmelte Flora zwischen den Zähnen. „Es ist doch etwas Schreckliches um solche schwächliche Frauenzimmer. … Ich bitte Dich, Henriette, warum schreist Du denn immer nach Deiner Käthe? Die wird Dir doch Niemand nehmen!“
Mit verzehrender Ungeduld überflog ihr Blick das Haus, aber da war kein lebendes Wesen zu sehen, das sie von dem ihr aufgezwungenen Beschützerposten hätte erlösen können – sie waren Alle nach der Ruine gerannt, die bereits angekommenen Gäste aus der Umgegend, die Lakaien, die dienstbaren Geister der Küche; selbst die feinbeschuhten Kammerjungfern waren durch die tiefen Wasserlachen mitgelaufen. Aber von der Stadt her nahte jetzt Beistand – die darstellenden Damen des Festspieles kamen athemlos um die Hausecke.
„Um Gotteswillen, was geht bei Euch vor?“ rief Fräulein von Giese und stürzte auf die verlassene Frauengruppe zu.
Flora zog die Schultern empor. „Im Thurm hat eine Explosion stattgefunden – mehr wissen wir auch nicht. Alles rennt vorüber. Niemand steht uns Rede, und ich kann nicht von der Stelle, weil die Großmama den Kopf verloren hat, und mir in ihrer bodenlosen Angst buchstäblich die Kleider vom Leibe reißt. Sie bildet sich ein, Moritz sei umgekommen.“
Die jungen Mädchen standen wie zu Stein erstarrt vor dieser gräßlichen Vermuthung – der blühend schöne Mann, der vor wenigen Stunden noch „dem herrlichen Leben“ ein Hoch gebracht, dort in den Flammen umgekommen oder in Atome zerstückelt! Das war nicht auszudenken. „Unmöglich!“ stieß Fräulein von Giese heraus.
„Unmöglich?“ wiederholte die Präsidentin unter einem Gemisch von Schluchzen und wahnwitzigem Auflachen; jetzt stand sie wie emporgerissen auf ihren Füßen, aber sie schwankte wie eine Betrunkene und deutete mit einer unsicheren Armbewegung nach dem nächsten Bosquet. „Da – da bringen sie ihn! Gerechter Gott! Moritz, Moritz!“
Dort wurde unter feierlichem Schweigen ein Gegenstand hergetragen, und in dem Kreise neugierig mitlaufender Menschen schritt Doctor Bruck; er war ohne Hut, und seine hohe Gestalt überragte Alle.
Flora flog hinüber, während die Präsidentin in ein lautes krampfhaftes Weinen ausbrach. Beim Anblick der herbeieilenden, gebieterisch schönen Braut trat die Begleitung unwillkürlich aus einander; nach einem raschen Blicke über die hingestreckte Gestalt, die man auf einem Ruhebette trug, wandte sich Flora sofort zurück und rief beschwichtigend: „Beruhige Dich doch nur, Großmama! Es ist ja nicht Moritz –“
„Käthe ist’s – ich wußte es,“ murmelte Henriette halb schluchzend, halb gespenstisch flüsternd mit ihrer heiseren Stimme und wankte hinüber, wo die Träger, Athem schöpfend, für einen Augenblick ihre Last niedergesetzt hatten.
Die Verunglückte lag auf dem altmodischen Ruhebette aus des Doctors Arbeitszimmer – ihre seitwärts niederhängenden Kleider troffen von Nässe. Weiche Bettkissen unterstützten Kopf und Rücken; sie hätte mit ihren sanft geschlossenen Lidern und den zwanglos im Schooße ruhenden Händen ausgesehen wie eine friedlich Schlummernde, wären nicht das Blutgerinnsel an der linken Wange nieder und die Binde über der Stirn gewesen, die von einer Kopfwunde zeugten.
„Was ist’s mit Käthe, Leo? Was in aller Welt hat sie an der Unglücksstätte zu suchen gehabt?“ fragte Flora an das Ruhebett herantretend – Ton und Blick zeigten mehr Aerger über den vermeintlichen Vorwitz der Stiefschwester, als eigentlichen Schrecken.
Der Doctor war vorhin bei ihrer beschwichtigenden Versicherung wie in jäh aufloderndem Zorne emporgefahren; jetzt schien es, als höre er gar nicht, daß sie spreche – so fest lagen seine Lippen aufeinander, und so leer war der Blick, der neben ihr hinstreifte und dann auf Henriette niedersank.
Die arme Kranke stand, nach Athem ringend, vor ihm und ihre thränenumflorten Augen sahen in Todesangst zu ihm auf. „Nur ein einziges Wort, Leo – lebt sie?“ stammelte sie mit bittend gehobenen Händen.
„Ja, die Lufterschütterung und der Blutverlust haben sie betäubt, gefahrbringend sind augenblicklich nur die nassen Kleider; die Stirnwunde ist ungefährlich, Gott sei Dank!“ antwortete er wie aus tiefster Brust in vibrirenden Tönen, und liebreich wie ein Bruder legte er den linken Arm stützend um ihre schwache Gestalt, die sich kaum auf den Füßen zu erhalten vermochte. „Vorwärts!“ befahl er den ruhenden Trägern mit hörbarer innerer Angst und Ungeduld.
Der begleitende Menschenschwarm verlief sich enttäuscht; es war ja keine Gefahr vorhanden; die Meisten kehrten nach der Brandstätte zurück. Das Ruhebett wurde über den Kiesplatz getragen, an der Präsidentin vorüber, die völlig geistesabwesend auf die Ohnmächtige stierte und nichts mehr zu begreifen, zu fassen schien. Die entsetzte Mädchenschaar drängte sich wie gescheucht an einander und blickte rathlos zu dem jungen Arzt empor, der, ohne sie zu beachten, neben dem Ruhebette schritt. Noch hielt er mit dem linken Arme Henriette umschlungen; die Rechte aber hatte er auf Käthe’s Stirn gelegt, um jeder schmerzenden Erschütterung vorzubeugen. Der sonst so scheu sein Inneres verbergende Mann, den man in der letzten Zeit nur noch mit tiefverfinsterten Zügen und gezwungenem Wesen gekannt hatte, sah unverwandt behütend, mit unverhohlener Zärtlichkeit auf das erblaßte Mädchengesicht nieder, als existire nichts Anderes mehr für ihn, als habe er unter Todesqualen sein Liebstes und Heiligstes auf dieses Ruhebett gerettet.
Flora ging der schweigenden Gruppe nach, isolirt, wie wenn nicht das geringste Band sie mit den drei Menschen verkette, die das Unglück plötzlich vor Aller Augen in so innige Beziehung brachte. Dort, wo die Träger gerastet hatten, standen noch tiefe Wasserlachen; sie war mit ihren zierlichen, weißen Stiefeln in das trübe Naß getreten, und die lange Tarlatanschleppe schleifte durchfeuchtet und beschmutzt über den Kies. Mit einem raschen Griff nahm die schöne Braut den weißen Margueritenkranz aus dem Haar; er war zur bitteren Ironie geworden inmitten der entsetzlichen Ereignisse; sie zerdrückte und zerriß ihn mechanisch mit den Fingern, und wo sie gegangen war, lagen die kleinen schneeigen Sterne verstreut.
Aber auch sie schritt an der Großmama und den Freundinnen vorüber, ohne sie anzusehen. Ihr funkelnder Blick maß unausgesetzt die imposante Gestalt des Bräutigams – man sah, sie erwartete von Secunde zu Secunde, daß er sich nach ihr umwende, und so folgte sie ihm Schritt für Schritt über den weiten Platz, über die Schwelle des Hauses. Die Präsidentin rief nach ihr; ein abermaliges, erderschütterndes Gerassel, dem ein emporbrausendes Toben von Menschenstimmen folgte, dröhnte von der Ruine herüber – sie sah nicht zurück; mochte auch hinter ihr die Welt zusammenbrechen – sie ging in unerbittlicher Entschlossenheit „ihren Rechten“ nach.
Auf diesen grauenvollen Tag folgte eine dumpfschweigende Nacht voll todesbanger, athemloser Spannung. Niemand ging zu Bette; alle Gasflammen im Hause brannten; die Dienerschaft schlich ruhelos auf den Zehen umher oder hockte flüsternd in den Ecken zusammen, und nur wenn drüben vom Thurme her die Schritte eines Feuerwächters näher klangen oder eine der nach außen führenden Thüren leise geöffnet wurde, fuhren Alle wie elektrisch empor und rannten hinaus in die Corridore, denn der Herr des Hauses sollte und mußte noch kommen, aber die Nacht verging und das Frühroth brach durch die Fenster – und er kam nie, nie wieder.
Es war ein rosiger, den klarsten Tag verkündender Strahl, der über die Villa Baumgarten hinglitt und die zersprungenen Spiegelscheiben glitzern und flimmern machte. Er lief durch den Festsaal und ließ den Purpursammet des herabgestürzten Brautbaldachins aufleuchten; er küßte das welkende Laub der Festons und das zerknickte Geäst der umgeworfenen Treibhausbäume – welch ein Chaos! Ein einziger Stoß hatte die kostbare, aber leicht gefügte „Feerie aus tausend und einer Nacht“ in ein schauerliches Gemengsel von zahllosen Scherben und Trümmerresten zusammengeschüttelt. Und alle die zierlichen, die bräutliche Freundin verherrlichenden Verse waren ungesprochen geblieben, und da, wo die goldbeflitterten Genien in Rosengewölk hatten herabschweben sollen, spielte der scharf hereinziehende Morgenwind gespenstig mit rosa und weißen Kreppfetzen.
Vielleicht heute zum ersten Male durfte das Frühlicht in die vornehmen Räume schimmern; kein Laden war vorgelegt, kein Rouleau niedergelassen worden; selbst das prächtige Schlafzimmer auf der nordöstlichen Ecke des Erdgeschosses, mit seinen korinthrothen Seidendraperien und seinem kostbar geschnitzten, von Spitzen überdeckten Bette auf hoher Estrade, war ihm preisgegeben, und es durfte sich in den Brillanten spiegeln, die noch in den Lockenpuffen der Präsidentin verstreut lagen. Die Hand der Kammerjungfer hatte die alte Dame nicht berühren dürfen; noch schleppte ihr das gelbe Stoffkleid schwer nach, wie sie immer wieder durch die lange Zimmerreihe wankte, in welcher die umgeworfenen Möbel, die von den Simsen gestürzten Statuen umherlagen.
Die Schleierwolke um Hals und Kinn der alten Dame hatte sich gelöst, und der sonst so sorgfältig verhüllte, fleischlose Unterkiefer hob sich scharf, in hippokratischer Linie von dem vertrockneten Halse. Ja, sie war hochbetagt und für den ausgedörrten Körper stand die Lebenssonne tief, tief im Niedergehen – und dennoch wälzte diese wankende Greisin in fieberhafter Angst den einen Gedanken unablässig durch den Kopf: „Wer wird Moritz beerben?“ Sie selbst hatte nicht den leisesten Anspruch auf die Hinterlassenschaft des so jäh Hingerafften – nicht einmal auf das Bett, in welchem sie schlief, nicht auf das Geschirr, aus welchem sie aß. Der Commerzienrath war früh verwaist; so viel sie wußte, existirten keine Verwandten seines Namens mehr, aber hatte er nicht öfter Unterstützung an eine arme Schwester seiner verstorbenen Mutter an den Rhein geschickt? Sollte sie die Erbin sein? Der Gedanke war zum Rasendwerden. Die Frau eines obscuren Schreibers, eine bedürftige Weißnäherin, nahm Besitz von den kolossalen Reichthümern, und die Frau Präsidentin Urach, die sich schon lange gar nicht mehr vorstellen konnte, wie man ohne seidengepolsterte Equipage von einem Orte zum anderen kommen, wie man ohne Koch und servirende Lakaien anständig essen und in einem Bette ohne Brocatbaldachin schlafen könne, sie mußte ihre alten, auf den Dachboden gestellten Möbel wieder ausklopfen und in eine enge Miethwohnung schaffen lassen, wo es keinen Marstall voll dienstbereiter Pferde, keine Livréebedienung und keine fürstlich splendide Küche mehr gab – denn sie und ihre beiden Enkelinnen waren ja nicht blutsverwandt mit dem Millionär, der ohne Testament aus der Welt gegangen.
Die aus der Umgegend eingeladenen Herren waren bis nach Mitternacht um die alte Dame versammelt geblieben, und wenn man auch diesen Punkt nicht berührt hatte, so war doch schon in die hochgehenden Wogen der schreckensvollen Bestürzung da und dort ein scheues Wort gefallen über die entsetzliche Verwirrung, die der Katastrophe bezüglich der Vermögensverhältnisse des Verunglückten auf dem Fuße folgen müsse, da der Commerzienrath seine Documentenschränke und seine Bücher in dem Thurme verwahrt gehabt habe, und von alledem nicht ein einziges versprengtes Papierblatt gefunden worden sei.
Aber mochten doch da drüben Unsummen in die Luft geflogen sein – stand sie, die alte Frau, nicht hier auf einem Grund und Boden, der nach vielen Tausenden geschätzt wurde? War nicht unter ihren Füßen, in dem festen Steingewölbe die Silberkammer? Standen nicht Pferde der edelsten Racen drüben in den Ställen? Und welcher unermeßliche Werth steckte in der Gemäldesammlung berühmter Meister! Das Alles genügte, um der Frau Präsidentin das schöne luxuriöse Leben einer reichen Frau bis an ihr Ende zu sichern, wenn die hochgeborene Dame den Beweis zu erbringen vermochte, daß das Blut des Seilersohnes auch in ihren Adern fließe.
Und auch von der, die über ihr, in Henriettens Wohnzimmer lag, von der Enkelin des Schloßmüllers war gesprochen worden – man wußte, daß ihr ganzes großes Vermögen in dem Thurme eingeschlossen war. Die Präsidentin, in ihrer nervösen Angst und Unruhe, hatte nur mit halbem Ohre hingehört – was ging sie das Wuchergeld des ehemaligen Müllerknechtes an! Flora dagegen war bei ihrer merkwürdigen Sammlung und objectiven Ruhe, die sie angesichts des grauenhaften Ereignisses behauptete, den möglichen Eventualitäten gefolgt, welche die völlige Vernichtung der Documente für ihre Stiefschwester herbeiführen konnte.
Es hatte etwas Zornmüthiges, Verbissenes in Ihrem schönen, bleichen Römergesichte gelegen, als sie gegen zehn Uhr aus der Beletage herabgekommen war. Sie, der gefeierte Mittelpunkt der geselligen Kreise, das schöne Mädchen, dessen geistiges Uebergewicht, dessen scharfes Urtheil für alle Bekannten maßgebend war, sie hatte zu ihrer tiefsten Indignation die klägliche Rolle einer Ueberflüssigen droben in dem „sogenannten“ Krankenzimmer spielen müssen. Außer Henriette, die, auf einem Sopha campirend, um keinen Preis Käthe verlassen wollte, war auch die Tante Diakonus als Pflegerin erschienen. Sie hatte zugleich ein Asyl in der Villa suchen müssen, denn auf dem Hause am Flusse, das ja der Unglücksstätte am nächsten lag, waren die Schlöte eingestürzt; an der südlichen Hausmauer zeigten sich bedenkliche Risse und Sprünge; die Fenster lagen in Trümmern, und keine der Thüren paßte mehr in Schloß und Angel. … Die neueingezogene Dame war mit der Köchin in der Schloßmühle bei Suse einquartiert worden, und für die Nacht hatte der Doctor zwei Wächter an das verlassene Haus postirt.
Am Bette der Verletzten war kein Platz für Flora gewesen. Zu Häupten hatte die Tante, entsetzlich verweint, in einem Lehnstuhle gesessen, und ihr gegenüber der Doctor. „Die Alte“ hatte sich geberdet, als sei Käthes ungefährliche Stirnwunde, ihre anhaltende Betäubung, das Allerbeklagenswertheste, was der unheilvolle Tag überhaupt gebracht, und der Doctor war nicht von seinem Platze gewichen – er hatte Käthes Hand nur aus der seinen gelassen, wenn der Umschlag auf ihrer Stirn erneuert werden mußte. Ein solch’ besorgnißvolles Gebühren um „das robuste, lange Mädchen mit den Nerven und Gliedern der ehemaligen Holzhackerstochter“ widerspruchslos mit anzusehen, dazu hatte denn doch für Flora ein vollgerütteltes Maß Geduld und Selbstüberwindung gehört.
Des ewigen bangen Geflüsters müde und einsehend, daß sich heute mit all’ den consternirten Menschen kein vernünftiges Wort reden lasse, war die schöne Braut endlich hinabgestiegen, allein und tief ergrimmt – der Doctor hatte sie nicht einmal bis zur Zimmerthür, geschweige denn die Treppe hinabgeleitet. Zu Bette war sie selbstverständlich auch nicht gegangen; sie hatte die verunglückte Polterabendtoilette abgestreift, ihre schmiegsamen Glieder in den weißen Caschmirschlafrock von griechischem Zuschnitte gehüllt und sich gegen Morgen ein wenig auf das rothe Ruhebett hingestreckt.
Das ehemalige Studirzimmer ließ an Oede und Unwohnlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Der schwarze Schreibtisch stand, abgeräumt und verstaubt in seiner Fensterecke; von den Regalen waren sämmtliche Bücher genommen und lagen verpackt in großen Kisten inmitten des Zimmers. Die Säulenstücken sammt Büsten rollten umgestürzt auf der Erde; darüber her warf die qualmende, von unsicherer Dienerhand angezündete Hängelampe einen häßlich ungewissen Schein, und nun, als die Morgenluft kräftig durch die Fensterscherben zog und der Tag mit seinem energischen Lichte hereinbrach, schaukelte sie leise droben an ihrer Kette in bläßlichem Roth, als glimme der Ruinenbrand in ihrer weißen Schale nach.
Jetzt, mit Tagesanbruch, hatte Flora, hinaufgeschickt und den Doctor zu sich bitten lassen – sie hörte ihn sicheren, militärisch festen Schrittes durch den Corridor kommen. Mit eiligen Händen die derangirten Stirnlöckchen unter den Spitzen des Morgenhäubchens noch einmal zurecht zupfend, drückte, sie das weiße Marmorgesicht tiefer in die rothen Polster und sah blinzelnd nach der Thür, durch die er eintreten mußte.
Er schritt über die Schwelle. Sie hatte ihn noch nie so gesehen, und deshalb erhob sie sich, unwillkürlich, mechanisch, als trete ein fremder Mann herein.
„Ich fühle mich unwohl, Leo,“ sagte sie unsicher und ohne den Blick des Erstaunens von dem Gesichte wegzuwenden, das, bleich und überwacht, und dennoch wie von einem innerem Lichte belebt und durchleuchtet, plötzlich einen so völlig veränderten Charakter angenommen hatte. „Mein Kopf brennt – der Schrecken und durchnäßte Füße haben mir jedenfalls ein Fieber zugezogen.“ Sie setzte das stockend hinzu, während seine Augen kalt prüfend, mit der beobachtenden Ruhe des Arztes über ihre Züge hinstreiften. Dieser eine Blick machte ihr das Blut sieden.
„Nimm Dich in Acht, Bruck!“ sagte sie mit völlig beherrschter Stimme, aber ihr Busen wogte unter gepreßten Athemzügen und die schöngeschwungenen Brauen hoben sich, so daß zwei strenge, tiefe Queerfalten die weiße Stirn durchschnitten. „Ich ertrage es nun schon monatelang geduldig, daß Deine Praxis die Geliebte ist, der ich mich unterordnen muß.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich sehe ein, daß das mein Schicksal bleiben wird, und denke groß genug, um mich darüber hinwegzusetzen; denn diese Hingabe an seinen Beruf macht den Mann bedeutend, dessen Namen ich tragen werde.“ Bei diesen Worten wandte sie den hochgehobenen Kopf weg, als überfliege ihr geistiger Blick die weite Welt, die sein berühmter Name erfüllte. So entging ihr die jäh emporlodernde Flammengluth auf seinen Wangen: „Aber ich protestire entschieden gegen jede Zurücksetzung, sobald ich selbst Deinen ärztlichen Rath brauche,“ fuhr sie fort. „Wir Alle haben unter der furchtbaren Katastrophe zu leiden gehabt – ich armes Opfer mußte bei allem Schrecken auch noch die halb wahnwitzige Großmama und Henriette in ihrem trostlosen Zustande unter die Flügel nehmen – eine nicht zu beschreibende Aufgabe. Und doch ist es Dir bis zu dieser Stunde nicht eingefallen, auch nur einmal zu fragen: ‚Wie trägst denn Du das Unglück?‘“
„Ich habe nicht gefragt, weil ich weiß, daß bei Dir dergleichen seelische Eindrücke durch den Verstand controllirt werden, und weil ich auf dem ersten Blick hin sehe, wie wenig Dein körperliches Befinden in Wahrheit beeinträchtigt ist.“
Sie horchte befremdet auf den Ton seiner Stimme – er sollte gelassen, wie immer, klingen, und doch bebte er hörbar, wie in Folge ungestümer Herzschläge.
„Was Deine zweite Behauptung betrifft, so irrst Du,“ sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen; „ich habe in der That nervöses Klopfen in den Schläfen; bezüglich der ersten aber magst Du Recht haben. Ich suche mich jedem Ereignisse gegenüber – gleichviel welchem – stets so rasch wie möglich zu sammeln, um es mit klarem Blicke übersehen zu können. Du scheinst diese meine Taktik zu mißbilligen, wie ich aus Deinem seltsamen Tone entnehme, und doch hast Du gerade heute alle Ursache, sie zu preisen. Ich habe mich nie überreden lassen, mit meinen vom Papa geerbten soliden Obligationen zu speculiren – hätte ich mithin nicht auch bei überschwenglichen Glücksfällen den Kopf oben behalten, dann stünde ich heute hier vor Dir mit leeren Händen – meine Mitgift wäre verpufft, wie das unermeßliche Papiervermögen, das gestern in alle Lüfte geflogen ist. Ja, sieh mich nur scheu an, Bruck!“ sie dämpfte ihre Stimme. „Ich lasse mich nicht düpiren und nenne die Dinge beim Namen. Die Großmama rennt drüben auf und ab und ringt die Hände, daß ‚der kolossale Besitz‘ Fremden zufalle; unsere lieben Gäste haben die halbe Nacht hindurch den reichen Mann beklagt und beweint, der ein Schooßkind des Glückes
[347] gewesen, den die boshafte Ironie des Schicksals in Weise mitten aus seinem Erdenhimmel gerissen aber sage: Der theatralische Abgang war mittelmäßig gesetzt; in den Coulissen ist eine Lücke geblieben, durch die man der Wirklichkeit auf den Leib gehen wird. In der Kürze, vielleicht in den nächsten Tagen schon, werden die Gerichte festgestellt haben, daß Römer – anfangs vielleicht nur ein sehr leichtsinniger Speculant, schließlich aber – ein Schurke gewesen ist.“
Eine einschneidendere Wandlung der Dinge ließ sich nicht denken, als die schöne Dame in diesem Augenblicke zur Geltung brachte. Sie stand in ihrem weißen Iphigenia-Gewande, den rothen Teppich unter den Füßen, die schwebende Hängelampe über der Stirn, genau auf derselben Stelle, wo sie im December, gegenüber dem Commerzienrathe, die ärztliche Wirksamkeit ihres Verlobten gebrandmarkt und gesagt hatte: „Ich dulde nichts Todtgeschwiegenes in meiner Seele.“
Flora hatte Recht; sie nannte allerdings die Dinge beim Namen – sie sprach das aus, was der Mann da vor ihr in seinem Innern nicht leugnete, was ihn seit gestern in eine namenlose Seelenpein versetzt hatte, aber daß der fein geschnittene, zarte Frauenmund sich vor den nacktesten Ausdrücken nicht scheute, um den Scharfsinn, „der sich nicht düpiren lasse“, an den Tag zu legen – das war wohl geeignet, einen Sturm von Unwillen in einer feinfühlenden Menschenseele hervorzurufen.
„Ach, wie ich sehe, habe ich heute das Unglück, Dir in Allem, was ich sage, zu mißfallen,“ hob sie nach einem secundenlangen Verstummen halb sarkastisch, halb schmollend wieder an und ging ihm um einige Schritte nach – er hatte sich mit unverhohlener Entrüstung abgewendet und war schweigend in die Fensterecke getreten. „Möglich, daß mein gerechtes Urtheil ein wenig zu drastisch ausgesprochen war; vielleicht hätte ich auch, dankbar für manche kleine Annehmlichkeit, die mir Römer hier und da verschafft hat, weniger wahr und aufrichtig sein sollen“ – sie zog die Schultern und die Brauen empor – „aber ich bin nun einmal eine geschworene Feindin aller schwächlichen Bemäntelung und habe dabei auch alle Ursache, empört zu sein. Meine Schwester Henriette, mit deren Erbtheil Römer speculirt hat, wird mit dem Zusammensturze bettelarm, und Käthe? – Sei versichert, daß ihr von ihrem ganzen immensen Vermögen nicht ein Papierschnitzel bleibt!“
„Desto besser!“ kam es wie ein Hauch von den Männerlippen, die so jünglingshaft roth und keusch unter dem vollen Barte schimmerten und in diesem Momente sanft zu lächeln schienen.
So schwach die zwei Worte auch geklungen, Flora’s Ohr hatte sie doch aufgefangen. „Desto besser?“ fragte sie erstaunt und schlug, halb und halb lachend, die Hände zusammen. „Sehr sympathisch ist mir unsere Jüngste allerdings auch nicht, aber was hat sie denn verbrochen, daß Du ihr Unglück in so befremdlicher Weise aufnimmst?“
Er biß sich wie in innerem Kampfe heftig auf die Unterlippe und preßte die Stirn an das Fensterkreuz; sie sah nachsinnend neben ihm weg, hinaus in den Garten, wo eben der goldene Morgenstrahl das weiße Haupt der steinernen Brunnennymphe erreichte.
„So schlimm, wie Henriette, ergeht es Käthe allerdings nicht – die Schloßmühle bleibt ihr, und die mag schon ein hübsches Stück Geldes werth sein,“ setzte sie nach einer Pause hinzu. „Dorthin kann sie sich retten, wenn hier Alles zusammenbricht, und auch für unsere arme Brustkranke wüßte ich kein besseres Asyl; beide Schwestern lieben sich ja und würden sich gewiß vertragen. Es wird uns auch kein anderes Arrangement übrig bleiben; die Großmama mit ihrem schmalen Einkommen kann unmöglich für Henriette sorgen, und Dir werde ich selbstverständlich nie zumuthen, die kranke Schwester in unsere junge Häuslichkeit mitzunehmen.“ Sie schlang plötzlich ihren Arm in den seinigen und sah verführerisch zärtlich zu ihm auf. „Ach Leo, wie will ich Gott danken, wenn wir morgen im Wagen sitzen werden, all’ das Schreckliche, was nun hier erfolgen muß, im Rücken –“
Mit einer leidenschaftlichen Geberde, mit einem Ingrimm, wie sie ihn noch nie in diesem stillen, ernsten Männerantlitze gesehen, riß er sich von ihr los. „Möchtest Du wirklich Alle im Stiche lassen, die Armen, die in den nächsten Tagen rath- und hülflos inmitten der schrecklichen Schicksalsschläge dastehen werden?“ rief er wie außer sich. „Gehe, wohin Du willst – ich bleibe.“
„Leo!“ schrie sie auf – dann stand sie momentan sprachlos und rang mit einer unbeschreiblichen Erbitterung. Sie legte die geballte Hand auf das Herz, als habe sie einen Dolchstoß erhalten. „Du hast sicher die Tragweite Deiner allzu raschen Worte selbst nicht ermessen,“ sagte sie endlich klanglos und gepreßt; „ich will sie deshalb nur insoweit gehört haben, als sie eine Bemerkung meinerseits nöthig machen: Wenn wir nicht morgen, bevor der Ausbruch erfolgt, unsere Reise antreten – und Niemand wird es uns verargen, daß wir das nun einmal Vorbereitete in aller Stille ausführen –, dann muß unsere Verbindung überhaupt hinausgeschoben werden.“
Er schwieg und verharrte, wie zu Stein geworden, in seiner abgewendeten Stellung, und diese wortlose Unbeweglichkeit reizte sie sichtlich; ihr ganzes leidenschaftliches Naturell funkelte in den großen, grauen Augen.
„Ich habe Dir vorhin erklärt, daß ich zeitlebens gutwillig Deiner Praxis, der Liebe zu Deinem Berufe nachstehen will,“ setzte sie dringender hinzu. „Nie aber werde ich mit meinen Interessen anderen Frauen weichen – das merke Dir, Leo! Ich kann nun und nimmer einsehen, weshalb ich der Großmama und meiner Schwester wegen den furchtbaren Zusammensturz hier mit durchkämpfen soll, da mir doch das Recht zusteht, mich in die ruhige, schützende Häuslichkeit zu flüchten, die Du mir zu geben gelobt hast; ein solches Opfer solltest Du mir gar nicht zumuthen. Liegt es in meiner Macht, etwas an der Sachlage zu ändern? Ganz und gar nicht – wozu dann die nutzlose Aufregung, in die Du mich geflissentlich stürzest? Soll ich durchaus das Vergnügen haben, auch ein Gegenstand des öffentlichen Mitleids zu sein? Eher[WS 10] gehe ich stehenden Fußes von hier fort – ich will nicht, daß man mit den Fingern auf mich zeige.“
Sie durchmaß aufgeregt das Zimmer. „Du hast mir gegenüber für Dein Bleiben hier nicht die leiseste Entschuldigung,“ hob sie, fern von ihm stehen bleibend, mit finster zusammengezogenen Brauen wieder an, nachdem sie vergeblich auf einen Laut von seinen Lippen gewartet hatte. „Nicht einmal auf die Kranken in der Beletage kannst Du Dich berufen. Henriette hättest Du so wie so ihrem Schicksale überlassen müssen, und was Käthe betrifft, so wirst Du mich nicht überzeugen, daß die Stirnschramme, die Du selbst für vollkommen ungefährlich erklärt hast, Deine ganze Ärztliche Kunst und Hülfe erheische. Ehrlich gestanden, ich habe in dieser Nacht das Lachen verbeißen müssen über Dein und der Tante Gebahren. Wenn Henriette über die paar vergossenen Blutstropfen kindische Thränen weint, so mag das hingehen –, sie ist krank und nervengereizt –, aber daß Du Dich geberdetest, als sei unsere Jüngste, dieser derbe, urgesunde Holzhackersproß, aus Duft und Schnee zusammengesetzt –“ unwillkürlich verstummte sie vor Leo’s Aussehen. Er hatte sich ihr zugewendet mit drohend gehobenem Finger, mit einer nicht mehr zu bezwingenden Aufregung in den Zügen.
Sie lachte zornig auf. „Glaubst Du, ich fürchte mich? Ich habe Deiner sehr unpassenden Handbewegung eine ganz andere Drohung entgegenzusetzen: Hüte Dich – noch ist das ‚Ja‘ am Altare nicht gesprochen; noch liegt es in meiner Hand, eine Wendung herbeizuführen, die Dir schwerlich gefallen dürfte. Und nun gerade wiederhole ich, daß mich Dein gestriges ärztliches Thun und Treiben um Käthe schließlich angewidert hat. Soll ich nicht spöttisch werden, wenn Du sie pflegst und verziehst, wie eine Prinzessin –“
„Nein, nicht wie eine Prinzessin – wie eine Geliebte des Herzens, wie eine erste und einzige Liebe, Flora,“ fiel er mit seiner tiefen, klangvollen Stimme in sichtlicher Bewegung ein.
Ein Schrecken durchfuhr sie, als habe ein Blitzschlag die Erde vor ihren Füßen gespalten; unwillkürlich hoben sich ihre Arme gen Himmel, und so stürzte sie auf den Sprechenden zu.
Er streckte ihr abwehrend die Hände entgegen; sonst stand er in unerschütterter Haltung. „Was ich bisher, unter unbeschreiblichen Kämpfen mit mir selbst, in meiner Brust verschlossen habe – aus Scham und von einem Grundsatze ausgehend, der sich als falsch, ja, als unmoralisch erwiesen hat –, ich muß es Dir jetzt bekennen. Ich sehe ab von jeder Vertheidigung, von jedem beschönigenden Worte“ – die Stimme sank ihm – „ich bin treulos gewesen von dem Augenblicke an, wo ich Käthe zum ersten Male gesehen habe.“
Flora ließ langsam ihre Hände sinken. So unumwunden und zweifellos auch das Geständniß lautete, es war dennoch das Unglaubwürdigste, das sie je gehört. Bah, wie hatte sie sich hinreißen lassen können, ein so kopfloses Erschrecken zu zeigen! Es war wohl oft genug geschehen, daß die gefeierte Flora Mangold Männerherzen unwiderstehlich an sich gezogen, und sie dann in Momenten, wo es am wenigsten erwartet wurde, launenhaft und unbarmherzig von sich gestoßen hatte – ach ja, das war zu ihrer innersten Genugthuung so oft geschehen, wie sie Ballsaisons mitgemacht, aber daß ein Mann ihr die Treue brechen könne – lächerlich! Das war zu absurd; das glaubte Niemand in der Residenz, und sie selbst am wenigsten. Da lag es doch weit näher, zu denken, daß Doctor Bruck endlich auch einmal den Muth finde, sich zu revanchiren. Sie hatte eben „ihre Feuerprobe“ bis an die äußerste Grenze geführt; sie hatte in ihrem wohlbegründeten Verdrusse gedreht, noch wenige Schritte vom Altar ihr „Ja“ zurückzuhalten, und das hatte ihn gereizt, hatte seine Langmuth erschöpft; er wollte sie strafen, indem er sie eifersüchtig machte. Ihre bodenlose Eitelkeit und Frivolität halfen ihr noch für wenige Augenblicke über die bitterste Täuschung ihres ganzen Lebens hinweg.
Sie verzog ironisch die Lippen und schlug die Arme unter. „Ah, also gleich beim ersten Erblicken!“ sagte sie. „War das gleich draußen im Corridor, wo sie nach Handwerksbrauch, den Reisestaub auf den Schuhen, mit dem poetischen Taschentuch-Bündelchen in der Hand, hier ankam?“
Man sah, wie ihr spielender Hohn jeden Blutstropfen in dem Manne empörte; angesichts der furchtbaren Entscheidung, die endlich nach namenlosen Leiden und Kämpfen, durch seine wahre „erste und einzige“ Liebe herbeigeführt worden, wurde er lächelnd und frivol in’s Gebet genommen, wie ein Schulknabe. Er bezwang sich mühsam; die Lösung dieser Lebensfrage mußte noch in dieser Stunde erfolgen, aber daß es nicht in würdeloser Weise geschehe, das war seine Aufgabe.
„Da war ich schon ihr Führer und Begleiter gewesen; in der Mühle habe ich Käthe zuerst gesehen,“ versetzte er nach einem momentanen Ringen mit sich selbst, ziemlich gelassen.
Eine dunkle Röthe der Ueberraschung überflog Flora’s Wangen. Es begann in ihren Augen zu glimmen; sie biß sich auf die Lippen. „Ei, davon erfährt man ja das erste Wort. Und auch die Duckmäuserin mit dem ‚reinen‘ Herzen hat Grund gehabt, diese interessante Begegnung zu verschweigen.“ Sie lachte kurz und hart auf. „Nun, und weiter, Bruck?“ Die Arme noch fester unter dem Busen kreuzend, stemmte sie den Fuß sichtlich herausfordernd auf den Teppich.
„Wenn Du in dem Tone verharrst, dann bleibt mir kein Weg zur Verständigung, als der schriftliche.“ Er wollte mit allen Zeichen der Entrüstung an ihr vorübergehen.
Sie vertrat ihm den Weg. „Mein Gott, wie Du das tragisch nimmst! Ich bemühe mich ja nur, auf Deine kleine Komödie einzugehen. Also in einen Federkrieg willst Du Dich mit mir einlassen? Lieber Leo, da ziehst Du den Kürzeren – darauf verlasse Dich! – magst Du auch noch so viel epochemachende medicinische Broschüren in die Welt geschickt haben.“
Das übermüthige Lächeln, das ihre Versicherung begleitete, erstarb ihr auf den Lippen; ein so eisig finsterer, zurückweisender Blick begegnete dem ihren. Jetzt dämmerte allmählich die Ahnung in ihr auf, es könne ihm doch wohl Ernst, bitterer Ernst sein – nicht mit seiner fingirten Liebe für „die Jüngste“; die war nun einmal nicht denkbar – wohl aber mit dem Entschlusse, bei aller Leidenschaft für sie, doch lieber in der letzten Stunde noch mit der capriciösen Braut zu brechen, als sich zeitlebens der „Feuerprobe“ zu unterwerfen. Sie bereute ihr Vorgehen, und dennoch siegte der wilde Trotz, der beispiellose Uebermuth in ihr.
„So gehe!“ sagte sie rasch zur Seite tretend. „Solche Blicke, wie Du mir eben zugeworfen hast, vertrage ich nicht. Gehe – ich rühre nicht einen Finger, Dich zu halten.“ Sie brach in ein schneidendes Hohngelächter aus. „O Männercharakter, viel berühmter und besungener! Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fast auf den Knieen um meine Freiheit gebettelt habe; man war würdelos genug, die widerstrebende Braut um so fester in Ketten zu legen. Da sieh, und lerne von mir, was in solchen Momenten selbst für ‚die schwache, eitle Frauenseele‘ einzig und allein maßgebend ist: der Stolz –“
„Es war auch Stolz, der mich damals unerbittlich bleiben ließ, unbändiger Stolz, wenn auch ein ganz anderer, als das Gemisch von Trotz und Grimm, das Du als solchen bezeichnest,“ unterbrach er sie mit maßvoller Ruhe, obgleich die letzte Spur von Farbe aus seinen Wangen gewichen war. „Ich bekenne mich ja dazu, schwer gefehlt zu haben; ich werde Dich, wie bereits gesagt, mit keiner Vertheidigung behelligen, die Andere auch nur entfernt der Mitschuld bezichtigen könnte. … Der Impuls meiner damaligen Handlungsweise war das Pochen auf die eigene Kraft, auf den Manneswillen, der mit allen Gefühlsausschreitungen der Seele fertig werden müsse, wie ich wähnte. Ich gab Dir Dein Wort nicht zurück, weil ich gewohnt war, das meine, einmal gegeben, in allen Lebenslagen als unverbrüchlich bis in alle Ewigkeit anzusehen; von dem Standpunkte aus erschien mir unser Verlöbniß so unlösbar, wie dem Katholiken die Ehe. … Ich leugne nicht, daß auch der Rest studentischer Ehrbegriffe in mir nachwirkte. An jenem Abende habe ich Dir diesen einen Beweggrund ausgesprochen, und ich muß ihn auch jetzt noch einmal betonen: Ich wollte nicht in die Schaar Derer zurücktreten, die an Deinem Siegeswagen gezogen und dann mit Eclat entlassen worden waren; ich wiederhole, daß ich diese Anschauung jetzt als jugendlich unreif verwerfe, weil in solchen Fällen nicht die Ehre des Mannes, sondern die der Frau compromittirt ist.“
Sie wandte ihm mit einem zornflammenden Blicke den Rücken und ließ ihre Finger in leisem, unregelmäßigem Getrommel auf der Tischplatte spielen. „Ich habe Dir nie verschwiegen, daß meine Hand unzählige Male begehrt und erstrebt worden ist, ehe ich mich mit Dir verlobte,“ sagte sie stolz nachlässig, ohne auch nur den Kopf in der Richtung nach ihm zu bewegen.
„Du so wenig, wie alle meine Bekannten,“ fiel er ein. „Du darfst aber nicht vergessen, daß Du das unnahbare Ideal meiner Jugend gewesen bist. Auf der Universität und noch im letzten Feldzuge hat mich der Gedanke angespornt, daß das stolze Herz der Vielumworbenen sich noch Keinem zugeneigt, daß es den hoch beglücken müsse, der es erringe –“ er unterbrach sich – er durfte und wollte sich nicht auf ihre Koketterie beziehen; er verschmähte alle, auch die begründetsten Vorwürfe als Hülfstruppen.
„Und möchtest Du dem entgegen behaupten, ich hätte auch nur Einen aus dem Troß dieser unvermeidlichen Anbeter geliebt?“ brauste sie auf.
„Geliebt? Nein, Flora, Keinen von Allen – auch mich nicht,“ rief er, doch wieder fortgerissen. „Geliebt hast Du stets nur die unvergleichliche Schönheit, die gesellschaftliche Tournüre, den vielbewunderten Esprit, den künftigen Ruhm der gefeierten Flora Mangold.“
„Sieh, sieh – die Schmeichelei des Liebenden habe ich stets auf Deinen Lippen schmerzlich vermißt; selbst beim bräutlichen Kosen hast Du nie einen bezeichnenden Schmeichelnamen für mich gefunden – und jetzt, in der Erbitterung zeigst Du mir ein Spiegelbild, mit welchem ich wohl zufrieden sein kann.“
Er erröthete wie ein Mädchen. Es war lange her, daß er den schönen Mund dort nicht mehr geküßt, und doch meinte er, daß es überhaupt geschehen, sei eine Versündigung an der Anderen, die, rein und unberührt an Leib und Seele, sein Frauenideal erst jetzt verwirklichte. Er entzog unwillkürlich sein Gesicht den Augen, die ihn mit einem heimlich lachenden Ausdrucke fixirten, und sah hinaus in den Garten.
Ah, sie hatte ihn im richtigen Moment an schöne Zeiten erinnert – jetzt hatte sie gewonnenes Spiel. „Leo, bist Du wirklich zu mir gekommen, um hart mit mir zu verfahren, um mich anzuklagen?“ fragte sie, rasch zu ihm tretend – sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Du vergissest, daß Du mich zu Dir beschieden hast, Flora,“ entgegnete er ernst. „Ich wäre nicht aus eigenem Antriebe gekommen – ich habe oben zwei Kranke; Henriettens Zustand ist gegen Morgen bedenklich geworden; ohne Deinen ausdrücklichen Wunsch würde ich sie nicht verlassen haben, so wenig, wie ich in diesen unseligen Tagen voll Angst und namenloser Verwirrung daran gedacht hätte, eine Entscheidung herbeizuführen, wie Du sie vorhin provocirt hast.“
„Eine Entscheidung? Weil ich Dich in kindischem Trotz und Aerger gehen hieß? … Geh’, wie magst Du Mädchenzorn so bitterernst nehmen!“ Das sagte sie, die sonst jede mädchenhafte Regung, als ihres männlich gearteten Geistes unwürdig, verleugnete – mit dieser aalglatt entschlüpfenden Frauenseele war schwer zu rechten.
Dem Doctor stieg das Blut in das Gesicht; sie hatte ihn durch ihre unberechenbaren Einwürfe einen Kreislauf machen lassen – er stand wieder am Ausgangspunkte. „Ich messe Dir auch darin die Schuld nicht bei,“ antwortete er mit unverkennbar hervorbrechender leidenschaftlicher Ungeduld. „Ich habe mich hinreißen lassen, Dir zu gestehen –“
„Ach ja, Du sprachst von Deinem Manneswillen, der mit allen Gefühlsausschreitungen fertig werden müsse – ist er Dir dennoch untreu geworden?“
„Nein, treulos nicht; er hat sich nur einer besseren Ueberzeugung unterwerfen müssen. Flora, ich habe Dir gleich zu Anfang gesagt, daß ich bei meiner Weigerung, unser Verlöbniß zu lösen, von einem falschen Grundsatze ausgegangen sei. Ich wußte damals längst, daß nicht eine Spur wahrer, hingebender Liebe für mich in Deinem Herzen lebte, und auch ich hatte mit meinem Gefühle für Dich vollkommen abgeschlossen, das enthusiastische Bewunderung von der Ferne aus, niemals aber warme, innige Herzensneigung gewesen war – wir hatten Beide geirrt. Zwar litt ich schwer unter dem Bewußtsein, einer liebeleeren Zukunft entgegen zu gehen, ich, dem die Natur ein liebeheischendes Herz gegeben, der ich mir den eigenen Herd nicht ohne die verklärende Familienliebe denken kann, aber ich fügte mich, und Du hast Dich noch rascher mit Deiner vermeintlichen Nebenbuhlerin, meiner Praxis, abgefunden; Du hast die Entfremdung willig sanctionirt, weil sie Dir kein inneres Opfer auferlegte.“
Sie schwieg, und ihre Augen irrten unwillkürlich über den bestaubten Teppich hin – es war ihr unmöglich, dem Sprechenden in das ernste, von tiefer Erregung beseelte Gesicht hinein zu lügen.
„Und ich klammerte mich um so angstvoller an die Unverletzlichkeit meines Wortes, je treuloser meine Gedanken von Dir abirrten –“
„Ah – also doch?“
„Ja, Flora. Ich habe gerungen mit meiner Neigung, wie mit einem erbitterten Todfeinde.“ Ein schwerer, gepreßter Athemzug hob seine Brust. „Ich bin vom ersten Augenblick an hart, grausam mit mir selbst und mit dem Mädchen verfahren, das mir diese unbesiegbare Neigung einflößte. Ich habe jede, auch die unschuldigste Annäherung streng von mir gewiesen – nicht einmal die Blumen, die sie in der Hand gehalten und achtlos vergessen hatte, litt ich in meinem Zimmer. Sie war gern in meinem Hause, und ich wehrte diesem Verkehre, als ob sie mir einen Feuerbrand unter das Dach trage; ich war kalt, unhöflich ihr in das Gesicht hinein, das mich doch entzückte wie noch nie ein Menschenantlitz –“
„Mein Gott, ja – man begreift das! Entzückend für das Auge des Arztes, gesund und rund und weiß und roth, als habe die Natur den Tüncherpinsel dazu genommen.“ Mit diesen Worten wich die Erstarrung, die über die athemlos horchende Frauengestalt gekommen war – sie preßte die geballte Rechte heftig gegen die Brust. „Und ein solches Bekenntniß wagst Du mir gegenüber? Wie, Blumen wirft diese naive Jugend in das Zimmer der Männer, die sie kirren will –“
„Still!“ Er hob die Hand mit jenem gebieterisch zwingenden Blicke, der stets selbst diesen Mund verstummen machte. „Mich überschütte mit Vorwürfen – ich will sie widerstandslos über mich ergehen lassen, vor Käthe aber stehe ich in Wehr und Waffen. Sie hat meine Liebe für sich niemals wissentlich angefacht; sie ist nach Dresden zurückgekehrt und hat nicht gewußt, wie es um mich, wie es um – sie selbst steht. Weshalb sie damals gegangen, das weißt Du am besten. Während man sie von einer Seite drängte, eine Ehe ohne Liebe einzugehen, wurde ihr von der andern erschreckend deutlich nahegelegt, daß sie ihr Zimmer zu räumen und einem hochgeborenen Besuche Platz zu machen habe. Ich war Zeuge dieser unverblümten Ausweisung; um ein Haar hätte ich mich damals vergessen und, der Frau Präsidentin Worte der Erbitterung gesagt, und doch, als die indirekte Aufforderung an mich erging, die Ueberzählige in mein Heim aufzunehmen, da hatte auch ich keinen Raum für sie; ja, sie mußte eine Stunde später vor meinem Hause, wenn auch ohne mein Wissen, mit anhören, wie ich meine Tante ersuchte, den Verkehr mit ihr abzubrechen, so lange ich noch aus- und eingehe. Und da ist sie gegangen, tiefverletzt in ihrem stolzen, festen, und doch so weichen Gemüthe, und ich war barbarisch, nein, unmoralisch genug, um eines falschen Princips, um eines thönernen Götzen willen, der gewisse Ehrbegriffe repräsentirt, in der großen Lüge zu beharren, die ich ihr, mir selbst und der ganzen Welt glaubwürdig zu machen suchte.“
Wie überwältigt von seiner eigenen Schilderung schwieg er sekundenlang; Flora warf sich über das Ruhebett hin und preßte den Kopf zwischen ihre schmalen Hände, als wolle sie nichts mehr hören, aber er fuhr fort: „Ich ließ sie erbarmungslos gehen; ich athmete – nun sollte es besser werden mit mir und meiner inneren Qual – thöricht, thöricht! Ich sah nicht, wie in demselben Augenblicke, wo sie hinter dem Ufergebüsche verschwand, ein Dämon an mich herankroch, der sich festklammerte – es war nicht die Ueberbürdung meiner Praxis, was mich hohlwangig und der Geselligkeit gegenüber finster und feindselig machte – in der angestrengten Arbeit und Thätigkeit bin ich stets freudig und thatkräftig geblieben – es war die Sehnsucht, die sich von Tag zu Tag steigerte.“
Er hatte den Fensterbogen verlassen und durchmaß das Zimmer in sichtlichem innerem Aufruhre, und jetzt erhob sich Flora wieder wie mit einem gewaltsamen Rucke und schüttelte das nach vorn gefallene Lockengeringel wild aus der Stirn.
„Um Käthe’s willen?“ rief sie bitter auflachend. „Möchte doch der Papa jetzt sehen, welch richtiger Instinkt seine Erstgeborene geleitet hat, als sie sich weigerte, die Schloßmüllerstochter Mama zu nennen, als sie seiner neugeborenen Jüngsten den Rücken wandte, weil sie ja schon zwei richtige Schwestern habe, und kein Stiefschwesterchen wolle! Und es ist kein falscher Grundsatz gewesen, der Dir bisher zur Richtschnur gedient hat – nein. Wie viel tausend ‚große Lügen‘ um dieses Principes willen beseelen und regieren das Menschengetriebe, und die sie siegreich durchführen, wird man bis in alle Ewigkeit respectabel und ehrenhaft nennen –“
„Ich habe mir gelobt, das Vergangene bei dieser Entscheidung nicht zu berühren,“ unterbrach er sie, stehenbleibend, mit bebender Stimme, aber offenbar entschlossen, der Sache ein Ende zu machen, „und doch zwingst Du mich, auf jenen Auftritt zwischen Dir und mir zurückzukommen, der nach dem Attentate im Walde erfolgte. Ich habe mir damals von meiner Braut in das Gesicht sagen lassen, daß sie mich hasst, oder vielmehr verachte, weil mich ein Mißgeschick zu verhindern schien, die Berühmtheit zu werden, mit der sie sich zu verloben geglaubt hatte. Ich habe Tags darauf die beispiellose Thatsache erlebt, daß sich dieser Haß mittelst meiner Ernennung zum fürstlichen Hofrathe sofort in die innigste Zuneigung verwandelte, und habe schweigend, mit verbissener Verachtung mein Joch weiter geschleppt, weil ich eben ‚respectabel und ehrenhaft‘ bleiben wollte. Und ich hätte auch diese abscheuliche Lüge zu Ende geführt, wären wir Zwei allein die Betreffenden geblieben, wäre nur mir die Marter eines verödeten Lebens aufgebürdet gewesen. Ich möchte die drei Menschenherzen um die es sich handelt, vor die große Schiedsrichterin, die Moral, hinstellen: das eine, das sich zu dem ‚Ja‘ am Altare nur herbeiläßt, weil es ihm zu einer lebhaft gewünschten äußeren Lebensstellung verhilft, und die beiden anderen, die sich der heiligen Mission plötzlich bewußt werden, in wahrer, inniger Liebe sich zu ergänzen, die in gleichem Schlage zu einander gehören, ob sie auch bis nach den entgegengesetzten Polen auseinander gedrängt würden –“
Ein halberstickter Schrei unterbrach ihn. „Hat sie es wirklich gewagt, das heuchlerische Geschöpf, ihre Augen zu dem Verlobten ihrer Schwester zu erheben? Sie hat Dir ihre verbrecherische Liebe eingestanden?“
Er maß sie einen Moment mit flammenden Augen, in sprachlosem Zorne. „Und wenn Du auch vor den schlimmsten Bezeichnungen nicht zurückschrickst, Du kannst diesen fleckenlosen Mädchencharakter doch nicht verunglimpfen,“ sagte er gepreßt. „Ich habe seit jenem Abschied kein Wort wieder von ihren Lippen gehört; auch in dieser Nacht nicht, wo sie endlich die Augen mit zurückkehrendem Bewußtsein wieder aufschlug. Sie ist gestern zurückgekommen, und ich habe es nicht gewußt. Ich war vor dem Polterabend-Lärm, der selbst an jedem Krankenbett erwähnt und erörtert wurde, in meinen einsamen Garten geflüchtet – und da sah ich sie plötzlich an der Brücke stehen, eine Verbannte, die sich nicht über den Holzbogen wagte, weil mein hartes Wort sie hinausgestoßen hatte.“ Er verstummte, und eine dunkle Gluth überströmte sein Gesicht; nun und nimmer sprach er es vor diesen Ohren aus, wie ihm mit jenem Anblick die „himmelhochjauchzende“ Ueberzeugung gekommen sei, daß das weinende Mädchen dort ihn liebe.
„Ich habe sie dann, nach dem furchtbaren Ereigniß im Parke gesucht,“ fuhr er fort, sich gewaltsam in eine ruhigere Redeweise zwingend; „und als ich sie vom Boden aufnahm, da sagte ich mir, daß der Tod an diesem schwachathmenden Leben nur vorübergegangen sei, damit ich doch noch glücklich werden solle. Da riß ich mich los von allen Banden des Herkommens und einer zweifelhaften Ehrverpflichtung; ich stellte mich über das Basengeschwätz der medisirenden Welt und verzichtete auf den Ehrentitel eines ‚respectabeln‘ Heuchlers.“
Schon während seiner ganzen letzten Schilderung hatte sich Flora’s Haltung verändert; sie hatte verspielt– es war Alles aus, und sie wäre nicht das intriguante Weib mit dem scharfen Blick und dem kalt berechnenden Geist gewesen, wenn sie sich nichts auch sofort dieser Situation zu bemächtigen gewußt hätte! Das trotzig Gespannte in ihrer Gestalt wandelte sich unter den Augen des sprechenden Mannes in die weiche Gliedergeschmeidigkeit der Katze. Mit fliegenden Händen zog sie das verschobene Morgenhäubchen über die Locken, und während sie die Spitzenbarben unter dem Kinn ineinanderschlang, sah sie mit einem wahrhaft satanischen Lächeln unter den tiefgesenkten Brauen empor und fügte, alle ihre scharfen, blitzenden Zähne zeigend, mit Bezug auf seine letzten Worte: „Wie, ohne mich zu fragen, mein Herr Doctor? Nun, immerhin! Im Hinblick auf die eben gehörten naiven Geständnisse frage ich mich, nicht ohne ein befreites Aufathmen: ‚Was hätte aus Dir werden sollen an der Seite eines solchen Gefühlsschwärmers!‘ Und d’rum ist’s gut so, ganz gut so für uns Beide, wie es gekommen. Ich gebe Dir Dein Wort zurück, allerdings nur ungefähr so, wie man einen Vogel am Faden fliegen läßt, dessen eines Ende man fest um den Finger wickelt.“ Sie tippte, abermals scharflächelnd mit der feinen Fingerspitze auf den Verlobungsring an ihrer Hand. „Freie um die erste, beste junge Dame der Residenz – und sei es eine meiner glühendsten Neiderinnen, wie ich ja deren genug habe – und ich will den Reifen in ihre Hand legen; nur Käthe nicht, absolut nicht! Hörst Du? Und wenn Du mit ihr über das Meer flüchten, oder an den entlegensten Dorfkirchenaltar treten wolltest: ich würde im richtigen Moment da sein, um Einspruch zu thun.“
„Gott sei Dank, dazu hast Du nicht die Macht,“ sagte er todtenbleich und tiefathmend.
„Meinst Du? Daß Du niemals nach Deinem Wunsch und Sinn glücklich wirst, dafür lasse mich sorgen, Treuloser Erbärmlicher, der ein stolzes Blumenbeet zertritt, um – eine Gänseblume zu pflücken! Du wirst von mir hören.“
Unter leisem Hohngelächter schritt sie rasch ihrem Schlafzimmer zu, dessen Thür sie hinter sich verriegelte, und fast gleichzeitig klopfte ein Lakai draußen und berief den Doctor in die Beletage, weil „Fräulein Henriette“ eben wieder von einem sehr schlimmen Brustkrampf befallen worden sei.
In der Residenz wußte man sich seit langen Jahren keines Ereignisses zu erinnern, das alle Menschen so furchtbar aufgeregt und in peinlicher Spannung erhalten hätte, wie die Explosion im Thurme, welcher, außer dem Commerzienrath, auch der Müller Franz zum Opfer gefallen war.
Zwei Tage waren seitdem verstrichen, und in diesen zweimal vierundzwanzig Stunden wandelte sich allmählich die bestürzte Klage, das Bejammern des verunglückten reichen Mannes in dumpfe, erschreckende Gerüchte, die vorzüglich die Geschäftsleute, den Handwerkerstand alarmirten – da stand ja der Name des Millionärs noch mit vielen Tausenden rückständig in den Büchern. Der Commerzienrath hatte alle die neuen Bauten und Verschönerungen auf seiner Besitzung Baumgarten in Accord gegeben, und demzufolge war von seiner Seite bis zu dem Unglückstage nur ein Bruchtheil der Forderungen berichtigt worden. Und nun ging der Ausspruch, den der Ingenieur schon beim ersten Anblick der entsetzlichen Zerstörung rückhaltslos gethan, bestätigt und bekräftigt durch andere Sachverständige, von Mund zu Mund, und die bisher vollkommen zuversichtlichen und Vertrauensseligen Lieferanten und Arbeiter mußten sich nothwendig fragen, wie und wozu das Dynamit in den Weinkeller des Commerzienraths von Römer gekommen sei, just unter die Räume, die alle seinen Besitzstand documentirenden Papiere und Bücher umschlossen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Vertrauliche Briefe aus Berlin sprachen von immensen Verlusten, die der Commerzienrath, um dessen entsetzlichen Tod dort noch Niemand wußte, bei den neuesten, rasch aufeinanderfolgenden Concursen erlitten haben müsse. Zwar hatte er es, wie selten ein Speculant, verstanden, vertraute Mitwisser von seinen Unternehmungen fernzuhalten; nicht einmal der frühere Buchhalter der Spinnerei, den er nach Verkauf derselben als Secretär beschäftigte, hatte einen Einblick in seine Börsenmanipulationen gehabt. Der reiche Mann war ferner im Besitz jener glücklichen Begabung gewesen, welche hinter einer stets aufgescheuchten undurchdringlichen Wolke funkelnden Goldstaubes die dunkle Kehrseite der Dinge und Verhältnisse unsichtbar zu machen weiß. Und so wäre es ihm doch vielleicht trotz der Nachricht von seinen Verlusten geglückt, auf immer als Opfer seiner Liebhaberei für das historisch merkwürdige Pulver im Thurmkeller der Burgruine beklagt zu werden, wenn er sich nicht in der Dosis des modernen Sprengstoffes vergriffen hätte – das war die „in den Coulissen gebliebene Lücke, durch die man der Wirklichkeit auf den Leib gehen würde“, wie Flora gesagt hatte.
Während sich somit in der Stadt noch eine unausbleibliche Katastrophe lawinenartig vorbereitete, gingen auch im Trauerhause unheimliche Wandlungen vor sich. Am ersten Tage waren alle Befreundeten des Hauses herbeigeeilt, und hatten bei aller Gedämpftheit der Stimmen und Schritte dennoch eine Art von Tumult hervorgerufen; am zweiten dagegen herrschte bereits eine tiefe, schwüle Stille in Erdgeschoß und Beletage, die um so drückender erschien, als die Läden vor den meisten der zertrümmerten Scheiben lagen und nur ein ungewisses, beklemmendes Halbdunkel zuließen. Noch ahnte die Frau Präsidentin nicht, daß nach dem furchtbaren Ereigniß ein zweiter Sturz erfolgen werde; noch concentrirte sich all ihr Sinnen und Denken auf das, was nach dem unrettbar Zerstörten von dem großen Vermögen geblieben und wem es zufallen würde. Mit der ganzen Selbstsucht des Alters gingen ihre Gedanken bereits völlig über den Todten hinweg. Nie war überhaupt das egoistische Element, das die Großmutter und ihre älteste Enkelin in gleichem Grade beseelte, so kraß und nackt hervorgetreten, wie in diesen Tagen der Heimsuchung.
Flora hatte der Präsidentin sofort nach der Entscheidung in kurzen Worten angezeigt, daß sie ihr bräutliches Verhältniß zu Doctor Bruck gelöst habe, ohne die Motive zu diesem Entschluß auch nur zu berühren, und die alte Dame war nichts weniger als wißbegierig gewesen – sie hatte, für einen Moment aus ihrem fieberisch angestrengten Grübeln und Brüten aufgeschreckt, halb blöde emporgesehen und sich mit einem Achselzucken begnügt. Wie wenig bedeutend erschien diese Schicksalswendung im Leben der Enkelin neben der Tragödie, die eine hochgestellte, verwöhnte Frau plötzlich aus wahrhaft fürstlichem Luxus in die beschränktesten pecuniären Verhältnisse zurückzuschleudern drohte! Dann hatte sich Flora in ihre Zimmer zurückgezogen; unter dem Vorwande heftigen Unwohlseins war sie allen Condolenzbesuchen ausgewichen und hatte den ganzen ersten Tag mit Ordnen und Umpacken ihrer Effecten verbracht.
Im Souterrain aber, dem Aufenthalte der Lakaien und der Küchenbedienung, herrschte an dem Tage, welcher der lange erwartete und lange vorbereitete Hochzeitstag hatte sein sollen, eine Verwirrung, eine Auflösung alles Bestehenden, wie sie nur ein Haufen fluchtbereiter Menschen hervorbringen kann. Dort unten hatten die von der Stadt herdringenden Gerüchte bombenartig eingeschlagen, um so mehr, als schon am ersten Morgen nach dem Unglück einige Scharfsichtige unter den Leuten scheu und versteckt darauf angespielt hatten, daß möglicher Weise „doch nicht Alles mit rechten Dingen zugegangen sei“. Nun erwartete man jeden Augenblick, die Gerichtscommission in das Haus treten zu sehen – ein Jedes griff nach dem Seinigen, und dabei wurden in der offenstehenden Speisekammer die langen Tafeln voll Kuchen und Torten geplündert und die Bowlen ausgetrunken, die für den Polterabend bestimmt gewesen waren.
Und von dieser Region aus kamen auch der Frau Präsidentin Urach die ersten bestürzenden Anzeichen, daß ihr Regiment in der Villa Baumgarten auch von Anderen als beendigt angesehen werde. Während sonst auf ihren ersten Klingelzug die Betreffenden herbeigestürzt warm, mußte sie wiederholt schellen, ja, sich zum Rufen bequemen; sie hörte, wie draußen ihr Löwenhündchen, das die Dienerhände bisher als den Abgott der Herrin cajolirt und gehätschelt hatten, unter einem Fußtritte aufschrie – und die Augen, die sie bis jetzt nur in scheuer Ehrfurcht niedergeschlagen gekannt hatte, sahen wie herausfordernd in ihr strenges Gesicht.
Von dieser Wandlung der äußeren Verhältnisse wurden die Bewohner der Beletage nicht berührt. Henriette hatte sich stets gütig und nachsichtsvoll – für die Dienerschaft war die kleine, gebrechliche Gestalt immer ein dem Tode geweihtes Kind gewesen; man war gewöhnt, in ihrer Nähe lautlos auf den Zehenspitzen zu gehen und nur mir sanftgedämpfter Stimme zu ihr zu reden, und in diesen Rücksichten erschöpfte man sich heute doppelt, da ja „der Herr Hofrath“ gesagt hatte, daß es bedenklich um die Kranke stehe.
Ja, sie lag droben im Wohnzimmer, fast nur noch kenntlich an den wunderschönen blauen Augen – wunschlos und willig den lebensmüden Leib der dunklen Gewalt endlich überlastend, die ihr seit Jahren, Schritt für Schritt, auf den Fersen gefolgt Sie war sich vollkommen bewußt, daß sie sterben müsse; sie hatte alle schreienden Farben, mit denen sie sich stets einen Schein von Gesundheit und Jugendblüthe zu erborgen gesucht, nunmehr mit Abscheu von sich gewiesen. Wie in Schnee gebettet, lag sie in den weißen Kissen und Decken, unter der weich herabfließenden Mullgardine. Es blieb ihr erspart, den flüchtigen Fuß von der heimischen Schwelle zu wenden, und, Flora’s Programm gemäß, in der Schloßmühle ein Asyl zu suchen. Sie ging, noch ehe das Gericht im Namen des Gesetzes, im Namen der geängstigten Gläubiger seine Hand auf die Reste eines in alle Lüfte zerstobenen märchenhaften Reichthums legte; sie ging, ohne noch hören zu müssen, daß das Brandmal eines schweren Verbrechens das Andenken ihres Schwagers verunehre, dessen fürchterliches Ende auch zugleich die schwache Wurzel zerrissen hatte, mit welcher sich das zarte, so lange angefeindete Mädchendasein noch an die Erde festgeklammert. … Und was sie stets so heiß gewünscht, es erfüllte sich nun doch noch: sie wurde bis zum letzten Athemzuge von den Augen ihres Arztes behütet; er hatte ihr gesagt, daß er bei ihr bleiben und nach L…g nicht eher gehen werde, als bis es „besser um sie stehe“. Nun war sie wieder so unaussprechlich glücklich, wie sie es im Fremdenzimmer der Tante Diakonus gewesen: Doctor Bruck pflegte sie, und ihm zur Seite stand Käthe – die beiden Menschen, die sie auf Erden am meisten geliebt hatte.
Käthe erholte sich rasch. Schon am Nachmittag des zweiten Tages war sie aufgestanden. Die schmale, um den Kopf gelegte Binde und die über den Rücken hinabhängenden Flechten, die ihrer Schwere wegen nicht über der Stirn liegen durften, erinnerten daran, daß sie Reconvalescentin sei, sonst aber hätte wohl Niemand geahnt, daß der fürchterliche Stoß der Explosion diese schlanke Mädchengestalt weithin geschleudert und mit erstickenden Wassermassen überschüttet habe, daß sie verloren gewesen wäre, wenn nicht das Auge der Liebe sie gesucht. Ihre Haltung war kraftbewußt und energisch wie vorher, und die ihr eigene Sammlung und Sicherheit in ihr ganzes äußeres Wesen zurückgekehrt, wenn es auch stürmisch genug in ihrer Seele aussah. Neben dem tiefen Leid um die sterbende Schwester, um Römer’s tragisches Ende, drängte sich ihr die furchtbare Gewißheit auf, daß ihr Schwager und Vormund bei dem grauenhaften Vorgang nicht ohne Schuld gewesen sei – auf eine derartige Andeutung, die sie angstvoll gegen Doctor Bruck gemacht, hatte er nicht vermocht „nein“ zu sagen. Er war still und schweigsam wie immer. Das erheischte schon Henriettens Zustand, aber es lag etwas eigenthümlich Feierliches in dieser Verschlossenheit, von welcher auch die Tante Diakonus angesteckt zu sein schien.
Die alte Frau war in den Nachmittagsstunden des ersten Tages, nach einer leise geführten Unterredung mit dem Doctor, verweint und doch unverkennbar freudig bestürzt, aus dem Cabinet gekommen, das an Henriettens Schlafzimmer stieß, und hatte sich dann verabschiedet, um Betten und Möbel aus dem Hause am Flusse in die Stadtwohnung des Doctors schaffen zu lassen, wohin sie einstweilen mit ihrer Freundin übersiedeln sollte, bis die Reparaturen an dem verwüsteten Doctorhause vollendet seien. Sie hatte mit keinem Laute verrathen, was in ihr vorgehe, aber sie hatte die Villa verlassen, um nur dann und wann, Henriette’s wegen, für einige flüchtige Augenblicke vorsprechen, wobei sie augenscheinlich bestrebt war, einer Begegnung mit Flora auszuweichen!
Die schöne Braut war auch nur ein einziges Mal in der Beletage erschienen, um nach der Schwerkranken zu sehen, just zu der Zeit, wo sich Doctor Bruck in Folge einer dringliches Aufforderung zum Fürsten begeben hatte. Es war zu sonderbar und verletzend, daß sie, Henriettens Salon, passirend, an Käthe’s Lager vorüberschritt, als sei dort, wo sich die verwundete Schwester zu ihrer Begrüßung aufrichtete, die leere Wand. Sie hatte keinen Blick, kein Wort für „die Jüngste“ und vermied es, durch den Salon zurückzukehren, indem sie sich von der Kammerjungfer die direct in den Corridor führende Thür des Schlafzimmers aufschließen ließ. Zu alledem berichtete Nanni mit zweideutiger Miene, daß das gnädige Fräulein drunten sich zur schleunigen Abreise rüste.
Es war Käthe so schwer beängstigend zu Muthe, als starrten sie aus allen Zimmerecken dunkle Räthsel an; sie wähnte den Plafond, selbst den Himmel über ihrem Haupte nicht mehr sicher, weil alles Bestehende der stattgehabten entsetzlichen Erschütterung nachstürzen müsse.
Einigemal im Laufe des Tages kam auch die Präsidentin herauf, eine schwarze Krepphaube über dem verstörten Gesichte, und treulos verlassen von der kühlen, stolzen Ruhe eines wohlgeschulten Geistes, der sich, wie sie stets behauptet, gerade in schlimmen Lebenslagen am glänzendsten bewähren müsse. Sie hatte nur Thränen und ein krampfhaftes Händeringen für die „fürchterliche Situation“, in welche mit einem Schlag alle Bewohner der Villa geschleudert waren. Die erschöpfte Kranke athmete stets auf, wenn der letzte Zipfel des schwarzen Wallkleides der Großmama hinter der Thür verschwand.
Es war am Morgen des dritten Tages nach dem Ereignisse, als die alte Dame plötzlich die Thür des rothen Studirzimmers aufriß und, ein Zeitungsblatt in der Hand, über die Schwelle wankte. Flora war eben beschäftigt, Etiketten für ihre Effecten zu schreiben; sie erhob sich und trat ahnungsvoll auf die Großmama zu, die in einen Armstuhl sank.
„Meine viertausend Thaler!“ stöhnte sie. „Kind, Kind ich bin von Schurken betrogen um mein Bischen Hab und Gut, um das kärgliche Erbe, das mir der Großpapa hinterlassen hat. … Meine viertausend Thalern die ich behütet habe wie meinen Augapfel –“
„Nein, Großmama, bleibe bei der Wahrheit, sage lieber, Deine viertausend Thaler, mit denen Du allzu sanguinisch und leichtgläubig speculirt hast!“ fiel Flora in unerbittlichem, hart strafendem Tone ein. „Wie habe ich Dich gewarnt! Aber da wurde ich ausgelacht und verhöhnt, weil ich meine wohlgesicherten Staatspapiere nicht auch ‚mit arbeiten‘ ließ. Das Etablissement, bei welchem Du Dich betheiligt, hat fallirt?“
„Eclatant! Schurkisch! Da lies! Ich glaube, nicht fünfzig Thaler bleiben mir,“ rief die Präsidentin mit brechender Stimme und schlug die Hände vor das Gesicht. „Nur Eines fasse ich nicht,“ fuhr sie, wieder emporschreckend, fort, während Flora die bezügliche Nachricht überflog. „Das Blatt bezieht sich auf frühere Mittheilungen; der Sturz muß demnach schon vor circa vier bis fünf Tagen erfolgt sein – und Moritz hat nichts davon gewußt – unbegreiflich.“
„Sollte das nicht mit dem ausgebliebenen Börsenblatte zusammenhängen? –“
„Ah – Du meinst, unser armer Moritz habe mir während der Hochzeitsfeier den Schrecken ersparen wollen und das Blatt confiscirt? Ach, ja – jedenfalls! Und er hätte mir auch den Schaden ersetzt, ich weiß es – war er es doch selbst, der mir die Sache eingeredet hat. … O mein Gott, das ist ein Gedanke von oben. Nöthigenfalls kann ich’s beschwören, daß Moritz mich zu dem Unternehmen verleitet hat. Wie – sollte ich nicht darauf hin doch vielleicht Anspruch auf Ersatz aus der Erbschaftsmasse haben?“
Flora warf die Zeitung auf den Tisch; sie, die in allen Fällen rücksichtslos Vorgehende, war doch einen Augenblick in Verlegenheit, wie sie ihre Worte, diesen unzerstörbaren Illusionen gegenüber, zu wählen habe. Sie hatte bis zur Stunde geschwiegen, voraussetzend, daß sehr bald einer der guten Freunde die Mission der Aufklärung übernehmen werde, aber die guten Freunde waren ja schon gestern ausgeblieben; es ließ sich keiner mehr blicken und nun mußte sie es selbst thun; sie durfte doch nicht zugeben, daß sich ihre Großmama mit dieser beispiellosen Zuversicht und Harmlosigkeit vor aller Welt blamire.
„Großmama,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme und legte die Hand auf den Arm der alten Dame; „es fragt sich vor allen Dingen, wie hoch sich diese Erbschaftsmasse beziffern wird.“
„O Kind, sieh Dich um, sieh nur zum Fenster hinaus, und Du wirst wissen, daß man den Abzug meiner viertausend Thaler an dem Nachlasse kaum merken wird. Mag auch das ungeheure Capitalvermögen, mit welchem Moritz operirte, unwiederbringlich verloren sein, weil alle darauf bezüglichen Bücher und Documente vernichtet sind, die Liegenschaften und anderen Werthobjecte, die er hinterlassen, repräsentiren immer noch einen Besitz, den man reich, ja glänzend nennen darf“ – ein tiefern schmerzlicher Seufzer hob ihre Brust. – „Ich wollte Gott danken, wenn ich den unbestrittenen Anspruch an diese Erbschaft hätte.“
Flora zuckte die Achseln. „Wer weiß, ob Du sie antreten würdest –“
Die Präsidentin fuhr empor. „Bist Du toll, Flora? So schwach ich auf meinen Füßen bin, ich wollte stundenweit laufen, ich wollte wochenlang hungern und dursten und kein Auge schließen, wenn ich mir dadurch die Ansprüche der Universalerbin erringen könnte. – Sollte man es glauben, daß das Geschick so teuflisch, so grausam ironisch sein könne? Ich, ich in meiner Stellung, muß mich hinausstoßen lassen aus dem Hause, das seinen Glanz, sein aristokratisches Air mir einzig und allein verdankt, und sie, eine ganz obscure, alte Person, die jetzt noch ahnungslos altes Leinen für Fremde flickt, die es ihr Lebenlang nicht besser gewußt und gehabt hat, sie wird sich hier breit machen.“
„Darüber brauchst Du Dich nicht zu alteriren, Großmama – die alte Tante am Rhein erbt so wenig wie Du –“
„Ah, so treten doch noch andere Erben auf?“
„Ja – die Gläubiger.“
Die Präsidentin taumelte unter einem scharfen Aufkreischen in den Armstuhl zurück.
„Still! Ich bitte Dich, mache keine Scene!“ murmelte Flora. „Drunten im Souterrain giebt es Leute, die das noch viel besser wissen als ich; sie sind im Begriff, das Haus zu verlassen, wie die Ratten das sinkende Schiff. Ich kann und darf es Dir nicht länger verschweigen, wie die Sachen stehen. Jetzt heißt es au fait sein, wenn wir uns, als die Düpirten, nicht unsterblich lächerlich machen wollen.“ Sie zog die schwarze Kreppwolke um Kinn und Hals der alten Dame in die gehörige Faltenordnung und steckte die mit einer einzigen wilden Handbewegung völlig zerstörten weißen Lockenpuffen wieder auf. „So darf Dich Niemand sehen, Großmama,“ sagte sie streng. „Wir müssen uns so rasch wie möglich mit Haltung und Ruhe aus der Affaire ziehen – sie ist zu gemein und entehrend; darüber waltet kein Zweifel mehr, daß die Explosion ein Verzweiflungsakt – auf deutsch gesagt: ein Schurkenstreich – von Seiten Römer’s gewesen ist.“
„Der Elende! Der infame Betrüger!“ schrie die Präsidentin aufspringend – die wahnsinnige Aufregung ließ sie plötzlich im Zimmer hin- und herlaufen, als sei ihr ein Räderwerk in die schwachen Füße gekommen.
Flora deutete nach dem einen Fenster, vor dessen zerschlagenen Scheiben keine schützende Jalousie lag. „Bedenke, daß man Dich draußen hört!“ warnte sie. „Seit dem Morgengrauen schleichen Geschäftsleute um das Haus; die Aufregung in der Stadt soll grenzenlos sein; es sind Leute, welche die Angst um ihr Geld aus den Federn getrieben hat. Was wir während des letzten halben Jahres in unserer großen Wirthschaft gebraucht haben, steht noch in den Büchern der Lieferanten. Der Fleischer hat sich sogar in das Haus hereingewagt und in dreister Weise gefordert, daß man Dich wecken möchte, er habe mit Dir zu reden. Jedenfalls will er versuchen, von Dir, weil Du dem Haushalt vorgestanden, die ihm schuldigen sechshundert Thaler zu erpressen, ehe die Gerichte einschreiten. Er ist frech genug gewesen, meiner Jungfer zu sagen, die Damen des Commerzienrathes hätten ja auch mitgegessen.“
„Pfui, in welchen Sumpf hat uns jener erbärmliche Wicht gelockt, um sich dann feig aus dem Staube zu machen!“ rief die Präsidentin, halb erstickt vor Grimm und Erbitterung, und zog sich instinctmäßig von dem offenen Fenster zurück. Sie rang die Hände. „Gott im Himmel, welche entsetzliche Lage! Was nun thun?“
„Vor allen Dingen einpacken, was uns mit Fug und Recht gehört, und das Haus räumen, wenn wir nicht wollen, daß unser Eigenthum mit versiegelt werde; da könnten wir wohl lange warten, bis es uns zurückgegeben würde! Ich bin eben im Begriff, hinaufzugehen und meinen“ – sie unterbrach sich mit einem schneidenden Lachen – „meinen Trousseau in Kisten und Koffer zu bringen. Dann will ich mit den Leuten das Hausinventar aufnehmen, und wenn Du nicht selbst die Uebergabe vollziehen willst –“
„Nun und nimmermehr –“
„Dann mag es die Wirthschaftsmamsell thun; wir haben Grund genug, krank zu sein.“ Sie nahm den Schlüssel zu dem Zimmer, in welchem der Trousseau aufgestellt war, aus ihrem Schreibtisch, während die Präsidentin mit verzweifelnd gen Himmel gehobenen Armen davonstürzte, um das Ihrige vor den Gerichtssiegeln in Sicherheit zu bringen.
Ueber den Baumwipfeln des Parkes wehte die Morgenluft und zog durch das weit offene Fenster; sie trug ein traumhaftes, halbverlorenes Wasserrauschen vom fernen Fluß her in die Kirchenstille des Schlafzimmers und hauchte das weiße Gesicht der schlummernden Kranken mit Reseda- und Levkoyendüften an. Und das rothe wilde Weinlaub, das draußen den Fensterrahmen umkränzte, bebte im leisen, sammetweichen Zugwind; es sah aus, als habe er die dreifingerigen Purpurblätter im Vorüberstreifen gepflückt und über die weiße Bettdecke und das gelöste aschblonde, Haar hin verstreut und die blassen Hände in das kühle Laub wohlig vergraben. Henriette hatte sich die Blätter pflücken lassen „als letzte Grüße des Sommers, der sich nun auch zur Wanderschaft anschicke.“
Käthe saß am Bett und behütete den Schlaf der Schwester. Sie hatte selbst das dreist herbeifliegende Rothschwänzchen, das gewohnt war, Kuchenkrümchen auf dem Fenstersims zu finden, mit einer angstvollen Handbewegung fortgescheucht; sein zartes Gezwitscher klang fast erschreckend in das bange Schweigen, das dem Ohr jeden schwachen Athemzug hörbar machte, unter welchem sich die schmale Brust der Kranken in beängstigend langen Zwischenräumen hob. Doctor Bruck hatte seine Patientin für eine halbe Stunde verlassen müssen; der Fürst bestand darauf, den Arzt, der ihn nach so vielen fehlgeschlagenen Curen in kurzer Zeit vollkommen hergestellt hatte, bis zu dessen Abreise als Berather täglich zu empfangen. Und so war Bruck gegangen, die günstige Schlummerstunde benutzend, wo Henriette ihn nicht vermißte.
Die Kammerjungfer hatte sich mit einer Näharbeit hinter die Bettgardine postirt, um nöthigenfalls bei der Hand zu sein; sie sah dann und wann verstohlen zu dem regungslosen jungen Mädchen dort im Armstuhl hinüber. Drunten im Souterrain hatten sie vorhin davon gesprochen, daß „das Fräulein aus der Mühle“ bei „dem Streich des gnädigen Herrn“ am schlimmsten wegkomme, und sie meinte nun, ein Menschenkind, dem eben eine halbe Million aus der Hand geschlüpft sei, müsse doch ganz anders verzweifelt aussehen, als die junge Dame, die, den Verband über der Stirn und ihre schönen Glieder in ein weiches, weißes Morgenkleid gehüllt, traurig ernst, aber still gefaßt, wie eine Statue in ihrer aufmerksam beobachtenden Stellung verharrte. „So jung und so gesetzt, so frischblühend und lebenstrotzend, und doch so wenig für die Welt und alle ihre guten Dinge!“ meinte die Beobachterin in ihren Zofengedanken weiter – da war die schöne Dame klüger, die jetzt drüben ihren Trousseau einpackte; sie brachte vor allen Dingen ihre Sachen in Sicherheit; sie hetzte ihre Jungfer treppauf, treppab nach jedem Taschentuch, das sich in die Hauswäsche verirrt hatte und mit gepackt werden sollte – sie wollte Nichts, auch gar Nichts verlieren. Und so schlau und energisch hatte sie immer für sich gesorgt, und drum war sie auch die Reiche, „der kein Härchen gekrümmt wurde,“ in der Familie geblieben. Nun reiste sie mit ihren Koffern und Kisten dem Bräutigam Voraus nach L…g und ging allen Schrecknissen, die jeden Augenblick über die Villa Hereinbrechen konnten, aus dem Wege. Man hätte sich zu Tode ärgern mögen, daß ihr auch Alles glückte, was sie durchsetzen wollte; sie durfte sich Alles erlauben, und die ganze Welt hieß es gut und recht. Und jetzt wurde auch noch im Trousseau-Zimmer so laut gepoltert, daß die Kranke aus dem Schlafe aufschreckte.
„Das gnädige Fräulein kramt drüben und packt ihre Sachen,“ sagte Nanni mit erkünsteltem Gleichmuthe, als Käthe entsetzt emporfuhr und ihre Hände beschwichtigend über die Halberwachte hinstreckte.
Henriettens Salon trennte allerdings die beiden Zimmer, und Flora setzte deshalb jedenfalls voraus, daß man ihr Hantiren im Krankenzimmer nicht hören könne; sonst hätte sie doch sicher das anhaltende Schieben und Umherstoßen der Kisten und Koffer rücksichtsvoller vermieden. Käthe erhob sich, und die nach dem Salon führende Thür hinter sich schließend, ging sie hinüber in das Zimmer, wo gepoltert wurde.
Flora stieß einen leisen Schrei aus – es blieb unentschieden, ob vor Schreck, oder im Aerger über die Störung – als die hohe, weiße Gestalt auf der Schwelle erschien und mit sanft gedämpfter Stimme um Ruhe für die Schlummernde bat.
Die schöne Schwester stand dicht neben dem Ständer, der die Brauttoilette trug. Die weiße Atlasschleppe, von welcher das Kammermädchen die Orangenblüthenbouquets absteckte, um sie in einen Carton zu legen, hing neben ihrer Schulter nieder, und in den Händen hielt sie den Brautschleier, offenbar in der Absicht, ihn zusammenzufalten. Die zerstückte Hochzeitsfeier konnte allerdings nicht schneidender illustrirt werden, als durch diese Gruppe.
„Es thut mir leid; ich habe nicht geglaubt, daß das Aufstellen der Kisten bis zu Henriette hinüberschalle – wir werden vorsichtiger sein,“ sagte sie kurz, aber doch mit hörbar alterirter Stimme. Ein böses Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Du schleichst ja so weiß, so lautlos durch das Haus, daß man denken könnte, die Ahnfrau der Baumgarten habe, weil es in der Stammburg mit dem Wandeln aus und vorbei ist, ihr Domicil in der Villa aufgeschlagen. Unheil genug heftet sich an Deine Fersen – wo Du eintrittst, sollte ein rechtschaffener Christ drei Kreuze schlagen.“
Sie schickte die Kammerjungfer mittelst einer Handbewegung aus dem Zimmer. „Halt!“ rief sie, den Brautschleier fortschleudernd, als Käthe dem Mädchen schweigend folgen wollte. „Wenn ein Funken von Frauenehre in Dir lebt, so stehst Du mir jetzt Rede.“
Käthe streifte gelassen die Hand ab, die ihr Kleid festhielt, und trat in das Zimmer zurück. „Ich stelle mich Dir zur Verfügung,“ sagte sie ruhig und heftete ihre ernsten Augen fest auf das leidenschaftlich erregte Gesicht der Schwester. „Nur bitte ich Dich, nicht so überlaut zu sprechen, damit uns Henriette nicht hört.“
Flora antwortete nicht; sie ergriff Käthe’s Hand und zog sie in die Nähe des Fensters. „Komm her! Lasse Dich einmal ansehen! Ich muß wissen, wie Du aussiehst, nachdem Du geküßt hast.“
Das junge Mädchen wich zurück vor dem frivol funkelnden Blick, der ihr, im Verein mit der leichtfertigen Bemerkung, die tiefe Gluth der beleidigten Scham in das Gesicht trieb. „Als ältere Schwester solltest Du doch Anstand nehmen, einen solchen Ton anzuschlagen –“
„Ei, Du heilige Unschuld! Und ich sage Dir: Als jüngere Schwester solltest Du Dich schämen, Deine Augen auf einen Mann zu werfen, der mit der älteren verlobt ist!“
Käthe stand wie vom Blitz getroffen. Wer hatte in die Tiefen ihres Herzens geblickt und das Geheimniß, das sie, angstvoll, mit Aufbietung aller inneren Kraft hinabgedrängt, an das Licht gezogen? Sie fühlten wie sie sich entfärbte; sie wußte, daß sie in diesem Augenblick wie eine auf dem schwersten Verbrechen Ertappte dastand, und doch brachte sie keinen Laut über ihre blassen Lippen.
„Schau, das böse Gewissen! Man könnte es nicht plastischer darstellen,“ lachte Flora scharf auf und berührte mit dem Finger die Brust des Mädchens. „Ja, nicht wahr, Schatz, und wenn man es noch so schlau einfädelt, die ältere Schwester läßt sich nicht düpiren? Sie sieht solch einer ‚reinen‘ Mädchenseele bis auf den Grund; sie verfolgt mit klugem Blick die verschiedenen zarten Regungen von der ersten Blumenspende an, die man mit dem naiven Wunsche, Aufmerksamkeit zu erregen, dem Mann in sein Zimmer legt –“
Jetzt kam Leben in die förmlich versteinerte Gestalt des jungen Mädchens. Unwillkürlich schlug sie die Hände zusammen – es kam ihr vor, als sei, seit sie den Fuß auf den heimischen Boden gesetzt, ihre ahnungslose Seele beschlichen worden, wie das Wild vom Jäger. War es möglich, daß man ihr aus dieser kleinen Nachlässigkeit, die ihr ja selbst Thränen des Verdrusses erpreßt, einen solchen gehässigen Vorwurf machen konnte? Jetzt wallte ein gerechter Zorn in ihr auf.
„Diese Vergeßlichkeit habe ich mir allerdings zu schulden kommen lassen,“ sagte sie, ihre hohe Gestalt stolz aufrichtend. „Wer Dir aber auch davon gesprochen haben mag –“
„Wer? Er selbst, Kleine.“
„Dann bist Du es, die den Vorfall in ein total falsches Licht zieht –“
„Ah, Kind, nimm Dich ein wenig zusammen! Die so lange verhaltene Leidenschaft bricht Dir aus den Augen,“ rief Flora mit kaltem Lächeln, aber ihre Fußspitze hämmerte in kaum zu bezähmendem Grimm auf dem Parquet. „Also ich lüge? Nicht er, mein Fräulein, indem er sich der Eroberung rühmt?“
Es war abermals, als fliehe jeder Blutstropfen aus dem Mädchengesicht, während sie energisch den Kopf schüttelte. „Nein! Und wenn Du mir das zu tausend Malen wiederholst, ich glaube es nicht. Eher werde ich irre an Allem, was uns das Sittengesetz als gut und recht hinstellt. Er sollte eine Unwahrheit auch nur denken? Er sollte sich, wie nur irgend ein charakterloser Geck, einer Eroberung rühmen? Er, der“ – sie unterbrach sich, als erschrecke sie vor ihrer eigenen, leidenschaftlich bewegten Stimme. „Du hast ihn häßlich verdächtigt, als ich hierher kam,“ setzte sie, sich bezwingend, hinzu. „Damals durfte ich Dir nicht entgegentreten, obgleich ich instinctmäßig sofort für ihn Partei ergriff, aber jetzt, wo ich ihn kenne, leide ich nicht, daß er auch nur mit einem Wort verunglimpft wird. Geradezu unglaublich ist’s, daß ich Dir das sagen muß. Wie kannst Du es über’s Herz bringen, wie ist es Dir möglich, die Ehre dessen fortgesetzt anzufeinden, der Dir in der Kürze seinen Namen geben wird?“
Flora fuhr bei den letzten Worten herum und maß die Sprechende mit einem ungläubigen Blicke, als traue sie ihren Sinnen nicht. „Entweder Du bist eine Schauspielerin comme il faut, oder – eine Liebeserklärung muß Dir schwarz auf weiß überreicht werden, wenn Du sie verstehen sollst. Du wüßtest wirklich nichts?“ Mit einem impertinenten Lächeln, das alle ihre feingespitzten Zähne zeigte, legte sie beide Hände auf Käthe’s Arm und schob sie, nach einem durchbohrend dämonischen Aufblicke in die braunen Augen, zornig, heftig von sich. „Bah, was will ich denn noch? Hast Du nicht eben gekämpft und Dich echauffirt, als wolltest Du den letzten Athemzug für ihn verhauchen?“
Käthe wandte ihr den Rücken und schritt nach der Thür. „Ich sehe nicht ein, weshalb Du mich vorhin zurückgehalten hast,“ sagte sie unwillig.
„Ach, ich war zu verblümt? Muß ich durchaus gut deutsch sprechen? Nun denn, meine Liebe, ich will nichts mehr und nichts weniger wissen, als was Bruck gestern und heute mit Dir verhandelt hat.“
„Was er mit mir verhandelt hat,“ fuhr Käthe fort, „das darfst Du wissen, Wort für Wort. Er hat sich bemüht, und ich habe es ihm schwer genug gemacht, mein blindes Hoffen auf eine abermalige Besserung der Kranken zu zerstören – er hat sich bemüht, mich darauf vorzubereiten, daß“ – ihre Stimme brach, und halb verhaltene Thränen glänzten in ihren Augen – „Henriette uns verlassen wird.“
Flora trat schweigend und sichtlich verwirrt in das Fenster; bei aller Selbstvergötterung kam ihr doch vielleicht die Ahnung, daß sie diesen beiden Menschen gegenüber in allen Fällen eine klägliche, verlorene Rolle spiele. „Kind, weißt Du das nicht längst?“ sagte sie in gedämpftem Tone. „Und hast Du Dir nicht selbst gesagt, daß wir Alle für die arme Kreuzträgerin um endliche Erlösung von der Schmerzenslast bitten müssen?“ Sie trat mit lautlosen Schritten wieder an das Mädchen heran. „Und war das wirklich Wort für Wort“ der Inhalt Eurer Gespräche?“
Das Gefühl unsäglicher Verachtung stieg in Käthe auf. Sie meinte, das sei gemeine Eifersucht nicht des liebenden, sondern des eitlen Weibes, die dem Manne nachschleiche und jedes seiner Worte zu controliren suche. „Glaubst Du, Bruck habe in solchen Stunden, wo er Trost und Stütze der armen Kämpfenden sein muß, für irgend etwas Anderes Sinn und Interesse,“ antwortete sie mit ernster Zurückweisung, „noch dazu an einem Schmerzenslager, wie das da drüben, wo ihm die treueste Freundin auf Erden stirbt?“
„Ja, sie hat ihn geliebt,“ sagte Flora kalt.
Eine Flamme schlug über Käthe’s Gesicht hin – Flora weidete sich förmlich an der mädchenhaften Unbeholfenheit, mit der die junge Schwester ihr Erglühen zu verbergen suchte. „Ei ja, der Mann kann sich gratuliren zu dem Zauber, der ihn, ihm selbst unbewußt, umgiebt, der die Mädchenherzen anzieht, wie die Lichtflamme einen Mückenschwarm. Und die Welt wird lachen, wenn sie erfährt, daß, so viele Töchter Banquier Mangold hinterlassen hat, auch ebenso viele in den Lichtkreis hineingetaumelt sind, – Bleib’!“ Sie hatte in fast spielendem Tone gesprochen, bis zu dem Momente, wo Käthe sich abermals abwandte und nach der Thür eilte – jetzt kam der herrische Befehl wie ein wilder Schrei von ihren Lippen. Das junge Mädchen blieb, als wäre sie festgewurzelt, stehen, aus Furcht, daß der Aufschrei sich wiederholen und die Kranke erschrecken könne. „Auch unsere Jüngste, die schöne Müllerin, derb von Gliedern und tapfer von Gemüth, ist so schwach gewesen,“ fuhr sie, in den sarkastischen Ton zurückfallend, fort. „O, möchtest Du protestiren mit dieser trotzigen Miene, mit diesem kläglichen Versuche, stolz und beleidigt auszusehen? Nun gut – ich will Dir glauben; Du kannst Dich rein waschen, wenn Du widerrufst, was Du vorhin mit solch unvergleichlicher Emphase zu Bruck’s Verherrlichung ausgesprochen hast –“
„Nicht mit einem Jota widerrufe ich.“
„Siehst Du wohl, Du Sünderin, daß Du Deiner sträflichen Liebe mit Haut und Haar verfallen bist? Sieh’ mir in die Augen! Kannst Du Deiner verrathenen Schwester in’s Gesicht hinein ‚nein‘ sagen?“
Käthe hob den gesenkten Kopf und sah über die Schulter zurück; sie griff nach der Stirnwunde, die in Folge der Nervenaufregung zu schmerzen begann, aber das geschah mechanisch – und wenn ihr Leben der Wunde entströmt wäre, sie hätte es nicht beachtet in diesem Augenblicke, wo sich ihr ganzes Denken und Fühlen auf einen Punkt concentrirte. „Du hast kein Recht, mir eine solche Beichte abzuverlangen,“ sagte sie fest, und doch mit einer Stimme, aus der stürmisches Herzklopfen klang; „ich bin nicht verpflichtet, Dir zu antworten. Aber Du hast mich eine Sünderin genannt, Du hast von Verrath gesprochen – das sind dieselben Worte, mit denen ich mich selbst beschuldigt und gestraft haben bis ich mir klar geworden bin über die Neigung, die Du eine sträfliche nennst –“
„Ah, ein Bekenntniß in bester Form!“
Ein weiches Lächeln spielte um den blaßrothen Mund; ein verklärender Schimmer legte sich über das erblichene Gesicht, das in diesem Moment weiß erschien, wie die Binde über der Stirn. „Ja, Flora, ich bekenne, weil ich mich nicht zu schämen brauche, ich bekenne auch um Unseres verstorbenen Vaters willen; ich will die scheinbare Schuld, als griffe ich nach den heiligen Rechten einer meiner Schwestern, seinem Andenken gegenüber nicht auf meiner Seele haben. Für unsere Gefühle können wir nicht – verantwortlich sind wir nur für die Macht, die wir ihnen einräumen; das weiß ich nun, nach dem erfolglosen Kampfe mit einer räthselhaften Neigung, von der man sich plötzlich sagt, daß sie mit Einem geboren und immer dagewesen sein muß – nur schlafend. Ist es Sünde, wenn man verehrend an den Hausaltar eines Anderen tritt? Ist es Sünde, wenn man freudig zu einem stolzen Baume aufblickt, der im Garten eines Anderen steht? Ist es Sünde, wenn ich liebe, ohne zu begehren? Ich will nichts von Euch; ich werde nie Deinen und Bruck’s Weg kreuzen. Ihr sollt nie wieder von mir hören, sollt Euch nicht einmal meiner erinnern; was kann es Eurem ehelichen Glücke schaden, wenn ich ihn liebe, so lange ich athme, und ihm die Treue halte wie einem Gestorbenen?“ –
Ein verletzendes Auflachen unterbrach sie. „Nimm Dich in Acht, Kleine! Im nächsten Augenblicke wird Dein dichterischer Schwung in Verse verfallen.“
„Nein, Flora, die überlasse ich Dir, wenn ich mir auch sagen muß, daß ich gesteigert bin in meinem Empfinden und nicht mehr in den festen, ruhigen Geleisen meiner Erziehung gehe, seit ich diese Neigung im Herzen trage.“ Sie schritt wieder tiefer in das Zimmer zurück, an dem Ständer vorüber, der den Brautanzug trug. Ohne es zu wissen, streifte sie die nur noch lose droben hängende Schleppe, und mit einem leisen Gezisch sank der rauschende Seidenstoff zur Erde.
Käthe bückte sich erschrocken, aber Flora schleuderte den Atlas verächtlich mit dem Fuße aus dem Wege. „Lasse den Plunder liegen!“ sagte sie schreibend. „Aber sieh, selbst der leblose Stoff wird rebellisch und empört sich gegen die Schuldige.“
„Und sprichst Du Dich ganz frei von Schuld, Flora?“ fragte Käthe rasch mit fliegendem Athem – sie hatte auch lebhaft wallendes Blut in den Adern; sie hatte ein strenges Rechtsgefühl in der Seele – dem ausgesprochenen Unrecht der eigensüchtigen Willkür beugte sie sich nicht um des lieben Friedens willen. „Was war es, das mich zu Anfang erfüllt hat? Mitleid, unsägliches, schmerzliches Mitleid für den edlen Mann, den Du nicht verstanden, den Du vor unser Aller Augen gemißhandelt und um jeden Preis abzuschütteln gesucht hast. Wäre es nicht eine schwere Schuld gewesen, wozu hättest Du denn Abbitte geleistet? Ich habe Dich als Büßende gesehen. … Als Du den Ring in den Fluß warfst –“
„Gott im Himmel, Käthe! Wärme doch nicht immer die alte Vision auf, die Du einmal gehabt haben willst,“ rief Flora und preßte secundenlang die Hände auf die Ohren; dann hielt sie dem jungen Mädchen den Goldfinger unter die Augen, und ihre Oberlippe hob sich scharf einwärts gekrümmt über den weißen Zähnen. „Da – da sitzt er ja. Und ich kann Dir versichern, daß er echt ist – die gravirten Buchstaben lassen nichts zu wünschen übrig. … Um übrigens der Sache ein Ende zu machen, will ich Dir sagen, daß dieses Ding da in meinem Leben keine Rolle mehr spielt, es sei denn die eines Drahtes, an dem man eine Marionette lenkt – mein bräutliches Verhältniß zu Bruck ist gelöst –“
Käthe fuhr bestürzt zurück. „Diese Lösung hast Du ja schon früher erfolglos versucht,“ stammelte sie verwirrt, athemlos.
„Ja, damals hatte der Erbärmliche noch einen Rest von Kraft in der Seele; jetzt ist er windelweich geworden.“
„Flora – er giebt Dich frei?“
„Mein Gott, ja, wenn Du denn durchaus die Freudenbotschaft noch einmal hören willst –“
„Dann hat er Dich auch nie geliebt. Dann hat ihn damals ein anderer Impuls getrieben, auf seinen Rechten zu beharren. Gott sei Dank, nun kann er noch glücklich werden!“
„Meinst Du? Wir sind auch noch da,“ sagte Flora; sie legte ihre Hand mit festem Druck auf den Arm des jungen Mädchens, und ihr Blick tauchte vielsagend und diabolisch tief in die verklärten braunen Augen. „Ich werde ihm die Stunde nie vergessen, in der er mich vergebens um meine Freiheit betteln ließ. Nun soll er auch fühlen, wie es thut, wenn man den Becher zum ersehnten Trunk an die Lippen setzt, und er wird Einem aus der Hand geschleudert. Ich gebe den Ring nicht heraus, und sollte ich ihn mit den Zähnen festhalten –“
„Den gefälschten –“
„Willst Du das beweisen, Kleine? Wo sind Deine Zeugen? Mir gegenüber bist Du verloren mit einer Anklage, wenn sie nicht Hand und Fuß hat – man sagt mir nicht mit Unrecht nach, daß ein Juristengenie in mir stecke. … Uebrigens magst Du Dich beruhigen. So unmenschlich grausam bin ich nicht, meinem ehrmaligen Verlobten das Heirathen überhaupt zu verbieten; mag er sich doch vermählen – morgen, wenn er Lust hat, aber selbstverständlich nur mit einer Ungeliebten; gegen eine Convenienzehe erhebe ich keinen Einspruch. … Ich werde ihm nachspüren, nachschleichen auf jeder inneren Regung, die er unvorsichtig an den Tag legt – wehe ihm, wenn ich ihn auf einem Wege betreffe, der mir nicht convenirt!“
Sie hatte einen der rings verstreuten Orangenzweige ergriffen und wiegte ihn zwischen den Fingerspitzen spielend hin und her; sie sah aus wie ein schönes Raubthier, das ein Opfer mit geschmeidigen Windungen des schlanken Körpers umkreist.
„Nun, Käthe, Du liebst ihn ja; hast Du nicht Lust, für ihn zu bitten – wie?“ hob sie wieder an, die langsam gesprochenen Worte scharf markirend. „Schau, ich hab’ sein Glück in der Hand; ich kann es zerdrücken; ich kann es aufleben lassen, ganz nach Belieben. Diese Machtvollkommenheit ist für mich allerdings unbezahlbar, und doch – kann ich kaum der Versuchung widerstehen, sie hinzugeben, lediglich, um einmal zu erproben, in wie weit die hochgepriesene sogenannte wahre Liebe feuerfest ist. … Gesetzt, ich legte diesen Ring mit der Befugniß in Deine Hand, ihn zu verwenden, wie es Dir gut dünkt –, verstehe mich recht: ich selbst hätte mich dann von diesem Augenblicke an jedes Einspruchs, jedes Anrechtes begeben – würdest Du bereit sein, Dich jeder meiner Bedingungen zu unterwerfen, damit Bruck von dieser Stunde an freie Wahl hätte?“
Käthe hatte unwillkürlich die Hände verschlungen und drückte sie fest gegen die wogende Brust; man sah, ein unbeschreiblicher Kampf arbeitete in dieser jungen Seele. „Ich unterwerfe mich jeder, auch der härtesten Bedingung, sofort, wenn ich Bruck aus Deinen Schlingen erlösen kann,“ rang es sich heiser, aber entschlossen von ihren Lippen.
„Nicht zu sanguinisch, meine Tochter! Du könntest mit diesem übereilten Opfermuthe leicht Dein eigenes Lebensglück hinwerfen.“
Das junge Mädchen schwieg und legte die Rechte an die schmerzende Stirn. Man sah, der Starken brach eine Stütze nach der anderen, der Jugendmuth, die elastische Kraft, die auf sich selber pocht, der Glaube an das schließliche innere Ueberwinden – nur der Wille blieb stark. „Ich weiß, was ich will – da braucht es kein Besinnen,“ sagte sie.
Flora hielt den Blüthenzweig vor das Gesicht, als athme sie den Duft der künstlichen Blumen ein. „Und wenn er nun – vielleicht nur um mich namenlos zu demüthigen – Dich selbst begehrte?“ fragte sie mit einem blinzelnden Seitenblick.
Der jungen Schwester stockte der Athem. „Das wird er nicht – ich war ihm nie sympathisch.“
„Das ist richtig. Ich will aber einmal annehmen, er sage Dir, daß er Dich liebe, da wäre das Unterpfand seiner Freiheit denn doch sehr schlecht aufgehoben in Deinen Händen meinst Du nicht? … Er würde eines Tages um die Geliebte freien und sie könnte nicht widerstehen, und ich mit meinen unbestrittenen Anrechten hätte das Nachsehen – nein, ich behalte meinen Ring.“
„O Gott, darf es wirklich geschehen, daß eine Schwester die andere so entsetzlich martert?“ rief Käthe in schmerzlicher Entrüstung. „Aber gerade in diesem Augenblick, der Deinen ganzen beispiellosen Egoismus, Dein Herz ohne Erbarmen, Deine unbezwingliche Neigung zur Intrigue bloßlegt, wie noch nie, fühle ich mich doppelt berufen, Bruck um jeden Preis von dem Vampyr, zu befreien, der nach seinem Herzblut trachtet – Du darfst keine Gewalt mehr über ihn haben. … Er soll ein neues Leben anfangen; er wird sich eine Häuslichkeit schaffen, die ihn beglückt und befriedigt; er wird nicht mehr verurtheilt sein, an der Seite einer herzlosen Gefallsüchtigen ein steifes Salonleben zu führen –“
„Sehr verbunden für die schmeichelhafte Beurtheilung! Du sprichst viel zu warm für sein Glück, als daß ich Dir mein Kleinod anvertrauen möchte.“
„Gieb es her – Du kannst es getrost.“
„Und wenn er Dich nun wirklich und wahrhaftig liebte?“
Die Lippen des jungen Mädchens zuckten in unsäglicher Qual; sie verschlang die Hände angstvoll in einander, wie es die Verzweiflung thut, aber sie blieb standhaft. „Wäre es auch – ich bin nicht unersetzlich. Wie leicht wird es ihm werden, eine Bessere zu finden! Und daß er nicht wieder blindlings ein falsches Loos zieht, dafür bürgt seine schmerzliche Erfahrung. Gieb mir den Ring, den gefälschten, von dem ich weiß, daß in Wahrheit auch nicht die leiseste Spur von einem Recht mehr an ihm hängt – ich verspreche Dir, ihn zu achten, wie den, der im Flusse liegt, weil er trotz alledem und alledem Bruck’s Befreiung verbürgt.“ Sie streckte die Hand aus.
„So wie ich Dich kenne, bist Du ehrenhaft genug, ihn nie zu Deinen Gunsten zu verwenden,“ sagte Flora nachdrücklich und den Ring abstreifend; ein leises Zittern durchlief Käthe’s Glieder, als das Gold ihre Handfläche berührte – dann schlossen sich die Finger wie im Krampf über dem Reifen; dabei stahl sich ein bitterverächtliches Lächeln um den Mund des Mädchens – sie war zu stolz, auch nur mit einer Sylbe ihre makellose Absicht zu betheuern.
„Nun?“ rief Flora beunruhigt.
„Du hast mein Wort. Jetzt bin ich die Marionette, die Du an diesem Drahte lenkst,“ – sie hob die geschlossene Hand mit dem Goldreifen; – „bist Du zufrieden?“ Damit ging sie.
In dem Moment, wo sie auf die Schwelle der geöffneten Thür trat, kam Doctor Bruck die gegenüberliegende Treppe herauf. Sein Blick überflog die zwei Gestalten, von denen die eine aufrecht, triumphirend inmitten des Zimmers stand und ihn kalt anlächelte, während das herausschreitende, fieberglühende Mädchen bei seinem Anblick fast zusammenbrach.
Er eilte bestürzt herbei und legte rückhaltslos den Arm um die Schwankende. Die Thür hinter ihnen fiel zu, und in ihr Geknarr mischte sich ein wohlbekanntes, gedämpftes Auflachen.
Nachmittags brach der Sturm los, den die wie die Möven um das Haus schwirrenden Gerüchte verkündigt hatten – eine Gerichtscommission erschien. Man hatte sich die feierliche Beschlagnahme seit den frühen Morgenstunden vergegenwärtigt, und doch ging es wie ein erschütternder Schlag durch das ganze Haus, als die Herren unter das Portal traten. Sie kamen für Alle zu früh. Noch schleppten die Bedienten die altmodischen, blinden Mahagonitische und Commoden der Präsidentin, die Sophas und Stühle mit den verstaubten und zerschlissenen Bezügen vom Dachboden herab in den Hauptcorridor; noch standen Flora’s Kisten mit dem eingepackten Trousseau droben und harrten auf den säumigen Spediteurwagen; noch lag im kleinen Haus-, Wein- und Bierkeller allerlei „Trinkbares“, das man nicht mehr bei Seite bringen konnte.
Die Präsidentin hatte sich stolz und vornehm in ihr Schlafzimmer zurückgezogen – sie wollte die Herren nicht sehen, aber so höflich und respectvoll dieselben auch waren, sie durften auf die Nervenzufälle der gnädigen Frau keine Rücksicht nehmen; sie mußten fragen, ob die Zimmereinrichtung ihr Eigenthum sei, und auf das Verneinen der Dame hin bitten, einstweilen in ein leerstehendes, heizbares Entrée überzusiedeln, weil das Zimmer versiegelt werden müsse. Nun wurden die alten Möbel aus dem Corridore in das kleine, freundliche Zimmer geschoben, die pensionirten Federbetten gelüftet und bezogen und unter die verschossene, braunseidene Steppdecke gesteckt, die der Präsidentin seit Jahren nicht vor die Augen gekommen war und bei deren Erblicken ein Schauder des Abscheus durch ihre Glieder flog. Die Jungfer richtete das Stübchen so wohnlich wie möglich ein; sie hatte den kleinen Mahagoniblumentisch am Fenster mit einigen aus dem Wintergärten eroberten Blattpflanzen gefüllt und Manches aus dem Schlafzimmer herübergerettet, was ihrer verwöhnten Herrin besonders lieb und unentbehrlich war, aber die alte Dame sah die Bemühungen nicht – sie saß am Fenster und stierte nach dem Pavillon hinüber, dessen neuglänzendes Dach hinter der Boscage auftauchte.
Dieser gefürchtete und namenlos verhaßte „Wittwensitz“ war ein wahres Feenschlößchen geworden. Reiche Gardinen hingen hinter den Spiegelscheiben; sie sah eine köstliche Spitzenkante an einem Eckfenster, welches das Ahorngeäst freiließ; es funkelte Alles im Glanze der Neuheit, das spiegelglatte Parquet, die eleganten Möbel, die Deckenmalereien, die Lüstres in den Salons; selbst die Küche war splendid und vorsorglich ausgestattet, bis auf den einfachsten Blechlöffel hinab. Dieses „Bijou“ hatte ihr Eigenthum sein sollen bis an ihr Ende, und sie hatte es verächtlich mit dem Fuße fortgestoßen, aus Furcht, es werde sie von der Geselligkeit im Hause des Commerzienrathes isoliren – und nun, und nun!!
Währenddem kämpfte Flora um ihre Effecten, aber alle erschöpfenden Argumente, das schließliche Berufen selbst auf das Zeugniß der Dienerschaft waren vergeblich. Fräulein Mangold möge später reclamiren, augenblicklich müsse alles Vorgefundene in Bausch und Bogen unter die Siegel – lautete die höfliche, aber sehr bestimmte Antwort. Und so ging es treppauf, treppab, stundenlang. Alles, was an lebenden Blumen das Haus schmückte, wurde in die Treibhäuser gestellt; man hörte einen Zimmerschlüssel nach dem andern im Schlosse kreischen, und die noch offenen Fensterläden vorlegen – es war schauerlich, wie sich so nach und nach, hinter der Vollstreckern des Gesetzes her, die Dunkelheit und das Schweigen in den verlassenen Ecken niederhockte. Zwischen das Treiben hinein schimpfte und fluchte die Dienerschaft nunmehr ganz offen und jammerte um den rückständigen Lohn, aber Jedes schnürte sein Bündel, um das Haus zu verlassen, dessen Comfort hinter Schloß und Riegel lag, dessen Fleischtöpfe nicht mehr brodelten. Nur der Gärtner blieb und wurde in der Domestikenstube einquartiert.
Und inmitten dieser Verwirrung hob die Mädchenseele droben in der Beletage die Flügel, um nach jahrelangem, heldenhaftem Kampfe den kranken Leib leise und klaglos abzustreifen.
Henriettens Zimmer blieben unberührt von dem Geräusche der Beschlagnahme – was die Sterbende umgab, war ihr Eigenthum. Man bemühte sich auch, in der Beletage jeden Lärm, selbst den der lauten Fußtritte, zu vermeiden, und so drang nichts zu der scheidenden Seele, was sie noch einmal aufschrecken und in die irdische Misere zurückblicken machen konnte. Sie sah nur vor sich, durch das offene Fenster, in einen wahren Rosenhimmel hinein; sie sah die Schwalben mit ihren weißen Brust- und Flügelfedern wie silberne Kreuze unter den hochziehenden, rothglänzenden Abendwolken hinschießen, hastig, von dem erwachten Wandertrieb in der Brust beunruhigt: Noch gestern waren feine Rauchstreifen von der Ruine her vorübergezogen, und fernes Geräusch hatte die Gedanken des kranken Mädchens immer wieder auf sich gelenkt und schmerzbewegt um die Unglücksstätte kreisen lassen, wo die berstenden Mauern zusammengestürzt waren über „dem Unvorsichtigen“, an welchem sie, bei allen seinen Schwächen, doch mit schwesterlicher Zuneigung gehangen hatte. In die jetzige feierliche Abendstunde aber, in das stille Hingehen des Tages und eines kurzen Mädchenlebens mischten sich keine Anzeichen jener Schrecknisse mehr.
Der Doctor saß an Henriettens Bett. Er sah, wie der Tod dieses Antlitz voll Geist und Bewußtsein mit rapider Schnelligkeit, Strich um Strich, schärfte und markirte; an die Fingerspitzen der Kranken klopfte der entfliehende Lebensstrom in so vereinzelten Pulsschlägen, als kehre von fern her hie und da eine Welle zurück und spüle noch einmal an das verlassene Ufer.
„Flora!“ flüsterte Henriette und sah ihn mit einem sprechenden Blicke an.
„Soll sie kommen?“ fragte er, sofort bereit nach ihr zu gehen.
Henriette schüttelte schwach den Kopf. „Du wirst mir nicht böse sein, wenn ich mit Dir und Käthe allein bleiben möchte, bis“ – sie vollendete nicht und pflückte mit halbversagenden Fingern an dem welken, rothen Weinlaub auf der Bettdecke. „Ich will es ihr ersparen, und sie wird es mir Dank wissen“ – noch einmal schwebte der Anflug eines sarkastischen Lächelns schattenhaft um ihren Mund – „sie kann Rührscenen nicht leiden. … Du sollst ihr nur einen Gruß bringen, Leo.“
Der Doctor schwieg und neigte das Haupt. In seiner nächsten Nähe stand Käthe. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen – die Sterbende stützte sich ahnungslos auf Beziehungen, die nicht mehr existirten; erfuhr sie noch die Wahrheit? Ein angstvoller Seitenblick streifte das Gesicht des Doctors; es blieb vollkommen ernst und gefaßt; die Scheidende durfte durch eine unerwartet hereinbrechende Nachricht aus der schon halb und halb verlassenen Welt herüber nicht mehr aufgeschreckt werden, und zu einer Vorbereitung blieb – keine Zeit.
Henriettens Augen schweiften über den Himmel hin. „Wie köstlich klar und rosig! Ein Hineintauchen der befreiten Seele muß himmlisch sein,“ flüsterte sie innig. „Ob es ein Zurückblicken giebt? Ich will ja nur Eines sehen“ – sie wandte mühsam den Kopf in den Kissen und sah voll, zum ersten Male mit dem ganzen, unverhehlten Ausdruck unaussprechlicher Liebe zu Bruck auf – „ob Du glücklich wirst, Leo. Dann mag es mich fort, in Sonnenfernen tragen.“ Zu sagen: „ich muß das wissen, um selig werden zu können, weil ich dich geliebt habe mit allen Kräften, mit jeder Faser meines Herzens,“ das konnte die scheu verschlossene Mädchenseele selbst in der Todesstunde nicht über sich gewinnen.
Es war, als überfliege ein verklärender Schein die gesenkte Stirn des Doctors. „Es hat sich noch Alles glücklich für mich gewendet, Henriette,“ sagte er bewegt. „Ich wage zu hoffen, daß ich nicht mehr einsam und verbittert durch’s Leben gehen werde, oder besser: ich weiß, daß sich in der zwölften Stunde noch mein Traum von wahrer Lebensbeglückung erfüllen wird – genügt Dir das, meine Schwester?“ Er zog die schmale, erkaltete Hand, die er noch in der seinen hielt, an die Lippen. „Ich danke Dir,“ setzte er innig hinzu.
Ein Erröthen, sanft rosig wie das Abendlicht draußen, kam und schwand in jähem Wechsel auf den Wangen der Sterbenden; mit einem Ausdruck von scheuem Glück streiften ihre Augen unwillkürlich die Schwester, welche, die Rechte auf Bruck’s Armstuhl gelegt, sichtlich bemüht war, ihren Schmerz, aber auch eine unverkennbare Bestürzung zu bemeistern. Bei diesem Anblick schmolz Henriettens Herz in Weh und Mitleid.
„Sieh meine Käthe an, Bruck!“ sagte sie bittend, aber mit erlöschender Stimme und unaufhörlich von Athemnoth unterbrochen. „Lasse mich’s noch aussprechen, was mich immer bedrückt und tief geschmerzt hat! Du bist immer so kalt gegen sie gewesen – einmal sogar hart bis zur Grausamkeit – und ihr kommt doch Keine gleich, Keine! Leo, ich habe Dein Vorurtheil nie begreifen können. … Sei gut gegen sie – stehe an ihrer Seite –“
„Bis zum letzten Athemzug! Bis über den Tod hinaus!“ unterbrach er sie, kaum fähig, seiner stürmischen Bewegung Herr zu werden.
„Sieh, nun ist Alles gelöst! Ich weiß es; hältst Du sie in treuer Hut, dann wird meine starke, meine muthige Käthe stets zwischen Dir und allem Ungemach stehen –“
„Wie eine treue Schwester, die ich ihm von dieser Stunde an sein werde,“ vollendete Käthe mit halberstickter Stimme.
Ein geisterhaftes Lächeln irrte um Henriettens Mund – sie schloß die Augen. Sie sah nicht, daß durch die Glieder der Starken, Muthigen Schauer liefen, als schüttle sie das Fieber – sie sah nicht, daß sie Bruck’s dargebotene Rechte mit weggewendetem Gesicht von sich schob; als sei selbst ein Händedruck nicht statthaft. Das Lächeln erlosch, und aus der Brust der Sterbenden rang sich ein röchelnder Laut. „Grüßet die Großmama! – Nun möchte ich Ruhe haben – schaffe mir Ruhe um jeden Preis, Leo!“ hauchte sie angstvoll.
„In zehn Minuten wirst Du schlafen, Henriette,“ sagte er in tiefen, beruhigenden Tönen. Er legte ihre Hand auf die Bettdecke zurück, und sich erhebend schob er seinen Arm sanft und unmerklich unter das Kopfkissen – so lag sie wie ein Kind an seiner Brust – seliges Sterben!
Und nach zehn Minuten schlief sie. Die hereinnickenden Weinblätter wehten leise, als streife sanfte Berührung an ihnen hin, und das Rosenlicht draußen, in das zu tauchen die Seele sich gesehnt hatte, erglühte plötzlich wie angefacht zum tiefsten Purpur. Und der kleine, kirre Vogel ließ sich wie immer zum Abendgruß auf dem Fenstersims nieder; er zwitscherte leise herein, nach dem wachsweißen Mädchengesicht hin letzten Mal; denn nun wurde auch dieser Fensterladen geschlossen, bis – fremde Hände kamen und Besitz ergriffen vom Hause des Commerzienrathes.
Da kam die Präsidentin herein, gebeugt, als habe ihr das so lange nachschleichende Alter nunmehr mit doppelter Wucht einen Stoß in das Genick versetzt. Die weiße Schleierwolke lag wieder um Kinn und Hals; sie hatte die schwarze Krepphaube fortgeschleudert – um einen Schurken trauere man nicht, hatte sie gesagt. Sie trat an das Bett, und ein leichter Krampf machte ihre Lippen beben, als sie in das stille Todtengesicht sah. „Ihr ist wohl,“ sagte sie mit brechender Stimme. „Sie hat das bessere Theil erwählt; nun braucht sie nicht in die Verbannung zu gehen – der bittere, bittere Kampf mit der Armuth ist ihr erspart geblieben.“
Flora aber kam und ging wortlos. Die zwei treuen Wächter am Todtenbette existirten nicht für sie. Sie küßte die heimgegangene Schwester auf die Stirne, dann schritt sie, den Kopf in den Nacken zurückgeworfen, wieder nach der Thür, durch die sie gekommen. Wohl wurzelte ihr Fuß auf der Schwelle, aber sie wandte weder die Augen, noch den Kopf nach der Richtung, wo der Doctor stand und mit ernster, feierlicher Stimme die Grüße der Todten bestellte. Sie neigte unmerklich das Haupt, zum Zeichen, daß sie den Ausdruck des letzten Gedenkens in Empfang genommen, und ging mit rauschender Schleppe weiter, die Treppe hinab, um drunten Hut und Regenmantel anzulegen und nach dem nächstgelegenen Hôtel zu gehen, in welchem sie Zimmer für sich und die Präsidentin gemiethet hatte; unter dem Dach des Verbrechers durfte kein Glied der Familie Mangold mehr schlafen, selbst die Todte nicht.
Und als man auch sie nach hereingebrochener Dunkelheit fortgetragen hatte in die große Halle, wo sie Alle im letzten Schmuck und blumenüberschüttet auf das Oeffnen der letzten Pforte warten, da wurde auch in der Beletage die letzte Zimmerthür verschlossen, und der Doctor und Käthe stiegen die Treppe herab. Wie schollen ihre Schritte durch das schweigende, verlassene Haus! Wie gespenstig schlich der Schein der Lampe, die der Gärtner vor ihnen hertrug, über die einsamen Wände des Treppenhauses und der Corridore, an denen Tag für Tag die Fluthen des üppigsten Lebens, die übermüthigen Zeugen der goldgleißenden Schwindelepoche hinweggerauscht waren.
Die weiche Nachtluft, welche die Fortgehenden umfloß, legte sich wie Balsam auf Käthe’s heiße, verweinte Augen. Ein sternfunkelnder Himmel breitete sich über den schweigenden Park hin; man konnte die einzelnen Baumgruppen unterscheiden, und der Teichspiegel glomm schwach herüber, wie mattes Silber durch schwarzes Schleiergewebe. Das Sandgeröll wich knirschend unter den Tritten, und von fern her tosten die über das Wehr stürzenden Wasser, aber kein Blatt an den Wipfeln und Büschen regte sich – es war so lautlos still, wie droben im Sterbezimmer, wo man während der letzten Stunden nur flüsternd das Nothwendige beredet hatte. Und deshalb schrak auch Käthe jetzt so zusammen und brach fast in die Kniee, als der Doctor mit seiner tiefen, vollen Stimme das Schweigen unterbrach! Sie hatten gerade das tiefdunkle Laubthor der Allee vor sich, und da blieb er stehen.
„Ich verlasse in wenigen Tagen die Residenz, und so wie ich Sie kenne, werden Sie bis dahin weder zu meiner Tante kommen, noch mir gestatten, die Mühle zu betreten,“ sagte er – eine unsägliche Beklommenheit und Spannung lag in diesen Tönen. „Ich muß mir also sagen, daß wir zum letzten Male neben einander gehen – das heißt, für jetzt –“
„Für immer!“ unterbrach sie ihn tonlos, aber fest.
„Nein, Käthe!“ sagte er entschieden. „Eine Trennung für immer wäre es allerdings, wenn ich das, was Sie vor wenigen Stunden ausgesprochen haben, für unverbrüchlich halten müßte, denn eine Schwester will ich nicht. … Glauben Sie, ein Mann werde sich zeitlebens da mit wohlgemeinten schwesterlichen Briefen begnügen, wo er nach dem lebendigen Worte von geliebten Lippen dürstet? … Aber nein, das wollte ich ja heute nicht sagen. Die Selbstsucht reißt mich hin, Sie in einem Augenblicke zu bestürmen, wo Sie eine so bittere Schmerzenslast zu tragen haben. Nur über Eines muß ich mich noch aussprechen. Sie haben heute Nachmittag eine Begegnung in dem Zimmer gehabt, aus welchem Sie mir in der heftigsten Gemüthsbewegung entgegentraten. Man hat Ihnen mitgetheilt, was geschehen ist, und dabei ist selbstverständlich der ganze mißliche Anschein, den eine solche gewaltsame Lösung stets gewinnt, auf mich allein gefallen – ich sah das an Ihren Mienen, und später, als Sie sich gegen eine innigere Beziehung verwahrten, indem Sie Henriette zu Liebe mir eine Schwester sein wollten, da hörte ich auch, daß böse Einflüsterungen Macht über Sie gewonnen hatten – Gott sei Dank, nicht für immer! Ich weiß es – Ihr klarer, kluger Blick mag sich vielleicht momentan trüben, aber er wird sich nicht hartnäckig verschließen. Käthe, ich war neulich, an dem schreckensvollen Nachmittage, in meinem Garten; ich stand hinter dem Ufergebüsche, und drüben legte ein Mädchen die Stirn an einen Baumstamm und weinte bitterlich.“
Käthe machte eine Bewegung, als wolle sie in die Allee hineinfliehen, allein schon hatte Bruck ihre Hand gefaßt und hielt sie mit festem Drucke. „Ich sah das Mädchen leibhaftig vor mir stehen, das ich eben in Gedanken voll Sehnsucht in meinen Armen gehalten und an das Herz gedrückt hatte; ich war eben in dem letzten der Kämpfe, die ich monatelang durchlitten, Sieger geblieben, das heißt, ich hatte falsche Ansichten von mir geschüttelt und mir gesagt, daß ich ein Meineidiger sei, wenn ich, die unbezwingliche Leidenschaft im Herzen, eine verhaßte Ehe eingehe. Und da sah ich die Heimgekehrte stehen – und ich jauchzte, denn ihre weinenden Augen suchten nicht die Fenster der Tante –“ er schwieg und zog ihre Hand an seine Lippen, und sie lehnte an der nächsten Linde, unfähig, auch nur einen Laut herauszubringen.
„Ich darf der, die meine Braut gewesen ist, keinen Vorwurf machen; ich trage die Schuld, daß es zu einem solchen Eclat kommen mußte, ich, der ich, um der Welt willen, schwach genug war, nicht schon in dem Augenblicke zurückzutreten, wo ich unter tödtlicher Bestürzung erkannte, daß ich eine hinreißend schöne Form gewählt habe, deren vermeintlich reicher Inhalt unter den prüfenden Augen zu Nichtigkeiten zerbröckelte – und das geschah schon in den ersten Wochen nach meiner Verlobung.“
Nein, es waren keine Nichtigkeiten, welche „die hinreißend schöne Form“ umschloß, es war ein Frauencharakter voll teuflischer Bosheit. Flora, hatte um Bruck’s Liebe für sie gewußt, jedenfalls durch sein eigenes Geständniß – welch eine niederträchtige Intrigue! Die Betrogene hatte den Ring in der Tasche; sie hätte ihn um jeden Preis erkauft; sie hatte selbst jeden listigen Einwurf der ränkevollen Schwester bekämpft und ihr Wort verpfändet, sogar auf die Möglichkeit hin, daß Bruck ihre Hand begehren könne. Die Augen des jungen Mädchens irrten verzweiflungsvoll über den gestirnten Himmel. Sie wußte, Flora, gab ihr das Wort nicht zurück, und wenn sie sich in qualvoller Bitte zu ihren Füßen die Kniee wund rieb; sie wußte, daß sie und Bruck in den Augen Aller verfehmt sein würden; denn Niemand hatte einen vorurtheilslosen Einblick in die Sachlage. Es bedurfte nicht einmal Flora’s glänzender Beredsamkeit, die Welt zu überzeugen, daß sie die Hintergangene sei, der die jüngere Schwester den Verlobten weggelockt habe, und daß Flora diese Beleuchtung wählen werde, das stand fest, wie der Himmel da droben. Wie sie flimmerten, die kreisenden Sternbilder! Auf welchen dieser goldenen Himmelsfunken hatten die rosig durchhauchten Abendlüfte den erlösten Geist der Schwester getragen? Sah sie jetzt zurück? Sah sie, wie das Glück des geliebten Mannes in Trümmer ging?
„Sie sind so still, Käthe. In Ihrer Seelenhoheit weisen Sie mich schweigend in die Schranken; ich hätte heute nicht sprechen sollen,“ hob er wieder an. „So will ich auch jetzt nicht weiter in Sie dringen. Ich verhehle mir nicht, daß meine Bitten und Wünsche mit schweren Bedenken in Ihrer Seele kämpfen müssen; denn sonst wären Sie nicht die peinlich gerechte, die ehrliche Käthe, die Sie sind, aber ich werde mein ersehntes Ziel erreichen, ohne daß ich zur stürmischen Ueberredung greifen muß – das weiß ich auch. Ich lasse Ihnen Zeit zur Prüfung und zur Ueberwindung des tiefen Schmerzes, der Sie jetzt erfüllt und in Allem, was Sie denken und fühlen, mitspricht. Ich gehe jetzt unbeglückt, aber – ich komme wieder. Und nun wollen wir nach der Mühle gehen. Geben Sie mir getrost Ihren Arm! Ein Bruder kann seine Schwester nicht selbstloser führen, als ich in diesem Augenblicke an Ihrer Seite gehe. Sie könnten sich ebenso ruhig mir und meiner Tante anschließen, wenn wir unsere Reise nach L…g antreten.“
„Ich kehre nicht nach Sachsen zurück,“ sagte sie. Sie hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt, und nun durchschritten sie die Allee. Ein Gefühl von tödtlicher Erstarrung durchschlich die Glieder des Mädchens, und es war, als krieche es auch lähmend an das wildklopfende Herz und hauche die Stimme an, die so fremd, so hart und klanglos aus der Brust kam. „Ich habe schon bei meiner letzten Anwesenheit in Dresden gefühlt, daß mir, so wie es jetzt in meinem Innern aussieht, mit dem ausschließlichen Versenken in das Sprachstudium und die Musik, mit der Besorgung kleiner Hausgeschäfte und dergleichen nicht geholfen – ich muß einen Wirkungskreis haben, der tüchtige, anstrengende Arbeit, Tag für Tag, von mir fordert. Bis vor wenigen Tagen noch zögerte ich, dieses Vorhaben auszusprechen; denn ich wußte, daß das erste Wort eine Reihe von Kämpfen mit meinem Vormunde einleiten würde – der ‚Goldfisch‘ hatte ja bereits seinen Beruf, den, mit tadellosem Chic seine Revenuen zu verbrauchen. Das ist nun Alles aus. Der gefürchtete Geldschrank existirt nicht mehr, oder eigentlich, sein papierener Inhalt ist schon werthlos gewesen, ehe er zertrümmert in die Luft geschleudert wurde – das ist mir zur unumstößlichen Gewißheit geworden, seit mir Nanni heute Nachmittag zuflüsterte, daß man drunten versiegele. Nicht wahr, meine vielen Hunderttausende existiren nicht mehr?“
„Ich glaube schwerlich, daß sich etwas retten läßt –“
„Aber meine Mühle habe ich noch – und da will ich bleiben. Vielleicht erregt es Ihre ernstliche Mißbilligung, wenn ich Ihnen sage, daß ich von nun an mein Eigenthum selbst verwalten will; denn es sieht nach Emancipation aus, wenn ein junges Mädchen als Inhaberin einer Firma selbstständig hervortritt.“
„So falsch urtheile ich nicht; ich befürworte sogar warm diese Art von Selbstständigkeit der Frauen; ich weiß auch, daß Sie mit Ihrer Kraft und Energie sofort im richtigen Fahrwasser sein würden – aber das ist ja nicht Ihre Bestimmung, Käthe. Sie sind berufen, ein Familienglück zu begründen, nicht aber, den Kopf voll Zahlen und Berechnungen, ‚Tag für Tag‘, einsam am Geschäftspulte zu stehen. Fangen Sie lieber gar nicht an! Denn eines Tages wird man Sie wegholen und nicht danach fragen, wo Sie in den Büchern gerade mit Ihrem Soll und Haben stehen, und das könnte eine schlimme Verwirrung heben.“
Wäre nur ein einziger intensiv beleuchtender Strahl des Sternenlichtes in das Dunkel der Allee gefallen, dann hätte der Sprechende schon von diesem Augenblicke an das Mädchen nicht mehr von seiner Seite gelassen – eine so trostlose Verzweiflung malte sich in ihren Zügen –, er würde sie in seine Hut genommen und nicht gezögert haben, der eigentlichen Spur nachzugehen, die den Widerstand erklärte. So aber deckte die Finsterniß den entsetzlichen Seelenkampf, der da neben ihm, ohne Laut, ohne auch nur einen verräterischen Seufzer, durchstritten wurde, und er führte die Entmuthigung und Niedergeschlagenheit, die ihre Stimme so dumpf und eintönig machten, auf das Trennungsweh, auf die tiefe Erschütterung zurück, die der Anblick eines Sterbenden hinterläßt.
Hier und da sprang ein Kiesel mit leichtem Rasseln unter den Füßen der Weiterschreitenden auf, und das Wellengeräusch des nahen Flusses scholl stark in das augenblickliche Schweigen hinein, das auf die letzten Worte des Doctors gefolgt war. Die Linden der Allee traten zurück; der Nachthimmel breitete sich droben wieder hin, und in sein Flimmern hinein stiegen dort die zwei schlanken italienischen Pappeln, welche die Holzbrücke flankirten.
Bei diesem Anblicke drückte der Doctor unwillkürlich den Arm des jungen Mädchens an sich. „Dort, Käthe!“ flüsterte er innig. „Dort haben Sie stets die ersten Veilchen gesucht; ich habe Ihnen versprochen, daß Sie das immer dürften, und ich kann Wort halten – ich werde meine Osterferien stets hier verleben.“
Käthe preßte die geballte Rechte auf die Brust; sie glaubte ersticken zu müssen an dem heftigen Schlagen ihres Herzens, und doch fragte sie nach einer kuzen Pause anscheinend gelassen: „Die Frau Diakonus wird Sie nach L…g begleiten?“
„Ja, sie will meinem Hauswesen vorstehen, so lange ich noch allein sein werde. Sie bringt mir ein großes Opfer und wird Gott danken, wenn sie den Staub der großen Stadt wieder von den Füßen schütteln und in ihr geliebtes grünes Heim hierher zurückkehren darf. Ich weiß, das edle, brave Herz, um das ich werbe, wird sie nicht allzu lange auf die Ablösung von ihrem Posten warten lassen,“ setzte er mit weicher, bittender Stimme hinzu.
Ein Licht in der Mühle tauchte vor ihnen auf. Dort hatten sie heute den Müller Franz hinausgetragen. Der Verunglückte hinterließ eine Wittwe und drei Waisen. Das Dach, das sie noch beschützte, gehörte ihnen nicht, und das, was der fleißige Mann erarbeitet und gespart hatte, genügte nicht zu ihrem Hinterhalte. Suse war heute für einen Moment in der Villa gewesen, um nach ihrer Herrin zu sehen. Sie hatte Käthe die Verzweiflung der Hinterlassenen als herzzerreißend geschildert und dabei den Wirrwarr bejammert, in den „das herrenlose Geschäft“ mit jeder Stunde tiefer gerathe.
Das Bogenfenster der Familienstube im Erdgeschoß, das nach dem Park hinausging, war dunkel. Schwarz und ungestalt ragte der Gebäudecomplex der Mühle in die Luft; sie lag so einsam, so weltverlassen da; das Gebell der Hofhunde, die beim Geräusch der näherkommenden Schritte anschlugen, klang verloren wie in eine öde, endlose Weite hinein. Die Räderarbeit schwieg, und der Mühlenraum stand so leer, so feierlich unbelebt, als hätte, seit dem Erkalten der freudig hier schaffenden Menschenhand, ein geschäftiges Heinzelmännchen nach dem andern die Kappe über das vergrämte Gesicht gezogen und sich davon geschlichen.
Der Doctor zog das junge Mädchen näher an sich, ehe er die Mauerpforte öffnete. „Mir ist, als führte ich Sie in die Verbannung,“ sagte er zögernd und gepreßt. „Sie sollten mir den Schmerz nicht machen, Sie gerade heute in diesen dunklen schweren Stunden allein zu wissen. Kommen Sie mit mir! Die Tante wäre überglücklich, Sie aufnehmen und mütterlich verpflegen zu dürfen.“
„Nein, nein!“ stieß sie hastig heraus. „Glauben Sie ja nicht, daß ich mich nutzlosem Jammer leidenschaftlich hingebe, wenn ich allein bin – ich habe nicht einmal Zeit dazu, und ich will auch nicht. Ich muß dort“ – sie zeigte nach dem Bogenfenster, wo jetzt hinter dem Kattunvorhange ein matter Lampenschein aufdämmerte – „sofort als Trösterin eintreten – die vier armen Menschen sind auf meine Kraft, meinen Beistand angewiesen.“
„Liebe, liebe Käthe!“ sagte er und zog mit beiden Händen ihre Rechte gegen seine Brust. „So gehen Sie denn in Gottes Namen! Ich würde es für eine schwere Sünde halten, Sie zu beirren, die Sie so tapfer den harten, aber unfehlbaren Weg zur Ueberwindung unfruchtbaren Schmerzes wählen. Seien Sie aber in der ersten Zeit nicht ebenso streng gegen sich als Reconvalescentin! Tragen Sie die schützende Binde noch einige Tage auf der verheilenden Wunde, dann fort damit! Und nun: zu Ostern, wenn die letzten Winternebel fliehen, wenn Schnee und Eis thauen, darin gehen auch die Menschenherzen auf; zu Ostern, da komme ich wieder. Bis dahin gedenken Sie eines Fernen, eines sehnsüchtig Harrenden, und lassen Sie Verleumdung und Mißtrauen nicht zwischen uns treten!“
„Nie!“ Dieses eine Wort brach fast wie ein Aufschrei aus ihrer Brust. Sie entzog ihm die Hand, die er an seine Lippen preßte; dann rasselte die Mauerthür hinter ihr zu. Sie that keinen Schritt vorwärts, an die kalte, feuchte Mauer gedrückt, und das Gesicht in den Händen vergraben, horchte sie athemlos auf seine verhallenden Tritte. Was war Henriette’s Sterben gewesen gegen die Qualen ihres wildschlagenden Herzens, das weiterleben mußte! Sie lauschte, bis die weiche Nachtluft lautlos an ihr vorüberstrich; dann ging sie starren, thränenlosen Auges in das Haus, um ihre Mission als Trösterin und Versorgerin zu beginnen.
Drei Tage später, sofort nach Henriettens Beerdigung verließen Doctor, Bruck und die Tante Diakonus die Residenz. Ihn hatte Käthe nicht wieder gesehen, aber die Tante war wiederholt stundenlang bei ihr gewesen. An demselben Tage reiste auch Flora in Begleitung der Präsidentin ab. Die alte Dame begab sich in ein stärkendes Bad, und Flora ging nach Zürich, wo sie, wie man sich in der Residenz erzählte, behufs medizinischer Studien eine Zeitlang leben wollte.
Mehr als ein Jahr war vergangen seit jenem Märztage, wo Käthe Mangold, die Enkelin und einzige Erbin des reichen Schloßmüllers, auf dem Fahrwege von der Stadt her geschritten war, um sich im Hause ihres Vormundes in ihrer neuen Eigenschaft als „Goldfisch“ vorzustellen.
Wer jetzt, von der mit eleganten Villen besetzten Chaussee abbiegend, diesen Weg betrat, der sah rechts, und zwar ebenfalls an der Chausseelinie hin, eine Reihe hübscher kleiner Häuser liegen; sie gehörte den Arbeitern der Spinnerei und stand im ehemaligen Mühlengarten, auf dem Grund und Boden, den Käthe ihrem Vormund für die Leute abgetrotzt hatte. Und die Bewohner der Residenz gingen so gern da vorüber. Früher hatte sich hier die alte, dicke, das Mühlengrundstück begrenzende Mauer aufgethürmt – in ihrem tiefen Schatten war der Fußsteig selten trocken geworden; er war als grundlos verrufen gewesen. Nun dehnte sich hier plötzlich eine anmuthige, mit Kugelakazien bepflanzte Promenade hin. Die kleinen Häuser sahen so nett und holländisch sauber aus mit ihrem fleckenlosen Oelanstriche, der luftigen Veranda neben der Hausthür und dem schmalen Vorgarten, der schon im Herbst mit allerlei Reisern schönblühender Gebüsche besetzt worden war.
Die Schloßmühle lag hinter ihnen, altersdunkel, stolz in ihrer Ehrwürdigkeit, aber auch abgewendet mit ihren Fenstern, als zürne sie, daß man ihrem grünen Gartenmantel diesen modernen Saum angeflickt habe. Sie selbst hatte sich keiner Veränderung unterworfen; nur die alte, halbverwischte Sonnenuhr war aufgefrischt und die kleine Thür nach dem anstoßenden Parke zugemauert worden. Die Schloßmühle stand in keiner Beziehung mehr zu dem ehemaligen Besitz der verblichenen Ritter von Baumgarten, die ihr vor Zeiten den herrschaftlich klingenden Titel verliehen hatten. Aber der tosende Lärm, das klopfende Herz in dem ehrwürdigen Bau des Mittelalters klang in verjüngter, erhöhter Kraft, und der in den Mühlhof mündende Fuhrweg war befahrener als je; das „herrenlose Geschäft“ ruhte in starker, sicherer Hand und wurde mit klugem Blicke geleitet. Käthe hatte Glück gehabt bei ihrem Unternehmen. Sie hatte für die Mühle einen braven, sachkundigen Geschäftsführer gefunden, und in der Buchführung stand ihr der gänzlich verarmte Kaufmann Lenz zur Seite.
Als Lehrling war sie in dem Comptoir eingetreten, das sie in der Mühle geschaffen, aber bei ihren bedeutenden Schulkenntnissen, ihrem scharfen, klaren Urtheil und Ueberblick war sie ihrem Lehrer und Meister binnen Kurzem ebenbürtig geworden. Sie arbeitete in der That, „Tag für Tag“, wie ein Mann – das Geschäft wuchs und erweiterte sich in rapider Weise und zeigte sehr bald Erfolge, wie sie selbst der Schloßmüller nicht errungen hatte. Und das, was sie auf ihrem selbstgewählten rauhen Lebenswege stärkte und ermuthigte, waren die zufriedenen Gesichter um sie her; es war Jedes an seinem Platze. Sie hatte die Wittwe des verunglückten Franz mit ihren Kindern bei sich behalten und ihr ein Asyl in einem neuhergerichteten, kleinen Seitengebäude der Mühle für zeitlebens angewiesen. Die Frau besorgte mit Suse zusammen, nach wie vor, die kleine zur Mühle gehörige Oekonomie und das Hauswesen, und die Kinder erhielten eine Ausbildung, wie sie ihr verstorbener Vater, der mehr auf die materiellen Errungenschaften bedacht gewesen war, sicher nie bewerkstelligt hätte.
Von der großen Hinterlassenschaft des Schloßmüllers war Käthe in der That nichts verblieben, als die Mühle und einige Tausend Thaler, die sie mit dem Stück Gartenboden zugleich von ihrem Vormunde erbeten und erpreßt und den Arbeitern zu ihrem Häuserbau geliehen hatte. Die vielen Hunderttausende waren in den Flammen spurlos verschwunden, und das wenige Gold und Silber, das man geschmolzen später unter Schutt und Trümmern fand, rührte wohl eher von Eßgeräth und Trinkbechern her, als von Münzen. Bei dem auf die Explosion folgenden geschäftlichen Zusammensturze kamen viele Gläubiger, trotz der vorhandenen Liegenschaften und Werthobjecte, um ihr Geld; der Concurs erwies sich als einen der schlimmsten, hoffnungslosesten, die der große Krach hinter sich herschleppte. Villa und Park waren wieder in altadlige Hände gekommen, und der neue Besitzer ließ schleunigst die Thurmtrümmer forträumen, das Wasser in den Fluß zurückleiten und den Graben zufüllen; selbst der geborstene Hügel wurde der Erde gleichgemacht, auf daß der ehemals ritterliche Grund und Boden durch Nichts mehr an die Zeit erinnere, wo sich der Uebermuth eines Parvenü hier breit gemacht und ein schmachvolles Ende genommen habe. Auch der alte, ehrwürdige Holzbogen, der nach dem Hause am Flusse führte, war abgebrochen worden. Man ging jetzt über die der Spinnerei nahegelegene Steinbrücke und einen hübschen Fußweg am jenseitigen Ufer entlang, wenn man nach dem Doctorhaus kommen wollte.
Das Haus, das im Spätherbste noch vollständig restaurirt worden war, stand unbewohnt; die alte Freundin der Tante Diakonus war den Winter über in der ehemaligen Stadtwohnung des Doctors verblieben und wollte erst mit Beginn der schöneren Jahreszeit wieder hinausziehen. … Dorthin wanderte Käthe fast jeden Tag. Ob die Herbstnebel dampften, und Weg und Steg von Nässe triefen mochten, ob die Schneeflocken stöberten oder der Wind eisig von Norden herblies: sowie die Abenddämmerung hereinbrach, warf Käthe die Feder fort, hüllte sich warm ein und huschte hinaus in’s Freie. …
Da schüttelte sie die Zahlenlast, das starre, trockene Geschäftswesen, unter welchem sie ihr heißes, klagendes Herz geflissentlich vergrub, für eine halbe Stunde ab; dann war sie nicht die ernste, geschäftspünktliche Herrin, deren achtsamem Auge nicht die kleinste Unregelmäßigkeit entging, die an sich und ihre eigenen Leistungen die höchste Forderung stellte, und in weiser Vertheilung von Lob und Rüge dasselbe bei ihren Untergebenen zu erzielen wußte, ohne daß je ein hartes Wort von ihren Lippen, ein heftig zürnender Blick aus ihrem Auge kam – sie war in diesen Dämmerstunden nur das junge Mädchen, das seiner tiefen Sehnsucht Raum gab, das, bei aller Härte und Strenge gegen seine unbezwingliche Neigung, sich doch Momente der wehmüthigen Träumerei, der Hingabe an den Schmerz zugestand.
Dann trat sie durch die schmale, knarrende Stacketthür, die in’s Feld hinausführte und auf welche sie, Henriette auf den Armen, nach dem Attentat im Walde, todesermattet zugeschritten war. Im Vorübergehen strich sie stets mit schmeichelnder Hand über das grünangelaufene Steinpostament, inmitten des Rasengrundes, neben welchem sie einmal mit Bruck gestanden, und suchte dann die Stelle auf, wo der Gartentisch postirt gewesen – dort hatte Bruck um ihretwillen schwer gelitten – das wußte sie nun. Sie umging das einsame Haus mit seinen verrammelten Fensterläden, seinen neuen, ungeheizten Schlöten und schnarrenden Wetterfahnen und stieg die schlüpfrigen, winternassen Stufen hinauf, um das Ohr an das Schlüsselloch der Hausthür zu legen. Jenes schwache, scheinbare Seufzen, das der von dem geöffneten Bodenraum herabkommende Zugwind verursachte, schlich durch den weiten Flur; neben und über der Thur rasselten dürre Weinranken, und manchmal flog noch ein verspäteter Spatz unter den Dachvorsprung – das war alles Leben, welches sich in der Verlassenheit regte, und doch horchte das junge Mädchen begierig darauf; es war doch nicht Grabesstille, und das Recht, diese Thür wieder zu öffnen, lag ja noch in geliebten Händen, und eines Tages wurden auch wieder Schritte laut da drinnen, und liebe Gesichter sahen zu den Fenstern heraus – das war ja Alles festgestellt, wenn Käthe sich auch dabei sagen mußte, daß sie selbst dann stets verreisen werde, bis – Bruck einmal ein weibliches Wesen am Arme führte, in dessen Hand sie den Ring legen durfte.
Er mochte wohl vielumworben sein in L…g. Der Ruf seines Namens wuchs von Tag zu Tage; eine große, auserwählte Zuhörerschaft drängte sich zu seinen Vorlesungen, und die Nachricht von verschiedenen glücklichen Curen, denen er hervorragende Persönlichkeiten unterworfen hatte, machte die Runde durch die Welt. Die Briefe der Tante Diakonus an Käthe – sie schrieb ihr sehr oft – athmeten Glück und Seligkeit; sie waren für das junge Mädchen eine Quelle des Genusses, aber auch furchtbarer, neuaufgerüttelter Seelenkämpfe, und deshalb antwortete sie ziemlich sparsam und zurückhaltend. Der Doctor selbst schrieb nicht er hielt streng an seinem Versprechen fest, sie nie zu bestürmen – und begnügte sich stets mit einem Gruße, den sie freundlich und pünktlich erwiderte.
So verlief ihr junges, einsames Leben Tag für Tag. Sie ahnte nicht, daß man sich in der Stadt viel mit ihr beschäftigte, daß sie jetzt, nach ihrer energisch durchgesetzten Mündigsprechung, wo sie sich so resolut und willensstark an die Spitze ihres Etablissements gestellt, weit mehr das Interesse und die Beachtung herausfordere, als früher durch ihren unliebsamen Goldfisch-Titel. … Dieser ausgezeichnete Leumund führte denn auch sehr oft einen Besuch in die Schloßmühle, den sie das erste Mal mit unverhohlenem Erstaunen begrüßte. Die Frau Präsidentin Urach verschmähte es durchaus nicht mehr, auf ihren Spaziergängen mit der ihr treugebliebenen Jungfer in der Mühle einzukehren, um, „wie es ihre Pflicht gegen ihren verstorbenen theuren Schwiegersohn erheische, nach seiner Jüngsten zu sehen“.
Die alte Dame war schon wenige Wochen nach ihrer Abreise in die Residenz zurückgekehrt; sie hatte es draußen „nicht ausgehalten“. In einer engen Straße ein paar kleine, hochgelegene Zimmer bewohnend, lebte sie, ihren kargen Mitteln gemäß, zurückgezogen und halbvergessen von der Welt. Der Medicinalrath von Bär hatte sich ein Landgut gekauft und der Residenz grollend den Rücken gekehrt – er war für sie verschollen, und von den übrigen Freunden besuchten sie nur noch einige Altersgenossinnen und der pensionirte Oberst von Giese, die manchmal zu einem Spielchen bei ihr zusammenkamen.
Sie fühlte sich mit einem Male so wohl „in der großen, weiten Schloßmühlenstube, in der man so recht aufathmen könne“; sie ließ sich, ermüdet von dem zurückgelegten Weg und behaglich in das altmodische, federngepolsterte Kanapee des seligen Schloßmüllers gedrückt, den delicaten Kaffee vortrefflich schmecken, den Käthe stets sofort auf der Maschine bereitete, und protestirte durchaus nicht, wenn Suse, auf den Wink ihrer jungen Herrin hin, einen schweren Korb voll frischer Butter, Eier und Schinken an den Arm der Jungfer hing.
Auf Flora war sie nicht gut zu sprechen. Die Enkelin, die im vollen Besitze ihres Vermögens geblieben, bezahlte zwar die Miethwohnung für ihre Großmama und trug auch die Kosten für die Bedienung; alles Uebrige verbrauchte sie aber für sich selbst und konnte kaum auskommen, wie sie wiederholt brieflich versicherte. Zürich hatte sie sehr bald wieder verlassen – das „grause“ ärztliche Studium irritirte ihr die Nerven „bis zum Wahnsinnigwerden“. Sie war ihm eine jener geistigen Koketten, die um jeden Preis eine Rolle spielen und Aufsehen machen wollen, die sich gern den Anschein grübelnden Denkens und tiefgehender Kenntnisse geben, vor Nichts aber mehr zurückschrecken, als vor der ernsten, harten Geistesarbeit.
Nun war die Osterzeit herangekommen. Schon seit mehreren Wochen wurde im Garten des Doctorhauses unermüdlich gearbeitet. Der Doctor hatte einen Gärtner aus L…g geschickt; der steckte neue Wege ab oder suchte vielmehr die Spuren des alten, sehr hübschen Gartenplanes wieder aus und gab den Anlagen die frühere Gestalt zurück. Viele Hände waren beschäftigt, zu graben und zu pflanzen, und Plätze wurden vorgerichtet, wo einige Statuen aufgestellt werden sollten, die aus L…g gekommen waren, und noch verpackt im Hausflur standen. Am Hause waren schon seit vierzehn Tagen alle Läden geöffnet; die Zimmer wurden tapezirt und mit neuem Firnißanstriche versehen, und auf den First war sogar eine Fahnenstange gekommen. Dann zog die Freundin der Tante wieder ein und brachte eine Schaar Tagelöhnerinnen mit, die das Haus vom Dachboden bis zum Keller hinab spiegelblank machten.
Käthe hatte ihre Spaziergänge nicht unterbrochen. Auch heute, am heiligen Abend vor dem Osterfeste, war sie in der Mittagsstunde noch einmal drüben gewesen. Im Garten wurde noch immer gepflanzt und angesä’t, aber die alten Taxusgruppen, die früher als undurchdringliche, buschige und struppige Wildniß das Terrain verunstaltet und verdüstert hatten, standen gesäubert und in die ehemaligen Schranken zurückgewiesen, und aus ihrem dunklen Grün traten leuchtend und anmuthig die neuen Sandsteinfiguren. Auf den Wegwindungen, welche die Hecken durchschnitten, lag in tadelloser Glätte heller Sand; an die Stelle der knarrenden Holzthür im Zaune war ein feines schwarzes Eisengitter getreten, die Laube der Tante Diakonus stand weiß angestrichen und hinter dem Hause umschloß ein Plankenzaun den neuen Hühnerhof.
Und auf dem wohlbekannten Steinpostamente vor dem Hause hob sich eine Terpsichore, die Arme in graciösem Schwünge emporgestreckt, auf der äußersten Spitze ihres zarten Füßchens, genau so, wie sich Käthe die längst zertrümmerte Gestalt auf dem schmalen Fußreste wieder aufgebaut hatte.
„Die Statue ist sehr hübsch!“ sagte der fremde Gärtner achselzuckend; „sie müßte nur auf einem eleganteren Grunde stehen. Der Rasen“ – er zeigte über den Grasplatz hin – „ist verwildert und nichts nutz, aber der Herr Professor hat mir streng verboten, den Spaten da anzusetzen.“ – Käthe bückte sich, helle Gluth auf den Wangen, und pflückte die ersten Veilchen, die sich im Schutze des Postamentes bereits voll und köstlich duftend entfaltet hatten. „Ja, der Rasen starrt von Unkraut,“ setzte der Gärtner über die Schulter hinzu und ging weiter.
Und das Haus – jetzt in der That ein Schlößchen – stand heute da, glänzend in Frische und Neuheit und so festlich und feierlich geschmückt, „als ob eine Braut einziehen sollte,“ sagte die alte Freundin ahnungslos lächelnd zu Käthe. Das schneeweiße Kätzchen kam über den neuen Mosaikfußboden des Flures leise gegangen; im Zimmer der Tante Diakonus, hinter den Filetgardinen und umringt von den in der Stadt überwinterten Lorbeer- und Gummibäumen, schmetterte der Canarienvogel aus voller, trillernder Kehle, und die Goldfischchen schwammen munter in der Glasschale – da war ja auch schon das gewohnte Leben und Treiben wieder eingekehrt, und die Tante Diakonus selbst sollte mit dem Nachmittagszuge eintreffen. Sie bringe auch einen Gast mit, hatte die alte Freundin, geheimnißvoll mit den Augen blinzelnd, gemeint; wen das wisse sie nicht; sie habe nur den Auftrag erhalten, das Fremdenzimmer mit hübschen, neuen Möbeln zu versehen. Und dabei hatte sie stolz die breite, weißglänzende Flügelthür zurückgeschlagen, und Käthe war in einen Thränenstrom ausgebrochen – sie mußte an ihre Henriette denken, die hier gelitten hatte, und doch noch einmal in ihrem armen Leben so glücklich, so stillselig gewesen war. Neben dieser schmerzvollen Erinnerung rang sich aber auch noch eine nie gekannte, heißaufquellende Eifersucht empor. Wer war sie, die sich an das Herz der Tante gedrängt und die alte Frau so sehr für sich eingenommen hatte, daß sie als Besuch mitkommen durfte?
Die rosenbestreuten Gardinen und die schaukelnden Blumenampeln waren an den Fenstern verblieben; die altmodische, mühsam zusammengesuchte Zimmereinrichtung dagegen hatte modernen, hübschen, wenn auch sehr einfachen Kirschbaummöbeln weichen müssen, und statt der verblichenen Bilder aus Voß’ „Luise“ hingen einige schöne Landschaften an den helltapezirten Wänden. Der, ach, so wohlbekannte Raum war in ein trauliches Wohnzimmer umgewandelt und ein anstoßendes, früher vollkommen leerstehendes Cabinet als Schlafgemach eingerichtet worden.
Dies Alles hatte Käthe noch einmal mit thränenverdunkelten Augen überblickt, dann war sie heimgegangen, um an den Schreibtisch zu treten und noch einige nöthige Geschäftsbriefe zu schreiben. Kaufmann Lenz sollte am Abende von seiner geschäftlichen Rundreise zurückkehren; bis dahin hatte die junge Herrin noch Manches zu erledigen, um dann, abgelöst von ihrem Posten, auf vierzehn Tage nach Dresden zu ihren Pflegeeltern zu reisen.
Ach, wie entsetzlich zerstreut war sie doch heute! Wie klopften ihre Pulse, und wie abscheulich zerfahren kamen die sonst so sicheren Gedanken und Buchstaben aus ihrer Feder! Und nun trat auch noch die Jungfer der Präsidentin ein; sie hatte den großen, leeren Marktkorb am Arme, „weil sie eben das bischen Bedarf für die Festtage in der Stadt einkaufen wollte“; es sei ja nur ein kleiner Umweg über die Mühle, habe die gnädige Frau gemeint und ihr einen eben eingelaufenen Brief von Fräulein Flora zum Durchlesen für das „liebe Fräulein Käthchen“ mitgegeben.
Suse wurde sofort beordert, den Korb bis an den Rand mit ihren schöngerathenen Napfkuchen und allen möglichen guten Dingen aus der Speisekammer zu füllen, der Brief aber lag noch unberührt auf dem Schreibtische, als die Jungfer längst in die Stadt zurückgekehrt war.
Die Präsidentin hatte dem jungen Mädchen schon einige Male die Zuschriften der Stiefschwester mitgetheilt – es war Käthe zwar stets zu Muthe gewesen, als glühe das Briefblatt zwischen ihren Fingern, aber sie hatte pflichtschuldigst gelesen, um nicht feindselig zu erscheinen. Auch jetzt überschlich sie das Gefühl, als müsse aus dem starkparfümirten Couvert da neben ihr eine Flamme züngeln, um sie zu verletzen. Unwillig schob sie das widerwärtige kleine Viereck mit dem Ellenbogen weiter, sodaß es unter einem Stoße von Rechnungsformularen verschwand – sie sah nicht ein, weshalb sie sich auch noch durch das Lesen einer der meist sehr frivolen und von Anmaßung und Uebermuth strotzenden Episteln aufregen solle, wie es bisher stets der Fall gewesen war.
Die Feder wurde wieder aufgenommen, aber nur für wenige Augenblicke. Erregt griff das junge Mädchen wie nach einem schützenden Talisman nach den mitgebrachten Veilchen, die vor ihr im Glase standen, und athmete den kühlen, süßen Duft ein; sie trat an ihren Flügel und spielte zur inneren Beschwichtigung eine harmlose, sanfte Melodie; sie öffnete eines der Fenster und streichelte die kirren Tauben, die draußen auf dem Sims hockten, und dabei sagte sie sich wiederholt, daß die Uebermittelung des Briefes im Grunde ja nur ein maskirtes Attentat auf ihre Speisekammer gewesen sei – aber es mußte ein böser Zauber in dem unseligen Couvert stecken. Das Blut stürmte ihr immer heißer nach dem Kopfe, bis sie, glühend wie im Fieber, plötzlich die Formulare wegstieß und mit hastigen Fingern den Brief ergriff.
Beim Entfalten des Papierbogens fiel ein versiegelter Zettel heraus – sie bemerkte es nicht – ihre Augen irrten über den Anfang der Zuschrift; sie wurden groß und weit, und unwillkürlich griff das starke Mädchen nach einer Stütze, um sich eine festere Haltung zu geben. Flora schrieb von Berlin aus:
„– Du wirst wohl lachen und triumphiren, liebe Großmama, aber ich sehe ein, es ist besser so – ich habe mich vor einer Stunde mit Deinem ehemaligen Protégé, Karl von Stetten, verlobt. Er ist häßlicher und körperlich verkommener als je und trägt in seinem Bullenbeißergesicht jetzt auch noch eine blaue Brille – fi donc, ich werde mich zeitlebens geniren, an seinem Arm zu gehen, aber seine hündisch treue, wirkliche närrische Leidenschaft für mich erweckte mir schließlich doch ein menschliches Rühren, und weil er durch den unerwarteten Tod seines jungen Vetters plötzlich Majoratsherr auf Lingen und Stromberg geworden ist, hier zu Hofe geht, und in der Gesellschaft gut angeschrieben zu sein scheint, so hatte ich sonst nicht viel mehr gegen die Partie einzuwenden –“
Der Brief flog auf den Schreibtisch – Bruck war frei, dergestalt von seiner Kette erlöst, daß er nun auch – in die Schloßmühle kommen durfte. War das denkbar? Eine so jähe, ungeahnte Wendung, nachdem man sich sieben entsetzliche Monate hindurch gemartert, nachdem man alle innere Kraft aufgeboten hatte, um das widerspenstige Herz, ja, jeden abirrenden Gedanken zu knebeln, damit man endlich zu der stoischen, todten Ruhe gelange, mit der man den verhaßten Ring in die Hand der Auserwählten legen und dann seinen rauhen Lebensweg einsam, aber ohne Schuld zu Ende gehen konnte!
Sie schlug die Hände vor das Gesicht, als sähe sie ein Gespenst mitten in dem Jubelrausch emportauchen – Gott im Himmel, wenn sie falsch gelesen hätte! Es war doch so? Flora, dieses unberechenbare Wesen, hatte sich verlobt? Sie wollte sich nun doch, nach so vielen fehlgeschlagenen Versuchen, berühmt zu werden, in der zwölften Stunde in die Ehe retten? Käthe griff noch einmal nach dem dicken, duftenden Briefblatt – ja, ja, da stand es wirklich und wahrhaftig in den „großen Krakelfüßen“. Und dann folgte eine genaue Instruction, in welcher Weise die Verlobungsanzeige für die Residenzbewohner zu bewerkstelligen sei; es war die Rede von der Hochzeit, die man, just um der Vergangenheit willen, auf den zweiten Pfingstfeiertag festgesetzt habe – und dann kam die vorläufige Einladung zu der Vermählungsfeierlichkeit für die Großmama selbst. Das war Alles sonnenklar und unumstößlich, aber nun flog eine tiefe Blässe über das Gesicht der Lesenden, und sie meinte, an der Lähmung, die über sie komme, müsse sie sterben. Flora schrieb weiter:
„Auf meiner Durchreise nach Berlin habe ich mich auch einige Tage in L…g aufgehalten. Es wird Dir interessant sein, zu hören, daß einem gewissen Hofrath und Professor Bruck bei seinem fabelhaften Glück nicht nur die Berühmtheit in den Schooß, sondern auch eine schöne Gräfin zu Füßen gefallen ist. Man versicherte mir allgemein, er sei im Stillen verlobt mit der reizenden Patientin, die er, nachdem alle anderen Aerzte sie aufgegeben, durch eine kühne Operation, dem Tode entrissen habe. Das gräfliche Elternpaar soll mit der Verbindung durchaus einverstanden sein, und die liebe, gottselige Tante Diakonus scheint ihren Segen auch nicht zu verweigern. Ich sah sie neben dem Brautpaar in der Theaterloge sitzen, fried- und tugendsam wie immer, und, wenn ich nicht irre, Zwirnhandschuhe an den Händen. Das Mädchen ist sehr hübsch, wenn auch ein Puppengesicht ohne Geist – und Er? Nun, Dir kann ich’s ja sagen, Großmama: ich habe mir die Lippen blutig gebissen vor Grimm und Groll, weil das dumme Glück diesen Menschen zu einem Gegenstand der allgemeinen Vergötterung macht, weil er hinter dem Stuhl seiner Braut stand, so sicher, zuversichtlich und ruhig, als gebühre ihm alle Auszeichnung von Rechtswegen, und als wisse er nichts von Charakterschwäche – der Ehrlose! … Gieb Käthe den inliegenden Zettel –“
Ach ja, da lag er wohlversiegelt auf dem Schreibtisch und trug die Adresse: „An Käthe Mangold.“ … und die Welt kreiste vor ihren Augen, und der schmale Papierstreifen flog in den wie von Fieberfrost geschüttelten Händen auf und nieder. Er enthielt nur die Worte: „Habe die Freundlichkeit, den Dir anvertrauten Ring nunmehr der Gräfin Witte zu übergeben – oder wirf ihn auch meinetwegen in den Fluß zu dem andern!
Käthe war plötzlich sehr ruhig geworden; sie glättete mechanisch den Zettel und legte ihn zu dem Briefe. Sollte die schöne Gräfin Witte der Gast sein, für den man das Fremdenzimmer eingerichtet hatte? Sie schüttelte energisch den reizenden, flechtengeschmückten Kopf, und die braunen Augen begannen auszustrahlen, während sie die Hände fest gegen die tiefathmende Brust preßte. War sie es Werth, ihm je wieder in die Augen zu sehen, wenn sie auch nur secundenlang an ihm zweifelte? Er hatte gesagt: „Zu Ostern komme ich wieder.“ Und er kam, und wenn die glänzendste Menschenberedsamkeit ihr das Gegentheil versicherte, sie glaubte Nichts, als daß er sie liebe, und daß er kommen werde. Nein, nein, solch ein hochmuthberauschter Schloßherr konnte es wohl über’s Herz bringen, der einst Geliebten, der unglücklichen, blonden Edelfrau, die neue stolze Schloßherrin in der Hochzeitsschleppe zuzuführen – aber nicht er, nicht er in seiner Gemüthsinnigkeit. Er brach der Müllers-Enkelin nicht sein Wort, um einer Anderen willen, und wenn selbst diese Andere eine Gräfin sein sollte.
Ein unbeschreiblicher Glückseligkeitssturm wogte in ihr auf und riß alle Gedanken in seinen Wirbel. Sie flog nach dem südlichen Eckfensters, um nur einen Blick nach dem lieben, alten Hause zu werfen – Himmel, dort von der Fahnenstange flatterte eine farbenglänzende Flagge über die Baumwipfel hin. Waren die Gäste schon da? Sollte sie hinübereilen, um die Tante Diakonus in ihre Arme zu schließen? Nein, in dieser stürmischen Aufregung ganz gewiß nicht. Da mußte erst die verrätherische Gluth von den Wangen gewichen und der Herzschlag ruhiger geworden sein, wenn sie sich nicht vor den seelenvollen, klaren Augen der sanften Frau scheuen sollte. … Ruhe, Ruhe! – Sie trat an den Schreibtisch.
Da lag aufgeschlagen das große, dicke Hauptbuch; das Fach hier barg sechs Geschäftsbriefe, die heute noch beantwortet werden mußten, und drunten rasselte schwerfällig einer der Mühlenwagen mit Getreidesäcken in den Hof. Die Hunde bellten einen Bettler, dem Suse ein Stück Brod vom Vorsaalfenster zuwarf, wie toll an; da waren Prosa und rauhe Wirklichkeit übergenug. Und die Neuruppiner Bilderbogen, die, als großväterlicher Nachlaß streng respectirt, immer noch die Wände zierten, sie hatten ganz gewiß nichts Aufregendes, so wenig, wie die dickbäuchigen Federkissen des Kanapee’s d’runter und die Schwarzwälder Standuhr daneben, die so entsetzlich steif und geradlinig die Wand hinaufstieg und den lebensmüden Pendel langathmig hinter dem blinden Glase schwang.
Der Blick des jungen Mädchens streifte langsam alle diese Herrlichkeiten, dann nahm sie einen Briefbogen und tauchte die Feder ein. „Herrn Schilling und Compagnie in Hamburg“ – ach, das konnte ja Niemand lesen! Verzweiflungsvoll fuhr sie mit der Hand über die glühende Stirn, so daß die braunen Locken wegflogen und eine schmale, rothe Narbe hervortreten ließen. Und so verharrte sie einen Augenblick unbeweglich, die Linke über die Augen gelegt und in der Rechten die ungeschickte Feder auf dem Papiere festhaltend; da streifte ein kühles Wehen ihre Wange. Die Zugluft kam durch eine offene Thür, oder vom Fenster her; sie sah auf und da stand er, dort auf der obersten Stufe der in das Zimmer hinabführenden Holztreppe, lächelnd, strahlend in Wiedersehensfreude.
„Bruck! – Ich wußte es,“ jubelte sie auf, und die Feder fortwerfend, breitete sie die Arme aus und lag im nächsten Augenblick an seiner Brust.
Draußen kam Suse über den Vorsaal; was sollte denn das heißen? Die Thür stand angelweit offen, im April, wo man noch täglich das „sündentheure“ Holz in den Ösen stecken mußte, und den Aufschrei hatte sie auch gehört. Sie fuhr mit dem blauen Schürzenzipfel, den sie gerade in der Hand hielt, um sich den Schweiß von der Stirn abzutrocknen, vor Schrecken in den Mund, denn da unten, auf den weißgescheuerten Dielen ihrer heiligen Schloßmühlenstube, stand der Herr Doctor Bruck und hielt ihr Fräulein in den Armen, so fest, als wolle er sie in seinem ganzen Leben nicht wieder loslassen – Herr Gott – und sie waren ja doch kein Brautpaar vor den Leuten.
Behutsam schlich sie näher, um die Thür sacht zu schließen, aber Käthe sah sie und bemühte sich, unter heißem Erröthen, der Umarmung zu entfliehen.
Der Doctor lachte lachte wieder so frisch und melodisch, wie früher – und hielt sie nur um so fester. „Nein, Käthe, Du kamst zwar freiwillig, aber ich traue Dir doch nicht,“ sagte er. „Ich wäre ein Thor, wenn ich Dir Zeit ließe, Dich möglicher Weise in die Schwester zurückzuverwandeln. Kommen Sie nur herein, Jungfer Suse!“ rief er über die Schulter – er hatte die alte Haushälterin sehr wohl bemerkt – „Erst müssen Sie bestätigen, daß Sie eine Braut gesehen, dann soll sie ihre Freiheit haben.“
Suse wischte sich die Augen und gratulirte sehr wortreich, dann aber beeilte sie sich, die Thür zuzudrücken, um zu „der Müllerfranzen über den Hof ’nüber, zu laufen,“ und ihr halb glücklich, halb klagend zu sagen, daß es mit der Herrlichkeit in der Mühle wieder aus sei, weil das Fräulein nun doch heirathen wolle. …
Der Doctor trat an den Schreibtisch und schlug feierlich das Hauptbuch zu. „Die Carriere der schönen Müllerin ist geschlossen, denn – Ostern ist da,“ sagte er. „Wie habe ich die Tage gezählt bis zu dem Ziele, das ich mir damals selbst stecken mußte, wenn ich Dich nicht ganz verlieren wollte! Du weißt nicht, wie es thut, ohne Gewißheit gehen zu müssen, wenn man für sein ganzes Lebensglück zittert. Mein einziger Trost waren Deine Briefe an die Tante, diese klaren Briefe voll Willenskraft und strenger Weltanschauung, aus denen ich trotz alledem die heimliche Liebe las – aber wie spärlich kamen sie!“ Er ergriff ihre Hand und zog sie wieder an sich. „Ich habe wohl begriffen, daß ein Zeitraum der Entsagung zwischen der schlimmen Vergangenheit und meinem neuen Leben liegen müsse; ich hatte ja Deinem geschwisterlichen Gefühle Rechnung zu tragen, aber bis zu dieser Stunde ist es mir doch räthselhaft geblieben, weshalb Du gänzlich entsagen und einen einsamen, unbeglückten Weg gehen wolltest.“ Er verstummte plötzlich, und eine tiefe Gluth bedeckte sein Gesicht – da, neben dem zugeklappten Hauptbuche lag ein Zettel; er kannte diese großen und doch so unsicheren Schriftzüge nur zu gut; solcher Papierstreifen waren ihm in der ersten Zeit seines Brautstandes genug zugeflogen.
Mit einer entschiedenen Bewegung legte Käthe die Hand auf die Papiere. Warum diese abscheuliche Intrigue noch einmal an das Licht ziehen? Mochte sie doch begraben sein für immer; ihrem Glücke trat Nichts mehr in den Weg. Aber tiefernsten Blickes zog der Doctor Brief und Zettel unter der Hand hervor. „Ich dulde kein Geheimniß zwischen uns, Käthe,“ sagte er fest, „und hier liegt eines.“
Er las, und nun bestand er unerbittlich auf einer Beichte, und die Seelenkämpfe, denen das junge Mädchen unterworfen gewesen war, zogen an ihm vorüber, er sah aber auch in die Tiefen ihrer selbstlosen Neigung – sie hatte willig ihre ganze Zukunft hingeworfen, um ihn zu erlösen.
„Und wie steht es mit der schönen Gräfin Witte? Ich habe geglaubt, sie begleite die Tante Diakonus und werde drüben im Fremdenzimmer logiren,“ sagte Käthe schließlich unter Thränen lächelnd; sie versuchte gewaltsam das unerquickliche Thema abzubrechen, das den sonst so gelassenen Mann in die furchtbarste Aufregung versetzt hatte, und es gelang ihr. Er lachte.
„Im Fremdenzimmer wohne ich,“ versetzte er. „Ich hatte meine guten Gründe, Dich meine Ankunft vorher nicht wissen zu lasten, und mein Instinct hat mich richtig geleitet. Was aber die junge Gräfin betrifft, so ist sie, behufs einer Cur, drei Monate unsere Hausgenossin gewesen, und legt ihre Dankbarkeit, weil es mir geglückt ist, sie herzustellen, ein wenig zu enthusiastisch an den Tag – das ist Alles. In vierzehn Tagen wirst Du sie kennen lernen, denn bis dahin, mein Lieb, will der Professor seine Professorin heimführen – unser Brautstand hat sieben lange Monate gewährt – das bedenke! Ist es Dir recht, wenn wir da drüben,“ er zeigte durch das Fenster nach einem nahegelegenen Kirchthurme, „an den Altar treten? Ich habe das Dörfchen immer so gern gehabt.“
„Du darfst mich führen, wohin Du willst,“ antwortete sie leise und innig; „aber ich habe hier noch Pflichten –“
„Bah, das Hauptbuch ist geschlossen, und ‚Schilling und Compagnie in Hamburg‘ kann Dein getreuer Lenz abfertigen.
Sie mußte lachen. „Gut denn – wie Du befiehlst!“ erklärte sie. „Ich trete zurück, und damit bricht für den armen Lenz eine bessere Zeit an; er soll die Mühle pachtweise bekommen – sie wird ihm rasch wieder zu blühendem Wohlstande verhelfen.“
Nun wurde auch die Schloßmühlenstube geschlossen, und Käthe schritt an Bruck’s Arm den Fußweg entlang, den sie so oft im Sturm und Unwetter zurückgelegt hatte. Heute war es himmlisch, unter den überhängenden, knospenden Zweigen hinzugehen. Die Blüthenkätzchen der Weiden strichen schmeichelnd über die glühenden Wangen des Mädchens; ein weiches Abendlüftchen flog auf, und die Flußwellen zogen gesänftigt und leise plätschernd an den jungen, zitternden Ufergräsern vorüber. Drüben dehnte sich der Park hin, vornehm still wie immer; man sah die Schwäne auf dem Teichspiegel langsam kreisen, und hoch über den Wipfeln der Parkbäume flatterte eine blaugelbe Fahne auf der Villa – „die Herrschaft“ war zu Hause.
Was Alles fluthete bei diesem Anblicke durch die zwei Menschenseelen, die sich eben Treue geschworen hatten für Zeit und Ewigkeit!
„Weißt Du auch, daß man Moritz in Amerika gesehen haben will?“ flüsterte der Doctor.
Sie nickte. „Vor einigen Tagen wurden der Wittwe Franz anonym fünfhundert Thaler aus Californien zugeschickt – sie zerbricht sich den Kopf über den Wohlthäter, ich aber kenne ihn.“ Und sie erzählte, wie „der Arbeiter mit dem blonden Vollbarte“ die Rehe vor sich hergejagt hatte, um – sie vor einem grauenhaften Tode zu bewahren, weil sie in glücklichen Zeiten seine Lieblinge gewesen. …
Nun lag es vor ihnen, das liebe, alte Haus, von der Abenddämmerung umsponnen. Die Arbeiter hatten den Garten verlassen. Es war so feierlich still – die weißen Götterbilder dämmerten aus den Taxushecken, und die alte Frau kam lautlos, mit ausgebreiteten Armen die Thürstufen herab, um „die Liebste, Beste“, die sie so lange vom Himmel für ihren Liebling erfleht, an das mütterliche Herz zu ziehen. …
Da zitterte tief und voll der erste Glockenton von der Stadt herüber – das Fest wurde eingeläutet – Ostern!