Die Schuhmacherbörse in Berlin

Textdaten
<<< >>>
Autor: Wilhelm Hasbach
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Schuhmacherbörse in Berlin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 542–543
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[542]

Die Schuhmacherbörse in Berlin.

Noch vor dreizehn Jahren hatte die Börse für den Nichtkaufmann nur ästhetischen Werth. War man in einer mit einer Börse beglückten Stadt zu Besuch, so wurde man darauf aufmerksam gemacht, daß von der Gallerie aus das Durcheinandersprechen der Stimmen dem Brausen des Meeres gliche. Man stieg zu diesem Zweck in Frankfurt oder in Hamburg auf einige Stunden aus, wie man in Haarlem oder Freiburg aussteigt, um die berühmten Orgeln zu hören. Das Rauschen des Börsenmeeres aber erfüllte den musikalisch und poetisch beanlagten Laien mit dem Gefühle des Erhabenen. Er glaubte die gewaltige Majestät des wirthschaftlichen Verkehrs gesehen und gehört zu haben. Und wie war man im Innersten geruhrt und erfreut, wenn man diese unendlich großen Männer, welche das Rad der Zeit ein wenig in den Händen hatten, an der Fruchtbörse mit Erbsen- und Bohnenproben nach einem einsamen Hute auf der Gallerie werfen sah, oder wenn man, durch einen guten Freund auf den Schauplatz der Begebenheiten geführt, bemerkte, daß die ernsten Helden des Courszettels und des Ultimo auch für die minder ernsten Angelegenheiten des irdischen Lebens Interesse hatten, wie sich Meyer und Mayer z. B., angenehm auf eine Causeuse hingegossen, ungezwungen über die Prima Ballerina und die neue Luftvoltigeuse unterhielten. Ach, die Zeiten sind längst dahin! Man befand sich damals noch in dem wirthschaftlichen Unschuldszustande. Wenn man jetzt von der Börse spricht, so denk man an Giftbäume, unsinnige Speculationen, ungeheure Gewinnste, vernichtenden Verlust, Thränen von Wittwen und Waisen und einiges Andere.

Daran aber sollte man bei der Berliner Schuhmacherbörse nicht denken. Sie ist, was die Börse sein will und soll, eine Vereinigung von Kaufleuten, in diesem Falle also von Handwerkern, zur Abschließung von Geschäften und zum Zwecke eines rascheren Ueberblickes über den Markt. Man gab durch dieselbe dem Handwerke eine kaufmännische Organisation, um es gegen die kaufmännische Conncurrenz zu schützen. Diese Concurrenz müssen wir uns vor Allem vergegenwärtigen, wenn wir die Bedeutung der genannten Börse begreifen wollen.

Ein Jeder von uns kennt die großstädtischen Kleider- und Schuhmagazine, welche gewöhnlich von einem Kaufmanne gehalten werden. Derselbe kauft die Rohmaterialien im Großen, also billiger ein, als der Handwerksmeister, welcher nur über geringes Geldcapital verfügt, läßt eine Reihe von Handwerkern für sich arbeiten und beschäftigt sie auch für geringen Lohn, wenn sonst Geschäftsstille herrscht. Je mehr die Löhne gedrückt werden, um so höher hebt sich natürlich der Gewinn des Unternehmers und um so billiger kann er verkaufen. Aus diesem Grunde sind die Löhne der für ein Magazin arbeitenden Handwerker natürlich außerordentlich gering.

Noch trauriger gestalten sich die Verhältnisse, wenn eine Mittelsperson, gewöhnlich ein Handwerker, zwischen dem Unternehmer und den Handwerkern steht, welcher die gesammten Aufträge des Magazininhabers übernimmt, sie dann an die einzelnen Handwerker überträgt und die fertigen Waaren wieder an denselben gegen baare Zahlung abliefert. Dieser zweite Unternehmer will auch einen guten Verdienst haben. Der Unternehmer ist nicht geneigt, ihm denselben aus seiner Tasche zukommen zu lassen; also muß er die Arbeitslöhne, welche er den einzelnen Handwerkern auszahlt, verkürzen. Ein solcher Handwerker in einer großen Stadt Europas theilte mir mit, daß er wöchentlich zweihundert Mark verdiene. Der Arbeiter muß, um leben zu können, seine Arbeit rasch und oberflächlich anfertigen, das höchste Dachzimmerchen beziehen, die elendeste und kärglichste Nahrung zu sich nehmen.

Die großen Magazine sind deshalb sowohl dem auf Bestellung arbeitenden, sonst wohlsituirten Handwerksmeister, als dem kleinen Arbeiter ein Dorn im Auge. Da sie billiger verkaufen, als er verkaufen kann, nehmen sie dem Ersteren all die Kunden weg, welche für gute Arbeit und genaues Sitzen keine hohen Auslagen bezahlen können und die wahrscheinlich höheren Rohstoffpreise des Handwerksmeisters nicht bezahlen wollen. Der arme Arbeiter aber sieht sich und seine Familie in seiner Existenz bedroht; auch der Ausweg, mehr und schlechtere Arbeit in derselben Zeit zu machen, rettet ihn nicht immer und jedenfalls nicht auf lange Zeit. Der Arbeitgeber weist minderwertige Arbeit zurück, lohnt sie im Einzelnen schlechter, oder setzt allmählich den Stücklohn herunter.

Handwerksmeister und selbständiger Arbeiter haben darum Beide das Interesse daran, die Concurrenz der Kaufleute auf dem Gebiete des Handwerks unschädlich oder unmöglich zu machen. Die Gesetzgebung wird sich schwerlich dazu verstehen, dieselbe zu unterdrücken. Der Handwerksmeister muß deshalb entweder selbst Kaufmann werden, selbst ein Magazin halten, oder eine Production genossenschaftlich mit Anderen eingehen. Im ersteren Falle wird er sich mit Anderen zum gemeinschaftlichen und billigen Ankaufe von Rohstoffen in großen Quantitäten verbinden. Aber der großen Masse der Arbeiter ist damit nicht geholfen. Man muß sie in eine solche Lage versetzen, daß sie ihre Arbeit verkaufen können, ohne daß sie auf Bestellung eines Unternehmers arbeiten und ohne daß aus ihrem Arbeitsverdienste der Gewinn des Mittelsmannes und des Arbeitgebers bestritten zu werden braucht.

Das hat man für das Schuhmacherhandwerk mit der Berliner Schuhlmacherbörse erreicht. Jeder selbstständige Handwerker kann auf seinen Gewerbeschein hin und gegen die geringe Gebühr von fünfundzwanzig Pfennig einmal in der Woche, und zwar Montags von zehn bis ein Uhr, seine fertige Waare in dem großen Saale des Handwerkervereins ausstellen und sie dort verkaufen. Hierdurch erhält er zunächst in kleinen Zwischenräumen den Lohn für seine Arbeit. Indem er ferner die Waaren seiner Concurrenten sieht und die Verläufe beobachtet, gewinnt er den besten Ueberblick über die Art und Qualität der verlangten Waare. Ein weiterer Vortheil ist der, daß die Schuhmacherbörse die Arbeitsleistung befördert, weil Jeder eine größere Sicherheit hat, daß die Arbeit, zu der ihn Befähigung, Gewohnheit und andere Umstände bestimmen, auch wirklich gekauft wird.

Ebenso hoch muß man es anschlagen, daß jeder Handwerker [543] dort die Waaren, welche er selbst nicht bestellt, aber braucht, billig kaufen kann. Auf diese Weise wird es dem Handwerker mit geringem Capitale möglich, einen kleinen Laden zu halten und größere Bestellungen mit geringem Arbeitspersonal auszuführen. Vor Allem aber fällt die größere Freiheit und Selbstständigkeit in’s Auge, welche die Börse dem kleinen Handwerksmanne gewährt.

Auch den Verfertigern von Handwerkszeug, den Posamentieren und Gerbern ist es erlaubt, ihre Waaren auszustellen. Dagegen hält man mit größter Strenge jede Art von Kaufleuten, selbst Lederhändler von dieser Börse fern. Sie soll nur den Interessen der producirenden Stände dienen.

Ob die Berliner Börse alle die Wirkungen, welche hervorzubringen sie die Tendenz hat, auch im vollsten Maße gebracht hat, weiß ich nicht. Zwei Wirkungen aber treten deutlich hervor. Erstens hat sie das kaufmännische Element im Schuhmacherhandwerke zurückgedrängt. Dafür existiren große Läden und Magazine, welche von Handwerksmeistern gehalten werden. Ob die Lage der für diese Magazine arbeitenden kleinen Handwerker eine bedeutend bessere ist, als diejenige der für kaufmännische Unternehmer wirkenden Genossen, weiß ich nicht. Zweitens wird die Börse nicht blos von den hauptstädtischen Schuhmachern, sondern auch von vielen Handwerksgenossen aus der Provinz, ja sogar aus größerer Entfernung, z. B. von Stettin und Hamburg besucht. Dieser Umstand ist jedenfalls ein deutlicher Beweis, daß sie die wirthschaftliche Lage eines großen Bruchtheiles von Schuhmachern zu heben im Stande ist.

Es herrscht darum auch am Montagmorgen ein lebendiges Treiben in der Sophienstraße, wenn die Thüren noch nicht geöffnet sind und sich draußen die Besucher der Börse, theilweise mit ihren Waaren beladen, an einander vorüberdrängen und immer neue Concurrenten in der stillen Gasse erscheinen. Endlich thut sich die Thür auf, und nun geht es an dem Börsenvorstande vorbei, der in der Halle an einem langen Tische die Eintrittsgebühr erhebt, durch das große Restaurationslocal in den breiten, etwas dunklen Saal. Hier werden auf langen, parallel mit einander laufenden Tischen, sodaß nur schmale Gänge übrig bleiben, die Waaren ausgebreitet. Aber es haben sich so viele Börsenbesucher eingefunden, daß man auch die beiden Gallerien noch zur Ausstellung der Waaren hat benutzen müssen. Kein Plätzchen ist unbenutzt geblieben.

Das Goethe’sche Wort von der „quetschenden Enge“ charakterisirt die Berliner Schuhmacherbörse am besten, wo in schmalen Gängen die Käufer an einander vorüberdrängen und die Verkäufer uns zum Ankauf ermuntern. Es ist in der That ein Jahrmarkt unter Dach und Fach. Hier stehen saubere Leisten, funkelnde Ahlen, vorzügliches Pech, dort in langer Reihe die zierlichsten Kleinkinderschuhe, daneben plebejische, ungewichste, plumpe Schaftstiefel, von denen uns ein Dutzend zu einem unglaublich geringen Preise angeboten wird. Nun kommen wir an einer Stelle vorüber, die kein Vater mit seinem achtjährigen Söhnchen ungestraft betreten würde: denn vor uns erhebt sich, gerade ausgerichtet in Reihe und Glied, ein Regiment nagelneuer, verlockend aussehender Husarenstiefel. Zur Abwechselung eine Ausstellung von Posamentierwaaren, lange Schnüre, elegante Knöpfe und Bänder von eigenthümlicher Farbenzusammenstellung. An einer Stelle verweilen wir etwas länger, denn hier präsentiren sich verführerisch die schmucksten, kleinsten Damenstiefel. An einer anderen eilen wir um so rascher vorüber – denn dort riecht es sehr stark nach Leder.

Wir begeben uns in das Restaurationslocal und suchen im Genusse der tiefen Befriedigung, mit der uns die Wanderung durch die Schuhmacherbörse erfüllt hat, das Phänomen volkswirthschaftlich zu bestimmen. Es ist ein ganz auf der Grundlage der heutigen Erwerbsordnung beruhender eigenthümlicher Versuch, die Lage der Handwerker zu heben. Eine gewisse Aehnlichkeit zeigt eine Veranstaltung der Weberzünfte in den Niederlanden, nämlich die in einigen Städten Flanderns noch heute sichtbaren Tuchhallen, wo die Waaren sämmtlicher Meister ausgestellt und verkauft werden. Kurz, die Berliner Schuhmacherbörse ist die Uebertragung eines kaufmännischen Gedankens auf das moderne Handwerk.

Wir können nur Jedem, der an den mannigfachen Bestrebungen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen Antheil nimmt, empfehlen, die Schuhmacherbörse zu besuchen, und wir legen es den wohlhabenden Freunden der arbeitenden Classen, welchen ihre Wohlhabenheit das Köstlichste, die Freiheit, über ihre Zeit zu verfügen, gewährt, an’s Herz, für die Verbreitung dieser Institution mit Rath und That zu sorgen. Eines scheidet England und Deutschland tief: das ist die hülfsbereite werkthätige Gesinnung, der großartige Gemeingeist der wohlhabenden Classen jenseits des Canals. Wir haben eigentlich nur ein großes Beispiel solch hoher Gesinnung aufzuweisen: Schulze-Delitzsch. Hoffentlich werden bald andere Männer den Spuren des großen Todten folgen.

Wenn heutigen Tages der ökonomische Liberalismus immer mehr Anhänger verliert, dann liegt das zweifellos daran, daß in Deutschland die positive Ergänzung zur Niederreißung überlebter Schranken fehlt, welche in dem heilsamen volkswirthschaftlichen Wirken der oberen Classen für die unteren besteht, nicht in einem Wirken mit Reden und Resolutionen, sondern mit ernster, stiller, andauernder Arbeit. Wo ein solches Vorkämpferthum nicht besteht, da schreit das Volk natürlich nach Reaction und Staatshülfe, wie auch in einem Staate, wo es an dem guten Willen und dem Material für die Durchführung der Selbstverwaltung fehlt, schließlich doch wieder die Bureaukratie trotz aller Anfänge und Declamationen das Heft in die Hände bekommt.

Wilhelm Hasbach.