Einweihung der neuen Tells-Capelle
Einweihung der neuen Tells-Capelle.
Die Ueberzeugung des Schweizervolkes, mit Ausnahme der Historiker und einer Anzahl sonst wissenschaftlich Gebildeter, von der stricten Wahrheit der Erzählungen von Tell und dem Rütlibund ist sicher nicht minder fest, wie es die der alten Griechen von der Existenz ihres Herakles und Theseus und der Römer von Romulus und Remus nur immer sein konnte. Dies hat denn auch das soeben gefeierte Fest der Einweihung unserer neuen Tells-Capelle bewiesen, welche an der Stelle ihrer baufälligen Vorgängerin errichtet und während der letzten Jahre mit hervorragenden Kunstwerken geschmückt worden ist.
Aus dem bunten und bewegten Leben und Treiben auf dem Platze der schweizerischen Landesausstellung in Zürich, wo die Maschinen mit ihren Rädern und Hämmern schwirren und sausen, rissen wir uns am 24. Juni los, einem herrlichen Sommertage, der für lange anhaltendes Regenwetter in wohlthuender Weise entschädigte und die erschlafften Lebensgeister von Neuem zum Schaffen und Wirken aufweckte.
Lustig brauste der Zug der zukunftsreichen Gotthardbahn zwischen die herrlich grünenden Vorberge und smaragdgrünen Seen der unvergleichlichen Urschweiz hinein und brachte uns über das bald hundertjährige von Trümmern riesiger Felsen bedeckte Grab des Bergsturzes von Goldau in das unmittelbare Angesicht der majestätischen Eisfirnen des Uri-Rothstocks. Es war eine zugleich heitere und feierliche Stimmung, die wir auf dem prächtigen Quai vor dem imposanten „Waldstätterhof“ in Brunnen trafen. Eine ungewöhnliche Anzahl meist festlich schwarzgekleideter Herren, mit weiß und rother Rosette auf der Brust, spazierten unter den schattigen Bäumen herum oder saßen bei einer Erfrischung zusammen und erneuerten alte oder machten neue Bekanntschaften. Es blieb uns aber nur wenig Zeit übrig, diesem Treiben zuzuschauen, denn bald schnaubte der kolossale Salondampfer „Germania“ heran, reich bekränzt und mit den Flaggen der Schweiz und aller ihrer Cantone geschmückt. Die Festgesellschaft bestieg ihn, voran die Abgeordneten der Bundesbehörden und mehrerer Cantone, dann die Mitglieder des Kunstvereins und die Vertreter der Presse. Es war eine wundervolle Fahrt auf dem spiegelklaren See zwischen den steilen, waldigen Anhöhen des Axensteins links und des Seelisbergs rechts; man war so recht im Mittelpunkte des classischen Bodens der Schweiz, und selbst dem Kritiker mußte das Herz sich erheben bei dem Gedanken, daß von diesen Stätten aus die Freiheit des Vaterlandes ihren Anfang genommen hat, mögen auch die Veranlassungen dazu welche nur immer gewesen sein. Die Fahrt war viel zu kurz, um die sich auf ihr darbietenden Wunder der Natur in vollen Zügen zu genießen, und schon nach einer halben Stunde legte der Dampfer an der classischen, wenn auch nur eine Tradition verherrlichenden Tell-Platte an.
Nach der augenscheinlich alterthümlichsten, wenn auch nicht zuerst erschienenen Form der Ueberlieferung, derjenigen des Luzerner Geschichtsschreibers Melchior Ruß, die freilich erst fast zweihundert Jahre nach der Zeit, in welche die Tell-Sage meist verlegt wird, zu Tage trat, wäre die Tellenplatte (deren Name in der ältesten Fassung als eine Orts-, nicht eine Personenbezeichnung erscheint) weit bedeutender als nach der spätern und für die Gläubigen noch jetzt herrschenden Ueberlieferung; denn nach derselben erschoß Tell den Landvogt unmittelbar nach seinem Sprung aus dem Schiffe, von der Platte aus, welche That auch überdies männlicher und würdiger dastände, als die in der „hohlen Gasse“’ bei Küßnacht, einem Orte, an welchem niemals ein „Geßler“ etwas zu thun haben konnte und welcher damals urkundlich erwiesene andere Herren hatte, die niemals Landvögte waren.[1]
Doch was fruchtet all dies? Aegidius Tschudi, Johannes von Müller und der unsterbliche Schiller haben die Sage fixirt, wie sie nun geglaubt wird, und so auch hat sie der wackere Maler Stückelberg aus Basel (vergl. das Portrait auf unserer Illustration) in seinen Fresken mit kräftigen Strichen und patriotisch durchhauchten Farben verewigt.
Die neue Tell-Capelle, fast genau auf der Stelle der alten, ist, wie sich bei ihrer Bestimmung geziemt, einfach und schlicht, aber gefällig und geschmackvoll gebaut. Drei Mauern, gekrönt von einem Ziegeldache und einem schlanken Thürmchen, umschließen sie; die vordere Seite besteht oben aus alterthümlichen sechseckigen Glasscheiben und unten aus einem eisernen Gitter mit zwei Thüren. Zwei diesen entsprechende Rundbogen bestimmen die Eintheilung des Raumes, indem die Hinterwand, auf beiden Seiten des die Mitte einnehmenden Altars, zwei Frescobilder und jede der beiden Seitenwände je ein solches aufnimmt. An der Wand links vom Eingange beschäftigt die überaus reichhaltige Scene nach dem Apfelschuß lange das Auge des Beschauers. Tell steht in stolzer und trotziger Haltung, den „zweiten Pfeil“ drohend in der Hand, vor dem in nachlässig-hochmüthiger Weise zu Pferde sitzenden Geßler, bei ihm mit leuchtenden Blicken der Knabe, dessen gerettetes Leben und zugleich das gefährdete des Gatten die neben ihm knieende Mutter zwischen Freude und Angst schweben macht. Zur Seite setzt ein Scherge bereits die Bande, Tell zu fesseln, in Bereitschaft.
Ferner findet rechts vom Eingange der Rütlischwur seine
[533][534] Darstellung in äußerst lebenswahren Figuren. Links an der Rückwand sehen wir den Sprung Tell’s auf die Platte, wie er gerade mit bloßem Fuße das Schiff des Landvogts hinausstößt und dieser ebenso umsonst die Faust gegen den Geretteten ballt, wie sein großer Hund ihm nachkläfft. Blitz und Wogenbrandung machen aber jede Annäherung unmöglich. Rechts vom Altar endlich ist der Tod Geßler’s dargestellt, der nach empfangenem Pfeile in die Arme seines Begleiters sinkt, während ein Mönch herbeieilt, den Sterbenden zu trösten, hinten aber Tell mit der Armbrust in kühner Stellung sich zeigt, und vor dem Pferde des Landvogts Schiller’s Armgard aus der dumpfen Verzweiflung der Flehenden in die triumphirende Genugthuung übergeht.
Als der Dampfer an der Platte unter den Klängen der mitfahrenden Musik, dem traulichen Geläute des Glöckleins der Capelle und den nervenerschütternden Mörserschüssen anlegte, begaben sich die leitenden Mitglieder des Kunstvereins nebst den Abgeordneten des Cantons Uri an das Land. Der letztere, dem der Platz der Tellenplatte gehört, hatte den Bau der Capelle, der Kunstverein aber ihre Ausschmückung mit den erwähnten Fresken übernommen, und es handelte sich nun darum, nach Vollendung derselben das fertige Kunstwerk dem Eigenthümer des Platzes zu übergeben.
Dies geschah durch treffliche, vaterländische und tief gefühlte Reden des Architekten Jung aus Winterthur im Namen des Kunstvereins, und des Landammanns Müller im Namen von Uri. Ersterer hob die Idee des so schön vollendeten Werkes hervor, dem Schweizervolke eine Mahnung an seine Treue und Liebe für das Vaterland zu sein und das Andenken an seine tapferen Vorfahren wach zu erhalten, und ließ durch ein weißgekleidetes Mädchen dem in der Mitte zwischen beiden Rednern stehenden sichtlich tief ergriffenen Meister Stückelberg einen prachtvollen Lorbeerkranz mit weiß-rother Schleife überreichen. Landammann Müller dankte darauf mit bewegten Worten dem Kunstverein für seine herrliche Leistung und nahm die Capelle im Namen des Urner Volkes in Empfang.
Es war ein schöner Moment und ein lebensvolles Bild, Die Sprechenden am Ufer, umgeben von zahlreichem Volk aus der Umgegend, Männer, Frauen und Kinder, vor ihnen im See der Dampfer mit den Festgästen, vorne in einer Reihe die „Waibel“ der Behörden in ihren Dreispitzen und den bunten Mänteln mit den Cantonsfarben (vergl. die Figur unten rechts auf unserer Abbildung). Unter dem Gesange eines Männerchores, der sich am Ufer aufgestellt hatte, begaben sich nun alle Festtheilnehmer an dasselbe und füllten die festlich bekränzte Capelle in staunender Bewunderung der vier prächtigen Gemälde, unter deren Figuren keine ist, zu der sich der verdienstvolle Künstler nicht sein Modell aus dem kernigen Volke der Urschweiz gewählt hätte.
Auf der Anhöhe oberhalb der Capelle war eine Festhütte errichtet, mit Guirlanden, Fahnen, Wappen und Inschriften geschmückt. In diese nun begaben sich die Festtheilnehmer zu einem Gabelfrühstück, bei dem Mädchen in alten Schweizertrachten aufwarteten und, nachdem der erste Appetit gestillt war, nach Schweizerart bald der Redestrom sich Bahn brach.
Wenn auch dabei die Vertreter von Uri und Genf es nicht an verhüllten clericalen und radikalen Andeutungen fehlen ließen, so herrschte doch durchweg das Gefühl der Versöhnung streitender Parteigegensätze im Angesichte eines patriotischen Festes vor, und wer schlecht wegkam, das waren nur wir Historiker, obschon man uns unsere kritischen Ketzereien, die man in Toasten eifrig bekämpfte, im persönlichen Verkehr während des Festes keineswegs fühlen ließ, und das aus guten Gründen – konnten ja für die Wahrheit der bezüglichen Ueberlieferungen keine Thatsachen, sondern blos Gefühle geltend gemacht werden! Vielleicht wäre es noch klüger gewesen, den Gegensatz zwischen Tradition und Kritik ganz bei Seite zu lassen, das Fest lediglich als ein patriotisches aufzufassen und die gefeierten Stätten als solche zu betrachten, in denen sich die Idee der Freiheit gewissermaßen localisirt habe! – Daß die Schweizerfreiheit in den Urcantonen ihren Anfang genommen, unterliegt ja keinem Zweifel.
Die Sonne neigte sich dem Westen zu, als der Dampfer unter Musik und Mörserknallen von der Tells-Capelle wieder abfuhr und dem gegenüberliegenden Ufer des Urner See-Arms zusteuerte, das bereits im Schatten seiner hohen Berge ruhte. Hier liegt das Rütli, unterhalb der schwindelnden Felswand von Seelisberg, ein lieblich grüner Wald- und Wiesenabhang, mit einfachen freundlichen Anlagen um ein schlichtes, solides Gasthaus von alter Schweizerart. Hier stieg man aus, den zweiten Act des Festes zu feiern, und er wurde, was die gesprochenen Worte und die allgemeine Stimmung betrifft, zu einem wirklich weihevollen, zum Glanzpunkte des Tages. Auf einem von Bäumen und Gebüsch verborgenen geräumigen Platze stellten sich die Festheilnehmer auf, und die Musik intonirte das jeden Schweizer elektrisch durchzuckende Rütlilied. Hier blieben die antikritischen „Rettungsversuche“ weg, und man fühlte sich nur von patriotischen Gefühlen getragen.
Es war ein schöner Augenblick, als der Vertreter des eifrigst katholischen Urcantons demjenigen des liberalen Bundesraths, dem ehemaligen protestantischen Pfarrer Schenk, herzlich die Hand drückte. Die erhebende Stunde beschloß der radical-demokratische Nationalrath Curti aus Zürich mit einem poetisch durchwehten Gruß an das Volk der Urcantone. Feierlich gestimmt löste sich der Kreis auf, und man erging sich auf, wenngleich nicht urkundlich, doch conventionell classischem Boden, bis die Scheidestunde nahte und in stiller Dämmerungsstunde unter dem Abendgeläute der Glocken des See-Ufers die Rückfahrt nach Brunnen erfolgte, wo im „Waldstätterhof“ das Festmahl und ein lebendes Bild, den Schwur in Rütli darstellend, der Feier einen erhebenden Abschluß verleihen sollte. Langsam verschwand, von den letzten Strahlen der sinkenden Sonne angeglüht, das freundliche rothe Dach der Tells-Capelle hinter den Felsen; auch die Umrisse des Rütli wurden düsterer, und der vom Abendwinde sanft bewegte See zerschlug die Spiegelbilder der hochragenden Berge in phantastische Figuren.
- ↑ Siehe das Weitere in dem Artikel „Tell und der Rütlibund“, „Gartenlaube“ 1872, Nr. 49.