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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[513]

No. 32.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Ueber Klippen.

Erzählung von Friedrich Friedrich.
(Fortsetzung.)


Noch an demselben Tage lief die Kunde, daß der Unterburgsteiner durch Hansel Haidacher geworfen sei, fast durch das ganze Thal hin. Aber sie fand nicht überall Glauben, so sehr auch die Meisten dem großen Bauer eine solche Niederlage gegönnt hätten. Manche hielten es für unmöglich, denn sie kannten David’s überlegene Kraft, Andere glaubten, das Ringen könne kein ehrliches gewesen sein und Hansel werde eine List gebraucht haben, um seinen Gegner zum Sturz zu bringen.

Dem traten freilich Diejenigen, welche Zeugen des Raufens gewesen waren, entschieden entgegen, und selbst die Freunde des Unterburgsteiners mußten zugeben, daß das Ringen ein regelrechtes gewesen sei und Hansel sich keines unerlaubten Mittels bedient habe. Sie mußten auch einräumen, daß David den Heimgekehrten gereizt und zum Raufen aufgefordert habe.

Am wenigsten von Allen freute sich Hansel selbst über den Sieg, denn er wußte wohl, daß er einen schlimmen und unversöhnlichen Feind sich dadurch erworben hatte.

Am Abend zuvor war er heimgekehrt, und der Abend brach wieder herein, als er langsam zu dem Gehöfte seines Vaters, welches in einer Höhe von mehr denn tausend Fuß über der Thalsohle am Berge lag, emporstieg. Der Kopf war ihm vom Weine schwer.

Auf der Mitte des Weges ließ er sich auf einem Felsblocke nieder. Ihm gerade gegenüber an dem Bergabhange lag die große Besitzung des Unterburgsteiners. Wie stattlich sie sich ausnahm! Haus und Stallungen waren neu gedeckt. Sanft abfallende Aecker umgaben das Gehöft ringsum, und er wußte nur zu gut, wie prächtig dort das Getreide wuchs, wie reiche Ernten die Wiesen oberhalb der Besitzung gaben und wie weit der Wald, der zu der Besitzung gehörte, am Berge hinaufreichte.

Dann richtete er den Blick höher hinauf, und hoch oben, fast dem Bergesgipfel nahe, lag der Oberburgstein. Stolz blickte er von seiner Höhe in das Land hinein. Während das Thal tief unten längst im Schatten lag, vergoldete die scheidende Sonne noch die Fenster dort oben. So deutlich sah er sie, daß er die Moidl erkannt haben würde, wenn sie vor die Thür getreten wäre; so nahe erschien ihm das Haus, daß ein lauter, lustiger Jauchzer zu ihm hallen mußte; aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt, denn er dachte daran, wie kalt und unfreundlich der Oberburgsteiner seinen Gruß erwidert hatte.

Langsam stieg er den Berg hinan. In dem elterlichen Hause angelangt, plauderte er noch kurze Zeit mit seinem Vater und seiner Mutter, dann legte er sich zur Ruhe. Er war müde. Nicht die Anstrengung des Ringens, sondern die Aufregungen und Eindrücke des Tages hatten ihn erschöpft.

Früh am folgenden Morgen stand er auf. Er schritt durch das Haus in den Stall. Zwei elende, abgemagerte Kühe standen in demselben, der Heuschober war nicht zur Hälfte gefüllt. Was er enthielt, reichte nicht einmal für die beiden Kühe aus. Das Haus war baufällig. Der Sturm hatte einen Theil des Daches fortgerissen und der Schaden war nicht wieder ausgebessert. Langsam schritt er weiter. Seine Mutter hatte ihm vor einem Jahre geschrieben, daß durch einen Bergsturz eine Wiese und ein Stück Feld verschüttet seien, daß sein Vater jedoch hoffe, beide wieder frei zu machen. Er erschrak, als er die Steinmassen, welche Feld und Wiese bedeckten, erblickte, denn so schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt. Noch war nichts geschehen, um den Felsschutt fortzuräumen, sein Vater war ja schwach und krank, und hier entsank ihm der Muth und das Vertrauen auf seine eigene Kraft.

Ihn verlangte nach Arbeit. Während der Heimfahrt auf der Eisenbahn hatte er sich ausgemalt, wie er mit kräftiger, frischer Hand eingreifen werde, um das väterliche Gehöft wieder emporzubringen, er traute sich zu, mehr auszurichten, als zwei Knechte – hier stand er vor einer Arbeit, die ihm Bangen einflößte. Es gehörte die Arbeit von Monaten dazu, um nur die Wiese freizumachen, und dann hatte er noch nicht die geringste Sicherheit, daß nicht beim nächsten Regengusse oder im Frühjahre, wenn der Schnee aufging, die oberhalb liegenden Steinmassen Alles wieder verschütteten.

Er ging in den Wald, der seinem Vater gehörte. Den Bestand desselben hatte er nie als einen guten gekannt, aber so gelichtet wie jetzt war er vor zwei Jahren nicht gewesen. Das Herz sank ihm vor die Fuße, denn auf den Wald hatte er seine Hoffnung gebaut, die war nun auch dahin. Sein Vater hatte all die besten Bäume fällen lassen, um die Zinsen der Hypotheken, die auf der Besitzung hafteten, zu decken und das Leben zu fristen. Kein Vorwurf stieg in ihm auf, denn er wußte wohl, daß nur die Nothwendigkeit seinen Vater dazu getrieben hatte; in ihm zehrte nur der Gedanke, wie seine Hoffnung, das Mädchen, welches er so innig liebte, erringen zu können, mit jedem Schritte geringer wurde.

Konnte er jetzt noch wagen, vor den Oberburgsteiner hinzutreten und um die Hand seiner Tochter zu werben? Der Mann [514] würde ihn mit höhnendem Lachen zurückweisen. Konnte er hoffen, daß des Mädchens Herz in Liebe ausharren werde, da er bei allem Fleiße Jahre nöthig hatte, um das väterliche Gut etwas wieder emporzubringen? Das war es, was ihm die Brust zusammenschnürte.

Er blickte hinüber zum Oberburgstein, der lag in vollem Morgensonnenglanze da. Von seiner Esse stieg eine graue, gerade Rauchsäule zum Himmel empor. Das Alles lag so hell und nahe da. Weshalb hatte er nicht Flügel, um sich hinüber zu schwingen, aber so tief wie das Thal war, welches zwischen ihm und dem Oberburgstein lag, so tief war auch die Kluft, welche ihn von dem stolzen Bauer trennte.

Nur kurze Zeit gab er sich diesen trüben Gedanken hin, dann raffte er sich auf, denn das Kopfhängen konnte ihm am wenigsten nützen. Er kehrte zum Gehöfte zurück und ging frisch an die Arbeit, die sich ihm von allen Seiten aufdrängte. Er wollte thun, was in seiner Kraft stand. Eins konnte ihm doch Niemand wehren, daß er jeden Tag und zu jeder Stunde hinüber schaute zum Oberburgstein, daß er Grüße hinübersandte und hoffte, daß auch die Moidl sein gedenken werde. –

Der Unterburgsteiner hatte sein Gehöft mehrere Tage lang nicht verlassen. Es hatte ihn mächtig gepackt, daß er im Raufen geworfen war. Er würde dies ruhiger ertragen haben, wenn es nicht durch den Welschen, durch den, den er so glühend haßte, geschehen wäre. Und er konnte sich nicht einmal mit dem Gedanken beruhigen, daß er eine schwache Stunde gehabt habe, denn er fühlte noch, wo ihn die eisernen Hände des Welschen ergriffen. Wie einen Ball hatte derselbe ihn erfaßt und zur Erde geschleudert.

Schlimme Gedanken fuhren ihm durch den Kopf hin, während er in seiner Stube saß und brütend vor sich hinstarrte. Wenn er dem Welschen auflauerte und ihn niederschlug, wenn er ihn von einem Felsen hinabstürzte, wer konnte dann dem zerschmetterten Körper ansehen, daß er ihn hinabgestürzt? Er schreckte vor dieser That selbst nicht zurück, aber ein Bedenken stieg doch in ihm auf. Sollte nicht doch der Verdacht auftauchen, daß er den Gegner aus dem Wege geräumt habe, und konnte er dann hoffen, daß die Moidl je die Seinige werde?

Das war es, was ihn zurückhielt. Vergebens marterte er seinen Kopf, um einen andern Weg zu finden, auf dem er Hansel entfernen konnte.

Als noch einige Tage geschwunden waren, da wuchs auch sein Muth wieder. Des Mädchens Vater war stets freundlich gegen ihn gewesen und wies seine Werbung sicher nicht zurück. War der Oberburgsteiner auch ein strenger und finsterer Mann, so konnte er für seine Tochter doch keinen reicheren Mann begehren. Beide Besitzungen grenzten an einander, und wenn sie in einer Hand vereinigt wurden, so konnte sich kein Mann in dem ganzen Thale mit dem Besitzer messen.

Am nächsten Morgen zog er seine Sonntagsjoppe an, steckte von den Winternelken, die in seinem Fenster blühten, eine frische Blume auf seinen Hut und stieg zum Oberburgstein hinauf.

Als er dem Gehöft sich näherte, sah er die Moidl am Fenster stehen, aber schnell trat sie zurück, als sie ihn erblickte. Er hatte durch ein tüchtiges Glas Holderbranntwein sich zu dem schweren Gange gestärkt, sein Muth hielt deshalb Stand.

„Guten Tag, Oberburgsteiner,“ sprach er, als er zu dem Bauer in das Zimmer trat.

Der Angeredete, der auf einer Bank am Fenster saß, erhob sich langsam und streckte ihm die Hand entgegen.

„Setz’ Dich,“ erwiderte er, indem er einen Schemel an den Tisch rückte. „Ich hab’ in das Land geschaut und mein’, es ist gut, daß das Vieh von den Almen zurück ist, denn es steckt Schnee in der Luft.“

„Der Himmel ist klar und der Wind kommt aus Norden,“ warf David ein.

„Um so schlimmer, dann wird der Winter gleich mit dem ersten Schnee eintreten,“ fuhr der Bauer fort. „Es ist heuer zeitig, aber mir kann’s recht sein. Da können meine Knechte das Holz, was sie gefällt haben, noch vor dem Christfest zu Thal bringen. Du hast’s bequemer und kannst, was Du brauchst, jederzeit hinabschaffen.“

„Ja, der Unterburgstein liegt günstiger,“ entgegnete David, der auf seine Besitzung stolz war.

„Das will ich nicht gesagt haben,“ warf der Bauer ruhig, aber mit ernstem Gesichte ein. „Wer hier oben geboren ist und gelebt hat, der hält’s unten nicht lange aus. Wenn ich in’s Thal hinabsteig’, dann ist es mir stets, als ob etwas auf meiner Brust läg’ und drücke.“

„Im Thal hielt ich’s auch nicht aus,“ rief David. „Du kommst selten zu mir, deshalb weißt Du nicht, daß sich auf dem Unterburgstein auch gut leben läßt. Luft und Wind hab’ ich allzeit genug. Aber ich hoff’, Du wirst dies kennen lernen.“

„Was meinst?“ fragte der Bauer, die Augen forschend auf den jüngeren Mann richtend.

„Daß ich’s offen heraussage,“ gab David zur Antwort. „Ich komm’ zu Dir, um die Moidl zu werben. Ich brauch’ eine Frau, und ich wüßt’ keine, die auf den Unterburgstein besser paßte, als die Moidl.“

Der Bauer verzog keine Miene.

„Hast es so eilig?“ fragte er.

„Ja. Ich wüßt’ nicht, worauf ich noch warten sollt’; die Stätte für eine Frau ist bereit.“

„Hast schon mit der Moidl gesprochen?“ forschte der Bauer weiter.

„Nein, ich wollt’ zuerst wissen, wie Du denkst,“ gab David zur Antwort. „Ich hoff’, die Moidl wird nichts dagegen haben, Herrin auf dem Unterburgstein zu werden, wenn es Dein Wille ist.“

Ueber das Gesicht des Bauern glitt ein genugthuendes Lächeln.

„Du hast klug gehandelt, denn ohne meinen Willen wär’ es nicht gegangen,“ sprach er. „Du hast mir Deine Meinung offen gesagt, und offen sollst Du die meinige hören. Mir ist’s recht, und ich hab’ nichts dagegen, wenn sie bald dort unten als Deine Frau einzieht. Es ist vielleicht gut so!“

Er streckte David seine Rechte entgegen, und freudig schlug dieser ein, denn er hatte kaum auf ein so williges Entgegenkommen bei dem finsteren Manne gerechnet.

„Bestimm’ Du, wenn die Verschreibung sein soll!“ rief er. „Wie hoch mein Gehöft zu schätzen ist, weißt Du, und was die Moidl mitbringt, darnach frag’ ich nicht, denn ich würde sie zum Weibe begehren, selbst wenn sie nichts hätte.“

„Eine Bettlerin ist sie nicht,“ entgegnete der Oberburgsteiner nicht ohne Stolz, denn seit Jahren hatte er nur für seine Tochter gespart und gearbeitet. „Sie braucht sich ihrer Mitgift auch nicht zu schämen. Ehe ich aber die Verschreibung aufsetz’, will ich ihr sagen, daß Du um sie geworben.“

Er öffnete die Thür und rief laut den Namen seiner Tochter.

Einige Minuten später trat die Gerufene ein. David hatte sie nie so schön gesehen, denn ihre Wangen waren geröthet, und aus ihren großen Augen leuchtete ein Gefühl der Befangenheit.

Ruhig begrüßte sie den Unterburgsteiner.

„Moidl,“ sprach ihr Vater, „der David hat um Deine Hand geworben, ich habe ihm dieselbe zugesagt und denk’, es wird Dir recht sein, wie es mir recht ist.“

Das Mädchen fuhr unwillkürlich zusammen. Es hatte dies vorausgesehen und doch erschrak es. Das Blut wich aus seinen Wangen, es preßte die Hand auf die Brust und schien sprechen zu wollen, aber die Lippen versagten ihm den Dienst.

Dies Alles war dem Oberburgsteiner nicht entgangen, und seine buschigen Brauen zogen sich zusammen.

„Gieb eine Antwort,“ mahnte er.

Moidl rang nach Athem. Aengstlich und bittend zugleich blickte sie zu ihrem Vater auf.

„Nie – nie! Ich kann die Seinige nicht werden!“ rief sie dann.

„Moidl, ich hab’ Dich so lieb!“ rief David.

„Laß mich reden,“ unterbrach ihn der Bauer streng. „Sprich, weshalb Du meinem Willen entgegentrittst,“ wandte er sich an seine Tochter. „Sprich!“

„Ich lieb’ ihn nicht,“ gab die Moidl zur Antwort.

„Haha! Die Lieb’ wird kommen, wenn Du erst sein Weib bist!“

„Nein – nie! Ich will gar nicht heirathen – ich will bei Dir bleiben!“

„Moidl, ist Dir’s zu gering, Herrin auf dem Unterburgstein zu werden?“ warf David ein.

[515] „Ja, wenn mein Herz nicht mitziehen kann, ist mir’s zu gering!“ rief das Mädchen. „Und Dir wird mein Herz nie gehören – nie!“

„Hab’ ich Dir je ein Leid zugefügt?“ fragte David aufspringend.

„Laß das Fragen,“ unterbrach ihn der Bauer ärgerlich. „Du hast mein Wort, und die Moidl kennt meinen Willen, ich hab’ beides noch immer durchgesetzt.“

„Diesmal nicht, Vater!“ rief das Mädchen entschlossen. „Mein Herz kannst Du nicht zwingen, und ehe ich des David’s Weib werde, sterbe ich!“

„Es stirbt sich nicht so schnell!“ rief der Bauer. „Du kennst meinen Willen! Auf dem Oberburgstein gelt’ ich, so lang’ ich leb’! Nun fort, Du wirst schon lernen, daß mein Wille gilt!“

Das Mädchen eilte aus dem Zimmer.

Verblüfft blickte David darein, denn er hatte nicht erwartet, auf einen so entschiedenen Widerstand zu stoßen. Er sprach dies aus.

„Genügt Dir mein Wort nicht?“ entgegnete der Bauer ärgerlich.

„Wohl, wohl,“ gab David zur Antwort. „Aber wenn die Moidl auf ihrem Kopfe besteht?“

„Wart’ es ab, wessen Kopf der härtere ist!“

David bewegte bedenklich den Kopf hin und her, denn er hegte wenig Vertrauen, daß der Bauer seinen Willen durchsetzen werde.

„Sie liebt einen Andern,“ bemerkte er.

„Wen meinst Du?“ fragte der Oberburgsteiner ruhig, obschon er sehr wohl wußte, wen seine Tochter im Herzen trug.

David zögerte mit der Antwort, er konnte Hansel’s Namen nicht über die Lippen bringen.

An das Fenster tretend zeigte er mit der Hand auf das Gehöft Haidacher’s, welches so grau und düster drüben an dem Berge lag.

„Den dort,“ sprach er.

Der Bauer lachte höhnend auf.

„Haha! Den Hansel!“ rief er. „Er mag Dich beim Raufen geworfen haben, meinen Kopf kriegt er nicht unter!“

Das Blut schoß in das Gesicht des Besiegten. Es erbitterte ihn, daß der Oberburgsteiner ihm die Schmach so offen in’s Gesicht warf, er wollte heftig antworten, aber er bezwang sich.

„Ich will Dir sagen, wie ich denk’,“ fuhr der Bauer fort. „So lang’ noch zwischen dem Gehöft des Haidacher und dem Oberburgstein das Thal liegt, so lang’ werden der Hansel und die Moidl auch nicht zusammen kommen – wenigstens so lang’ ich lebe, nicht,“ fügte er hinzu. „Was der Bub’ dort drüben denkt, weiß ich nicht, die Moidl hat ein hübsches Gesicht, das mag es ihm angethan haben – aber ich glaube nicht, daß er je wagen würde, seinen Fuß hierher zu setzen und um ihre Hand zu werben.“

„Und wenn er es thut?“ warf David ein.

Der Bauer richtete seine Gestalt stolz und gerade empor, aus seinen Augen leuchtete es.

„Ich bin zu alt, um mit ihm zu raufen,“ rief er mit erregter Stimme, „aber noch hab’ ich Kraft genug, ihn von meiner Besitzung zu werfen! Nun geh’! Da hast das Wort des Oberburgsteiners!“

David drückte dem Bauer die Hand und verließ das Haus. Er sah indessen nicht aus wie ein glücklicher Freier, der sich vom Vater ein Jawort geholt hat. Wohl kannte er den festen und zähen Sinn des Bauers, der nicht aufgab, was er einmal beschlossen hatte, aber hing es denn allein von seinem Kopfe ab? Hatte er die Macht, seine Tochter zu zwingen? Dies fuhr ihm durch den Kopf hin und beugte seine große Gestalt, die sonst so selbstbewußt auftrat.

Seitwärts von dem Gehöfte, ungefähr hundert Schritte von demselben entfernt, halb versteckt unter hohen Kiefern und zugleich geschützt durch dieselben vor den Stürmen, die hier oben mit voller Wildheit herrschten, lag eine keine Capelle. Der Vater des Bauers hatte sie errichtet, um im Winter, wenn er eingeschneit war und Wochen lang nicht zu Thal steigen konnte, um die Messe zu hören, einen Ort zu haben, an dem er Sonntags seine Andacht verrichten konnte.

Es was nur ein enger und einfacher Raum. Vor einem grob aus Holz geschnitzten und mit grellen Farben überstrichenen Crucifix befand sich ein einfacher Betschemel.

Zu dieser kleinen Capelle richtete David seine Schritte, fast ohne Absicht. An ihr vorüber führte ein Weg durch den Wald nach seinem Gehöft.

Als er sich der Capelle näherte, sah er die Thür derselben geöffnet. Auf dem Betschemel kniete eine weibliche Gestalt – die Moidl. Er wollte vorüberschreiten, aber schnell besann er sich eines Andern. Vorsichtig trat er näher.

Die Betende hörte ihn nicht; erst als er den schweren Bergschuh auf die zu der Capelle führende Steinstufe setzte, wandte das Mädchen den Kopf um. Erschreckt sprang sie auf, das Blut war aus ihren Wangen gewichen.

„Was willst Du hier?“ rief sie, und furchtlos ruhte ihr Auge in dem des jungen Mannes.

„Ich wollt’ Dich nicht stören,“ gab David zur Antwort. „Mein Weg führte mich hier vorüber, ich sah Dich hier knieen, und da wollt’ ich Dich bitten …“

„Warum?“ fragte die Moidl ruhig.

Es wurde der großen Gestalt nicht leicht, die rechte Antwort zu finden.

„Ich will Dich allezeit gut halten, wenn Du die Meinige wirst,“ sprach er. „Die reichste Bäurin im ganzen Thal kannst Du werden, ich gelob’ Dir, daß Du keiner nachstehen sollst!“

„Such’ Dir eine Andere für die Ehe, denn meine Antwort kennst Du schon,“ entgegnete das Mädchen. „Ich paß auch nicht für Dich, David. Aber eine Bitt’ hab’ ich an Dich, und ich will Dir es Dank wissen, so lange ich leb’. Gieb jeden Gedanken an mich auf und sag’ meinem Vater, daß Du Deine Werbung zurückziehest.“

„Nimmermehr! Ich hab’ sein Wort!“

„Sag’ ihm, Du seiest zu stolz, ein Mädchen zu begehren, das Dir nicht willig entgegenkomme,“ fuhr Moidl bittend fort. „Sag’ ihm, ein Unterburgsteiner brauch’ nicht zu bitten, denn ihm ständen hundert andere Thüren offen, wenn er anpoche, – sag’ ihm, ich sei nicht gut genug für Dich – ich will Dir für Alles danken.“

„Ich verlang’ den Dank nicht, denn ich geb’ Dich nicht auf!“ rief David.

„Aufgeben mußt Du mich dennoch, denn die Deinige werde ich nicht.“

„Du wirst Dich noch besinnen und fügen, Moidl.“

„Ich brauch’ mich nicht mehr zu besinnen, und zwingen kann mich auch mein Vater nicht. Wer will mich halten, wenn ich mich vom Felsen stürze?“

Das Blut stieg dem Unterburgsteiner zu Kopf, denn des Mädchens Widerstand ärgerte ihn.

„Haha! Du hoffst auf den Welschen!“ rief er erbittert. „Verrechne Dich nicht, dem ist der Weg zum Oberburgstein zu steil, und er dürft’ zu Falle kommen, ehe er oben anlangt.“

Hastig und unerschrocken trat das Mädchen einen Schritt vor, in ihren dunklen Augen zuckte es.

„Hab’ ich Dir gesagt, auf wen ich hoff’?“ rief sie. „Dein Weib werd’ ich nie, das hab’ ich hier vor dem Gottesbild geschworen und meinen Schwur brech’ ich nicht!“

Sie eilte an David vorbei und dem Hause zu.

Der Unterburgsteiner preßte die Zähne erbittert auf einander und ballte die Hand. Ohnmächtige Wuth zehrte in ihm, und sie war nicht größer gewesen, als er von Hansel geworfen war.

„Den Welschen kriegst Du nie!“ rief er der Davoneilenden nach, aber sie vernahm seine Worte nicht, denn sie war bereits im Hause verschwunden.

Langsam stieg er zu seinem Gehöft hinab.




Der Oberburgsteiner hatte Recht gehabt, schon am folgenden Tage stellte sich Schnee ein, und an den Bergen blieb er liegen, wenn auch die Sonnenstrahlen ihn an manchen Stellen im Thale wieder fortleckten. Er war der erste Bote des Winters.

Noch vor dem Schnee hatte Hansel das Dach des väterlichen Hauses und der Stallung wieder in Stand gesetzt. Er hatte sich daran gemacht, den verschütteten Acker von dem Steingeröll zu reinigen, und wenn auch am ersten Tage die Größe und Schwierigkeit der Arbeit, die vor ihm lag, ihm den Muth genommen hatte, [516] derselbe war wiedergekommen, als er nach einigen Tagen sah, wie viel er ausgerichtet hatte.

Vom frühen Morgen bis zum Abend war er thätig, und die schwere Arbeit that ihm wohl, weil sie ihm nicht Zeit ließ, seinen Gedanken nachzuhängen. Und Eins hielt seine Kräfte frisch, er brauchte nur den Kopf zu heben, dann sah er den Oberburgstein liegen und die Moidl mußte ihn erkennen und schauen, wie er arbeitete.

Sein Vater suchte ihm zu helfen, die schwachen Kräfte desselben hielten jedoch nicht lange Stand.

„Du bringst es bis zum Frühjahr nicht fertig,“ sprach Haidacher mehr als einmal.

„Wollen sehen, wer Recht hat,“ gab Hansel mit lustigem Muthe zur Antwort. „Es muß mir sogar noch Zeit zum Holzfällen übrigbleiben.“

Die Woche über war er nicht in’s Thal gegangen, um so mehr freute er sich auf den Sonntag. Dann sah er die Moidl wieder, wenn sie zur Messe ging.

Und als der Sonntag kam, schmückte er sich mit besonderer Sorgfalt und eilte jubelnd in das Thal.

Die meisten seiner Freunde traf er bereits in dem „Elephanten“ an. Sie empfingen ihn mit Jubel und machten ihm Vorwürfe, daß er nicht an einem einzigen Abende in’s Dorf herabgekommen sei.

„Ich hab’ keine Zeit,“ entgegnete er. „Es giebt viel Arbeit bei mir oben, da bin ich müd’ am Abend.“

„Ich hab’ schon geglaubt, Du fürchtest Dich vor dem David,“ rief Sepp Plankensteiner lachend.

„Ich fürcht’ Niemand und den Unterburgsteiner am wenigsten,“ gab Hansel zur Antwort.

„Du hast es aber mit dem Wirthe verdorben,“ warf Franz Steger ein. „David war sein bester Gast, und er hat sich hier nicht wieder sehen lassen.“

Hansel zuckte mit der Schulter.

„Ich hab’ ihm den Weg nicht vertreten,“ entgegnete er. „Dies Zimmer hat für Zwanzig Raum, und wenn er sich dort an jenen Tisch setzt, mich soll es nicht stören.“

Die Burschen begaben sich in die Kirche.

Vergebens suchten Hansel’s Augen die Moidl. Ihr Platz war leer. Sollte sie sich verspätet haben? Unter den Männern erblickte er ihren Vater. Weshalb war sie nicht gekommen? Der Schnee konnte sie nicht gehindert haben, denn er lag noch nicht hoch. Sollte sie krank sein?

Seine Unruhe wuchs mit jeder Minute. Die Freude, auf welche er die ganze Woche über gehofft hatte, die seine Kräfte bei der schweren Arbeit frisch erhalten, war vernichtet. Wie ein schwerer Druck lag es auf seiner Brust.

Als die Messe beendet war, trat David an der Seite des Oberburgsteiners aus der Kirche. Ohne zur Seite zu blicken, schritten sie an dem „Elephanten“ vorüber und begaben sich nach dem weiter im Dorfe gelegenen Wirthshause „Zur Post“, um dort ihren Wein zu trinken. Hansel wollte seinen Freunden nicht verraten, was in ihm vorging, er trat mit ihnen in das Wirthshaus, er bestellte Wein, aber er war nicht im Stande, denselben über die Lippen zu bringen.

Die Eintracht David’s mit dem Oberburgsteiner fuhr ihm durch den Kopf hin. Früher waren sie einander möglichst aus dem Wege gegangen.

Es litt ihn nicht in dem Wirthshause. Alles Zureden seiner Freunde war nicht im Stande, ihn zurückzuhalten. Er kehrte zu dem Gehöfte seines Vaters zurück, von dort konnte er wenigstens zu dem Oberburgstein hinüber schauen.

Wieder brachte er eine lange Woche bei der Arbeit zu. Sie wurde ihm nicht mehr so leicht, aber sein kräftiger Körper hielt aus. Er hatte wenig Hoffnung, das geliebte Mädchen am nächsten Sonntage zu sehen, aber als der Sonntag kam, schmückte er seinen Hut doch mit einer frischen Blume, ehe er zur Messe ging. –

(Fortsetzung folgt.)




Ein abschreckendes Beispiel der „guten alten Zeit“.

Daß unsere Altvordern an dem Uebel der Nervenschwäche stark gelitten hätten, wird schwerlich Jemand behaupten wollen. Braucht man doch nur einen Blick zu werfen in jene zum Theil noch jetzt wohlerhaltenen Folterkammern mancher deutschen Städte – die von Nürnberg dürfte unseres Wissens die reichhaltigste sein –, um sich von dem absoluten Ungrunde jener Annahme ein für allemal zu überzeugen. Daumenschrauben, Eiserne Jungfrau, Streckleitern und wie die Marterwerkzeuge alle heißen mochten, waren die Hülfsmittel, deren die hochnothpeinliche Strafjustiz damaliger Zeit sich bediente, um wirkliche oder vermeintliche Verbrecher zu einem „Geständnisse“ zu bewegen. Ein wahrer Schauder ergreift uns Kinder eines erleuchteteren und menschenfreundlicheren Jahrhunderts beim bloßen Anblick jener Folterkammern, und freier athmen wir auf, sobald wir den düsteren und unheimlichen Gemächern, in denen unser Ohr noch heute das Angstgestöhn unmenschlich Gequälter zu vernehmen glaubt, den Rücken gekehrt haben.

Es mag paradox klingen, aber es ist darum nicht minder wahr: ein Stück von Humor – dieses köstlichen, wenn schon kaum definirbaren Angebindes, durch welches die Vorsehung das Germanenthum vor allen übrigen Rassen ausgezeichnet hat – ein Stück davon zieht sich wie ein roter Faden auch durch die sonst so barbarische Strafrechtspflege des deutschen Mittelalters hindurch. So enthalten denn die Folterkammern hier und da auch so manche seltsame Sächelchen, die offenbar ganz und gar nicht auf die Erzeugung körperlicher Schmerzen berechnet waren, sondern die dem düstern Antlitz der gestrengen Frau Themis einen gewissen unverkennbar humoristischen Zug einfügten.

So findet sich z. B. in manchen Folterkammern ein wunderliches Geräth vor, welches etwa wie eine Tonne aussieht, außen mit bunten Bildern bemalt und auf der oberen Seite mit einem Loche versehen ist, groß genug, um einen menschlichen Kopf hindurchzustecken. Dieses Instrument hieß „der Schandmantel“ und war vorzugsweise bestimmt, bösen Weibern, die sich an ihren Eheherren vergriffen hatten, zur Strafe um Hals und Schultern gelegt zu werden. Sonntags mußten die Unglücklichen, mit diesem Umwurf angethan, zum Gespött der ganzen Gemeinde an der Kirchenthür stehen.

Uebrigens galt dieser Schandmantel noch für eine verhältnißmäßig gelinde Strafe; häufig ahndete man körperliche Mißhandlungen, mit welchen eine böse Sieben sich gegen ihren Ehemann vergangen halte, ungleich empfindlicher.

Eine solche härtere Bestrafung gewaltthätiger Eheweiber bildete namentlich der sogenannte „Eselsritt“, eine Execution, die wir unseren Lesern gleichzeitig im Bilde veranschaulichen. Es war dies ein sehr weitverbreiteter Brauch, und noch bis zum Jahre 1604 bestand derselbe z. B. in St. Goar am Rhein. Hier erhielt der Besitzer der Gröndelbacher Mühle alljährlich zwei Klafter Holz gegen die Verpflichtung, den Esel zu stellen, auf welchem die Weiber, „so ihren Mann geschlagen“, rücklings durch die Stadt reiten mußten, während der Amtsdiener auf öffentlicher Straße das betreffende Urtheil vorlas, nachdem der Tambour mit seiner Trommel dem Manne des Gesetzes das nöthige Gehör verschafft hatte. Dann zog die Menge johlend und schreiend, von den Stadtknechten nur mit Mühe von Angriffen auf die ohnedies hart genug Bestrafte zurückgehalten, durch alle Straßen und Gassen des Ortes bis zum Gefängniß zurück.

Auch in Darmstadt und den umliegenden Katzenellnbogen’schen Besitzungen begegnet uns diese Sitte des Eselsrittes noch bis in’s siebenzehnte Jahrhundert hinein. Hier hatten die Herren von Frankenstein auf Bessungen ein förmliches „Eselslehen“, das heißt das vererbliche Recht, gegen angemessene Vergütung den Esel zu der betreffenden Execution zu liefern. Zugleich aber tritt uns hier dieser Brauch noch mit einer scharfsinnigen Unterscheidung, wir möchten sagen: mit einer feineren Nüance, entgegen. Hatte nämlich die Frau ihren Mann, sozusagen, in offener, ehrlicher Rauferei „untergekriegt“, so mußte letzterer den Esel am Zügel führen; hatte dagegen die Frau ihren Eheherrn hinterrücks überfallen, so übernahm der Frankensteiner Bote diese Führerschaft.

[517]

Bestrafung des häuslichen Unfriedens im Mittelalter.
Nach dem Oelgemälde von Graf Woldemar Reichenbach.

[518] Uebrigens harrte auch der Ehemänner, wenn sie ihre Frauen allzu hart geschlagen hatten, die wohlverdiente Strafe. In solchen Fällen trat in den früheren Jahrhunderten des Mittelalters eine Art Gottesgericht in Kraft, eine höchst eigenthümliche Art von Zweikampf, wie wir dies in dem Artikel „Altfränkisches Eherecht und Kampfgericht“, im Jahrgang 1869, (Seite 357) in Wort und Bild dargestellt haben. Zur Ehre unserer Vorfahren muß gesagt werden, daß das Fortbestehen jener Unsitte über das zwölfte oder höchstens das dreizehnte Jahrhundert hinaus kaum nachzuweisen sein dürfte.

Um jedoch nochmals auf den eigentlichen Fall unserer Darstellung, den, wo eine Frau ihren Mann geschlagen hatte, zurückzukommen, so galt solche That unsern Altvordern von jeher als ein ganz besonderer Gräuel. Ein solcher Mann erschien der gesammten Gemeinde gewissermaßen als ehrlos, und oft genug zwang man ihn, sammt seiner bestraften Ehehälfte den bisherigen Wohnort zu verlassen und sich anderswo ein neues Domicil zu suchen.

Es ist gewiß erfreulicher, aus dem Leben unserer Vorfahren Edles und noch heute Erhebendes dem Auge der Gegenwart vorzuführen, und es geschieht dies ja, so oft sich uns die Gelegenheit dazu bietet; es hieße aber der Wahrheit schlecht dienen, suchten wir aus Verherrlichungssucht der Lichtseiten jener Tage über die Schatten derselben den Mantel der Vergessenheit zu breiten. Was wir oben geschildert haben, erscheint wohl unserem Auge roh und unmenschlich, aber es hat bestanden, diese Bestrafungsweise befriedigte lange Zeit das Gerechtigkeitsgefühl des gesammten Volkes, und doch waren die Menschen damals nicht schlechter, als heute, geschahen so gute, edle und große Thaten, wie heute. Es war deutsches Volk, von gesundem Kern, nur die Schale war rauher. Die naturwüchsigen Aeußerungen jenes Rechtsgefühls in voller Wahrheit dargestellt zu haben, ist ein Verdienst unseres Künstlers; er läßt uns eine Volksscene der „guten alten Zeit“ in ihrer vollsten Lebendigkeit belauschen, aber ohne in uns den Wunsch ihrer Wiederkehr anzuregen. Solche Bilder sind gar wohl geeignet, durch Vergleichung alter und neuer Zustände manche Unzufriedenheit zu mildern und trotz all der Schatten, welche über vielen unserer Verhältnisse liegen, doch mit der Gegenwart zu versöhnen.




Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“?

Von Dr. L. Fürst.
Die pädagogisch-hygienischen Reformbewegungen. – Landläufige Ansichten über die Ursachen der Schulkrankheiten. – Das Verhältniß zwischen Hausarzt, Familie und Lehrer. – Schule und Haus als Quelle der Erkrankungen. – Wie wird die Gesundheitspflege der Kinder in der Familie gewahrt? – Die Kurzsichtigkeit der Schüler. – Gefahren der Spielschulen und Kindergärten. – Schuld der Eltern an Erkrankung von Schulkindern.

Es giebt gewisse „Fragen“ der Gesundheitspflege, welche von dem Geiste der Neuzeit erst „geschaffen“ worden sind. Erst aus einer im Gegensatz zu früher sorgsameren Beobachtung hygienischer Gesetze, wie der Versuch und die Erfahrung sie festgestellt haben, konnten diese „Fragen“ auftauchen. Aerzte und Pädagogen haben sie aufgeworfen und zu beantworten versucht, und das bessere Element des Laien-Publicums, besonders solche Eltern, welche selbst schulpflichtige Kinder haben und deren Entwickelungsgang mit liebevoller Umsicht überwachen, nehmen lebhaften Antheil an den Verhandlungen über das „Für“ und „Wider“.

Das Interesse der weitesten Kreise für Alles, was das Schulkind betrifft, ist erklärlich und erfreulich. Unser eigen Fleisch und Blut, um dessen Wohl und Wehe es sich handelt, unsere Kinder – was sollte uns mehr interessiren? Und ist es nicht erfreulich zu sehen, wie lebhaft sanitäre Fragen – man denke nur an die Feriencolonien für schwächliche, an die See-Heilstätten für kränkliche Schulkinder – von allen Seiten aufgegriffen und unterstützt werden? Die „Schulbankfrage“, die Angelegenheit der Schulspiele, die Frage der „Ueberbürdung der Schulkinder“, der „Geisteskrankheiten im Schulalter“ wurden zu ebenso vielen Ausgangspunkten gewaltiger Bewegung in Wort und Schrift, welche ihre mächtigen Wellen bis in die ärmliche Tagelöhnerhütte, bis in den Saal der Volksvertretung unseres Reiches sendete und weit über die Grenzen Deutschlands dahinbrandet. Die Heizung, Beleuchtung und Lüftung der Schulbauten sind keine trockenen Fragen für Fachmänner, welche etwa nur am „grünen Tisch“ ihre Erledigung finden, in Acten ihr Dasein hinbringen und dem sogenannten „beschränkten Unterthanenverstand“ ein Buch mit sieben Siegeln bleiben sollen.

Es sind Früchte des praktischen Sinnes unserer Zeit, gezeitigt an „des Lebens goldnem Baum“. Wie verfolgte man die zahllosen Untersuchungen über die Beschaffenheit der Augen von Schulkindern mit Ueberraschung! Mit welcher Begeisterung wurde die Einführung des Turnens und der Körperübungsspiele aufgenommen!

Es giebt kaum ein Gebiet der Schulhygiene, wo nicht jedes Wort der Sachverständigen ein lebhaftes Echo in der Brust der Eltern geweckt hätte, denn über allen derartigen Fragen schwebt wie ein Zauber der Hauch der Worte: „Es gilt unseren Kindern,“ Worte, welche nur dem Hagestolz gleichgültig sein können.

In den meisten die Schulhygiene betreffenden derartigen Tagesfragen ist ein berechtigter Kern enthalten, und die „Schulkrankheiten“, denen in den letzten Jahrzehnten der Krieg erklärt worden ist, sind keine Phantasiegebilde überängstlicher Mediciner, die man mit dem einfachen Hinweis, daß es in der guten alten Zeit selbst mit mangelhaften Einrichtungen und ohne Schädigung unserer Voreltern ganz gut gegangen ist, in Nichts zerfließen lassen kann. Daß bestimmte Krankheiten dem Schulalter eigenthümlich sind und in einem Zusammenhange mit dem Schulbesuche stehen, dies gemeinsame Kennzeichen hat den „Schulkrankheiten“ jedenfalls zu ihrem seitdem geläufig gewordenen Namen verholfen, und seitdem steht es bei der oft gedankenlos nachbetenden Menge fest wie ein Dogma, daß alle derartigen Krankheiten nicht nur während der Schuljahre, nicht nur im Zusammenhange mit der Schule zu Stande kommen, sondern in der Schule, durch die Schule. „Die moderne Schule ist die Quelle der Schulkrankheiten“, von dieser Ueberzeugung durchdrungen, ist man befriedigt, nunmehr für mannigfache zu Tage getretene Schädigungen den Sündenbock gefunden zu haben, und mit seltener Uebereinstimmung erheben sich von ärztlicher und nichtärzlicher Seite die Klagen über die Mißbräuche, die Mängel und Schattenseiten unseres Schulwesens, welche allein viele Erkrankungen unserer Schuljugend verschuldet haben sollen.

Das „Publicum“ ist davon fest überzeugt und wenig geneigt, sich zu fragen, ob diese Ansicht richtig ist.

Um wie Vieles bequemer erscheint es, mit dem Strome zu schwimmen und die Quelle aller Uebel in den Räumen des Schulhauses zu suchen! Das Publicum hat im Ganzen und Großen zwar eine große Gabe zur Opposition, aber wenig Talent zur Kritik. Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen selbstständig Denkender nimmt es gewisse Aussprüche als unumstößliche Wahrheiten auf und baut auf diesem Grunde jahrelang, jahrzehntelang weiter, bis es sich zeigt, daß dem Gebäude, so ansprechend es ist, der feste Boden fehlt.

Es erben sich eben nicht blos „Gesetz und Rechte“, sondern auch einseitige Ansichten „wie eine ewige Krankheit“ fort.

Seitdem von namhaften Aerzten, Hygienikern und Pädagogen gewisse „Schulkrankheiten“ in ihrem Wesen erkannt und schärfer festgestellt sind, fragt das Publicum nur noch: Welche Reformen sind für die Schule zur Verhütung der „Schulkrankheiten“ nöthig? Aber selten fragt Einer: Was verschuldet das Haus, die Familie hierbei?

Solche rühmliche Ausnahmen können nichts an dem bekannten Worte ändern:

„Ich hoffe, das nimmt Keiner krumm,
Denn Einer ist kein Publicum.“

Wenn man, wie der Verfasser Dieses in jahrelanger praktischer Thätigkeit als Kinderarzt, gerade der Entstehung der „Schulkrankheiten“ ein besonderes Interesse gewidmet hat, muß man mehr und mehr zu der Ueberzeugung kommen, daß es eine Pflicht der Heilkunde ist, nach Kräften ein Unrecht wieder gut machen zu helfen, welches in Folge eines Vorurtheils jahrelang dem [519] Unterrichtswesen zugefügt worden ist. Die Kinderhygiene könnte allerdings von dem Lehrerstande wesentlich mehr verstanden, gewürdigt und gefördert werden; es würde dies auch geschehen, wenn man, anstatt sich in eine Art Gegensatz zu den Pädagogen zu stellen und die Kinder gewissermaßen vor deren zu weit gehenden Anforderungen schützen, vor ihren der Gesundheitspflege nicht entsprechenden Einrichtungen hüten zu wollen, Hand in Hand mit ihnen ginge.

Der Hausarzt, die Familie, der Lehrer – dies Kleeblatt ist naturgemäß dazu bestimmt, eine geschlossene Einheit in Bezug auf die wichtigste Frage, das leibliche und geistige Wohl der Kinder, zu bilden. Nur schwer kann man es begreifen, wie eines dieser drei ohne die anderen, oder gar im Widerstreit mit den andern darnach streben kann, die Hygiene der Schulkinder zu verbessern. Daß hier ein einseitiges Vorgehen wenig Erfolg haben kann, liegt auf der Hand.

Man fordert in der That zu viel von der Schule, welche ja in den wenigen Stunden, in denen die Kinder daselbst verweilen, nur die gröbsten Schädigungen verhüten kann.

Man vergißt, daß das Kind während viel größerer Zeit jeden Tag dem Einflusse der Schule gänzlich entzogen und den Bedingungen seiner häuslichen Verhältnisse unterworfen ist.

Was zu dreiviertel der Zeit im Familienkreise versäumt und versehen wird, kann das einviertel der täglichen Stundenzahl im Schulhause nicht gut machen. Die Kenntniß und Verwirklichung der häuslichen Gesundheitspflege steht – das darf behauptet werden – gegenwärtig sogar der sehr hoch entwickelten Schul-Hygiene nach.

Der Arzt sieht in dem täglichen Verkehr mit der Familie wohl die Mängel und sucht sie nach Kräften zu beseitigen; allein nur zu häufig, und je mehr er in die ärmeren Volksschichten herabsteigt, desto mehr begegnet er, schon aus Gründen der Mittellosigkeit und der bedrängten socialen Lage, der einfachen Unmöglichkeit, seinen Ansichten und Rathschlägen Geltung zu verschaffen. Und wie steht es in den glücklicher situirten Familien? Hier sind zwar die Bedingungen der häuslichen Hygiene befriedigend erfüllt; aber es fehlen die Berührungspunkte, der Ideen-Austausch, das einheitliche Vorgehen zwischen Haus und Schule. Jedes geht seinen eigenen Weg, verfolgt seine eigenen Grundsätze: ob dieselben harmoniren, ob sie sich ergänzen und unterstützen oder widerstreben und ausheben, darnach wird nur von besonders sorgsamen Eltern gefragt. Ja, die wenigsten wissen etwas von dem, was der Lehrer seinen Schukindern zu ihrem Besten vorschreibt, wie der gebildete Pädagoge der Neuzeit planmäßig bemüht ist, täglich, stündlich die Arbeit mit der Erholung, die geistige Arbeit mit Anschauung, das Stillsitzen mit dem Umhertummeln, die Beschäftigung am Schreibtisch mit dem Turnen und Singen abwechseln zu lassen. Die Regierungen, die Schulbehörden stellen daraufhin die Lehrpläne zusammen; die Lehrer führen das System der zeitweisen Entspannung des Geistes, der Sinnesorgane und des ganzen Körpers durch, soweit dies in einer Schule möglich ist. Aber, daß man selbst in den sogenannten „guten“ Häusern Fühlung mit der Schule behielte und – wir müssen es leider sagen – die Schule auch mit den Familien, kommt nur selten vor. Meist hat man im Hause keine Vorstellung von den hygienischen Bestrebungen der Schule, in der Schule keine Ahnung von den berechtigten Wünschen des Hauses, und während die Sphären dieser beiden Welten, zwischen denen das Schulkind täglich hin und wieder wandert, sich nur lose berühren, bleibt das Kind hier oder dort gewissen ihm speciell ungünstigen Bedingungen unterworfen, die sich, wenn „das einende Band“ nicht fehlte, leicht beseitigen ließen.

Niemand kann von der Schule fordern, daß sie jedem Individuum, jeder häuslichen Gepflogenheit gerecht wird, oder in vollkommener Weise die Gesetze der Kinder-Hygiene erfüllt.

Sie würde ihren Aufgaben, ihren Lehrzielen und der nöthigen Disciplin kaum entsprechen können, wollte sie, die einen umfassenden Blick nicht entbehren kann, sich zu sehr in’s Einzelne verlieren. Aber die Familie kann individualisiren; sie kann und soll in möglichster Vollkommenheit, systematisch und vernunftgemäß auf die regelmäßige physische und psychische Entwicklung der Kinder hinwirken. Wenn die häusliche Gesundheitspflege mehr Würdigung und Verbreitung fände, dann würden, wie wir im Folgenden sehen werden, nicht nur Krankheiten verhütet, sondern auch rechtzeitig erkannt werden. Es würden dann die „Schulkrankheiten“ an Zahl und Bedeutung überhaupt wesentlich verlieren. So aber steht der Arzt, der willkommene Freund der Familie und der oft unwillkommene Berather der Schule, machtlos zwischen Beiden und muß, indem er zwischen Scylla und Charybdis hindurch rudert, froh sein, sein Fahrzeug glücklich gerettet zu haben, ohne an einer der Klippen zu scheitern.

Daß die meisten Kinder ärmerer Volkskreise zu Haus viel ungünstiger leben, als in der Schule, daß die Schulstunden, die sie in den heutigen luftigen, hellen, gesunden Schulgebäuden unter steter Aufsicht verbringen, für sie eine wahre Wohlthat sind, gegenüber dem, was der Kleinen daheim in den oft überfüllten, dumpfigen oder düsteren Wohnungen harrt, wo Licht, Luft und Sauberkeit, diese Lebenselemente, nur eine kümmerliche Rolle spielen - wer kann es mehr, als der Arzt, der in diese Quartiere kommt, beurtheilen?

Wo sind hier, in den oft dicht besetzten Wohn- und Schlafräumen jene fünfeinhalb Cubikmeter Raum, die man für jeden Schüler verlangt? Wie unzweckmäßig und unzureichend ist die Beleuchtung, wie verdorben die Luft, wie irrationell die Heizung! Wie häufig schreibt das Kind zu Haus an hohem, steilem Tische, auf unpassendem Stuhle, schief sitzend! Wie oft liest das Schulkind zu Haus in der Dämmerung, in fast unglaublichen Stellungen, in Büchern von miserabelstem Druck! Alles das geschieht - zu Haus; geschähe es in der Schule, welches Geschrei würde sich ob solcher Mißstände erheben! In der Familie, in den eigenen vier Wänden wird es nicht bemerkt, oder trotz seiner anhaltend nachtheiligen Wirkungen nicht beachtet.

Ganz besonders derjenige Arzt, der sich den Kinderkrankheiten widmet, deren Entstehung und Verbreitung nachspürt und – gleich dem Lehrer die Kinderwelt zu seiner Specialität erwählt hat, kann es täglich beobachten, wie die Quellen der sogenannten „Schulkrankheiten“ in vielen Fällen mit Sicherheit nicht in der Schule zu suchen sind. Möge immerhin die Schuljugend durch die von dem Wesen der Schule unzertrennliche Vereinigung vieler Kinder in geschlossenen Räumen, durch einen gewissen, für alle gleichmäßigen Zwang zu mehrstündigem Sitzen, durch verstärkte Inanspruchnahme des Gehirns und der Sinnesorgane mehr gefährdet sein; mag der Schule der Vorwurf, zu Zeiten der Boden für Fortpflanzung mancher Ansteckungen zu sein, nicht erspart bleiben – viel wichtiger wird es sein, nicht „in die Weite zu schweifen“, während „das Gute“ – in diesem Falle die Lösung der Schulkrankheitenfrage – „so nahe liegt“. Man suche die Ursache der Schulkrankheiten vor der Schulzeit und außerhalb des Schulhauses auf, und man wird finden, daß der Procentsatz der wirklichen Schulkrankheiten viel geringer wird, als man ihn bisher angenommen.

Es ist durch sehr viele Untersuchungen erwiesen, daß von den Sinnesorganen besonders das Auge des Schulkindes in immer zunehmendem Grade leidet. Nicht nur, daß die Kurzsichtigkeit mit jeder höheren Classe mehr Kinder ergreift, auch die Kurzsichtigkeit der einmal ergriffenen erreicht mit den Schuljahren höhere Grade. Seit James Ware (1812) zuerst hierauf hingewiesen, sind in Folge officieller Anordnungen, sowie durch einzelne Augenärzte von Bedeutung zu wissenschaftlichen Zwecken viele Tausende von Kindern der verschiedensten Schulen und Alter in Bezug auf ihre Augen untersucht worden. Das Resultat war überraschend und erschreckend. Von Classe zu Classe sieigt die Zahl der Kurzsichtigen; während in der Sexta nur etwa 12 von 100 kurzsichtig sind, beträgt die Zahl der Kurzsichtigen in der Prima schon 56 von 100.

Sprechen schon diese Zahlen deutlich für die Entstehung dieses Uebels während der Schulzeit, so ergiebt sich nicht minder aus dem Charakter der Schule ein Einfluß auf die Kurzsichtigkeit. In der Dorfschule ergreift sie blos 1 Procent, in den Mädchenschulen nur 10 bis 20 Procent, in den Gymnasien bis 60 Procent der Schüler. Solche Zahlen müssen zu denken geben und zunächst zu der Annahme führen, daß lediglich die Schule es ist, in welcher eine solche Calamität wurzelt. Man muß hierin bestärkt werden, wenn man sich erinnert, daß Jäger schon 1824 nachgewiesen hat, wie das neugeborene Kind kurzsichtig ist. Die starke Krümmung seiner Hornhaut flacht sich gegen das Schulalter [520] zu ab, sodaß im Beginne dieser Zeit die meisten Kinder die anfängliche Kurzsichtigkeit verloren haben. Die dem kindlichen Auge bekanntlich eigene Fähigkeit, ebenso in größter Nähe wie in weiter Ferne scharf zu sehen, zumal auch die feinsten, kleinsten Gegenstände zu erkennen, diese große Accommodationsbreite erhält sich freilich bei dem Leben und den Anforderungen unserer Cultur nicht lange. Das Dorfkind behält sie am längsten. Das Kind des Städters, das, in der Straßen erdrückender Enge lebend, oft wochenlang kein freies Feld, keinen weiteren Horizont hat, um seinen Augen eine Uebung zu erhalten und im wahrsten Sinne eine „Augenweide“ zu verschaffen, dies Kind, das möglichst früh, möglichst viel und einen möglichst großen Theil des Tages lernen soll, muß seine Augen mehr und mehr für die Nähe einrichten. Die Gestalt seiner Augäpfel durch anhaltende Wirkung der Augenmuskeln verlängert sich und da gleichzeitig im Gehirn und dem Auge der Blutgehalt sowie der Blutdruck zunehmen, so entsteht durch dies überwiegende Nahesehen ein kurzsichtiger Bau des Auges, der sich mehr und mehr steigert.

Es leuchtet ein, daß die Schule hierbei recht ungünstig wirken muß. Schon das Schreiben auf der schwarzen Schiefertafel, welches aus optischen Gründen von Fachmännern verurtheilt wird und erst neuerdings zu der Erfindung weißer Schreibtafeln (vergl. „Zwanglose Blätter“ Nr. 3, Beilage zur „Gartenlaube“, 1883, Nr. 5) geführt hat, sodann aber die anhaltende Anstrengung der Sehkraft, der in vielen Fällen zu kleine, zu enge oder zu matte Druck der Schul- und Lesebücher, zuweilen auch die nicht zweckmäßige Beleuchtung des Schulzimmers und die trotz aller Ermahnungen des Lehrers schlechte Haltung des Kopfes und Oberkörpers – alles dies wirkt ja in der Schule vereint zur Verschlechterung der Sehkraft mit.

Aber – und das wird viel zu wenig betont – in fast noch höherem Grade wird während der Jahre, wo das Kind die Schule besucht (und während der Universitätszeit ist es nicht viel besser) daheim gesündigt und gefehlt.

Schon vor der Schulzeit werden die Kinder in manchen Spielschulen und Kindergärten mit kleinen Handarbeiten und sonstigen feineren Fertigkeiten geradezu zur Kurzsichtigkeit erzogen.

Doch sind auch hier die Eltern nicht frei von Schuld, da sie von ihren Kindern nicht früh genug selbstgearbeitete Gaben verlangen können und die Kindergärtnerinnen zur Aufgabe der verschiedensten Geburtstags- und Weihnachtshandarbeiten förmlich drängen.

Die Bilder- und Lesebücher sind oft von einer empörend schlechten Ausstattung. Zwar bieten demjenigen Verleger, welcher die Minimalgrenze in der Größe der Buchstaben, in ihrer Entfernung von einander, in der Buchstabenzahl jeder Zeile und in dem Abstand der Zeilen, kurz die Verhältnisse, unter welchen ohne Schädigung der Augen nicht herabgegangen werden darf, kennen lernen will, die Angaben des berühmten Augenarztes Professor Cohn in Breslau genügenden Anhalt. Allein was kehren sich gewissenlose „Fabrikanten“ von Kinderbüchern daran!

Für diese ist die Parole: „Billigste Herstellung“ – und dieser entsprechend zerfällt der Einband in acht Tagen, die löschpapierartigen Blätter werden mürbe; nur der enge, mangelhafte Druck, durch welchen Raum und Geld gespart werden soll, bleibt bis zur völligen Abnutzung des Buches von unverminderter Schädlichkeit.

Und wie liest das Kind zu Haus? Bald hält es das Buch zu nahe, bald läßt es dasselbe (in höchst ungünstigem Winkel für die Sehachse) horizontal auf dem Tisch liegen. Wieder in anderen Fällen liest es im Sonnenschein oder Dämmerlicht, oder so, daß die Schrift völlig beschattet ist. Keinem fällt es ein, in den kühnen Lieblingsstellungen, die manches Kind dabei stundenlang einnimmt, etwas Unpassendes zu finden, und doch würde keine, auch nicht die ärmlichste Schule die Art der Lectüre dulden, wie sie uns der Stift des Meisters Pletsch, treu nach dem Leben, darstellt.

Die häusliche Ueberwachung ist, obgleich sie gerade in dem Alter, wo die Kinder Lust am Lesen gewinnen, geschärfter sein müßte, im Gegentheil viel inconsequenter und oberflächlicher, als die in der Schule; aber für den Ruin des Auges wird letztere verantwortlich gemacht.

Nur nebenbei sei übrigens erwähnt, daß ein Theil der kurzsichtigen Schulkinder von Geburt an kurzsichtig war und blieb, zuweilen auf Grund einer von Eltern und Großeltern sich forterbenden Anlage hierzu. Alle solche Kinder „verderben die Statistik“, wie man zu sagen pflegt. Ungünstige angeborene Anlagen, ungünstige Einwirkungen vor dem Schulalter und in der schulfreien Zeit mögen gewiß einen Theil von kurzsichtigen Schulkindern schaffen. Ein anderer Theil würde durch rechtzeitiges Erkennen und durch entsprechende Ueberwachung im Beginne des Leidens wieder hergestellt werden können.

Aber wie wenige Eltern machen es sich zum Grundsatze, mit ihren Kindern regelmäßig „hinaus in die Ferne“ zu ziehen, in Wald und Feld sie zum Blick in die Weite anzuhalten und die Wohlthat der freien Natur auf sie einwirken zu lassen. Uffelmann in Rostock, dem wir neben Jacobi in New-York und Baginsky in Berlin wohl die beste Darstellung der Kindeshygiene verdanken, sagt in diesem Werke hierüber:

„Aus alledem folgt nicht, daß die Schule ganz allein die Myopie (Kurzsichtigkeit) verschuldet. Ich bin sogar überzeugt, daß an der Entstehung der Letzteren auch das Haus einen nicht unbeträchtlichen Antheil hat.“

Und an anderer Stelle sagt er:

„In der Regel bleibt es ganz unberücksichtigt, daß das Haus die Kurzsichtigkeit verschulden kann und thatsächlich oft verschuldet.“

Diesen Worten kann sich der Verfasser nur aus voller Ueberzeugung anschließen; ja er hält es für eine Gewissenssache, auch weitere Kreise auf die bessere Pflege der „edlen Himmelsgabe“, des Auges, hinzuweisen, besonders des so viel besungenen „Kindesauges“.

(Fortsetzung folgt.)




Heiße Stunden.

Ein Idyll aus Bayreuth von Wilhelm Kästner.
(Schluß.)

Wie kam es nun, daß Alfred am nächsten Morgen doch schon wieder in dem Bureau des Verwaltungsrathes stand, um sich ein gewisses Billet mit einer gewissen Nummer darauf zu sichern? Kaum hatte er die gewünschte Karte in der Hand, so bereute er seine Schwäche und wandte sich mißvergnügt zum Gehen.

Auf den Stufen, die hinausführten, stieß er, in seine Gedanken vertieft, an einen aufgespannten Regenschirm, den eine Dame im Begriff stand zu schließen.

Eine Entschuldigung murmelnd, wollte er vorüber. Da klappte das regentriefende Dach zusammen, und Rosa Jung’s Antlitz kam strahlend und reizend darunter zum Vorschein.

„Ah, Herr Berger, Sie sind es? Was thun Sie hier? Sie haben sich ein Billet genommen? Ich glaubte verstanden zu haben, Sie wollten heute abreisen,“ redete sie ihn in einem muthwillig neckenden Ton an. „Welch angenehmer Zufall, daß ich Sie hier treffe!“ plauderte sie weiter und erzählte mit fast zutraulicher Geschwätzigkeit, daß sie ebenfalls die Billets für morgen und natürlich für die bisherigen hübschen Plätze geholt, daß Mama daheim auf dem Kanapee sich für den Empfangsabend in „Wahnfried“ stärke. „Ich werde dahin nicht mitgenommen,“ schloß sie, „worüber ich aber gar nicht traurig bin.“

Sie waren inzwischen auf die Straße gelangt, wo Alfred den Regenschirm schützend über sie hielt.

„Wollen Sie so freundlich sein, mich in eine Buchhandlung zu begleiten, Herr Berger?“

Natürlich wollte er das, mit dem größten Vergnügen. Das gemeinschaftliche Aussuchen eines Buches für Fräulein Rosa war ein zu amüsantes Geschäft, als daß man es sehr schnell abgemacht hätte.

„Ach, ich will doch noch etwas für Max aussuchen,“ rief sie plötzlich voll Eifer. „Er sprach gestern von einer neuen Broschüre über ‚Parsifal‘, die er gern lesen möchte.“

[521]

Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Nr. 4.0 Die chinesische Panzercorvette „Ting Yuen“.

Die gegenwärtig im Hafen von Swinemünde vor Anker liegende Panzercorvette „Ting Yuen“ – „Der ewige Friede“ – welche für die chinesische Regierung auf der Werft der Stettiner Maschinenbau-Actiengesellschaft „Vulcan“ gebaut worden ist und neuesten Nachrichten zufolge in nächster Zeit nach den chinesischen Gewässern abgehen wird, ist ein so hervorragendes Werk deutschen Gewerbfleißes und deutscher Kunst, daß wir wohl mit gerechtem Stolz auf dasselbe blicken können. Mit dieser Panzercorvette hat sich die deutsche Schiffsbaukunst mit einem Mal ebenbürtig an die Seite der berühmten Schiffsbauwerften Englands und Amerikas gestellt, wie dies nicht nur von ersten fachmännischen Autoritäten Deutschlands, sondern auch Frankreichs anerkannt worden ist.

Der „Ting Yuen“ ist das erste größere, auf einer deutschen Werft gebaute Kriegsschiff, welches für das Ausland bestimmt ist. Es entspricht den für die deutsche Reichsmarine gebauten Panzercorvetten der sogenannten Sachsenclasse und hat folgende Dimensionen: 91,000 Meter Länge in der Wasserlinie, 18,300 Meter in der Breite, 6,000 Meter Tiefgang und 7355 Tonnen à 2000 Kilogramm Rauminhalt (Deplacement). Die Maschine von 6000 indicirten Pferdekräften giebt dem Schiffe vermittelst eines Zwillingschraubenpaares eine Geschwindigkeit von 15,386 Seemeilen in der Stunde, während nach dem von der Gesellschaft „Vulcan“ mit der chinesischen Regierung abgeschlossenen Vertrage das Schiff nur eine Geschwindigkeit von l4,5 Seemeilen zu erreichen brauchte. Die contractliche Geschwindigkeit ist also um nahezu 1 Seemeile per Stunde überschritten worden, wie sich bei der zweiten Probefahrt der Corvette, die am 5. Juli von Eckernförde aus stattfand, herausgestellt hat. Acht große Kessel mit je drei Feuerungen erzeugen den erforderlichen Dampf von fünf Atmosphären Druck. Selbstverständlich ist die Maschine mit den neuesten Einrichtungen versehen. Die Armirung des Schiffes besteht in der Hauptsache aus vier Krupp–Geschützen von 30,5 Centimeter im Durchmesser, welche zu je zweien in einem Panzerthurm in der Art Aufstellung gefunden haben, daß jedes einzelne Geschütz fast den ganzen Horizont zu bestreichen vermag. Das einzelne Geschoß, welches mit einer Ladung von 90 Kilogramm prismatischen Pulvers abgefeuert wird, wiegt 329 Kilogramm.

Die chinesische Panzercorvette „Ting Yuen“.
Nach einem Modell.

Außer den genannten Geschützen schwersten Calibers befinden sich am Bord auf dem Vordertheil und auf dem Hintertheil noch je ein Krupp’sches Geschütz von 15 Centimeter Caliber und sechs Hotchkiß Revolvergeschütze (vergl. „Gartenlaube“ Nr. 13), letztere zur Abwehr von Torpedo-Angriffen bestimmt. Um selbst Torpedos abschießen zu können, besitzt das Schiff vier Torpedolancir-Apparate. Die Torpedos sind von der Berliner Maschinenbau-Actiengesellschaft (vormals L. Schwarzkopf) geliefert. Diese Fabrik fertigt diese gefährlichste aller Waffen im Seekriege aus Phosporbronze, einer Metalllegirung, welche bei größter Zähigkeit den Vortheil des Nichtoxydirens besitzt, während die aus Stahl hergestellten Torpedos leicht rosten und demzufolge bei ihrem complicirten Mechanismus leicht unbrauchbar werden. Durch einen 36 Centimeter starken Stahl- und Eisenpanzer sind die Maschinen, Kessel und die Geschützmannschaften gegen die feindlichen Geschosse geschützt. Ein vollständiger in viele kleine Zellen eingetheilter Doppelboden ist dazu bestimmt, das Schiff bei Verletzungen der Außenhaut, seien solche durch einen Torpedotreffer oder durch ein unglückliches Stranden verursacht, am Sinken zu verhindern.

Das Material des Schiffes ist durchweg deutschen Ursprunges. Das Eisen stammt aus deutschen Bergwerken, die Stahl und Eisenplatten des Panzers hat die Dillinger Hütte geliefert, und der „Vulcan“ hat seine Ehre darein gesetzt, in der ganzen Ausführung des Baues das Vorzüglichste zu leisten. Die innere Einrichtung entspricht derjenigen, welche auf den deutschen Kriegsschiffen üblich ist; sie ist einfach, entbehrt aber keineswegs der Eleganz. Die Räumlichkeiten für Capitain, Officiere und Mannschaften sind bequem und sehr gut ventilirt. Hierzu trägt die in allen Theilen des Schiffes eingerichtete elektrische Glühlicht-Beleuchtung nicht wenig bei.

Der „Ting Yuen“ wurde im Januar 1881 von dem kaiserlich chinesischen Gesandten in Berlin bei der Stettiner Actiengesellschaft „Vulcan“ zu Bredow bei Stettin in Bestellung gegeben. Am 28. December desselben Jahres fand bereits unter regster Theilnahme Seitens der Mitglieder der deutschen Reichsbehörden und des Publicums der Stapellauf des Schiffes statt. Am 2. Juni erfolgte die schon obenerwähnte Probefahrt in Eckernförde, welche den Beweis lieferte, daß die neue Panzercorvette die Panzerschiffe aller maritimen Mächte von annähernd gleicher Größe an Offensivkraft und Defensivkraft übertrifft und an Schnelligkeit vielleicht nur von dem englischen Panzerschiffe „Agincourt“ übertroffen wird, das, allerdings um die Hälfte größer, in einer Stunde 15,430 Seemeilen zurücklegt. Am 7. Juni lief der „Ting Yuen“ wieder in den Hafen von Swinemünde ein.

Zum chinesischen Commandanten des Schiffes war der Capitain zur See Loo bestimmt, der mit dem früheren französischen See-Officier Prosper Giquel, dem Erbauer des Marine-Arsenals zu Fucheu, der zweiten Probefahrt in Eckernförde beiwohnte, bei welcher der Geschwaderchef der deutschen ostasiatischen Flottenstation, Capitain zur See Freiherr von der Goltz, als unparteiischer fungirte. Während der Bauzeit des Schiffes waren auf dem „Vulcan“ eine beträchtliche Anzahl dahin commandirter chinesischer Officiere und Ingenieure mit Erfolg beschäftigt, mit der Handhabung aller Schiffseinrichtungen sich vertraut zu machen.

Ursprünglich sollte der „Ting Yuan“ durch Officiere und Mannschaften der deutschen Reichsmarine nach China überführt werden; in Folge der kriegerischen Verwickelungen zwischen Anam, dessen souverainer Staat China ist, und Frankreich hat die deutsche Reichsregierung, welche die stricteste Neutralität zu wahren bestrebt ist, davon Abstand genommen, und das Schiff wird nunmehr voraussichtlich unter deutscher Nationalflagge von deutschen Kauffahrteimannschaften, die von dem chinesischen Gesandten geworben worden sind, nach China überführt werden. Inzwischen hat die chinesische Regierung, die von der vorzüglichen Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit der Panzercorvette sich überzeugt hat, ein Schwesterschiff des „Ting Yuen“ und außerdem ein Panzerschiff anderer Construction, sowie einen großen Dampfbagger und einen Krahn, welcher Lasten bis zu 1200 Centner heben kann, bei dem „Vulcan“ in Bestellung gegeben. Und so ist denn wohl zu erwarten, daß künftig auch in den chinesischen Meeren Zeugniß von deutscher Thatkraft und deutscher industrieller Tüchtigkeit abgelegt werden wird. H. Steinitz.     




Es war wirklich nicht hübsch von ihr, den Vetter gerade jetzt, da sie ihn während der letzten halben Stunde vergessen zu haben schien, in solchem fürsorgenden, liebevollen Tone zu erwähnen. Sie mußte doch wissen, daß das für Alfred unangenehm sei.

Er zog sich denn auch sofort verstimmt in den Hintergrund des Ladens zurück und blätterte mechanisch in den dort aufgestellten Büchern, da er keine Lust hatte, für „Max“ etwas finden zu helfen. Er griff nach einem Bändchen in Goldschnitt – Mirza Schaffy’s liebliche Dichtungen – und schlug ein kleines Gedicht auf, das ihm alle diese Tage in den Ohren geklungen hatte, ohne daß er sich des Wortlautes genau erinnern konnte.

Da standen sie, die sechs Zeilen, die den glühenden Wunsch seines Herzens so duftig-zart ausdrückten; er las sie mit brennenden Augen wieder und wieder. Rosa mußte ihn dabei schon einige Zeit beobachtet haben, denn sie sagte plötzlich:

„Darf man fragen, was Sie so eifrig lesen?“ indem sie hinter ihn trat, um über seine Schulter in das Buch zu sehen. Noch ehe sie dazu gelangt war, schlug es der junge Mann hastig zu und steckte es an seinen Platz zurück.

„Solch ein Geheimniß machen Sie aus Ihrer Lectüre?“ lachte sie. „Wenigstens will ich mir den Verfasser ansehen. Es war dieses Bändchen hier, in rothgoldenem Einband; ich habe genau Acht gegeben, als Sie es fortlegten.“

Draußen vor dem Laden kam ihnen unerwartet der Commerzienrath entgegen. Der alte Herr, welcher für Alfred große Vorliebe gefaßt hatte, entführte ihn zu einem Frühtrunk und versuchte nun bei einem ausgezeichneten Spatenbräu den Referendar zu bewegen, daß er mit der Familie Jung von Bayreuth aus die Ausstellung in Nürnberg besuche.

„Hillmann und ich werden uns, als Geschäftsleute, auf der Ausstellung und auch in den Nürnberger Fabriken manches sehr [522] genau ansehen mussen,“ bemerkte er. „Sie könnten sich ein großes Verdienst erwerben, wenn Sie inzwischen meine Damen etwas beschützten. Und die Abende verbrächten wir dann gemeinschaftlich und vergnügt.“

„Wenn man nur endlich einmal wüßte, was es mit diesem Max Hillmann für eine Bewandtniß hat!“ dachte Alfred, und frug in anscheinender Verwunderung:

„Ist Herr Hillmann Kaufmann? Ich hielt ihn für einen Musiker von Fach.“

„Hahaha! Wirklich? Das wird Rosa amüsiren, die immer behauptet, er habe etwas von einem Künstler an sich. Nein, da haben Sie sich getäuscht! Er ist ein tüchtiger Kaufmann, jetzt nach Procurist und nächstens Theilhaber meines Geschäftes. Ein lieber, braver Mensch, mit einem Herzen wie ein Kind. Nur so lange er bis über die Ohren im Wagner-Cultus steckt, ist er nicht zu gebrauchen. Ich weiß nicht recht, ob meine Frau ihn damit angesteckt hat, oder er sie. Wenn ich ihn erst wieder in Berlin hinter seinem Pulte habe, ist er ganz vernünftig und zugänglich.“

Alfred zuckte zusammen bei dem leicht hingeworfenen „nächstens“, das ihm von der ganzen Rede allein noch in den Ohren klang. „Nächstens“ bedeutete natürlich: sobald er der Mann meiner Tochter wird! Diese Heirath war jedenfalls eine längst beschlossene, praktische, solide Verbindung auf geschäftlicher Grundlage, und der lange, blonde Max pflückte sein Rosenknöspchen, das sich, allem Anschein nach, nicht ungern von ihm pflücken ließ, mit der größten Gelassenheit und Seelenruhe.

Jetzt stand der Entschluß bei ihm fest, Bayreuth sofort zu verlassen, und in der That traf er am Abend die wenigen Vorkehrungen zur Abreise mit dem Nachtzuge.

Nach Einbruch der Dunkelheit hörte er zahlreiche Wagen unten vor seinen Fenstern vorbeirollen und erinnerte sich, daß jetzt die zum Empfang Geladenen vermutlich nach dem „Wahnfried“ fuhren.

Ob Rosa wohl in der That allein im Hôtel gebliehen war? Er nahm seinen Hut und begab sich, um ein Restaurant für sein Abendessen auszusuchen, auf die Straße. – Richtig, die zwei Fenster im ersten Stock des Hotels waren erleuchtet!

Und welcher Liebende an seiner Stelle hätte da der uralten, ewig neuen Versuchung widerstehen können, nach dem Schatten der Geliebten zu spähen? Vorläufig war jedoch nichts davon zu entdecken. Sie mochte wohl, in ihr Buch vertieft, in der Mitte des Zimmers am Tisch sitzen. Nach einer langen Zeit vergeblichen Harrens wanderte er weiter, verzehrte melancholisch in der Ecke eines lärmenden Wirthshauszimmers sein einsames Mahl und begab sich dann auf den Heimweg.

Sein Blick fiel im Vorübergehen auf das erleuchtete Fenster eines Blumenladens, in dem ein ganzes Bouquet frischer, zarter Moosrosenknöspchen prangte. Mit einem unwillkürlichen raschen Entschluß trat er hinein, kaufte den duftenden Strauß, eilte nach der „Sonne“ und übergab ihn hastig dem lächelnden Portier, mit der Weisung, ihn sofort auf Zimmer Nr. 2 zu Fräulein Jung zu tragen.

„Sie mag errathen, daß es mein Abschiedsgruß ist,“ dachte er dabei. Dann eilte er nach der gegenüberliegenden Seite der Straße. Er erkannte am Schatten, wie sich Jemand in dem erleuchteten Zimmer erhob, wahrscheinlich auf das Klopfen des Portiers hin. – Jetzt mußte sie die Thür geöffnet – jetzt die Blumen in Empfang genommen haben, denn der Portier war schon wieder in dem hellen Thorweg erschienen. Es vergingen einige Minuten, in denen sich der Schatten lebhaft hin- und herbewegte. Dann verdunkelte er auf einmal das Fenster, und jetzt – jetzt konnte Alfred deutlich in dem erleuchteten Rahmen die Umrisse einer schlanken, weiblichen Gestalt wahrnehmen, die nach der dunklen Straße hinaus zu blicken schien. Er verharrte unbeweglich auf seinem Platz, ohne zu wissen, wie lange er so hinaufgeschaut hatte. Endlich wandte sich die Gestalt ab, und er fühlte sich zusammenschauernd allein in der feuchten, kalten Nachtluft.

Hatte er sie jetzt wirklich zum letzten Mal gesehen? In der nächsten Stunde schon sollte ihn eine immer wachsende Entfernung von ihr trennen? Was hinderte ihn denn, ihr morgen noch die Hand zum Abschied zu drücken und dann erst zu scheiden? Es kam ihm plötzlich so sonderbar und auffallend vor, wenn er ohne persönlichen Abschied den Familienkreis verließ, der ihn so freundlich aufgenommen hatte. Er sagte sich, daß es viel männlicher sei, ein letztes Zusammensein mit Rosa, ein mündliches Lebewohl gefaßt und äußerlich ruhig zu ertragen, als feige zu flüchten.

Lange zögerte er am nächsten Vormittag, ehe er den schweren Gang zu dem Abschiedsbesuch antrat. Unten im Thorweg der „Sonne“ stand der dicke Commerzienrath, die Hände in den Taschen, plaudernd mit Max Hillmann zusammen.

„Morgen, morgen, Herr Berger! Nun sagen Sie mir, warum Sie sich gestern nicht wieder blicken ließen? Sie waren doch nicht unwohl? Erbärmlich blaß sehen Sie allerdings aus,“ rief er Alfred besorgt und freundlich entgegen.

„Danke, Herr Commerzienrath, nein, ich bin ganz wohl. Aber ein Brief von zu Hause, den ich gestern erhalten habe, nöthigt mich –“

„Was, Sie haben doch nicht etwa betrübende Nachrichten von Ihrer Familie?“

In diesem Augenblicke öffnete sich in der ersten Etage ein wohlbekanntes Fenster, Fräulein Rosa’s blondes Köpfchen beugte sich aus demselben hervor und nickte freundlich grüßend zu Alfred hinunter, der seinerseits im Hinaufschauen fast den Gruß vergaß.

„Ach, hör’ mal, Röschen, habe ich nicht den Brief von meiner Frau oben bei Euch liegen lassen?“ rief da plötzlich Max Hillmann neben ihm vernehmlich hinauf. „Bitte, sieh doch nach, er muß auf dem Tische liegen,“ versuchte er noch hinzuzufügen, aber das Fenster war jäh zugeschlagen worden und das Gesicht von Fräulein Rosa spurlos verschwunden.

Vor Alfreds Augen flimmerten und tanzten die Häuser des Rennweges bunt durch einander, während er den Commerzienrath sagen hörte:

„Hat Deine Frau heute Morgen geschrieben? Wie geht es dem Jungen? Hat er glücklich seinen Zahn?“

Dann klopfte er Alfred liebevoll auf die Schulter:

„Nein, sagen Sie doch, lieber Berger, haben Sie wirklich etwas Betrübendes von zu Hause gehört? Doch nicht eine Erkrankung –“

„Ganz im Gegentheil, Herr Commerzienrath,“ brach jetzt Alfred endlich mit einem so strahlenden Gesicht los, daß ihn die beiden Herren erstaunt von der Seite ansahen. „Im Gegentheil, ich habe die besten, angenehmsten, erfreulichsten Nachrichten, die ich wünschen kann. Es geht Alles sehr gut, ganz ausgezeichnet, wirklich wundervoll!“

„Desto bester, lieber Freund. Freut mich sehr, zu hören. Aber warum kamen Sie gestern nicht?“

„Weil ich mich verirrt hatte, bester Herr Commerzienrath. Ich begreife jetzt selbst nicht mehr, wie es geschehen konnte, aber ich war in der That auf eine ganz falsche Spur geraten.“

„In dem kleinen Bayreuth verirrt?“ frug Max Hillmann ungläubig.

„Jawohl, in Bayreuth, Herr Hillmann. Können Sie es glauben? Ich weiß gar nicht, wo ich Augen, Kopf und Ohren gehabt haben muß.“

Es war ein behagliches, durch Heiterkeit gewürztes Mahl, das die drei Herren vereinte, während die Damen wegen eines leichten Unwohlseins der Frau Commerzienräthin auf ihren Zimmern blieben, um ihre Kräfte für die letzte Vorstellung zu schonen. Alfred, der heute von Lebenslust und Frohsinn übersprudelte, fand plötzlich großes Wohlgefallen an dem stillen, ernsten Max Hillmann, mit dem er bisher stets nur die unumgänglichsten Höflichkeitsphrasen gewechselt hatte. Namentlich schien er sich für dessen intimere Familienverhältnisse merkwürdig zu interessiren, denn er brachte das Gespräch alle Augenblicke auf „Frau Hillmann“, oder: „Ihr Söhnchen, Herr Hillmann.“

Klopfenden Herzens stand Alfred vor dem Hôtel an dem Wagen, der ihn und die Familie Jung zum letzten Male in das Bühnenweihfestspiel fahren sollte, und erwartete den Moment, da Rosa ihm nicht länger ausweichen konnte. Sie kam hinter der Mama die Treppe herab, versenkten Auges, liebliche Verwirrung auf dem reizenden Gesichte. An ihrer Brust leuchtete aus dem Spitzenschmucke ihres Kleides ein Sträußchen frischer Rosenknospen hervor, die Alfred mit geheimer Freude nur zu wohl erkannte. Welche Fertigkeit haben schöne junge Mädchen darin, mit halbgeschlossenen Lidern zu verharren, den Blick, der sie sucht, standhaft zu vermeiden, und doch vermutlich Alles zu sehen, was um sie vorgeht!

[523] Man saß wieder drinnen im Theater, umgeben von brausendem Stimmengewirre. Noch war Alfred weder Blick noch Wort von seiner Nachbarin zu Theil geworden, die, halb abgewandt von ihm, mit der Mama im Gespräche war. Er sah, daß sie noch bemüht war, die unzähligen Knöpfchen des eleganten Handschuhes an ihrer linken Hand zu schließen.

„Wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen zu helfen?“ fragte Alfred.

Sie reichte ihm folgsam, wortlos den Arm hin, der ein wenig zitterte, und während er, über denselben gebeugt, ziemlich ungeschickt die angebotene Hülfe zu leisten suchte, begann er, um einen Anknüpfungspunkt verlegen, in unsicherem Tone:

„Fräulein Rosa“ – so hatte er noch nie gewagt sie anzureden – „ich bin Ihnen noch die gestern verweigerte Auskunft über das bewußte Gedicht schuldig. Mögen Sie noch wissen, was es war?“

„Nun wohl?“ erwiderte sie leise.

Sie kennen ohne Zweifel die reizenden Zeilen Mirza Schaffy’s: ‚Neig’, schöne Knospe, dich zu mir –‘ seine gedämpfte, von verhaltener Bewegung zitternde Stimme stockte, als sie ihm rasch ihren Arm zu entziehen suchte. Zugleich aber schlug sie, halb widerstrebend, die Augen zu ihm auf in demselben Moment, da die Gasflammen im Hause verdunkelt wurden.

Wie ein einziger Sonnenstrahl hatte ihn ein verheißungsvoller, zärtlich-scheuer, seliger Blick getroffen, ehe er in dem plötzlich eintretenden Dunkel erlosch. Einen Ausruf des Jubels gewaltsam zurückdrängend, haschte er nach ihrer rechten, noch unbedeckten Hand und beugte sich tief hinunter, um seine Lippen in heißem Kuß darauf zu drücken.

In der Pause nach dem Schluß des Actes war es höchst merkwürdig, wie schnell Fräulein Rosa Jung und Herr Alfred Berger in der Abenddämmerung draußen durch das Menschengewühl von dem übrigen Theile der Gesellschaft getrennt wurden. Als sie nach Verlauf einer guten halben Stunde endlich wieder auf die besorgten Eltern und Vetter Max stießen, nach denen sie natürlich die ganze Zeit über eifrig gesucht hatten, glühten ihre Wangen und ihre Augen strahlten in ungewöhnlichem Glanze. Ob er inzwischen die übrigen Zeilen des Gedichtes recitirt hatte? Ob er ihr dann eine beredte Schilderung von der Seelenqual der letzten Tage entworfen? – Ob sie behauptete, ganz unschuldig an seinem Irrthum wegen Vetter Max zu sein, oder ob sie ihm gestanden, daß sie eine kleine Bestrafung des Verbrechens am ersten „Parsifal“-Abend für unumgänglich nothwendig gehalten habe?

Mit Sicherheit läßt sich nichts darüber behaupten. Wohl aber darf man berichten, daß Alfred Berger am nächsten Morgen in Begleitung der Familie Jung nach Nürnberg reiste, nachdem er vorher dem Herrn und der Frau Commerzienrath eine feierliche und inhaltschwere Visite abgestattet hatte, deren Erfolg zierlich bedruckte Karten für die gesammte Verwandt- und Freundschaft zweier bald in engste Verbindung tretenden Familien nothwendig machte.

So war es geschehen bei der Bayreuther „Parsifal“-Aüfführung im vorigen Jahre. Wir dürfen es dem Leser wohl verraten, daß bei dem diesjährigen Bühnenweihfeste in Bayreuth einzelne Familien-Scenen des vorigen Jahres im Zuschauerraume sich wiederholten. Wieder saß eine ältere Dame mit der „Parsifal“-Partitur da, und abermals neben ihr ein junges Paar, welches, auf seiner Hochzeitsreise begriffen, es nicht versäumen wollte, „Parsifal“ als seinem Ehestifter seine dankbare Huldigung darzubringen, und zwar zum stillen Entzücken der Frau Mama, welche das stolze Bewußtsein im Busen trug, dem Genius Richard Wagner’s zwei ewig treue Verehrer gewonnen zu haben.




Bilder von der Ostseeküste.

3.00Land und Leute in Kurland.

Ein schmucker Dampfer trägt uns leicht durch die grünen Wellen der Ostsee nach dem Norden. Schon haben wir Memel, die letzte größere Stadt des deutschen Reiches, hinter uns, schon sind die durch ihre sonderbaren Namen jedem Reisenden auffallenden russisch-preußischen Grenzorte Nimmersatt und Immersatt, schon ist Polangen mit seinen noch jungen Bade-Anlagen und seiner Bernsteinfabrik passirt; wir fahren bei herrlichem Wetter und günstigem Wind in russischem Gewässer längs der waldbesäumten kurischen Küste; der wettergebräunte, stumme Mann am Steuer hält steil auf Nord. Da tauchen fern am Horizonte, von den Strahlen der Nachmittagssonne beglänzt, Thurmspitzen und langsam kreisende Windmühlenflügel auf; einige bleiche, verstörte Gestalten, die trotz der günstigen Fahrt doch dem erderschütternden Beherrscher der nassen Pfade ihren Tribut gezollt, erscheinen unsichern, zögernden Schrittes und schauen mit Sehnsucht nach dem Endpunkt ihrer Leiden aus; ein Lootse klimmt an Bord und führt uns glücklich über die Barre und durch die scheerenartig in’s Meer vorspringenden Molen in den Hafen der „Wunderstadt“ Libau.

Langsam schwebt unser Steamer an dem schlanken, gußeisernen Leuchtthurm, an dem unförmlich dicken Lootsenthurm, auf dem unsere Ankunft schon signalisirt ist, vorbei und hält vor dem neuen stattlichen Zollgebäude. Bald sind die unerläßlichen Zollmanipulationen vorbei; wir haben keine unziemliche Quantität von Branntwein und Tabak, keine Spielkarten, keine Seidenkleider, auch keine verbotenen Schriften eingeschmuggelt, unser Paß ist in Ordnung, Petroleum und Dynamit führen wir nicht – so bleibt uns noch volle Muße, die seit einigen Jahren auch in Deutschland vielgenannte „Wunderstadt“ zu besehen.

Wir erinnern uns der prophetischen Geringschätzung, mit der der deutsche Reichskanzler ihr vor wenigen Jahren eine gedeihliche, für die ostpreußischen Hafenplätze gefahrdrohende Entwickelung kurzweg absprach, wir halten dagegen die früher immer wiederkehrenden Memoriale und Denkschriften der Memeler und Königsberger Kaufmannschaften, die mit banger Sorge von der unheimlich steigenden Concurrenz Libaus reden, und finden beim Anblick des mit dichtem Mastenwald besetzten, neu ausgebauten Hafens, der kolossalen, neu errichteten Speicher, des bergehoch auch auf den Quais aufgethürmten Getreides und des ameisenartigen Gewimmels die Sorge der letztern nicht unbegründet.

Ein einheimischer Freund, der uns erwartet, bestätigt unsere Wahrnehmungen und fügt mit stolzer Freude hinzu, daß in dem letzten Decennium die Einwohnerzahl der Stadt um’s Dreifache (von 10,000 auf 30,000), der Handelsumsatz, der jetzt 44 Millionen Rubel betrage, um’s Zehnfache, die Zahl der auslaufenden Schiffe (gegen 2000) um’s Fünffache gestiegen sei. „Freilich,“ sagt er und kratzt sich dabei etwas unbehaglich hinter dem Ohre, „wir haben auch unsern Krach gehabt, große Handelsfirmen und Banken sind gefallen, der Credit unseres Platzes war zeitweise erschüttert, das Speculationsfieber, das vor vier Jahren hier Jung und Alt, Arm und Reich erfaßte, hat seine Opfer gefordert“ – hier hustete er etwas –; „das amerikanische Wachsthum der Stadt, das uns so überraschend kam, hat manchen Schaden im Gefolge gehabt, und der Uebergangszustand von der Kleinstadt zur Großstadt“ – hier reckte er sich unwillkürlich – „hat seine Schattenseiten, aber wir sehen doch getrost in die Zukunft. Haben wir doch unsern prächtigen, eisfreien Hafen – die Barre vor demselben ist allerdings etwas eklig,“ flüsterte er mir in’s Ohr, „doch das wird sich machen lassen – und wenn während des langen Winters unsere baltischen, finnischen und russischen Nachbarhäfen vom Eise blockirt sind, bilden wir die einzige Seepforte des großen russischen Reiches an der Ostsee – denn was will Windau sagen!“ meinte er achselzuckend – „und führen auf langem Schienenstrange aus der Kornkammer Rußlands immense Massen Getreide uns und dem Auslande zu.“ Hier unterbrach ich seinen handelspolitischen Vortrag und bat ihn, mir die Stadt ein wenig zu zeigen. Dazu erklärte er sich denn auch bereit, und so wurde bald ein „Furio angehoit“, das heißt eine Droschke herangerufen.

Langsam fuhren wir durch die wogende Menschenmasse des Quai hinauf, mein Freund zeigte mir mit sichtlicher Genugthuung die beiden neuen stattlichen Hafenbrücken, von denen die eine dem Stadtverkehre, die andere der Eisenbahn dient; dann bogen wir, die Speicher, den Hafen und die ganze Welt Mercur’s hinter uns lassend, in Libaus Hauptverkehrsader, die „große Straße“, ein, und mein ortskundiger, patriotischer Führer zeigte mir die verschiedenen

[524]

BLICK AUF DIE OSTSEE. SEEBAD LIBAU. ELEN. LEUCHTTHURM VON LIBAU.
BEI POLANGEN. Rob Aßmus LEUCHTTHURM VON LIBAU AUS. FISCHERHAUS.
ALTES HANSASCHIFF. H Kaeseberg & K. Oertel X.I. E. Paul [Lc] DAS SCHLOSS IN MITAU. WALDKRUG MEIRISCHKEN.

Bilder von der Ostseeküste. 03.0 Libau und Umgebung.
Für die „Gartenlaube“ nach der Natur gezeichnet von Robert Aßmus.

[525] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [526] Kirchen (deutsch-lutherische, lettisch-lutherische, polnisch-katholische, russisch-griechische) und die Synagoge, das neue Bankhaus, die vielen zum Theil recht geschmackvollen privaten Neubauten der letzten Jahre, machte mich auf die reinlichen Märkte, die asphaltischen Trottoirs, die vielen in der Stadt trotz aller Bauwuth noch erhaltenen Gärten aufmerksam und rief endlich dem Kutscher zu: „nach den Anlagen!“

Durch eine hübsche junge Anpflanzung, die, dichtbesäet mit bald niedlich kleinen, bald anspruchsvoll decorirten Villen mit allen möglichen und unmöglichen fremdländischen Namen und allen möglichen und unmöglichen fremdartigen Stilarten, den Eindruck einer lebensfrohen Villeggiatur macht, führt uns der Rosselenker in das Nicolaibad, wo wir uns mit einem kräftigenden Seebad bei herrlichem Wellenschlag stärken. Dann schlendern wir in dem festen, weißen Ufersande durch eine fröhliche und geputzte Menge von Badegästen und Einheimischen zum stattlichen Curhause, auf dessen Terrasse wir unter den Klängen der wohlbesetzten Badecapelle, vor uns die göttliche Salzfluth, rechts „der Schiffe mastenreicher Wald“, links das bunte Badeleben, Platz nehmen. Ein schwarz befrackter Tschelowjäk (Kellner) bringt uns eine Flasche edeln Rheinweins, mein redseliger Cicerone lehnt sich behaglich zurück, räuspert sich und beginnt:

„Libau, lettisch Lepaja, die Lindenstadt, auf der schmalen, fast zwei Meilen langen Nehrung zwischen der ‚offenbaren‘ See und dem kleinen See, erhielt seine Stadtrechte 1625 durch Herzog Friedrich, seinen jetzigen Hafen 1697 durch Herzog Friedrich Casimir auf die Bitten der ‚Ehrsamen und Weisen, auch Ehrbaren, Unseren lieben Getreuen, Bürgermeister, Voigt, Rath, Eltermann, Eltesten und gantzen Kaufmannszunft‘. Das Curhaus, vor dem wir sitzen, mit den Anlagen ist wie so Vieles in unserer guten Stadt das Werk des für ihr Wohl unermüdlich thätigen Altermann’s der großen Gilde Ulich, der vor wenigen Jahren in hohem Greisenalter ge– Aber Du hörst ja gar nicht,“ unterbrach er etwas gekränkt seinen Führersermon. Statt aller Entschuldigung wies ich schweigend auf das bunte Treiben um uns her: hier eine Schaar lustwandelnder, dunkeläugiger, lebhaft conversirender Polinnen mit ihren eleganten Cavaliers, dort am Tische eine Gruppe blonder, hochgewachsener kurischer Edelleute mit ihren nicht minder blonden und hochgewachsenen Damen; unten am Strande promenirende Flottschiks (Flottenofficiere), schleppfüßig einherwandelde, tabakkauende holländische und englische Schiffscapitaine, dazwischen muntere Kinder mit ihren französischen und englischen Bonnen, hier lustige Gymnasiasten, dort hinter einer ungezählten Batterie von Bierflaschen dörptsche „Bursche“ mit ihren bunten Farbendeckeln – und das summte zwischen dem Rauschen des Meeres und den Tönen der Musik so vielsprachig, so lebensfroh durch einander: hier ein akademischer Witz mit viel Behagen in der vollkräftigen, barschen kurischen Mundart vorgetragen und von homerischem Gelächter begleitet, dort polnisches Liebesgeflüster, hier französische und englische Mahnworte an die lieben Kleinen, dort ein kräftiger russischer Fluch, im Hintergrunde lettischer Wortwechsel oder unverständlich jüdisch-polnisch-litauisch-deutscher Jargon der Kutscher – kurz, es war ein so babylonischer Wirrwarr von Sprachen und Nationalitäten, dabei ein so buntes Bild allseitigen Wohlbehagens und frohen Lebensgenusses, daß mein Freund seinen historischen Notizenkram schleunigst einsteckte und mir verständnißinnig zunickte: „Ja, ja, unser Libau ist ein fideler Ort.“

Die Wahrheit dieser psychologisch feinen Bemerkung bestätigte sich denn auch im weiteren Verlaufe des Abends vollkommen, und als wir nach längerem Verweilen durch die ambrosische Sommernacht, deren klare, reizvolle Schönheit nur der Nordländer kennt, in die Stadt zurückkehrten, scholl uns noch von überall her Musik und frisches Leben entgegen. Unter den Klängen einer heiteren Musik aus dem Hôtelgarten gaukelte mich denn auch Morpheus in die lieblichsten Träume.

Am anderen Morgen fuhr ich nach Mitau. Die Eisenbahnlinie führt durch fruchtbare, wohlgepflegte Ländereien mit oft unabsehbar großen wogenden Getreidefeldern, schönen Waldungen, die sich leider immer mehr lichten, vorbei an stattlichen Edelhöfen und strohgedeckten wohnlichen Gesinden (Bauernhäusern). Letztere sind auch in ihrem Aeußeren bedeutend von den oft noch armseligen Behausungen der Bauern in Esthland und esthnisch Livland verschieden.

Hier in Kurland finden wir überall Schornsteine auf den meist noch strohgedeckten Dächern, die Fenster sind größer und zahlreicher, manche Gesinde sind mit einem Garten umgeben – kurz, das Ganze macht einen behaglichen, behäbigen Eindruck. Bietet die Gegend auch gerade keine landschaftlichen Reize, so ist doch ein Abstecher von Preckuln, der zweiten Station hinter Libau, in die sogenannte „kurische Schweiz“, das heißt die Gegend von Amboten, nicht ohne Genuß, namentlich wenn man den Zweck hat, sich Land und Leute etwas genauer anzusehen, als dies auf einer Eisenbahnfahrt möglich ist.

Eine Fußpartie in diese Gegend ist namentlich für den Sonntag zu empfehlen, wo von allen Seiten festlich geputzt, zum Theil noch in schmucker Volkstracht, zu Roß, zu Wagen und zu Fuß das lettische Landvolk zur Kirche zusammenströmt, und angenehm überrascht schweift das Auge des Wanderers, der aus dem Wald auf der Höhe zur Lichtung tritt, über das sanft gewellte Terrain mit seinen weiten Getreidefeldern, saftigen Wiesen und herrlichen Wäldern; vor uns liegen das alte Ordensschloß Amboten auf stolzer Höhe, unweit davon, ebenfalls auf einem Hügel, weit in’s Land schimmernd die Kirche und rings vereinzelt, aber in einer für kurische Verhältnisse geringen Entfernung eine Menge wohlgepflegter, stattlicher Edelhöfe.

Eine kurze Strecke führt uns die Eisenbahn durch litauisches Gebiet (Gouvernement Kowno), das sich sofort durch die hohen Kreuze und Heiligenbilder an den Straßen und Dörfern als ein katholisches Land von dem streng lutherischen Kurland abhebt; bei Moscheiki biegen wir nach Nordosten und befinden uns bald wieder im echten, rechten, unverfälschten „Gottesländchen“, wie die Kurländer ihre Heimath so gern nennen. Die frühere Residenz desselben, Mitau, ist zunächst das Ziel unserer Reise.

Sofort fällt uns der Unterschied zwischen dem kürzlich verlassenen Libau und dem eben betretenen Mitau auf. Jenes eine moderne, aufstrebende und aufsteigende Handelsstadt mit frisch pulsirendem Leben – dieses eine an alten Erinnerungen aus herzoglichen Zeiten reiche, ruhige Beamten- und Literatenstadt, die mit Ausnahme der namentlich in früheren Jahren sehr bewegten Marktzeit um Johanni und der vom Landadel rauschend gefeierten Wintersaison wenig Leben bietet, und theils von der mächtig emporgeblühten benachbarten Metropole Riga erdrückt, theils von der jüngeren Schwesterstadt Libau an Bedeutung bei weitem überflügelt worden ist.

Früher war Mitau der Mittelpunkt des kurischen Lebens, und die glänzende Hofhaltung der kurischen Herzöge verlieh ihr namentlich in den Augen des Adels besonderen Reiz. Zwei Zeugen der herzoglichen Zeit, die mit der Einverleibung Kurlands in’s russische Reich (1795) ihren Abschluß bekam, wollen wir hier kurz erwähnen: das Gymnasium in der „Palaisstraße“ und das Schloß. Jenes, 1795 von dem letzten kurischen Herzoge Peter nach einem Entwurf des bekannten Philosophen Sulzer als Akademie gegründet, ist neben den Gymnasien in Libau und Goldingen die Hauptbildungsstätte des Landes, die nicht nur der kurischen Landesjugend, sondern auch zahlreichem Zufluß aus Polen und Lithauen die klassische Bildung vermittelt.

Das für eine so kleine Residenz und ein so kleines Land (Mitau zählt etwa 25,000 Einwohner, Kurland bei circa 500 Quadratmeilen gegen 700,000 Einwohner, enthält also an Flächeninhalt soviel wie Württemberg [355] und Hessen [140] zusammen, ohne die Bevölkerungsziffer dieses letzteren Landes [940,000] zu erreichen) großartig zu nennende Schloß, von dem schon Hippel in seinen „Lebensläufen“ sagt, daß es „so wenig Verhältniß zu dem übrigen Theil der Stadt habe, als das Mitausche Pflaster zur Regelmäßigkeit und Ordnung“, liegt, von hübschen Anlagen umgehen, etwas außerhalb der Stadt, am Ufer der Aa. Es wurde 1738 unter dem auch außerhalb der specifisch kurischen Geschichte bekannten Herzog Ernst Johann Biron durch Graf Rastulli, den Erbauer des Winterpalais in Petersburg, begonnen und unter großem Kostenaufwand nach vielen Stockungen in edlem Stil und kolossalen Dimensionen 1772 vollendet.

Das imposante Gebäude, ein stummer und doch beredter Zeuge früheren Glanzes, das, beiläufig bemerkt, auch Ludwig dem Achtzehnten zweimal zu mehrjährigem Aufenthalt (1798 bis 1800 und 1805 bis 1807) gedient hat, ist jetzt der Sitz verschiedener Behörden, und nur die Gruft mit den wohlerhaltenen [527] Leichen der Herzöge und ihrer Familienmitglieder zeugt noch von längst verschwundener Pracht.

Libau und Mitau sind die bedeutendsten Städte Kurlands; die übrigen sind von weit geringerer Größe und Bedeutung. Kurz mögen noch Goldingen, die frühere zweite Residenz, und Windau erwähnt werden; letzteres, an der Mündung der Windau gelegen, ist der zweite Seehafen Kurlands, dem durch gute Eisenbahnverbindung mit dem großen Reiche vielleicht noch ein ähnlicher Aufschwung bevorsteht wie Libau. Schon einmal hat Windau in der Geschichte Kurlands eine bedeutende Rolle gespielt. Hier hat nämlich Herzog Jakob (1642 bis 1681), glorreichen Andenkens, jener geniale Fürst, der zu groß für sein kleines Land war, eine Flotte von vierundvierzig wohlausgerüsteten, mit über vierzehnhundert Kanonen versehenen Kriegsschiffen und über sechszig Handelsschiffen gebaut, armirt und von Stapel laufen lassen; von hier aus fuhren die kurischen Handelsschiffe unter sicherem Geleit nach seinen Colonien und Factoreien an der Küste von Guinea und auf der Antillen-Insel Tabago; doch die Herrlichkeit dauerte nicht lange und die kurische Flagge, der schwarze Krebs auf rothem Grund, verschwand nach kurzer Existenz für immer aus den Gewässern des Weltmeeres.

Aber das echte kurische Leben spielt sich nicht im Schooße der Städte ab, sondern auf dem Lande, und kaum ein Fünftel der Bewohner Kurlands befindet sich in den Städten. Was Tacitus von den alten Germanen sagt: „Sie wohnen zerstreut und getrennt, wie gerade ein Quell, ein Feld, ein Gehölz zur Siedelung ladet“ – das paßt noch heute auf Kurland, das hierin mit Westfalen, dem Stammlande seiner meisten Adelsgeschlechter, Aehnlichkeit hat.

Dörfer sind hier unbekannt, mit alleiniger Ausnahme von Dondangen und der sieben Freidörfer der sogenannten kurischen Könige in der Goldingenschen Gegend, die schon seit der Ordenszeit 1320 in unabhängigem, erblichem Besitze ihrer bäuerlichen Ländereien sind und sich von den übrigen lettischen Bauern streng abscheiden und fernhalten. Schon Hippel sagt: „Ueberhaupt scheinen die Kurländer zu keiner Stadt Lust und Liebe zu haben. Sie gehören auf’s Land, wo sie auch Geschmack anzubringen wissen.“

Die Richtigkeit dieses letzteren Satzes bestätigt man gern, wenn man so stattliche und schön gehaltene Schlösser und Rittergüter wie Zieren, Katzdangen, Autz, Edwahlen etc. zu Gesicht bekommt. Sind auch nicht alle Güter so groß wie Dondangen am Eingang des Rigaschen Meerbusens, das mit seinen sechszehn Quadratmeilen das Fürstenthum Schwarzburg-Sondershausen übertrifft, freilich aber bei weitem nicht den zehnten Theil von dessen Einwohnern aufweist – so sind doch die meisten Güter von so respectablen Dimensionen, daß sie in Deutschland auffallen würden.

Hier auf den einsamen Edelhöfen, fern vom Getriebe der Städte und in innigem Zusammenleben mit der Natur des kalten, nordischen Klimas, entwickelt sich der Kurländer zu jener Originalität und Eigenartigkeit seines Wesens, die ihn ebenso sehr von der gesellschaftlich und diplomatisch feineren Art des Livländers, wie von der etwas sentimental und künstlerisch anlegten Natur des Esthländers unterscheidet und die uns in ihrer kraftvollen Unmittelbarkeit, in ihrer urwüchsigen Derbheit, in ihrer beinahe unerschöpflichen Lebenskraft an Gestalten längst verschwundener Zeiten gemahnt.

Wenn hier von Kur-, Liv- und Esthländern die Rede ist, so sind damit die baltischen Deutschen, die Nachkommen der zu Ordenszeiten und seither eingewanderten Colonisten zu verstehen, welche bei all ihrer unverbrüchlichen Loyalität und Treue gegen Rußlands Kaiser und Reich, dem sie politisch angehören, doch unentwegt durch die schlimmen Stürme der Gegenwart allezeit das Banner deutscher Sprache, deutschen Glaubens, deutschen Rechts und deutscher Sitte hochhalten. Allerdings fällt ihnen dies zumal in einer Periode des Nationalitätsschwindels einerseits und des zerfressenden Nihilismus und des herrschenden Uniformitätsprincips andererseits wahrhaftig nicht leicht.

Auch Kurland, das „Gottesländchen“, das einst und vor gar nicht langer Zeit durch das herzlich-patriarchalische Verhältniß der deutschen Gutsherren zu der eingeborenen lettischen Bauernbevölkernng, durch die stetige erfreuliche Entwickelung der letzteren in materieller und geistiger Wohlfahrt einen so erfreulichen Anblick gewährte, ist jetzt ein Tummelplatz wild entfesselter Leidenschaften geworden. Gewissenlose Volksverführer lassen es sich, leider oft mit nur zu viel Erfolg, angelegen sein, den ursprünglich guten und braven Sinn des Landvolkes zu vergiften. Und doch kann sich die kurische Bauernschaft, was Wohlstand und Sicherheit der Existenz anbetrifft, getrost neben jede Bauernschaft Deutschlands stellen, und das Aufblühen des Landvolkes in materieller wie in geistiger Hinsicht ist doch beinahe einzig und allein das Werk der von den Demagogen jetzt so angefeindeten Barone und Pastoren, deren kräftige, oft derb realistische Gestalten uns so prächtig von Hippel schon im vorigen Jahrhundert vorgeführt wurden. Besser als dieser hat die Kurländer Niemand ergründet; ja man braucht seinen Kurländern nur das Costüm der herzoglichen Zeiten auszuziehen und man hat den Kurländer, wie er jetzt noch leibt und lebt. „In den Kurländern,“ sagt ein baltischer Schriftsteller, Jul. Eckardt, „hat sich der baltische Typus am originellsten ausgeprägt.“ Die in unübertrefflicher Lebenswahrheit von Hippel geschilderte echt kurische Pastorin, die „von väterlicher Seite fünf, von mütterlicher Seite vier Ahnen aus dem Stamme Levi und darunter zwei Pröpste und einen Superintendenten, welcher über die Seelen zu regieren hat, wie der kurische Herzog über die Leiber“, aufzuzählen vermag; der humane und geistreich-derbe Gutsbesitzer, Herr von Geldern, sein Sohn, der nur für Pferde, Hunde und Jagd schwärmende Junker – das sind echt kurische, markige Gestalten, die dem Leser greifbar vor Augen stehen. Und es ist wohl nicht zufällig und bedeutungslos, daß Lessing seinen Tellheim, das Ideal stolzer Männlichkeit und Ehrenhaftigkeit, aus Kurland stammen läßt.

Des Kurländers Leidenschaft ist die Jagd, und stimmungsvoll hat der Künstler der obigen Bilder aus Kurland ein mächtiges Elenn, das stolze Jagdthier kurischer Wälder, wie es vorsichtig schnuppernd aus der Lichtung zur Tränke schleicht, mit aufgenommen. Und Hippel’s Jagdjunker, der „erst Gewehr, dann Bücher“ haben will, der mit aller Welt „Leib und Seel’, nicht Seel’ und Leib“ sagt (wie der Literatus), der mit seinem, zukünftigen Pastor für die Universität wie für das spätere Leben den Plan entwirft: „du studiren, ich jagen“ – ist auch heutzutage noch keine ausgestorbene Species.

Der Ruf der kurischen Jagdgründe und Universitätsfreundschaft mit kurischen Jagdfreunden hat ja auch den eisernen Kanzler in früheren Zeiten in dies Eldorado der Nimrode gelockt, das bis vor Kurzem noch wohl das letzte europäische Land mit „fliegender Jagd“ war, das heißt mit der Berechtigung des Adels, überall auch auf fremdem Grund zu jagen, sodaß ein solcher Jagdzug oft vom Unterland bei Libau beginnend bis Dünaburg einige hundert Werft durchmaß, einige Wochen dauerte und die kurische Gastfreiheit auf den Gütern stark in Anspruch nahm.

Von den deutschen Gutsbesitzern und Pastoren auf dem Lande hebt sich eine andere Gruppe deutscher Elemente, die der sogenannten Literaten, das heißt der Leute mit akademischer Bildung und gelehrtem Berufe in der Stadt, scharf ab. Stehen sich diese beiden Gruppen auch gesellschaftlich oft nur zu schroff und abweisend gegenüber, in der Liebe zum Lande und in dem Kampf für das Deutschthum stehen sie fest zusammen. Der Literat in Kurland ist eine ganz eigenartige Erscheinung, die in ähnlicher Weise sich kaum in den baltischen Schwesterprovinzen, Liv- und Esthland, noch viel weniger in Deutschland ausgeprägt findet. Schroff und „forsch“ im Auftreten, wohl vertraut mit Hieber und Pistole, birgt er unter oft rauher Hülle ein warmes, heißblütiges Herz,

Die Deutschen, welche als Vertreter der höheren Cultur bisher trotz aller Anfechtungen noch immer den ausschlaggebenden Theil der Bevölkerung bilden, sind numerisch allerdings schwach und werden nicht viel mehr als etwa ein Achtel der Gesammtbevölkerung ausmachen. Das Hauptcontingent der aus vielen Nationalitätssplittern (Russen, Weißrussen, Polen, Lithauern, Juden, Zigeunern, den letzten Resten der aussterbenden Liven und Kreewingen) zusammengesetzten Bevölkerung bilden die Letten, Dies Volk, neben den Lithauern (und den im siebenzehnten Jahrhundert ausgestorbenen Altpreußen) zur lithauischen Familie der indogermanischen Sprachengruppe gehörig und in seinem Idiom zwischen den deutschen und slavischen Sprachen, den letzteren jedoch näher stehend, umfaßt in Kurland, dem lettischen Livland und in der Diaspora kaum anderthalb Millionen. Aehnlich den czechischen, slavischen und magyarischen Consolidationsbestrebungen hat es seit [528] einigen Decennien der Traum eigener nationaler Größe erfaßt und in seinen Volksführern dem früher so eifrig gesuchten Germanenthum abhold gemacht.

Der Germanisationsproceß, der ungezwungen und als naturgemäßes Resultat der Einwirkung höherer Cultur bisher langsam aber stetig um sich griff, wird perhorrescirt und mit dem Slaventhum geliebäugelt, das die „Stammesbrüder“ natürlich mit offenen Armen aufnimmt, ohne aber auch nur im Entferntesten daran zu denken, ein specifisch lettisch-litauisches Volksthum zu fördern. Illusionen in dieser Richtung sind unmöglich, wenn man die Stellung des Russenthums zur litauischen Nation nur einigermaßen in’s Auge faßt. Doch dies erkennen die lettischen Streber nicht oder wollen es nicht erkennen und treiben so in süßen Hoffnungen auf eine dereinstige mächtige Entwicklung nationaler Eigenartigkeit unaufhaltsam dem Russenthum in ganz andere Arme, als die ihres nationalen Traumes.

Es sind dies Verhältnisse, die im Allgemeinen in Deutschland ziemlich unbekannt sind. Die lebendige Fühlung mit dem Mutterlande, die früher eine so innige und starke gewesen ist - man denke nur an die vielfachen Beziehungen deutscher Geistesheroen, wie Herder, Hippel, Haman, Kant etc. zu Kurland – hat mit der Einverleibung Kurlands in’s russische Reich (1795) bedeutend nachgelassen. Nach der Gründung der so rasch aufgeblühten baltischen Landesuniversität Dorpat (1802), diesem Entrepot und Vermittelungspunkt deutscher Cultur für den Osten, schickt Kurland seine Söhne nicht mehr auf deutsche Universitäten, wo sie z. B. in Königsberg, Jena, Göttingen etc. eigene starke Landsmannschaften bildeten. Die deutschen Pionniere an der Ostsee stehen allein in ihrem Ringen gegen die Uebermacht, in ihrem Kampf um die heiligsten Güter, dessen Verlauf und Ausgang allerdings das Herz jedes Deutschen mit banger Sorge erfüllen muß.

F. W.




Blätter und Blüthen.

Wie soll ich mich photographiren lassen? Die Photographie hat in unserer Zeit großartige Fortschritte gemacht, und sei es im Portraitfache, sei es zu technischen Zwecken oder im Dienste der Wissenschaft, immer ist sie im Stande, Vorzügliches zu leisten. Dem gegenüber ist das Publicum, welches den Photographen aufsucht, so ziemlich das alte geblieben und erschwert durch sein Benehmen dem modernen Lichtkünstler ungemein die Erfüllung seiner Aufgabe. Darum ist es wohl angezeigt, den Photographielustigen mit denjenigen Winken und Rathschlägen an die Hand zu gehen, durch deren Beachtung man ein gutes Bild – vorausgesetzt, daß man einen geschickten Photographen aussucht – sicher erzielen wird.

Die meiste Last erwächst dem Photographen – abgesehen von Kinderaufnahmen – durch die verehrlichen Vertreterinnen des schönen Geschlechts. Die Damen stellen oft Ansprüche an den armen gequälten Lichtkünstler, die zu erfüllen oder denen nur einigermaßen zu entsprechen außer dem Bereiche seiner Macht liegt. Hier ist es auf dem Bilde ein Bändchen, dort eine Schleife, dort zwei oder gar – es ist tatsächlich vorgekommen - ein Härchen, oder ein nicht ganz senkrecht herabhängendes Medaillon, welches den ganzen Zorn der Damen auf den gegenüber solchen Argumenten oft rath- und hoffnungslos dastehenden Photographen schleudert, trotzdem die Damen meist Zeit genug hatten, vor dem Spiegel im Empfang- oder Toilettenzimmer alles hinreichend zu ordnen.

Doch das ist das Wenigste; jetzt geht es daran, die Position einzunehmen. Der Photograph zeigt die ungefähr zu ergreifende Stellung und bittet nun die Aufzunehmende, gefälligst an seinen Platz treten und die Stellung annähernd nachmachen zu wollen.

„Wenden Sie, bitte, den Kopf ein wenig zur Schattenseite.“

Jawohl! Eine solche Zumuthung ist der Dame in ihrem Leben noch nicht vorgekommen. Sie hat ja ihr Haupt für die rechte Seite frisirt und nun soll die linke zur Verwendung kommen? Unmöglich!

Aber die rechte Seite ist nicht zu gebrauchen, weil die Dame dann nach der Lichtseite sehen müßte, was jedoch unvermeidlich Mangel an Modellirung und somit Unähnlichkeit zur Folge hätte. Der einzige Ausweg ist also aufzuspringen und vor dem Spiegel das Haar von Neuem zu arrangiren. Inzwischen wird ja wohl dem Photographen seine Platte eingetrocknet sein (dieselbe hält sich bekanntlich nur wenige Minuten), und er winkt seinem Assistenten, schnell eine neue zu präpariren. Die Dame tritt vom Spiegel, mustert mit einem letzten Achselblick noch einmal ihr Totalexterieur und setzt sich mit der wirklich geschmackvollen Frisur zur Aufnahme. Der Künstler prüft die Erscheinung mit zufriedenem Blicke (die neue Platte ist soeben fertig in das Atelier gereicht worden) und stellt den Apparat entsprechend auf. Um dem Kopfe absolute Ruhe zu gewähren, schiebt er möglichst sachte den Kopfhalter an – – „aber was machen Sie da? Nein! einen Halter will ich nicht, ich halte schon von selbst still.“

Vergebens sucht der „Schwarzkünstler“ zu beweisen, wie nöthig die Anbringung des Instrumentes sei und wie der Kopf durch die Application desselben eine steife Haltung nicht bekomme, indem nicht der Kopf dem Halter, sondern umgekehrt der Halter dem Kopfe angepaßt und gerade dadurch eine steife Haltung vermieden werde. Aber durch diese Behauptung hat er Oel in’s Feuer gegossen.

„Meine Freundin X. N.,“ erklärt die Dame, „hat jedesmal bei Benutzung des Halters eine steife Haltung bekommen, nein! ich kann es nicht zugeben!“

Ueber diesem technisch-wissenschaftlichen Streit ist ja auch wohl die zweite Platte glücklich eingetrocknet, und der Principal giebt ein für das Publicum unsichtbares Zeichen, welches eine dritte Platte befiehlt. Während der zum Präpariren derselben benöthigten Zeit hat er eine kleine Unterhaltung mit seinem Opfer anzuknüpfen und die bis zur Fertigstellung der neuen Platte verfließenden Minuten zu verplaudern, und zwar in äußerlich angenehm-verbindlicher Form. Innerlich mag er toben, soviel er Lust hat, wenn nur das Publicum nichts merkt. Versäumt er die Unterhaltung, so erhält sein Modell in der Regel einen gelangweilten Ausdruck, der nachher auf dem Bilde von den Damen als „zu alt“ bezeichnet wird.

Endlich wird die Aufnahme vom Künstler für gelungen erklärt, und er schickt das Probebild seiner schönen Bestellerin zu. Diese erscheint am andern Tage persönlich mit dem Bemerken, das Bild sei gar nicht ähnlich, woran es eigentlich liege, wisse sie selbst nicht, – genug, es sei Factum.

Nach langem Hin- und Herreden bringt der Photograph die Wahrheit an’s Tageslicht. Die Dame, welche sonst einen Stehkragen oder ein „en coeur“ zu tragen pflegte, hatte sich zum Zwecke der Aufnahme mit einer „Krause“ bewaffnet, und anstatt der sonst von ihr getragenen Zöpfe wahrhaft unmögliche „Schmachtlocken“ gedreht, wodurch das Bild natürlich total unähnlich werden mußte.

Das vorstehend Mitgetheilte ist nicht etwa meiner Phantasie entsprungen oder übertrieben, sondern meiner Praxis entnommen, und Tausende von Photographen können meine Erfahrungen in diesem Punkte bestätigen. – Kommt man aber in die Lage, sich photographiren lassen zu müssen, so suche man nachstehende Punkte möglichst zu berücksichtigen:

Um sich selbst ein gutes Bild zu ermöglichen, lasse man sich nur bei hinreichender Zeit aufnehmen und nicht etwa dann, wenn man noch sonstige Ausgänge und Besorgungen vorhat, indem man sonst leicht in Aufregung geräth und die zur Aufnahme so unbedingt nöthige Ruhe nicht erzielen wird; ebenso wenig suche man den Photographen zur Eile zu bewegen.

Dann ordne man Frisur, Decoration von Bändern etc. zu Hause, sodaß im Atelier ein flüchtiger Blick in den Spiegel genügt, um sich von der guten Anordnung des Ganzen zu überzeugen. Ferner lasse man dem Photographen freie Wahl im Arrangement; ist er in seinem Fache tüchtig, so ist er auch Physiognomiker genug, um zu beurteilen, welche Stellung, Bewegung etc. für sein Modell am besten paßt.

Sodann sträube man sich nicht gegen die Anwendung des Kopfhalters, der ja weiter nichts bezweckt, als dem bereits zur Aufnahme zurecht gestellten Kopf einen bequemen Anhalt zu geben.

In Bezug auf das Costüm der Damen ist zu beachten, daß sie sich nie in einem ganz neuen Kleide photographiren lassen sollten. Ein solches sitzt eben niemals so gut, wie ein bereits getragenes, und es ist eine ebenso verbreitete als irrige Annahme, daß ein getragenes oder gar altes Kleid sich auf dem Bilde schlecht mache.

Was die Farbe des Kostüms anbelangt, so vermeide man möglichst die Wahl schreiender Farben. Am besten kommen sowohl schwarz als grau, braun, modefarbig etc. heraus. Auch dunkle Kleider mit schottischem, aber nicht zu breitem Besatz sind sehr effectvoll zu verwenden. Wäsche, Kattunkleider etc. machen sich besser, wenn sie bereits einen Tag getragen, also nicht mehr ganz salonfähig sind.

Endlich vermeide man es, zum Zwecke der photographischen Aufnahme Kleider, Frisuren, Hüte etc. zu tragen, in denen man sonst nicht zu erscheinen pflegt, weil auch durch diese die Aehnlichkeit auf dem Bilde bedeutend beeinträchtigt wird.

Diese kurzen Andeutungen dürften genügen, um vielfach verbreitete unrichtige Ansichten und Gewohnheiten zu beseitigen und das Publicum der Photographen auf die rechte Fährte zu bringen.

Paul Relsom.



Inhalt: Ueber Klippen. Von Friedrich Friedrich (Fortsetzung), S. 513. – Ein abschreckendes Beispiel der „guten alten Zeit“, S 516. Mit Illustration von Graf Woldemar Reichenbach, S. 517. – Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“ ? Von Dr. L. Fürst. S 518. – Heiße Stunden. Von Wilhelm Kästner (Schluß), S. 520. – Kleine Bilder aus der Gegenwart, Nr 4. Die chinesische Panzercorvette „Ting Yuen“. Von H. Steinitz, S. 521. – Bilder von der Ostseeküste. 3. Land und Leute in Kurland, S. 523. Mit Abbildungen S. 524 und 525. – Blätter und Blüthen: Wie soll ich mich photographiren lassen? S. 528.


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Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.