Ueber Klippen
Ueber Klippen.
Auf dem Thurme der Pfarrkirche in einem rings von hohen Bergen umschlossenen Thale Tirols läutete es zur Messe. Laut und feierlich hallten die Glockentöne durch den ruhigen, frischen Herbstmorgen hin, sie brachen sich an einer nahen Felswand und da klang es, als ob jeder Glockenschlag noch einen singenden Nachklang habe.
Es war Sonntag, und auf dem Kirchwege kamen Jung und Alt langsam daher zur Messe. Vor dem nahen Wirthshause stand ein Trupp junger Burschen und Männer, um zu plaudern, ein Glas Wein zu trinken und ihre kurze Pfeife auszurauchen, ehe sie in die Kirche gingen.
Manche von ihnen waren erst vor wenigen Tagen von den hochgelegenen Almen, auf denen sie fast den ganzen Sommer zugebracht, heimgekehrt, und da oben hatte es keinen Wein gegeben, und ihre Bekannten waren auch nicht dorthin gekommen. Lauter als sonst ging es deshalb unter ihnen zu, es fehlte nicht an derben Späßen, und wenn ein neuer Bekannter hinzu trat, so hielten ihm zehn Hände das volle Weinglas entgegen, und es wurde ihm die Rechte so kräftig geschüttelt, daß eine zartgebaute Hand unter dem Drucke gebrochen sein würde.
Es waren kräftige, arbeitgehärtete und wettergestählte Gestalten. Die frische Bergluft und die schwere Arbeit ließen keine Schwächlinge aufkommen.
Die kurze Joppe aus grobem Loden, der breite, zum Theil gestickte Ledergurt, die mit Nägeln beschlagenen Bergschuhe, das Alles ließ die Gestalten noch fester erscheinen. Nur der kleine schwarze Hut mit dem Gemsbart und der verwegenen Hahnenfeder, sowie die frische Blume, die an keinem fehlte, gaben ihnen ein lustiges und keckes Aussehen.
Eine Gestalt fiel vor Allen unter ihnen auf. Das war der David Unterburgsteiner. Fast um Kopfeslänge ragte er über die Anderen hinaus; sein Körper hatte etwas Reckenhaftes, und unter seinen buschigen Brauen blitzen ein Paar unruhige, stechende Augen hervor.
Er war der lauteste von Allen und führte das große Wort. Weil er von seinem Vater vor ungefähr einem Jahre ein großes Gehöft am Berge, den Unterburgstein, und einige tausend Gulden geerbt hatte, glaubte er ein Recht dazu zu haben. Und die anderen Burschen ließen sich dies gefallen, weil sie seine Kraft fürchteten. Noch hatte er im Ringen Jeden geworfen, und er liebte es zu raufen.
Es lag in seinem ganzen Wesen und in dem Tone seiner Stimme etwas Herausforderndes und Rohes. Er wußte, daß er wenig Freunde hatte, lachend rief er:
„Er brauche keine Freundschaft, denn was er erreichen wolle könne er selbst durchbringen.“
Ein Bursche trat zu den Dastehenden; es war Sepp Plankensteiner.
„Gestern Abend ist der Hansel Haidacher heimgekehrt,“ sprach er. „Sie haben ihn in Wien ein Jahr früher von den Soldaten losgelassen, als er selbst erwartet hatte. Seine Führung muß eine gute gewesen sein.“
Die Nachricht schien die Meisten zu erfreuen, die Umstehenden bestürmten den Ueberbringer mit Fragen.
Der Unterburgsteiner allein zuckte unwillig mit den Augen und biß erbittert auf die Pfeifenspitze.
„Sepp, weißt Du das mit der guten Führung so genau?“ rief er mit höhnendem, herausforderndem Tone.
„Ich weiß es nicht, aber es wird schon so sein, wie ich sage, denn wen sie einmal unter den Soldaten haben, dem schenken sie so leicht nichts,“ entgegnete der Gefragte ruhig.
„Und ich sage, dem wird nicht so sein!“ rief David laut. „Haha! Es kehrt Mancher auch vor der Zeit heim, weil mit ihm nichts anzufangen ist! Doch mir kann es gleichgültig sein, was den Welschen zurückgeführt hat. Was geht’s mich an!“
Er stürzte lachend ein volles Glas Wein hinab.
Die Umstehenden schwiegen, so sehr sie sich auch über die Worte ärgerten, denn den Hansel Haidacher hatten sie alle gern. Der Unterburgsteiner hatte ihn in wegwerfender Weise einen Welschen genannt, weil Hansels Mutter eine Italienerin war, aber so sehr Hansel in seinem Aeußeren auch die Abstammung seiner Mutter verrieth, im Herzen war er ein echter Tiroler, genügsam und heiter wie ein Kind.
„Ich gönne es dem Haidacher, daß er den Hansel wieder hat,“ sprach ein schlank aufgewachsener Bursche, der Franz Steger. „Dem Alten ist’s schlecht ergangen in den letzten Jahren. Er ist krank und schwach. Drei Kühe sind ihm auf der Alm verunglückt, sein bestes Stück Land ist durch den Bergsturz verschüttet, er allein wäre nicht im Stande gewesen, das zu überwinden. Der Hansel wird’s durchführen!“
„Kannst ihm ja helfen!“ fiel David mit höhnendem Lachen ein. „Bezahl die Schulden, die auf dem Gehöft haften, und führe ihm einige von Deinen Kühen in den Stall, aber Du mußt nicht vergessen, das Futter mitzunehmen.“
Ein lustiger, hell durch die Morgenluft hallender Juchzer unterbrach den Unterburgsteiner. Aller Augen wandten sich nach einer Felswand hoch über ihnen und gleichzeitig riefen die Meisten:
[498] „Der Hansel!“
Da stand oben auf der jäh abstürzenden Felsenwand eine junge, kräftige Männergestalt und schwenkte grüßend den Hut. Ein lauter, freudiger Gruß drang aus dem Thale zu ihm hinauf. Dann eilte der Obenstehende auf einem von unten kaum bemerkbaren und nur für geübte und schwindelfreie Bergsteiger möglichen Pfade, der sich an der Bergwand hinzog, hinab. In vollem Laufe, jeden den Weg versperrenden Felsen wie eine Gemse leichtfüßig überspringend, kam er thalwärts. Selbst die mit dem Wege und den Gefahren vertrauten Burschen verfolgten den Tollkühnen mit den Augen, nicht ohne daß ihre Herzen schneller schlugen, denn keiner unter ihnen hätte gewagt, ihm dies nachzumachen.
In wenigen Minuten war der Hansel unten und mit dem lustig klingenden Gruße: „Grüß Gott!“ trat er in den Kreis seiner Freunde, die er seit Jahren nicht gesehen.
Zwanzig Hände streckten sich ihm entgegen, volle Weingläser wurden ihm hingehalten und lachend leerte er einige.
„Ich bin warm und durstig geworden,“ sprach er, indem er den Hut abnahm und mit der Hand über die feuchte Stirn hinfuhr.
Es war eine auffallend hübsche Erscheinung. Mittelgroß und kräftig gebaut und doch leicht in jeder Bewegung. Das Gesicht verrieth deutlich das italienische Blut, welches in seinen Adern war. Seine Wangen waren selbst durch den schnellen Abstieg kaum geröthet, seine großen, schwarzen Augen blickten lustig, unbefangen. Den Kopf bedeckte ein dunkles, lockiges Haar.
Alle Bekannten drängten sich an ihn heran, um ihm die Hand zu schütteln, nur der Unterburgsteiner kehrte ihm den Rücken zu und bezahlte dem Wirthe den getrunkenen Wein.
„Hansel, wie bist Du frei gekommen vor der Zeit?“ fragte einer seiner Freunde.
„Ich hab’ Glück gehabt!“ entgegnete der Gefragte, dessen Brust von dem schnellen Abstiege noch immer heftig athmete. „Es ist mir als Soldat gut ergangen, und ich wüßte nicht, worüber ich hätte klagen sollen, es ist auch schön in Wien, aber wie hier ist’s doch nicht. Es fehlen die Berge, und es fehlt die Luft. Es legt sich dort etwas schwer auf die Brust; was es ist, weiß ich nicht.“
„Es wird das Heimweh sein,“ warf Sepp ein.
„Ich weiß es nicht,“ fuhr Hansel fort. „Ich hatt’ mich auch darein ergeben, noch ein Jahr zu dienen, denn ändern konnt’ ich’s nicht. Vor einigen Wochen setzten wir zur Uebung in großen Booten über die Donau. Vorn an der Spitze meines Bootes stand der Oberst und ertheilte die nöthigen Befehle. Da stürzt’ derselbe rücklings in den Strom und das Wasser schlug über ihm zusammen. Bestürzt fuhren Alle empor. Ich warf schnell mein Käppi fort und stürz’ mich ihm nach. Und wie ich tauch’, sehe ich ihn vor mir im Wasser hintreiben, es gelingt mir, ihn zu erfassen, und dann arbeite ich mich mit ihm empor. Als ich auftauche, waren wir wohl fünfzig Schritte vom Boote entfernt und die Strömung riß mich weiter, denn ich mußte alle Kraft zusammen nehmen, um den Oberst über Wasser zu halten, der kein Lebenszeichen von sich gab. Aber das Boot kam uns schnell nach, wir wurden Beide gerettet. und nach kurzer Zeit kam auch der Oberst wieder zu sich. Ein Schwindelanfall hatte ihn erfaßt und er wußte kaum, was mit ihm geschehen war. Nach zwei Tagen wurd’ ich zu ihm in seine Wohnung befohlen. Er lag krank darnieder, als ich aber an sein Bett trat, streckte er mir die Hand entgegen. Dann fragt’ er mich, ob ich Lust hab’, weiter zu dienen, dann soll’ es mir nicht fehlen, daß ich weiter rück’. Offen sagt’ ich ihm, daß es mich heim zieh’ und daß mein Vater, der schwach und krank sei, meiner bedürf’. Er ließ sich erzählen, woher ich stamm’ und was ich sei. Dann gab er mir zehn Gulden und hieß mich gehen. Vor wenigen Tagen ließ er mich wieder zu sich rufen. Da gab er mir einen Urlaubsschein für den Rest meiner Dienstzeit und fünfzig Gulden als Reisegeld. Er fügt’ hinzu, daß ich mich an ihn wenden solle, wenn es mir einst schlecht ergeh’, aber ich solle mich brav halten. Nun bin ich da!“
„Und kein Wort hast hierher geschrieben,“ warf Franz Steger ein.
„Glaubst, ich hätt’ mir Zeit dazu genommen?“ rief Hansel, dessen große dunkle Augen den Freund lustig und glücklich anlachten. „Was sollt’ ich schreiben? Ich wußt’ schon, daß es meinem Vater und meiner Mutter am liebsten sei, wenn ich ihnen selbst das Alles erzähl’. Nun gebt mir einen Wein.“
Zehn Gläser wurden ihm entgegengehalten.
Der Unterburgsteiner hatte seine große Gestalt an die Thür des Wirthshauses gelehnt, auf seinem Gesicht lag ein spöttisches, geringschätzendes Lächeln. Kein Wort, welches Hansel gesprochen, war ihm entgangen, aber er gab sich den Schein, als ob derselbe gar nicht für ihn da sei.
„Nun, Hansel, ich glaub’, es ist noch etwas andres, was Dich hierher getrieben hat!“ rief Sepp. „Die Moidl wirst schwerlich vergessen haben!“
Dunkle Röthe übergoß das Gesicht Hansel’s, ehe er aber antworten konnte, ertönte die Orgel in der nahen Kirche, und die Burschen gingen in die Messe.
David folgte ihnen langsam, Er hatte die Lippen fest auf einander gepreßt, und seine Faust hatte sich unwillkürlich geballt. Vor der Kirchthür blieb er zögernd stehen, als ob er unschlüssig sei, was er thun solle.
„Er soll wagen, mir meinen Weg zu kreuzen!“ rief er halblaut, dann trat er in die Kirche.
Zwei Jahre war Hansel fortgewesen. Ehe er das Thal verlassen, war es kein Geheimniß gewesen, daß er die Moidl, die Tochter des Oberburgsteiners, gern hatte, und die ihm wohl wollten, konnten es ihm nicht verargen, denn sie war das hübscheste Mädchen im ganzen Thal.
Aber auch David liebte das Mädchen, deshalb haßte er Hansel.
Noch war es ihm nicht gelungen, Moidl’s Herz zu gewinnen. Wenn er ihr auf dem Wege zur Kirche begegnet war, oder ihren Vater, dessen Gehöft wohl noch fünfhundert Fuß höher am Berge lag, als sein eigenes, besucht hatte, dann hatte er sich ihr stets in der freundlichsten Weise genaht, aber Moidl war ihm gegenüber stets ruhig und kalt geblieben, und selbst durch seine Späße war er nicht im Stande gewesen, ein Lächeln auf ihrem Gesichte hervorzurufen.
Das hatte ihn zwar geärgert, aber nicht beunruhigt, denn wenn sein Trauerjahr verflossen war und er um ihre Hand werben konnte, dann mußte sie doch die Seinige werden, denn so thöricht konnte sie nimmer sein, ihn, den reichsten Bauer im ganzen Thal, zurückzuweisen.
Daß die Moidl den Hansel gern gehabt hatte, wußte er auch. Der Bursche war indessen schon zwei Jahre fort und mit seinem Vater ging es von Jahr zu Jahr rückwärts. Sein Gehöft war verschuldet und konnte kein Mädchen verlocken, Herrin desselben zu werden.
Das hatte er sich oft genug gesagt, nun der Hansel aber unerwartet zurückgekehrt war, war seine Zuversicht doch in’s Wanken gerathen.
In der Kirche schwand sein Groll nicht. Er sah, daß Hansel sich so aufgestellt hatte, daß er die Moidl sehen konnte, und sie hatte ihn auch bereits bemerkt, denn ihr Gesicht war mit Gluth übergossen.
Wohl beugte sie sich nieder auf das Gebetbuch, sobald sie indessen die Augen aufschlug und dieselben dem Blicke Hansel’s begegneten, schoß ihr auf’s Neue das Blut in die Wangen.
David wandte nicht eine Minute lang den Blick von den Beiden. Es gährte und kochte in ihm. Er hätte vorstürzen und den Welschen, wie er Hansel stets nannte, niederschlagen mögen.
Ehe die Messe beendet war, verließ er die Kirche. In dem nahen Wirthshause suchte er das verzehrende Feuer in seiner Brust durch Wein zu löschen. Dann lachte er wild auf. Er lachte über den Welschen, der es wagte, seinen Weg zu kreuzen, er wollte ihm bald die Lust für immer verderben. Heftig schlug er mit der Faust auf den Tisch.
Als die Messe beendet war und die Leute aus der Kirche traten, blieb Hansel neben der Thür stehen. Und als die Moidl kam, trat er zu ihr und streckte ihr die Hand entgegen.
„Guten Tag, Moidl!“ rief er, und seine Augen leuchteten.
Wieder erröthete das Mädchen, aber sie legte ihre Hand in die seinige und bemerkte es kaum, daß er dieselbe festhielt.
„Guten Tag, Hansel,“ entgegnete sie mit leise bebender Stimme. „Wie geht’s Dir?“ fügte sie fragend hinzu.
„Fragst noch!“ rief der Bursche mit heiterem Lachen. „Wie [499] kann mir’s anders ergehen als gut, nun ich wieder hier bin! Und noch viel schöner bist Du geworden, Moidl,“ fügte er leise hinzu.
„Moidl, komm!“ rief ihr Vater, der aus der Kirche trat, mit strengem Tone.
Das Mädchen zuckte zusammen und entzog Hansel ihre Hand, aber nicht ohne schnellen, innigen Druck.
Hansel hätte aufjauchzen mögen.
„Guten Tag, Oberburgsteiner!“ wandte er sich an des Mädchens Vater und streckte ihm die Hand entgegen.
„Guten Tag,“ entgegnete der Bauer, den Kopf halb abwendend und die dargereichte Hand nicht annehmend. „Komm,“ wandte er sich an seine Tochter und schritt weiter.
Er war eine große, hagere Gestalt In seinen Zügen lag etwas Hartes und Strenges, nichts von dem heiteren Sinne der Tiroler. Spät hatte er sich verheirathet. Seine Frau war ihm schon nach wenigen Jahren, nachdem sie ihm die Tochter geschenkt, gestorben. Allein war er nun durch das Leben gegangen. Mit einigen Knechten und Mägden hatte er die Arbeit getheilt, und er kannte nichts Anderes als arbeiten und erwerben. Seine Tochter war wie ein Edelweiß allein und sich selbst überlassen aufgewachsen, und wie ein Edelweiß blühte sie.
Und die Besitzung des Bauern hatte das Ihrige dazu beigetragen, ihn von den Menschen zu entfremden. Hoch oben am Berge, mehr denn tausend Fuß über der Thalsohle, lag sie bereits in dem Bereiche der Wolken. Tagelang war sie in Nebel gehüllt, wenn im Thal der Sonnenschein sich lagerte, und im Winter war sie durch Schnee oft wochenlang völlig abgeschlossen.
Im Sommer stieg der Bauer nur Sonntags den beschwerlichen Weg hinab, um die Messe zu hören, und nach derselben in dem nahen Wirthshause, dem „Elephanten“, seinen Wein zu trinken und mit den Bekannten zu plaudern.
Ohne zur Seite zu blicken, schritt er an dem Wirthshause vorüber.
„Willst Du nicht einkehren?“ fragte die Moidl, die an seiner Seite schritt.
„Nein, ich will heim und Du gehst mit,“ gab der Oberburgsteiner mit strengem Tone zur Antwort.
Moidl schwieg. Wie ein trüber Schatten legte es sich auf ihr hübsches, frisches Gesicht. Sie wandte noch einmal den Kopf zurück, und als sie sah, daß der Hansel in der Thür des Wirthshauses stand und ihr nachblickte, da athmete ihre Brust leichter, denn sie wußte, daß er sie nicht vergessen hatte.
„Der Oberburgsteiner hat Deinen ‚Guten Tag‘ kaum erwidert,“ sprach der Sepp zu dem Hansel.
„Kann ich’s hindern?“ entgegnete der Letztere mit heiterem Tone. In Moidl’s Augen hatte er gelesen, daß sie ihn noch liebe, der Druck ihrer Hand hatte es ihm bestätigt – mehr wünschte er nicht. „Wem mein Gruß nicht gut genug ist, der muß sich einen besseren suchen.“
Er zog den Sepp mit in das niedrige Gastzimmer und ließ sich mit dem Steger und mehreren Freunden an einem Tische nieder. An einem Nebentische saß David mit mehreren Bauern.
Hansel bestellte Wein.
„Heut müßt Ihr mit mir trinken,“ sprach er zu seinen Freunden. „Es hat mich oft verlangt, mit Euch wieder zusammen zu sitzen, und nun ist es früher gekommen, als ich gehofft hab’.“
Der Wirth brachte den Wein, und die jungen Burschen stießen an.
„Haha! die wenigen Gulden werden auch ein Ende nehmen! Es ist nur gut, daß dann von den Bergen Wasser genug fließt!“ rief der Unterburgsteiner am Nebentische mit lauter, herausfordernder Stimme.
Besorgt blickten Sepp und Franz auf den Hansel, denn auch dieser hatte einen leicht erregbaren Kopf und sie befürchteten, daß er mit David an einander gerathen könne.
Aber Hansel stimmte in das Lachen des Unterburgsteiners ein.
„Hast Recht!“ rief er mit lustigem Tone zu dem Tische hinüber. „Das Wasser möcht ich weniger missen als den Wein! Es hat den Vorzug, daß es nichts kostet und den Kopf klar erhält!“
Er hatte die Lacher auf seiner Seite.
David schwieg. Er war ein verschmitzter Kopf, aber zu schwerfällig, um es in Wortgeplänkel mit dem Hansel aufzunehmen. Er hatte ohnehin in seinem Grolle hastig getrunken, und der Wein hatte sein Gesicht geröthet und seine Gedanken verwirrt.
Still saß er da und starrte brütend vor sich hin. Er horchte auf jedes Wort, welches Hansel sprach, und es grollte in ihm, weil er keinen Anlaß fand, ihm entgegen zu treten.
Hansel schien sich um seinen Gegner nicht im Geringsten zu kümmern. Lustig erzählte er von dem Leben in Wien, von den prächtigen Bauten und dem Reichthume, der dort herrsche, von dem Glanze des Hofes, den er als Wache geschaut hatte.
„Hast Du nicht auch mit dem Kaiser gegessen?“ rief David, der den in ihm nagenden Groll nicht länger bändigen konnte.
„Nein,“ entgegnete Hansel ruhig. „Aber gesehen hab’ ich ihn oft, und wenn Du besser weißt, wie er aussieht, dann erzähl Du!“
„Ich brauch das nicht zu wissen, denn hier wird er mir doch nimmer begegnen,“ gab David zur Antwort. „Es ist ein Pfarrer nach Rom gereist, der hat seinen Hund mitgenommen, und der Hund hat den Papst gesehen, aber der Papst nicht ihn!“
„Hat der Hund dies Dir selbst erzählt?“ fragte Hansel, und wieder hatte er die Lacher auf seiner Seite.
Das Gesicht des Unterburgsteiners röthete sich vor Zorn.
„Schweig!“ schrie er und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß die Gläser umstürzten.
„Wer hier seinen Wein bezahlt, kann auch schwatzen,“ gab Hansel zur Antwort. „Frag den Wirth, der wird Dir’s sagen.“
Der Unterburgsteiner sprang auf.
„Willst mit mir raufen?“ rief er. „Auf ein großes Mundwerk bin ich freilich nicht eingerichtet.“
„Nein, ich raufe nicht mit Dir!“ entgegnete Hansel. „Du hast Groll gegen mich, und wenn ich raufe, soll es nicht in Feindschaft geschehen.“
„Ich wüßt nicht, weshalb ich Dir grollen sollt!“ rief David. „Haha! Das kann Jeder vorschützen, dem es an Muth fehlt!“
Hansel sprang empor. Mit einem Schritte stand er dicht vor dem Unterburgsteiner, dessen Gestalt ihn um mehr als Kopfeslänge überragte. Das Blut war aus seinem Gesichte gewichen, jeder seiner Nerven schien zu zucken.
„An Muth fehlt es mir nicht – ich will mit Dir raufen,“ rief er.
Seine Freunde sprangen auf und suchten ihn zurückzuhalten, denn den Unterburgsteiner hatte noch Keiner geworfen.
„Laßt mich gewähren!“ rief Hansel erregt. „Daß mir der Muth fehlt, soll mir Niemand nachsagen.“
Mehrere ältere Männer wandten sich an David, um ihn zurückzuhalten.
„Laßt ihn doch seine Kraft mit mir messen!“ entgegnete er mit höhnendem Lachen. „Mit dem Munde allein läßt sich das nicht ausmachen.“
Alle begaben sich auf den Hof des „Elephanten“. Hastig warfen David wie Hansel ihre Hüte fort und zogen die Joppen aus. Sie streiften die Hemdärmel empor, und wer die kräftigen, reckenhaften Arme des Unterburgsteiners sah, konnte über den Ausgang kaum im Zweifel sein.
Die Männer und Burschen hatten um die beiden Gegner einen Kreis gebildet, der hinreichend Raum ließ. Eine ernste und besorgte Stimmung herrschte unter ihnen; denn dies war kein Ringen, in dem zwei übermüthige Buben ihre Kräfte maßen, es war der Kampf zweier Gegner, die sich haßten.
Einen Augenblick standen David und Hansel einander regungslos gegenüber, Auge im Auge; Jeder schien dem Andern eine Schwäche in der Stellung abzulauern. Auf dem Gesichte des Unterburgsteiners lag der Hohn und die Zuversicht eines sicheren und leichten Sieges.
Endlich fuhren sie auf einander los. Es war das Werk eines Augenblicks, aber Beide hatten sich regelrecht erfaßt. Das Ringen begann. David bot all seine Kraft auf, um den Gegner mit einem Rucke niederzuwerfen, aber er hatte denselben unterschätzt. Durch das Gewicht seines reckenhaften Körpers suchte er ihn niederzudrücken, aber Hansel’s Sehnen schienen während des Kampfes zu schwellen, er gab seinem Gegner nicht um einen Zoll nach.
Lautloses Schweigen herrschte ringsum. Nur mit den Augen gaben Hansel’s Freunde sich ein Zeichen, daß auch sie sich über die Kraft des Freundes getäuscht hatten.
[500] Man hörte das laute Athmen der Kämpfenden, man sah, wie ihre Brust wogte. Der Eine suchte den Andern zurückzudrängen, aber Hansel’s Fuß hatte sich ebenso fest in den Erdboden gestemmt, wie der nägelbeschlagene Schuh des Unterburgsteiners. David’s Gesicht röthete sich mehr und mehr, der Zorn, einen Gegner gefunden zu haben, den er unterschätzt hatte, beengte seine Brust. Hier stand Kraft gegen Kraft, der Ausgang schien allein von der Ausdauer abzuhängen.
Da raffte Hansel sich zusammen, er drängte den Gegner zurück, die Umstehenden wichen zur Seite, jede Muskel seiner Arme trat scharf hervor, noch einmal zuckten sie, da warf er den Unterburgsteiner zu Boden.
Unwillkürlich athmeten alle Umstehenden erleichtert und erfreut auf.
Die beiden Gegner lagen zu Boden. Ihre Brust rang nach Athem. Ihre Kräfte schienen erschöpft zu sein. Ihre Augen, die kaum eine Handspanne von einander entfernt waren, ruhten starr und voll Haß in einander.
„Du hast es gewollt!“ rief Hansel, ließ den Gegner los und richtete sich empor.
Einen Augenblick lang blieb der Unterburgsteiner regungslos liegen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er geworfen war. Er schloß die Augen, und seine Brust rang nach Athem. Dann griff seine Rechte nach einem Steine, er sprang empor, und Alles vergessend, drang er auf Hansel ein.
Noch hatte dieser von der Anstrengung sich nicht erholt. Als er indessen den Gegner erblickte, als er sah, wie derselbe den Arm erhoben, um mit dem Steine seinen Kopf zu zerschmettern, zuckte er wie vom Blitze getroffen zusammen. Mit einem einzigen Sprunge hatte er ihn unterlaufen und erfaßt, mit der Kraft der Verzweiflung hob er den riesigen Körper empor und schleuderte ihn zu Boden.
Der Unterburgsteiner schrie wild auf vor Schmerz und Wuth. Er raffte sich taumelnd empor, riß ein Messer aus der Tasche und wollte mit demselben auf Hansel eindringen, aber mehr denn Zehn sprangen auf ihn ein, umklammerten seine Arme und entwanden ihm das Messer.
Fast ohnmächtig brach die große Gestalt zusammen, und nur zwei von Allen blieben bei ihm, um ihn zu beruhigen und fortzuführen.
Bleich und von der Anstrengung erschöpft stand Hansel da.
„Ihr hättet ihn ruhig gewähren lassen sollen, denn ich hätte auch sein Messer nicht gefürchtet,“ sprach er zu den Freunden, die jubelnd auf ihn einstürmten.
Sie Alle hatten den Unterburgsteiner gefürchtet und unter dem Drucke desselben gelitten, mit einem Male war dieser von ihnen genommen. Der Große war von einem Burschen geworfen, dem es Niemand zugetraut hatte; laut jubelten sie auf. Triumphirend zogen sie Hansel in das Gastzimmer zurück. Jeder rief nach Wein, um den Helden freizuhalten.
Hansel allein schien über seinen Sieg wenig erfreut zu sein. Erschöpft und vor sich hinstarrend saß er da.
„Ich habe mir heute einen Feind erworben, den nichts versöhnen wird,“ sprach er.
„Du brauchst ihn nicht mehr zu fürchten, er wird Dir ausweichen,“ rief Sepp Plankensteiner.
„Die Feinde, die uns offen entgegentreten, sind nicht die schlimmsten,“ entgegnete Hansel. Die Besorgnisse die ihn erfüllten, wurden indessen bald durch den Wein verdrängt, und kaum eine halbe Stunde später ging’s in der Wirthsstube so lustig zu wie seit Jahren nicht.
Währenddem stieg der Besiegte langsam den steilen Pfad zu dem Unterburgstein empor. Er hatte den Weg manch tausendmal gemacht, und nie war ihm derselbe beschwerlich erschienen, jetzt mußte er mehr denn einmal still stehen, um Athem zu schöpfen und den Schweiß von der Stirn zu wischen, und doch schien die Sonne nicht warm, sondern ein frischer, kühler Wind wehte von Norden her.
[513] Noch an demselben Tage lief die Kunde, daß der Unterburgsteiner durch Hansel Haidacher geworfen sei, fast durch das ganze Thal hin. Aber sie fand nicht überall Glauben, so sehr auch die Meisten dem großen Bauer eine solche Niederlage gegönnt hätten. Manche hielten es für unmöglich, denn sie kannten David’s überlegene Kraft, Andere glaubten, das Ringen könne kein ehrliches gewesen sein und Hansel werde eine List gebraucht haben, um seinen Gegner zum Sturz zu bringen.
Dem traten freilich Diejenigen, welche Zeugen des Raufens gewesen waren, entschieden entgegen, und selbst die Freunde des Unterburgsteiners mußten zugeben, daß das Ringen ein regelrechtes gewesen sei und Hansel sich keines unerlaubten Mittels bedient habe. Sie mußten auch einräumen, daß David den Heimgekehrten gereizt und zum Raufen aufgefordert habe.
Am wenigsten von Allen freute sich Hansel selbst über den Sieg, denn er wußte wohl, daß er einen schlimmen und unversöhnlichen Feind sich dadurch erworben hatte.
Am Abend zuvor war er heimgekehrt, und der Abend brach wieder herein, als er langsam zu dem Gehöfte seines Vaters, welches in einer Höhe von mehr denn tausend Fuß über der Thalsohle am Berge lag, emporstieg. Der Kopf war ihm vom Weine schwer.
Auf der Mitte des Weges ließ er sich auf einem Felsblocke nieder. Ihm gerade gegenüber an dem Bergabhange lag die große Besitzung des Unterburgsteiners. Wie stattlich sie sich ausnahm! Haus und Stallungen waren neu gedeckt. Sanft abfallende Aecker umgaben das Gehöft ringsum, und er wußte nur zu gut, wie prächtig dort das Getreide wuchs, wie reiche Ernten die Wiesen oberhalb der Besitzung gaben und wie weit der Wald, der zu der Besitzung gehörte, am Berge hinaufreichte.
Dann richtete er den Blick höher hinauf, und hoch oben, fast dem Bergesgipfel nahe, lag der Oberburgstein. Stolz blickte er von seiner Höhe in das Land hinein. Während das Thal tief unten längst im Schatten lag, vergoldete die scheidende Sonne noch die Fenster dort oben. So deutlich sah er sie, daß er die Moidl erkannt haben würde, wenn sie vor die Thür getreten wäre; so nahe erschien ihm das Haus, daß ein lauter, lustiger Jauchzer zu ihm hallen mußte; aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt, denn er dachte daran, wie kalt und unfreundlich der Oberburgsteiner seinen Gruß erwidert hatte.
Langsam stieg er den Berg hinan. In dem elterlichen Hause angelangt, plauderte er noch kurze Zeit mit seinem Vater und seiner Mutter, dann legte er sich zur Ruhe. Er war müde. Nicht die Anstrengung des Ringens, sondern die Aufregungen und Eindrücke des Tages hatten ihn erschöpft.
Früh am folgenden Morgen stand er auf. Er schritt durch das Haus in den Stall. Zwei elende, abgemagerte Kühe standen in demselben, der Heuschober war nicht zur Hälfte gefüllt. Was er enthielt, reichte nicht einmal für die beiden Kühe aus. Das Haus war baufällig. Der Sturm hatte einen Theil des Daches fortgerissen und der Schaden war nicht wieder ausgebessert. Langsam schritt er weiter. Seine Mutter hatte ihm vor einem Jahre geschrieben, daß durch einen Bergsturz eine Wiese und ein Stück Feld verschüttet seien, daß sein Vater jedoch hoffe, beide wieder frei zu machen. Er erschrak, als er die Steinmassen, welche Feld und Wiese bedeckten, erblickte, denn so schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt. Noch war nichts geschehen, um den Felsschutt fortzuräumen, sein Vater war ja schwach und krank, und hier entsank ihm der Muth und das Vertrauen auf seine eigene Kraft.
Ihn verlangte nach Arbeit. Während der Heimfahrt auf der Eisenbahn hatte er sich ausgemalt, wie er mit kräftiger, frischer Hand eingreifen werde, um das väterliche Gehöft wieder emporzubringen, er traute sich zu, mehr auszurichten, als zwei Knechte – hier stand er vor einer Arbeit, die ihm Bangen einflößte. Es gehörte die Arbeit von Monaten dazu, um nur die Wiese freizumachen, und dann hatte er noch nicht die geringste Sicherheit, daß nicht beim nächsten Regengusse oder im Frühjahre, wenn der Schnee aufging, die oberhalb liegenden Steinmassen Alles wieder verschütteten.
Er ging in den Wald, der seinem Vater gehörte. Den Bestand desselben hatte er nie als einen guten gekannt, aber so gelichtet wie jetzt war er vor zwei Jahren nicht gewesen. Das Herz sank ihm vor die Fuße, denn auf den Wald hatte er seine Hoffnung gebaut, die war nun auch dahin. Sein Vater hatte all die besten Bäume fällen lassen, um die Zinsen der Hypotheken, die auf der Besitzung hafteten, zu decken und das Leben zu fristen. Kein Vorwurf stieg in ihm auf, denn er wußte wohl, daß nur die Nothwendigkeit seinen Vater dazu getrieben hatte; in ihm zehrte nur der Gedanke, wie seine Hoffnung, das Mädchen, welches er so innig liebte, erringen zu können, mit jedem Schritte geringer wurde.
Konnte er jetzt noch wagen, vor den Oberburgsteiner hinzutreten und um die Hand seiner Tochter zu werben? Der Mann [514] würde ihn mit höhnendem Lachen zurückweisen. Konnte er hoffen, daß des Mädchens Herz in Liebe ausharren werde, da er bei allem Fleiße Jahre nöthig hatte, um das väterliche Gut etwas wieder emporzubringen? Das war es, was ihm die Brust zusammenschnürte.
Er blickte hinüber zum Oberburgstein, der lag in vollem Morgensonnenglanze da. Von seiner Esse stieg eine graue, gerade Rauchsäule zum Himmel empor. Das Alles lag so hell und nahe da. Weshalb hatte er nicht Flügel, um sich hinüber zu schwingen, aber so tief wie das Thal war, welches zwischen ihm und dem Oberburgstein lag, so tief war auch die Kluft, welche ihn von dem stolzen Bauer trennte.
Nur kurze Zeit gab er sich diesen trüben Gedanken hin, dann raffte er sich auf, denn das Kopfhängen konnte ihm am wenigsten nützen. Er kehrte zum Gehöfte zurück und ging frisch an die Arbeit, die sich ihm von allen Seiten aufdrängte. Er wollte thun, was in seiner Kraft stand. Eins konnte ihm doch Niemand wehren, daß er jeden Tag und zu jeder Stunde hinüber schaute zum Oberburgstein, daß er Grüße hinübersandte und hoffte, daß auch die Moidl sein gedenken werde. –
Der Unterburgsteiner hatte sein Gehöft mehrere Tage lang nicht verlassen. Es hatte ihn mächtig gepackt, daß er im Raufen geworfen war. Er würde dies ruhiger ertragen haben, wenn es nicht durch den Welschen, durch den, den er so glühend haßte, geschehen wäre. Und er konnte sich nicht einmal mit dem Gedanken beruhigen, daß er eine schwache Stunde gehabt habe, denn er fühlte noch, wo ihn die eisernen Hände des Welschen ergriffen. Wie einen Ball hatte derselbe ihn erfaßt und zur Erde geschleudert.
Schlimme Gedanken fuhren ihm durch den Kopf hin, während er in seiner Stube saß und brütend vor sich hinstarrte. Wenn er dem Welschen auflauerte und ihn niederschlug, wenn er ihn von einem Felsen hinabstürzte, wer konnte dann dem zerschmetterten Körper ansehen, daß er ihn hinabgestürzt? Er schreckte vor dieser That selbst nicht zurück, aber ein Bedenken stieg doch in ihm auf. Sollte nicht doch der Verdacht auftauchen, daß er den Gegner aus dem Wege geräumt habe, und konnte er dann hoffen, daß die Moidl je die Seinige werde?
Das war es, was ihn zurückhielt. Vergebens marterte er seinen Kopf, um einen andern Weg zu finden, auf dem er Hansel entfernen konnte.
Als noch einige Tage geschwunden waren, da wuchs auch sein Muth wieder. Des Mädchens Vater war stets freundlich gegen ihn gewesen und wies seine Werbung sicher nicht zurück. War der Oberburgsteiner auch ein strenger und finsterer Mann, so konnte er für seine Tochter doch keinen reicheren Mann begehren. Beide Besitzungen grenzten an einander, und wenn sie in einer Hand vereinigt wurden, so konnte sich kein Mann in dem ganzen Thale mit dem Besitzer messen.
Am nächsten Morgen zog er seine Sonntagsjoppe an, steckte von den Winternelken, die in seinem Fenster blühten, eine frische Blume auf seinen Hut und stieg zum Oberburgstein hinauf.
Als er dem Gehöft sich näherte, sah er die Moidl am Fenster stehen, aber schnell trat sie zurück, als sie ihn erblickte. Er hatte durch ein tüchtiges Glas Holderbranntwein sich zu dem schweren Gange gestärkt, sein Muth hielt deshalb Stand.
„Guten Tag, Oberburgsteiner,“ sprach er, als er zu dem Bauer in das Zimmer trat.
Der Angeredete, der auf einer Bank am Fenster saß, erhob sich langsam und streckte ihm die Hand entgegen.
„Setz’ Dich,“ erwiderte er, indem er einen Schemel an den Tisch rückte. „Ich hab’ in das Land geschaut und mein’, es ist gut, daß das Vieh von den Almen zurück ist, denn es steckt Schnee in der Luft.“
„Der Himmel ist klar und der Wind kommt aus Norden,“ warf David ein.
„Um so schlimmer, dann wird der Winter gleich mit dem ersten Schnee eintreten,“ fuhr der Bauer fort. „Es ist heuer zeitig, aber mir kann’s recht sein. Da können meine Knechte das Holz, was sie gefällt haben, noch vor dem Christfest zu Thal bringen. Du hast’s bequemer und kannst, was Du brauchst, jederzeit hinabschaffen.“
„Ja, der Unterburgstein liegt günstiger,“ entgegnete David, der auf seine Besitzung stolz war.
„Das will ich nicht gesagt haben,“ warf der Bauer ruhig, aber mit ernstem Gesichte ein. „Wer hier oben geboren ist und gelebt hat, der hält’s unten nicht lange aus. Wenn ich in’s Thal hinabsteig’, dann ist es mir stets, als ob etwas auf meiner Brust läg’ und drücke.“
„Im Thal hielt ich’s auch nicht aus,“ rief David. „Du kommst selten zu mir, deshalb weißt Du nicht, daß sich auf dem Unterburgstein auch gut leben läßt. Luft und Wind hab’ ich allzeit genug. Aber ich hoff’, Du wirst dies kennen lernen.“
„Was meinst?“ fragte der Bauer, die Augen forschend auf den jüngeren Mann richtend.
„Daß ich’s offen heraussage,“ gab David zur Antwort. „Ich komm’ zu Dir, um die Moidl zu werben. Ich brauch’ eine Frau, und ich wüßt’ keine, die auf den Unterburgstein besser paßte, als die Moidl.“
Der Bauer verzog keine Miene.
„Hast es so eilig?“ fragte er.
„Ja. Ich wüßt’ nicht, worauf ich noch warten sollt’; die Stätte für eine Frau ist bereit.“
„Hast schon mit der Moidl gesprochen?“ forschte der Bauer weiter.
„Nein, ich wollt’ zuerst wissen, wie Du denkst,“ gab David zur Antwort. „Ich hoff’, die Moidl wird nichts dagegen haben, Herrin auf dem Unterburgstein zu werden, wenn es Dein Wille ist.“
Ueber das Gesicht des Bauern glitt ein genugthuendes Lächeln.
„Du hast klug gehandelt, denn ohne meinen Willen wär’ es nicht gegangen,“ sprach er. „Du hast mir Deine Meinung offen gesagt, und offen sollst Du die meinige hören. Mir ist’s recht, und ich hab’ nichts dagegen, wenn sie bald dort unten als Deine Frau einzieht. Es ist vielleicht gut so!“
Er streckte David seine Rechte entgegen, und freudig schlug dieser ein, denn er hatte kaum auf ein so williges Entgegenkommen bei dem finsteren Manne gerechnet.
„Bestimm’ Du, wenn die Verschreibung sein soll!“ rief er. „Wie hoch mein Gehöft zu schätzen ist, weißt Du, und was die Moidl mitbringt, darnach frag’ ich nicht, denn ich würde sie zum Weibe begehren, selbst wenn sie nichts hätte.“
„Eine Bettlerin ist sie nicht,“ entgegnete der Oberburgsteiner nicht ohne Stolz, denn seit Jahren hatte er nur für seine Tochter gespart und gearbeitet. „Sie braucht sich ihrer Mitgift auch nicht zu schämen. Ehe ich aber die Verschreibung aufsetz’, will ich ihr sagen, daß Du um sie geworben.“
Er öffnete die Thür und rief laut den Namen seiner Tochter.
Einige Minuten später trat die Gerufene ein. David hatte sie nie so schön gesehen, denn ihre Wangen waren geröthet, und aus ihren großen Augen leuchtete ein Gefühl der Befangenheit.
Ruhig begrüßte sie den Unterburgsteiner.
„Moidl,“ sprach ihr Vater, „der David hat um Deine Hand geworben, ich habe ihm dieselbe zugesagt und denk’, es wird Dir recht sein, wie es mir recht ist.“
Das Mädchen fuhr unwillkürlich zusammen. Es hatte dies vorausgesehen und doch erschrak es. Das Blut wich aus seinen Wangen, es preßte die Hand auf die Brust und schien sprechen zu wollen, aber die Lippen versagten ihm den Dienst.
Dies Alles war dem Oberburgsteiner nicht entgangen, und seine buschigen Brauen zogen sich zusammen.
„Gieb eine Antwort,“ mahnte er.
Moidl rang nach Athem. Aengstlich und bittend zugleich blickte sie zu ihrem Vater auf.
„Nie – nie! Ich kann die Seinige nicht werden!“ rief sie dann.
„Moidl, ich hab’ Dich so lieb!“ rief David.
„Laß mich reden,“ unterbrach ihn der Bauer streng. „Sprich, weshalb Du meinem Willen entgegentrittst,“ wandte er sich an seine Tochter. „Sprich!“
„Ich lieb’ ihn nicht,“ gab die Moidl zur Antwort.
„Haha! Die Lieb’ wird kommen, wenn Du erst sein Weib bist!“
„Nein – nie! Ich will gar nicht heirathen – ich will bei Dir bleiben!“
„Moidl, ist Dir’s zu gering, Herrin auf dem Unterburgstein zu werden?“ warf David ein.
[515] „Ja, wenn mein Herz nicht mitziehen kann, ist mir’s zu gering!“ rief das Mädchen. „Und Dir wird mein Herz nie gehören – nie!“
„Hab’ ich Dir je ein Leid zugefügt?“ fragte David aufspringend.
„Laß das Fragen,“ unterbrach ihn der Bauer ärgerlich. „Du hast mein Wort, und die Moidl kennt meinen Willen, ich hab’ beides noch immer durchgesetzt.“
„Diesmal nicht, Vater!“ rief das Mädchen entschlossen. „Mein Herz kannst Du nicht zwingen, und ehe ich des David’s Weib werde, sterbe ich!“
„Es stirbt sich nicht so schnell!“ rief der Bauer. „Du kennst meinen Willen! Auf dem Oberburgstein gelt’ ich, so lang’ ich leb’! Nun fort, Du wirst schon lernen, daß mein Wille gilt!“
Das Mädchen eilte aus dem Zimmer.
Verblüfft blickte David darein, denn er hatte nicht erwartet, auf einen so entschiedenen Widerstand zu stoßen. Er sprach dies aus.
„Genügt Dir mein Wort nicht?“ entgegnete der Bauer ärgerlich.
„Wohl, wohl,“ gab David zur Antwort. „Aber wenn die Moidl auf ihrem Kopfe besteht?“
„Wart’ es ab, wessen Kopf der härtere ist!“
David bewegte bedenklich den Kopf hin und her, denn er hegte wenig Vertrauen, daß der Bauer seinen Willen durchsetzen werde.
„Sie liebt einen Andern,“ bemerkte er.
„Wen meinst Du?“ fragte der Oberburgsteiner ruhig, obschon er sehr wohl wußte, wen seine Tochter im Herzen trug.
David zögerte mit der Antwort, er konnte Hansel’s Namen nicht über die Lippen bringen.
An das Fenster tretend zeigte er mit der Hand auf das Gehöft Haidacher’s, welches so grau und düster drüben an dem Berge lag.
„Den dort,“ sprach er.
Der Bauer lachte höhnend auf.
„Haha! Den Hansel!“ rief er. „Er mag Dich beim Raufen geworfen haben, meinen Kopf kriegt er nicht unter!“
Das Blut schoß in das Gesicht des Besiegten. Es erbitterte ihn, daß der Oberburgsteiner ihm die Schmach so offen in’s Gesicht warf, er wollte heftig antworten, aber er bezwang sich.
„Ich will Dir sagen, wie ich denk’,“ fuhr der Bauer fort. „So lang’ noch zwischen dem Gehöft des Haidacher und dem Oberburgstein das Thal liegt, so lang’ werden der Hansel und die Moidl auch nicht zusammen kommen – wenigstens so lang’ ich lebe, nicht,“ fügte er hinzu. „Was der Bub’ dort drüben denkt, weiß ich nicht, die Moidl hat ein hübsches Gesicht, das mag es ihm angethan haben – aber ich glaube nicht, daß er je wagen würde, seinen Fuß hierher zu setzen und um ihre Hand zu werben.“
„Und wenn er es thut?“ warf David ein.
Der Bauer richtete seine Gestalt stolz und gerade empor, aus seinen Augen leuchtete es.
„Ich bin zu alt, um mit ihm zu raufen,“ rief er mit erregter Stimme, „aber noch hab’ ich Kraft genug, ihn von meiner Besitzung zu werfen! Nun geh’! Da hast das Wort des Oberburgsteiners!“
David drückte dem Bauer die Hand und verließ das Haus. Er sah indessen nicht aus wie ein glücklicher Freier, der sich vom Vater ein Jawort geholt hat. Wohl kannte er den festen und zähen Sinn des Bauers, der nicht aufgab, was er einmal beschlossen hatte, aber hing es denn allein von seinem Kopfe ab? Hatte er die Macht, seine Tochter zu zwingen? Dies fuhr ihm durch den Kopf hin und beugte seine große Gestalt, die sonst so selbstbewußt auftrat.
Seitwärts von dem Gehöfte, ungefähr hundert Schritte von demselben entfernt, halb versteckt unter hohen Kiefern und zugleich geschützt durch dieselben vor den Stürmen, die hier oben mit voller Wildheit herrschten, lag eine keine Capelle. Der Vater des Bauers hatte sie errichtet, um im Winter, wenn er eingeschneit war und Wochen lang nicht zu Thal steigen konnte, um die Messe zu hören, einen Ort zu haben, an dem er Sonntags seine Andacht verrichten konnte.
Es was nur ein enger und einfacher Raum. Vor einem grob aus Holz geschnitzten und mit grellen Farben überstrichenen Crucifix befand sich ein einfacher Betschemel.
Zu dieser kleinen Capelle richtete David seine Schritte, fast ohne Absicht. An ihr vorüber führte ein Weg durch den Wald nach seinem Gehöft.
Als er sich der Capelle näherte, sah er die Thür derselben geöffnet. Auf dem Betschemel kniete eine weibliche Gestalt – die Moidl. Er wollte vorüberschreiten, aber schnell besann er sich eines Andern. Vorsichtig trat er näher.
Die Betende hörte ihn nicht; erst als er den schweren Bergschuh auf die zu der Capelle führende Steinstufe setzte, wandte das Mädchen den Kopf um. Erschreckt sprang sie auf, das Blut war aus ihren Wangen gewichen.
„Was willst Du hier?“ rief sie, und furchtlos ruhte ihr Auge in dem des jungen Mannes.
„Ich wollt’ Dich nicht stören,“ gab David zur Antwort. „Mein Weg führte mich hier vorüber, ich sah Dich hier knieen, und da wollt’ ich Dich bitten …“
„Warum?“ fragte die Moidl ruhig.
Es wurde der großen Gestalt nicht leicht, die rechte Antwort zu finden.
„Ich will Dich allezeit gut halten, wenn Du die Meinige wirst,“ sprach er. „Die reichste Bäurin im ganzen Thal kannst Du werden, ich gelob’ Dir, daß Du keiner nachstehen sollst!“
„Such’ Dir eine Andere für die Ehe, denn meine Antwort kennst Du schon,“ entgegnete das Mädchen. „Ich paß auch nicht für Dich, David. Aber eine Bitt’ hab’ ich an Dich, und ich will Dir es Dank wissen, so lange ich leb’. Gieb jeden Gedanken an mich auf und sag’ meinem Vater, daß Du Deine Werbung zurückziehest.“
„Nimmermehr! Ich hab’ sein Wort!“
„Sag’ ihm, Du seiest zu stolz, ein Mädchen zu begehren, das Dir nicht willig entgegenkomme,“ fuhr Moidl bittend fort. „Sag’ ihm, ein Unterburgsteiner brauch’ nicht zu bitten, denn ihm ständen hundert andere Thüren offen, wenn er anpoche, – sag’ ihm, ich sei nicht gut genug für Dich – ich will Dir für Alles danken.“
„Ich verlang’ den Dank nicht, denn ich geb’ Dich nicht auf!“ rief David.
„Aufgeben mußt Du mich dennoch, denn die Deinige werde ich nicht.“
„Du wirst Dich noch besinnen und fügen, Moidl.“
„Ich brauch’ mich nicht mehr zu besinnen, und zwingen kann mich auch mein Vater nicht. Wer will mich halten, wenn ich mich vom Felsen stürze?“
Das Blut stieg dem Unterburgsteiner zu Kopf, denn des Mädchens Widerstand ärgerte ihn.
„Haha! Du hoffst auf den Welschen!“ rief er erbittert. „Verrechne Dich nicht, dem ist der Weg zum Oberburgstein zu steil, und er dürft’ zu Falle kommen, ehe er oben anlangt.“
Hastig und unerschrocken trat das Mädchen einen Schritt vor, in ihren dunklen Augen zuckte es.
„Hab’ ich Dir gesagt, auf wen ich hoff’?“ rief sie. „Dein Weib werd’ ich nie, das hab’ ich hier vor dem Gottesbild geschworen und meinen Schwur brech’ ich nicht!“
Sie eilte an David vorbei und dem Hause zu.
Der Unterburgsteiner preßte die Zähne erbittert auf einander und ballte die Hand. Ohnmächtige Wuth zehrte in ihm, und sie war nicht größer gewesen, als er von Hansel geworfen war.
„Den Welschen kriegst Du nie!“ rief er der Davoneilenden nach, aber sie vernahm seine Worte nicht, denn sie war bereits im Hause verschwunden.
Langsam stieg er zu seinem Gehöft hinab.
Der Oberburgsteiner hatte Recht gehabt, schon am folgenden Tage stellte sich Schnee ein, und an den Bergen blieb er liegen, wenn auch die Sonnenstrahlen ihn an manchen Stellen im Thale wieder fortleckten. Er war der erste Bote des Winters.
Noch vor dem Schnee hatte Hansel das Dach des väterlichen Hauses und der Stallung wieder in Stand gesetzt. Er hatte sich daran gemacht, den verschütteten Acker von dem Steingeröll zu reinigen, und wenn auch am ersten Tage die Größe und Schwierigkeit der Arbeit, die vor ihm lag, ihm den Muth genommen hatte, [516] derselbe war wiedergekommen, als er nach einigen Tagen sah, wie viel er ausgerichtet hatte.
Vom frühen Morgen bis zum Abend war er thätig, und die schwere Arbeit that ihm wohl, weil sie ihm nicht Zeit ließ, seinen Gedanken nachzuhängen. Und Eins hielt seine Kräfte frisch, er brauchte nur den Kopf zu heben, dann sah er den Oberburgstein liegen und die Moidl mußte ihn erkennen und schauen, wie er arbeitete.
Sein Vater suchte ihm zu helfen, die schwachen Kräfte desselben hielten jedoch nicht lange Stand.
„Du bringst es bis zum Frühjahr nicht fertig,“ sprach Haidacher mehr als einmal.
„Wollen sehen, wer Recht hat,“ gab Hansel mit lustigem Muthe zur Antwort. „Es muß mir sogar noch Zeit zum Holzfällen übrigbleiben.“
Die Woche über war er nicht in’s Thal gegangen, um so mehr freute er sich auf den Sonntag. Dann sah er die Moidl wieder, wenn sie zur Messe ging.
Und als der Sonntag kam, schmückte er sich mit besonderer Sorgfalt und eilte jubelnd in das Thal.
Die meisten seiner Freunde traf er bereits in dem „Elephanten“ an. Sie empfingen ihn mit Jubel und machten ihm Vorwürfe, daß er nicht an einem einzigen Abende in’s Dorf herabgekommen sei.
„Ich hab’ keine Zeit,“ entgegnete er. „Es giebt viel Arbeit bei mir oben, da bin ich müd’ am Abend.“
„Ich hab’ schon geglaubt, Du fürchtest Dich vor dem David,“ rief Sepp Plankensteiner lachend.
„Ich fürcht’ Niemand und den Unterburgsteiner am wenigsten,“ gab Hansel zur Antwort.
„Du hast es aber mit dem Wirthe verdorben,“ warf Franz Steger ein. „David war sein bester Gast, und er hat sich hier nicht wieder sehen lassen.“
Hansel zuckte mit der Schulter.
„Ich hab’ ihm den Weg nicht vertreten,“ entgegnete er. „Dies Zimmer hat für Zwanzig Raum, und wenn er sich dort an jenen Tisch setzt, mich soll es nicht stören.“
Die Burschen begaben sich in die Kirche.
Vergebens suchten Hansel’s Augen die Moidl. Ihr Platz war leer. Sollte sie sich verspätet haben? Unter den Männern erblickte er ihren Vater. Weshalb war sie nicht gekommen? Der Schnee konnte sie nicht gehindert haben, denn er lag noch nicht hoch. Sollte sie krank sein?
Seine Unruhe wuchs mit jeder Minute. Die Freude, auf welche er die ganze Woche über gehofft hatte, die seine Kräfte bei der schweren Arbeit frisch erhalten, war vernichtet. Wie ein schwerer Druck lag es auf seiner Brust.
Als die Messe beendet war, trat David an der Seite des Oberburgsteiners aus der Kirche. Ohne zur Seite zu blicken, schritten sie an dem „Elephanten“ vorüber und begaben sich nach dem weiter im Dorfe gelegenen Wirthshause „Zur Post“, um dort ihren Wein zu trinken. Hansel wollte seinen Freunden nicht verraten, was in ihm vorging, er trat mit ihnen in das Wirthshaus, er bestellte Wein, aber er war nicht im Stande, denselben über die Lippen zu bringen.
Die Eintracht David’s mit dem Oberburgsteiner fuhr ihm durch den Kopf hin. Früher waren sie einander möglichst aus dem Wege gegangen.
Es litt ihn nicht in dem Wirthshause. Alles Zureden seiner Freunde war nicht im Stande, ihn zurückzuhalten. Er kehrte zu dem Gehöfte seines Vaters zurück, von dort konnte er wenigstens zu dem Oberburgstein hinüber schauen.
Wieder brachte er eine lange Woche bei der Arbeit zu. Sie wurde ihm nicht mehr so leicht, aber sein kräftiger Körper hielt aus. Er hatte wenig Hoffnung, das geliebte Mädchen am nächsten Sonntage zu sehen, aber als der Sonntag kam, schmückte er seinen Hut doch mit einer frischen Blume, ehe er zur Messe ging. –
[529] Auf dem Wege zur Kirche schritt der Oberburgsteiner mit einem älteren Bauer vor Hansel her. Sie gingen langsam, und auch er mäßigte seine Schritte, um an dem Manne, der ihn kaum eines Grußes gewürdigt hatte, nicht vorüber zu gehen.
„Wo ist Deine Moidl?“ fragte der Bauer seinen Begleiter. „Sie ist doch nicht krank?“
„Krank ist sie nicht,“ gab der Oberburgsteiner zur Antwort, und er schien absichtlich laut zu sprechen, damit Hansel die Worte vernehme. „Sie verrichte ihre Andacht oben in der Capelle, denn sie hat viel zu schaffen, um die Aussteuer einzurichten.“
„Ist sie versprochen?“ fragte der Bauer erstaunt.
„Freilich. David hat um sie angehalten, und ich hab’ ihm gesagt, daß es mir recht ist, wenn die Moidl Bäuerin auf dem Unterburgstein wird. Die Sach’ ist abgemacht.“
Das Blut war aus Hansel’s Wangen gewichen, die Kniee schienen ihm den Dienst zu versagen, aber er hielt sich gewaltsam aufrecht.
„Hat die Verschreibung schon stattgefunden?“ forschte der Bauer weiter.
„Wozu braucht’s der Verschreibung, da wir einig sind,“ gab der Oberburgsteiner zur Antwort. „David ist sein eigener Herr, Geschwister hat er nicht abzufinden, und wenn ich sterb’, hab’ ich keine andere Erbin als die Moidl. Es wird eine mächtige Besitzung, wenn die beiden Gehöft in eine Hand kommen.“
„Wann ist Hochzeit?“
„Noch ist der Tag nicht festgesetzt, aber ich denk’ bald, denn der David braucht eine Frau, und die Moidl schafft fleißig an ihrer Einrichtung.“
Hansel wollte vorstürzen und dem Oberburgsteiner in’s Gesicht rufen, er lüge, denn die Moidl könne nimmermehr das Weib David’s werden. Er beherrschte sich indessen. Seine Brust rang nach Athem. Er trat auf einen Weg, der seitwärts auf’s Feld führte. Hastig eilte er weiter, nur um Niemand zu begegnen, der ihm hätte entgegenrufen können: „Weißt Du schon, daß die Moidl des David’s Weib wird?“
Er langte am Flusse an, der sich im Thale hinzog, er hörte das Rauschen des Wehres, und es klang ihm, als ob Welle der Welle zurief: „sie wird des Unterburgsteiner’s Weib!“
Hätte er nur einmal laut aufschreien können vor Schmerz und Weh! Aber die Kehle war ihm zugeschnürt, und es war ihm, als ob er ersticken müßte.
Er ließ sich auf einen Stein nieder und blickte starr vor sich hin.
„Weshalb hat sie Dir das angethan?“ rief es in ihm. Sein Leben würde er hingegeben haben für sie, um sie zu erringen, würde er gearbeitet haben, so lange er den Arm rühren konnte – jetzt war all seine Hoffnung dahin.
Tolle Gedanken fuhren ihm durch den Kopf hin. Noch an diesem Tage wollte er das Thal für immer verlassen, denn als des Unterburgsteiner’s Weib konnte er sie nimmer sehen. Er dachte nicht daran, was aus ihm wurde – es war ihm gleichgültig. Er brauchte ja nur wieder unter die Soldaten zu gehen, der Oberst, dem er das Leben gerettet, nahm ihn sicherlich gern wieder auf.
Dieser Entschluß reifte mehr und mehr in ihm, selbst der Gedanke an seine Eltern brachte denselben nicht zum Wanken.
Er erhob sich langsam, um ihn zur Ausführung zu bringen; Lebewohl brauchte er Niemand zu sagen, denn er wollte nie zurückkehren.
Unwillkürlich erhob er den Blick. Hoch oben am Berge lag der Oberburgstein so frei und keck. Die Sonne beleuchtete ihn hell, als ab sie ihm denselben noch einmal in vollem Glanze zeigen wolle.
Er zuckte zusammen – ein Gedanke schoß in ihm auf. Wußte er denn, ob der Oberburgsteiner die Wahrheit gesagt hatte? Mochte David bei ihm um die Hand seiner Tochter geworben, mochte er ihm dieselbe zugesichert haben, das Alles kümmerte ihn nicht, wenn die Moidl nicht eingewilligt hatte, und daß sie dies nicht gethan habe, glaubte er fest.
Er hätte sich vor die Stirn schlagen mögen, weil er an ihr verzweifelt! Sie konnte ihn nicht aufgeben, wie er sie nicht aufgab. Tief athmete seine Brust auf, was sie zusammen gepreßt, war mit einem Male zersprungen. Ein lauter Juchzer entrang sich seiner Brust, er glaubte zu fühlen, wie neue Kraft seine Muskeln schwellte, und sie wollte er einsetzen, seine Geliebte zu erringen.
Sein Auge blickte sich suchend um. Wenn jetzt der Unterburgsteiner ihm entgegen getreten wäre, um mit ihm zu raufen! Zehnmal würde er die große Gestalt geworfen haben.
Mit Blindheit war er geschlagen gewesen. Fast jeden Abend bis spät in die Nacht hinein hatte er auf dem Oberburgstein ein schwaches Licht schimmern sehen. Daß es nicht aus der Stube des Bauers drang, wußte er, denn der legte sich zeitig zur Ruhe. Er hatte befürchtet, daß die Moidl krank sei, aber sie war gesund, und jetzt mit einem Male wußte er, was das Licht bedeutete.
[530] Aus ihrer Kummer drang dasselbe, weil sie nicht schlafen konnte, sie hatte vielleicht einen schweren Kampf mit dem harten Kopfe ihres Vaters zu bestehen.
Neuer Muth erfüllte ihn. Er riß den Hut vom Kopfe und schwenkte ihn grüßend zu dem Oberburgstein hinauf. Dann schritt er auf demselben Wege zurück. Aus der Kirche tönte der Klang der Orgel zu ihm, aber er war zu erregt, um in die Messe zu gehen, er konnte jetzt nicht unter die Menschen treten. Wäre die Kirche leer gewesen, dann würde er hinein gegangen sein und ein „Vaterunser“ gebetet haben.
Er ging in’s Wirthshaus. Hastig trank er von dem gebrachten Weine, er wollte den Muth, der seine Brust erfüllte, festhalten.
Nach kurzer Zeit kamen seine Freunde aus der Messe und erstaunt fragten sie ihn, weshalb er derselben nicht auch beigewohnt habe.
„Ich hab’ mich verspätet – das mach’ ich mit meinem eigenen Gewissen aus!“ rief er lachend.
„Hansel, weißt Du, daß der David um die Moidl angehalten hat?“ sprach Franz Steger zu ihm.
„Ich weiß es,“ entgegnete Hansel. „Der Oberburgsteiner hat es auf dem Kirchwege laut erzählt.“
„Und das läßt Dich so ruhig?“
„Kann ich es hindern?“
„Ich glaubte, Du hättest die Moidl gern gehabt. Für den David ist sie zu gut.“
Das Blut schoß in die Wangen des jungen Burschen, und er mußte alle Kraft zusammenraffen, um sein Herz nicht zu verrathen.
„Für mich liegt der Oberburgstein viel zu hoch,“ entgegnete Hansel mit leichtem Achselzucken. „Ich hab’ den Weg gescheut, weil ich weiß, daß ich dem Bauer doch zu gering bin. Der David ist reich.“
„Ich gönne ihm das Mädchen nicht,“ fuhr der Steger fort. „Wird auch das Gehöft dort oben sein Eigenthum, dann kennt er sich noch weniger in seinem Stolze aus. Er glaubt schon jetzt, Alle beherrschen zu können.“
Hansel lachte.
„Wenn die Moidl damit einverstanden ist, dann hat Niemand ein Recht, etwas zu sagen,“ rief er. „Nun setz’ Dich und trink! Haha! Wenn der Unterburgsteiner sich die Hochzeitsjoppe nur nicht zu früh machen läßt!“
Bis zum Nachmittage blieb Hansel mit seinen Freunden zusammen. Sie hatten ihn noch nicht so lustig gesehen. Dann stieg er zu dem Gehöft seines Vaters hinauf.
Der Abend brach herein. Seine Eltern begaben sich zeitig zur Ruhe, und auch er ging auf seine Kammer. An dem Fenster saß er und blickte hinüber zum Oberburgstein. Das Licht, welches er dort schon manchen Abend bemerkt hatte, schimmerte auch jetzt durch das Dunkel der Nacht. Vorsichtig, leise verließ er seine Kammer und das Haus. Der Himmel war klar, und der Schnee erhellte ihm den Weg. In hastigen Sprüngen eilte er thalabwärts und auf wenig betretenem Pfade stieg er zum Oberburgstein empor. Es war ein weiter, beschwerlicher und zur Nachtzeit gefährlicher Weg, in zwei Stunden konnte ein geübter Steiger ihn nicht zurücklegen, er dachte indessen nicht an die Zeit und noch weniger an die Gefahr.
Wohl rang bei dem schnellen Aufstiege seine Brust nach Athem, seine Muskeln zitterten vor Anstrengung, und der Schweiß rann ihm von der Stirn, aber es war nicht die Anstrengung allein, sondern die freudige Erregung, welche sein Blut so schnell durch die Adern trieb.
Er langte auf dem Oberburgstein an. Es war still dort oben. Nur mit leisem Rauschen zog der Wind durch die Kiefern hin. Vorsichtig näherte er sich dem Hause, und es jauchzte in ihm auf, als er den Lichtschimmer in Moidl’s Kammer noch bemerkte. Ob sie noch wachte? Er trat näher. Seine Hand griff in den Schnee und ballte ihn zusammen, vorsichtig warf er ihn an das Fenster. Eine Gestalt tauchte hinter demselben auf – es war Moidl. Leise öffnete sie das Fenster.
„Hansel, bist Du es?“ rief sie leise herab.
„Ja, Moidl,“ entgegnete der Glückliche.
„Warte, ich komme – bleib’ dort stehen, daß mein Vater Dich nicht hört.“
Wenige Minuten später trat das Mädchen aus dem Hause.
„Ich wußte, daß Du kommen müssest,“ sprach sie, als Hansel ihr entgegen eilte und sie in seine Arme schloß.
Sie entzog sich ihm nicht, sie ließ es geschehen, daß er sie küßte. Daß sie einander liebten, wußten sie seit Jahren, ohne daß sie es sich gestanden hatten.
„Du bist erhitzt,“ sprach Moidl, „in das Haus darf ich Dich nicht führen, komm zu der Capelle, dort sind wir gegen den Wind geschützt.“
Hansel fühlte es gar nicht, daß er warm geworden war. Sein Herz schlug so frendig und schnell. Auf’s Neue preßte er das Mädchen an sich.
„Nun fürcht’ ich nichts mehr!“ rief er, während sie zu der Capelle schritten.
„Was hast Du befürchtet?“ fragte Moidl.
„Daß Du das Weib des Unterburgsteiners werden könntest. Ich hörte, wie Dein Vater heute auf dem Kirchgange erzählte, daß Du mit ihm versprochen seiest und an Deiner Aussteuer schaffest. Es hat mir eine böse – böse Stunde bereitet.“
Sie waren an der Capelle angelangt und ließen sich auf der Steinstufe nieder, wo sie gegen den Luftzug geschützt waren.
„Und das hast Du geglaubt? So wenig hast auf mich vertraut?“ warf das Mädchen ein und aus ihrer Stimme klang es wie ein leiser Vorwurf.
„Moidl, es ist nicht wahr?“ rief Hansel. „David hat nicht um Deine Hand angehalten?“
„Er hat es gethan, mein Vater hat ihm auch sein Wort gegeben, aber hier vor dem Gottesbild hab’ ich geschworen, daß ich nie die Seinige werde, und ich hab’ ihm dies gesagt.“
„Moidl – Moidl,“ unterbrach sie Hansel, indem er sie mit beiden Armen umschloß. „Mein sollst Du werden! Ich bin arm, aber ich will arbeiten Tag und Nacht, um mich empor zu bringen, und ich weiß, daß es mir gelingen wird! Nun ich weiß, daß Dein Herz mir gehört, fürcht’ ich nichts mehr, harre nur aus.“
„Ich harre aus,“ versicherte das Mädchen; „ich hätt’ es ja gethan, auch wenn Du nicht gekommen wärst. Ich hab’ schwere Tage durchlebt und Schweres steht mir noch bevor,“ fuhr sie fort, indem sie den Kopf weinend an seiner Brust barg. „Mein Vater hat einen festen und herben Sinn, der giebt nicht nach. Er hat mir gesagt, wenn ich je wieder in das Thal steigen woll’, so führe mein Weg nur über den Unterburgstein, aber den Weg schlag’ ich nimmer ein, lieber stürz’ ich mich vom Felsen hinab.“
„Moidl, sprich nicht so!“ fiel Hansel ein. „Wenn Du nicht in’s Thal kommen sollst, dann komm ich zu Dir – jeden Abend. Harre nur aus.“
„Der Weg ist zu weit und zu beschwerlich,“ warf das Mädchen ein.
„Und wenn er zehnmal so weit wär’, ich käm’ doch!“ fuhr Hansel fort. „Sieh, wenn Dein Vater gewahr wird, daß sein harter Sinn nichts ausrichtet, dann wird er ihn doch ändern.“
„Er ändert ihn nicht.“
„Nun, die Erd’ ist groß, und ich weiß, daß wir auch anderwärts durchkommen.“
„David kommt fast jeden Tag und beräth mit meinem Vater, ich weich’ ihm aus,“ sprach das Mädchen. „Er haßt Dich und hat einen gewaltthätigen Sinn; wenn er gewahr wird, daß Du zu mir kommst, so leb’ ich um Dich in Angst.“
„Ich fürchte ihn nicht,“ gab Hansel heiter zur Antwort. „Er weicht mir aus, seitdem ich ihn beim Raufen geworfen hab’, denn er weiß, daß ich ihm gewachsen bin.“
„Er hat einen tückischen Sinn.“
„Hab’ keine Sorge,“ suchte Hansel die Geliebte zu beruhigen. „Ich kenn hier jeden Stein und Felsen, und mein Auge sieht auch zur Nachtzeit scharf. Morgen komm’ ich wieder um dieselbe Zeit, dann schläft Dein Vater wie der David. Das Licht aus Deiner Kammer soll mir das Zeichen sein, daß es hier oben gut steht und Du mich erwartest, und es kann uns nicht verrathen, denn der Unterburgsteiner vermag es nicht zu sehen. Nun harre aus und nimm den harten Sinn Deines Vaters Dir nicht zu sehr zu Herzen, zwingen kann er Dich nicht, und ich geb’ Dich nicht auf, und wenn mir das ganze Thal als Eigenthum verheißen würde.“
Die beiden Liebenden trennten sich, und glücklich kehrte Hansel heim.
[531] Die beiden glücklichen jungen Menschen trafen sich manche Nacht unter einem überhängenden Felsen in der Nähe des Oberburgsteins. Dort waren sie gegen Wind und Wetter geschützt und goldene Pläne der Zukunft bauten sie dort auf.
Die Moidl trat jetzt der Härte ihres Vaters mit größerer Ruhe entgegen. Sie ertrug es, daß er kein freundliches Wort mit ihr redete; es war ihr sogar lieb, daß er ihr untersagte, Sonntags in’s Thal zur Messe zu gehen. Ihre Wangen, welche blaß geworden waren, färbten sich sogar wieder.
Der Bauer täuschte sich über ihre Ruhe.
„Ihr Kopf wird endlich zur Vernunft kommen,“ sprach er zu David, der fast jeden Tag zu ihm kam. „Der Eine braucht längere Zeit als der Andere, um zu erkennen, was zu seinem Glücke ist; man muß Jedem seine Zeit gönnen.“
„Es ärgert mich, wenn die Bauern mich fragen, wann meine Hochzeit sei, und ich’s nicht sagen kann,“ warf David ein.
„Bist doch früher nie um eine Antwort verlegen gewesen! Sag’ ihnen, genau an dem Tage, an welchem Du die Moidl als Bäuerin auf dem Unterburgstein einführest, dann mögen sie es ausrechnen! Den Kopf darfst Du freilich nicht hängen lassen, das bringt die Leute auf falsche Gedanken. Du hast mein Wort, das laß Dir genügen.“
Und David beruhigte sich, so schwer es ihm auch wurde, seine Wünsche hinauszuschieben.
Eines Tages saß die Moidl allein im Zimmer. David war nicht gekommen und ihr Vater war in den Wald gegangen, um nach den Holzknechten zu sehen. Sie dachte an den Hansel, und seit langer Zeit sang sie zum ersten Male wieder ein Lied. Da wurde die Thür geöffnet und die große Gestalt des Unterburgsteiners trat ein.
Des Mädchens Mund verstummte sofort, das Blut wich aus ihren Wangen.
„Weshalb singst nicht weiter?“ fragte David näher tretend.
„Ich sing’ nur für mich und nicht für Andere,“ entgegnete Moidl, ohne aufzublicken.
Die große Gestalt schwieg einen Augenblick und schien nach einem andren Anknüpfungspunkte zu suchen.
„Moidl, ich hab’ in meinem Hause Vieles neu herrichten lassen, willst Dir’s nicht einmal anschauen?“ fuhr er dann fort.
„Wozu? Ich bin nicht so neugierig.“
„Ich meine, es könnt’ Dir nicht ganz gleichgültig sein.“
„Doch, es ist mir gleichgültig. Du kannst in Deinem Hause vornehmen, was Du willst.“
„Da Du doch auch darin wohnen wirst, wär’s mir lieb, wenn ich Deinen Geschmack getroffen hätt’,“ sprach David.
„Ich darin wohnen?“ wiederholte die Moidl, indem sie langsam aufblickte. „Dein Gedächtniß scheint kurz zu sein, sonst würdest Du nicht vergessen haben, was ich Dir gesagt.“
„Es konnte Dein Ernst nicht sein.“
„Es ist mein Ernst; mit Dir habe ich nie gespaßt.“
Der Unterburgsteiner trat näher.
„Ich mein’ es so gut mit Dir,“ sprach er und erfaßte des Mädchens Hand.
Hastig entzog Moidl ihm dieselbe und sprang auf.
„Rühr’ mich nicht an!“ rief sie hastig, drohend.
„Und wenn ich’s dennoch thät?“ entgegnete David lachend und streckte den Arm nach ihr aus, als ob er sie umfangen wolle.
Das Mädchen sprang zurück und erfaßte ein auf dem Tische liegendes Messer.
„Versuch es!“ rief sie und blickte ihn unerschrocken an.
David preßte erbittert die Lippen auf einander. Das Messer würde er nicht gefürchtet haben, der Widerstand des Mädchens erzürnte ihn, denn derselbe zeigte ihm deutlich genug, wie wenig Hoffnung er habe.
„Du mußt Dich dennoch fügen!“ rief er und verließ das Haus.
Das Mädchen antwortete nicht, regungslos blieb sie stehen, das Auge starr auf die Thür geheftet, als befürchte sie, daß der Verhaßte wieder eintreten könne. Dann entfiel das Messer ihrer Hand und sie sank auf einen Stuhl.
Langsam, finster vor sich hinstarrend stieg der Unterburgsteiner zu seinem Gehöft hinab. Vor wenigen Tagen hatte er gehört, wie lustig Hansel bei der Arbeit sang, er wußte, wie ausgelassen er seit einiger Zeit war, wenn er mit seinen Freunden zusammentraf.
Sollten die Beiden so lustig sein, wenn sie nicht mit sich einig waren und sich öfter trafen? Je mehr er darüber nachsann, um so mehr gestaltete sich diese Vermuthung bei ihm zur Gewißheit. Und nur dort oben konnten sie sich treffen; denn der Bauer gestattete nicht, daß das Mädchen den Oberburgstein verließ.
Drohend streckte er die Hand zu dem Gehöft des Haidacher hinüber, fest entschlossen, sich volle Gewißheit darüber zu verschaffen. –
Hansel war so lustig, als er nur sein konnte. Moidl’s Herz gehörte ihm, die Arbeit machte ihm Freude, zumal da er sah, wie sie mit jedem Tage weiter rückte. Und in das Hauswesen seines Vaters war durch ihn auch eine strengere Ordnung gekommen. Für das Geld, welches er mit aus Wien gebracht, hatte er Korn und Futter für die Kühe gekauft, da brauchte er für den Lebensunterhalt nicht mehr besorgt zu sein.
War sein Geld für den Wein knapp geworden, dann wandte er einen Tag daran, um auf die Gemsjagd zu gehen, und auch da war ihm das Glück günstig. Er kannte die Berge und nahen Alpenkämme von Jugend auf, sein Auge war schwindelfrei und seine Sehnen waren gestählt.
Monatelang hatte er die Geliebte jede Woche mehrere Male besucht, ohne daß ihm der geringste Unfall auf den beschwerlichen Wegen begegnet war. Der Schneefall war freilich nur ein geringer gewesen.
Wieder stieg er eines Abends spät zu dem Oberburgstein empor. Mehr als die Hälfte des Weges hatte er bereits zurückgelegt. Als er durch den Wald hinschritt, löste sich plötzlich oberhalb des Wegs ein Stein und gerieth in’s Rollen. Schnell sprang er hinter einen Baum.
Sein scharfes, an die Nacht gewöhntes Auge nahm in einer Entfernung von zwanzig bis dreißig Schritten eine Gestalt wahr, welche hastig davon eilte. Es war eine große Gestalt, ihr Tritt war ein schwerer.
Nicht einen Augenblick lang war er in Zweifel – der Davoneilende war David. Besorgt schritt er weiter. Er fürchtete sich nicht, ihn peinigte nur der Gedanke, daß der Unterburgsteiner sein Zusammentreffen mit Moidl und seinen Weg entdeckt hatte. Es mußte ihm verrathen sein. Wäre derselbe vom Oberburgstein gekommen, so würde er nicht geflohen sein, er hatte ihn beobachtet, das unterlag keinem Zweifel.
Er verrieth der Geliebten von der Begegnung nichts, um sie nicht zu ängstigen. Aber er kehrte auf einem anderen Wege zurück, denn er traute der Tücke seines Gegners das Schlimmste zu. –
Hansel hatte sich nicht getäuscht, es war David gewesen, der ihn belauscht.
Wüthend kehrte der Unterburgsteiner zu seinem Gehöft zurück; seine Vermuthung war zur Gewißheit geworden, der Welsche traf sich mit Moidl während der Nachtzeit. Unsagbare Erbitterung erfüllte ihn. Das Mädchen zog den Welschen ihm, dem reichsten Bauer, vor.
Ohne Ruhe wälzte er sich auf seinem Lager. Es lag in seiner Hand, die Zusammenkünfte für lange Zeit zu stören, er brauchte nur den Oberburgsteiner davon in Kenntniß zu setzen. Das genügte seinem Hasse nicht. Konnte der Welsche nicht neue Wege ersinnen, um mit dem Mädchen zusammenzutreffen? Und selbst wenn ihm dies nicht gelang, hörte die Moidl darum auf, ihn zu lieben?
Es gab nur ein Mittel, den Verhaßten aus dem Herzen des Mädchens zu verdrängen – den Tod! Wenn ihr keine Hoffnung mehr blieb, dann wurde ihr Herz vielleicht gefügiger.
An diesem Gedanken hielt er fest, und immer tiefere Wurzeln schlug derselbe in ihm. All sein Sinnen war während der Nacht und am folgenden Tage darauf gerichtet, wie er den Verhaßten aus dem Wege schaffen könne. Zwanzig Möglichkeiten stiegen in ihm auf, aber keine genügte ihm.
Er würde kein Geld gescheut haben, um eine fremde Hand zu dem Verbrechen zu dingen, aber konnte diese Hand nicht einst als Zeuge gegen ihn auftreten? Er konnte abwarten, bis der Verhaßte wieder auf die Gemsjagd ging, konnte ihm folgen und ihm oben auf einsamem Felskamm eine Kugel in’s Herz senden. [532] Aber konnte nicht doch der Zufall einen Zeugen herbeiführen? Konnte er ungesehen in die Berge steigen und ungesehen zurückkehren?
Seine That paßte nicht für das Tageslicht. Nur in dem Dunkel der Nacht konnte sie ausgeführt werden, da hatte er keine Zeugen zu befürchten, denn die Felsen und die Bäume konnten nicht reden.
Mit einer dämonischen Macht hatte dieser Gedanke ihn erfaßt und ließ ihn nicht wieder los. Der Haß machte ihn blind. Er glaubte Alles so klug zu beginnen, daß ihn nicht einmal ein Verdacht treffen könne. Und wenn dies wirklich der Fall war – wer konnte gegen ihn auftreten? Die Nacht war seine Beschützerin.
Nach wie vor stieg er jeden Tag zum Oberburgstein empor und zwang sich, möglichst unbefangen und heiter zu erscheinen. Wenn aber des Abends seine Knechte und Mägde schliefen, verließ er heimlich mit der Büchse sein Gehöft und legte sich im Walde hinter einem Felsen auf die Lauer.
Manche Stunde und manche Nacht lag er dort, er wechselte den Ort, ohne daß er den Verhaßten ein einziges Mal traf. Es unterlag für ihn keinem Zweifel, daß derselbe einen andern Weg einschlug, um mit der Moidl zusammen zu treffen.
David’s großer Körper war trotz all seiner Stärke solchen Aufregungen und Beschwerden nicht gewachsen. Sein ganzes bisheriges Leben hatte sich in engen Grenzen bewegt. Er war abgespannt, und je mehr diese Abspannung wuchs, um so fester hielt er den einmal gefaßten Gedanken. Daß er nur durch den Tod des Welschen in den Besitz des Mädchens gelangen könne, war bei ihm zur fixen Idee geworden.
Wo sollte er Hansel’s Spur suchen, da durch die Holzknechte und Waldarbeiter viele Wege getreten waren?
Ein frischer Schneefall kam ihm zu Hülfe. Es schneite zwei Tage lang und eine dichte, weiße Hülle lag auf den Bergen ringsum. Er kannte Hansel zu gut, um sich nicht zu sagen, daß sich derselbe dadurch nicht werde zurückschrecken lassen, aber in dem Schnee mußte er die Spur seiner Füße zurücklassen, und er wandte einen Tag daran, diese Spur aufzusuchen. Wohl lief er selbst Gefahr dabei, aber es gelang ihm, das Gesuchte zu finden, und mit Bestimmtheit glaubte er die Tritte des Welschen zu erkennen. Er verfolgte sie. Auf weitem Umwege umgingen sie seine Besitzung und führten zum Oberburgstein. Unter einem überhängenden Felsen verloren sie sich. Er forschte weiter und entdeckte an der anderen Seite die Spuren kleinerer Füße – sie rührten von Moidl her.
In wilder Freude hätte er aufjauchzen mögen. Hier trafen sie sich also! Auf dem Steine vor ihm saßen sie und hielten sich umschlungen. Erbittert und zitternd vor Wuth lachte er auf. Wie oft sie sich hier wohl noch treffen würden?
Auf demselben Wege kehrte er zurück, um seine eigenen Fußspuren zu vernichten. –
[545] Es war Sonnabend Abend. Hansel hatte mit der Geliebten eine Zusammenkunft verabredet, und als seine Eltern sich zur Ruhe begeben hatten, verließ er das Haus zu dem beschwerlichen Gange. Wohl machte er jetzt einen weiten Umweg, aber er würde zehnmal so weit gegangen sein, um die Geliebte zu treffen.
Und reichlich wurde er für den mühseligen Weg belohnt. Er traf Moidl bereits seiner harrend unter dem Felsen, sie trocknete ihm den Schweiß von der Stirn und schmiegte sich fester an ihn, um ihn zu erwärmen. Dann erzählte sie ihm, wie ihr Vater sie mit jedem Tage mehr dränge, dem Unterburgsteiner ihre Hand zu geben, wie er immer härter gegen sie werde und gedroht habe, sie zu verstoßen.
„Harre aus!“ suchte Hansel die Weinende zu beruhigen. „Er verstößt Dich nicht, und wenn er es thäte, dann weißt Du, bei wem Du Schutz findest. Mein Vater würde Dich mit Freuden in sein Haus aufnehmen.“
„Mein Vater würde mich enterben,“ warf das Mädchen ein.
„Moidl, wär’ das ein so groß Unglück?“ rief Hansel heiter. „Oder glaubst Du, ich rechne auf den Oberburgstein? Von dem Tag, an welchem Du mein wirst, will ich allein für Dich sorgen und meine Ehr’ darein setzen, daß die Leute sagen: des Hansel’s Frau hat es gut, die braucht Keinem nachzustehen. Mach’ Dir keine Sorgen und nimm ein drohendes Wort Deines Vaters nicht zu streng. Ich denk’, wenn Du ausharrst, dann wird David endlich selbst die Geduld verlieren und Dich aufgeben. Es steigt ihm schon jetzt das Blut in den Kopf, wenn seine Freunde ihn fragen, wann die Hochzeit sei. Ich kenn’ ihn auch, das erträgt er nicht lang’, er ist zu hochmüthig, um sich hänseln zu lassen, eines Tags wird er der Sache ein End’ machen und an andre Thür pochen.“
Zweifelnd schüttelte Moidl mit dem Kopfe.
„Ich würde ihm alles Gute wünschen, aber er thut’s nicht,“ entgegnete sie. „Und mein Vater würde seinen Sinn auch dann noch nicht ändern.“
„Doch, Moidl,“ fuhr Hansel fort. „Ein Leid hab’ ich ihm ja nie zugefügt, ich bin ihm zu gering und ich kann ihm nicht zürnen, wenn er mit seiner Tochter höher hinaus will. Das Gehöft meines Vaters ist herabgekommen, wenn er aber sieht, daß es durch mich wieder in die Höhe kommt, wenn er gewahr wird, daß ich keine Arbeit scheue und es weiter bring’, dann wird auch er ein Einsehn haben, denn er weiß, daß hier allein durch Fleiß etwas zu erreichen ist.“
„Du kennst seinen harten Kopf nicht, der bricht, ehe er nachgiebt.“
Trotzdem gelang es Hansel, die Geliebte mehr und mehr zu beruhigen, denn Alles, was er ihr sagte, wünschte ja ihr eigenes Herz.
Es war schon spät geworden, und er kehrte heim. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt, die den Mond nicht durchdringen ließen, trotzdem war es nicht dunkel, der Schnee leuchtete und ließ ihn deutlich den Weg erkennen. Es begann langsam zu schneien. Er schritt schneller. Noch einmal wiederholte er im Geiste jedes Wort, welches Moidl zu ihm gesprochen hatte. Der Weg führte anfangs durch den Wald, dann zog er sich an einem ziemlich steil abfallenden Abhange zwischen Felsblöcken hin. Er ging langsamer, denn er mußte Obacht geben, daß sein Fuß nicht zwischen Steine gerieth.
Da blitzte es in geringer Entfernung vor ihm auf, und es war ihm, als ob er gleichzeitig einen Schlag auf den Kopf erhalte. Zurücktaumelnd brach er zusammen. Wenige Minuten lag er betäubt da, dann raffte er sich wieder auf, ohne sofort zu fassen, was geschehen war. Mit der Hand griff er nach dem Kopfe, der ihn schmerzte, aber er fühlte keine Verletzung. Es war ihm, als ob er einen Schlag erhalten habe, der ihn noch etwas betäubte.
Zur Gegenwehr gerüstet, blickte er sich um, aber er sah Niemand, es war still ringsnm. Seitwärts lag sein Hut im Schnee, er hob denselben empor, und jetzt erst wurde das Geschehene ihm klar. Der Hut war durchlöchert. Die Kugel, die seinem Kopfe gegolten, hatte denselben nur gestreift und ihn für kurze Zeit betäubt.
Er sah seinen Gegner nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben erfaßte ihn ein banges Gefühl. Er trug keine Waffe bei sich. Konnte nicht jeden Augenblick aus sicherem Versteck eine zweite Kugel auf ihn gesandt werden? Sich zusammenraffend sprang er in wilden Sätzen den Abhang hinab. Er dachte nicht daran, wie leicht er zwischen den Felsblöcken stürzen könne. Das Glück war ihm indessen günstig. Ungefährdet langte er im Thale an. Jetzt hatte er nichts mehr zu fürchten. Der Schnee fiel in immer dichteren Flocken nieder. Langsam stieg er zu dem Gehöft seines Vaters empor. Die Gefahr, der er kaum entgangen war, hatte sich lähmend auf seine Glieder gelegt. Der Weg wurde ihm schwer.
Ueber Eins war er nicht einen Augenblick lang im Zweifel: [546] die Kugel hatte seinem Leben gegolten, und er wußte, wer sie geschossen hatte.
Die Tücke hatte er David nicht zugetraut. Die Feigheit des Mordanschlages empörte ihn.
Wäre der Unterburgsteiner ihm offen entgegengetreten, er hätte es ihm verzeihen können. Diese That zeigte ihm, wie groß der Haß des Bauern gegen ihn war, es war jetzt zwischen ihnen ein Kampf auf Leben und Tod, und es war nicht einmal ein ehrlicher Kampf, denn aus einem Hinterhalte war in feiger Weise auf ihn geschossen. Das lag schwer lastend auf ihm. Gab es für ihn einen Schutz gegen die Tücke eines Meuchelmörders? Konnte sich derselbe nicht jeder Zeit an ihn heranschleichen und ihn durch eine Kugel niederstrecken, wenn er bei der Arbeit war?
Erschöpft und in Schweiß gebadet langte er in dem Hause seines Vaters an.
Er dachte an Moidl und ihre Verzweiflung, wenn der Anschlag Davids gelungen wäre. Dann hätte sie keinen Schutz mehr gehabt.
Er wollte am folgenden Morgen die Stelle des Ueberfalls wieder aufsuchen, er wollte nach den Spuren des Tückischen spähen, sie mußten ihm den Beweis geben, daß der Unterburgsteiner auf ihn geschossen hatte, denn die großen Füße desselben mußten zum Verräther werden. Aber selbst diese Hoffnung wurde ihm vernichtet, denn immer dichter fiel der Schnee und mußte schon jetzt jede Spur überdeckt haben.
Es war spät in der Nacht, als er sein Bett aufsuchte, und spät am folgenden Morgen erwachte er, es war ihm noch wüst im Kopfe.
Als er zu seinen Eltern in das Zimmer trat, blickte seine Mutter ihn besorgt an.
„Du siehst bleich aus, Hansel,“ sprach sie.
„Es ist nichts,“ entgegnete er und setzte sich an den Tisch, auf welchem der Napf mit dem Milchbrei stand. Aber nur wenige Bissen genoß er, dann legte er den Löffel auf den Tisch. Sein Auge blickte auf die alte Wanduhr.
„Wollt Ihr nicht in die Messe gehen?“ fragte er vor sich hinstarrend, denn die Tücke des Unterburgsteiners beschäftigte seine Gedanken.
„Hast Du nicht gesehen, wie stark es in der Nacht geschneit hat?“ warf sein Vater ein. „Wir beiden Alten können nicht in’s Thal hinab.“
„Auch Du solltest heute nicht hinab gehen!“ sprach seine Mutter.
„Weshalb nicht?“ rief Hansel, sich aus seinen Gedanken aufraffend.
„Es ist keine Bahn.“
„Nun, Einer muß sie zuerst machen,“ fuhr Hansel fort. „Mich kümmert der Schnee nicht, denn den Weg find’ ich schon. Mir soll Niemand nachsagen, der Schnee sei für mich zu hoch gewesen, um zur Messe zu kommen. Er hat früher oft noch höher gelegen und ich hab’ mich als Junge durchgearbeitet, wenn ich Morgens zur Schule ging. Das war ein Hauptspaß, wenn ich bis an die Schulter einsank und mich wie ein Maulwurf durchwühlte.“
Die Alte blickte mit stolzem Lächeln auf ihren Sohn.
„Du bist immer ein verwegener Bub’ gewesen,“ sprach sie.
„Es hat mir nicht geschadet, Mutter,“ entgegnete Hansel und verließ die Stube.
In Hast zog er seine Sonntagsjoppe an, denn aus dem Thale klangen bereits die Glockentöne, welche zur Messe riefen, zu ihm empor. Er nahm den Hut vom Nagel, und als er die Löcher in ihm erblickte, da zitterte seine Hand. Zum ersten Male wurde er sich bewußt, wie tief er David haßte.
Er stieg zum Thal hinab. Der Schnee lag hoch, aber er brach sich nicht mit lustigem Uebermuthe wie früher durch ihn Bahn. Der Oberburgstein war in Nebel gehüllt, wie eine feste Wand zogen sich die Wolken an dem Berge hin. Nur das Gehöft des Unterburgsteiners lag hell vor ihm, als ob es ihn herausfordern wolle.
Das alles wirkte verstimmend und erbitternd auf ihn. Der Schnee machte ihn müde.
Als er endlich in die Kirche trat, hatte die Messe bereits begonnen. Langsam, den durchlöcherten Hut in der Hand, schritt er zwischen den Kirchenstühlen vor und blickte nicht zur Seite, um die Andacht nicht zu stören. In der Mitte des Ganges blieb er stehen, hob den Hut zum Munde empor und flüsterte leise sein Vaterunser in denselben hinein.
Dann erst blickte er sich um und zuckte unwillkürlich zusammen, als er unmittelbar neben seinem Feinde stand. Sein Auge begegnete dem starren Blicke des Unterburgsteiners, er sah, wie dessen Gesicht erbleichte, wie seine große Gestalt zitterte. Der Tückische hatte ihn todt und unter dem Schnee begraben gewähnt, und nun stand er plötzlich an seiner Seite.
Glühend leuchtete sein Auge, einige Secunden hielt der Unterburgsteiner diesen Blick aus, dann trat er wankend zurück. Es trieb Hansel, vor ihn hinzuspringen, ihn an der Brust zu erfassen und ihm laut in’s Gesicht zu rufen, daß er einen Meuchelmord habe begehen wollen – die Heiligkeit des Ortes hielt ihn zurück.
Die Messe war beendet.
Als Hansel die Kirche verließ, suchte sein Auge vergebens seinen Feind, derselbe hatte vor ihm das Gotteshaus verlassen. Mit seinen Freunden trat er in das Wirthshaus. Es gährte und stürmte in ihm, denn die ganze Aufregung seit der Nacht zitterte in ihm nach.
Das bleiche Gesicht und der starre, erschreckte Blick David’s hatte ihm die Gewißheit gegeben, daß er sich in seinem Verdachte nicht geirrt, und doch konnte er nicht vor ihn hintreten und ihn anklagen, denn er durfte nicht gestehen, daß er mit der Geliebten sich getroffen hatte.
An dem Nebentische hatten sich mehrere Freunde des Unterburgsteiners niedergelassen, was kümmerte es ihn! Er trank hastig, um den in ihm zehrenden Groll zu bekämpfen, aber der Wein fachte denselben nur noch mehr an. Die Stelle seines Kopfes, welche die Kugel gestreift hatte, brannte wieder.
Die Freunde des Unterburgsteiners am Nebentische sprachen über dessen bevorstehende Hochzeit, sie schätzten ab, wie viel sein Gehöft gewinnen werde, wenn er auch die Felder, die Wiesen und den Wald des Oberburgsteiners sein nennen werde.
„Dann thut es ihm Keiner mehr gleich,“ sprach ein Bauer. „Wenn ich der Oberburgsteiner wär’, ich gäb’ ihm meine Tochter auch, denn einen bessern kann er nicht für dieselbe finden.“
Der Alte dachte nicht daran, Hansel zu kränken, er wußte nicht einmal, daß dieser die Moidl liebte, aber den jungen Burschen traf jedes Wort wie ein Stich. Er hätte aufspringen und dem Alten zurufen mögen, daß die Moidl nie das Weib des hochmüthigen Burschen werde; er beherrschte sich und ließ die Worte in sich zehren und seinen Groll noch erhöhen.
Hansel’s Freunde hatten keine Ahnung, was in ihm vorging, denn er lachte laut und stieß mit ihnen an, daß die Gläser klirrten.
„Hansel,“ rief der Sepp Plankensteiner, um den Freund zu necken, „der David war gestern Abend hier. Wir sprachen von Deinem Glück, welches Du auf der Gemsjagd hast, denn bis jetzt bist Du noch nicht leer heimgekehrt. Er behauptet, das letzte Thier, welches Du gebracht, sei ein Bock gewesen, der aus Alter verendet, Du habest ihn an der Stöckelspitz gefunden.“
Wie ein Feuer an der Lunte langsam glühend hinschleicht und weiter zehrt, bis sein erster Funke das Pulver erfaßt und zum Explodiren bringt, so war es mit Hansel’s Erregung. Es hatte gezehrt und gezehrt an ihm, seine Freunde hatten nicht bemerkt, wie das Feuer still weiter geglommen war, der Scherz des Freundes war der Funke in’s Pulverfaß.
Wie ein Blitz schnellte er von seinem Sitze empor, seine Wangen waren bleich, seine Augen glühten, sein ganzer Körper zitterte. Jede Selbstbeherrschung hatte ihn verlassen.
„Der David ist ein lügnerischer Bub’!“ rief er heftig, laut. „Wenn Du ihm begegnest, dann sag’ ihm, daß meine Kugel sicherer trifft als die seinige, und sag’ ihm, daß er mir ausweicht, denn ich habe etwas mit ihm auszumachen, was sich in Frieden nicht ausgleichen lasse. So soll es ihm ergehen!“
Er erfaßte sein Glas und schmetterte es so heftig auf den Tisch, daß die Splitter desselben bis zu der Decke des Zimmers flogen.
„Hansel, was ist Dir?“ riefen seine Freunde erschreckt, da sie seine Erregung nicht begriffen.
„Ich hab’ nur einen Scherz gemacht, Du hast ihn sonst verstanden,“ rief Sepp kleinlaut.
[547] Hansel war erschöpft auf seinen Sitz zurückgesunken und blickte starr vor sich hin.
„Laß solche Scherze,“ sprach er ruhiger. „Aber was ich gesagt hab’, nehm’ ich nicht zurück. Sag’ dem Unterburgsteiner, daß meine Kugel sicherer trifft und daß er mir ausweicht, es ist besser für ihn und für mich.“
„Was hast Du mit ihm?“ rief Franz Steger.
„Laß,“ entgegnete Hansel abwehrend. „Gebt mir ein Glas und Wein! Wir wollen trinken!“
Um seiner Erregung Herr zu werden, trank er hastig Glas auf Glas, und der Wein verfehlte seine Wirkung nicht. Hansel war bald wieder so lustig wie früher.
Die Freunde des Unterburgsteiners unterließen es nicht, diesem, der in der „Post“ beim Wein saß, die wilde Drohung Hansel’s noch in derselben Stunde zu hinterbringen.
David, der bei dem unerwarteten Anblicke seines Feindes in der Kirche die Fassung verloren, hatte dieselbe längst wieder gewonnen. Er war klug genug, sich zu gestehen, daß er jeden Verdacht nur durch ein unbefangenes und heiteres Benehmen von sich abwenden könne.
In ihm zehrte freilich der Haß.
„Was Dir einmal mißlungen ist, wird das zweite Mal nicht fehlschlagen!“ flüsterte es in ihm.
„Ich lache über die Drohung des Welschen!“ rief er. „Es hat ihn übermüthig gemacht, weil er mich beim Raufen geworfen, aber er soll nicht denken, daß ich mich vor ihm fürcht’!“
„Er ist ein verwegener Bursch’, weich’ ihm aus,“ mahnte ein älterer Bauer.
„Weshalb? Ich fürcht’ ihn nicht,“ entgegnete David. „Aber ich wüßt’ nicht, wo unsere Wege sich kreuzen sollten,“ fuhr er ruhiger fort. „Zu seinem Gehöft steig’ ich nicht hinauf, und auf dem Unterburgstein hat er nichts zu suchen. Begegnen wir uns im Thal – nun, da ist der Weg breit genug. Ich such’ keinen Streit mit ihm, will er ihn indeß beginnen, so kann es mir recht sein.“
„Weshalb hat er einen so heftigen Groll auf Dich?“ fragte der Bauer.
„Er hat’s mir nicht gesagt, aber ich kann’s mir denken,“ gab David lachend zur Antwort. „Er hat ein Aug’ auf die Moidl geworfen und wahrscheinlich geglaubt, er brauch’ nur heimzukehren, dann werde der Oberburgsteiner ihm seine Tochter antragen, weil er in Wien gewesen ist. Der Oberburgsteiner denkt aber anders, er will kein welsches Blut in seiner Nachkommenschaft, er meint auch, mein Gehöft sei etwas besser, als das des Haidacher’s, das vielleicht der nächste Sturm über den Haufen werfen wird, das scheint den Burschen zu ärgern. Mich kümmert’s nicht, denn ich geh’ meinen eigenen Weg und ich hab’ auf meinem Gehöft so viel zu schaffen, daß mir nicht Zeit bleibt, nach dem zu schauen, was Andere treiben.“
Seine Freunde gaben ihm Recht, denn so dachten auch sie.
Die Nachwirkung der heftigen Erregung auf Hansel blieb nicht aus. Er war an dem folgenden Tage niedergedrückt. Welchen Weg sollte er einschlagen, um sich gegen die Tücke seines Feindes zu schützen? Daß David den Anschlag auf sein Leben nicht aufgegeben habe, war er fest überzeugt.
Er dachte daran, zum Oberburgsteiner zu gehen und ihm zu sagen, welche That Der begangen habe, dem er seine Tochter geben wolle; er wußte, daß dies den Bauern empören würde, denn so hart und eigensinnig er war, sein Charakter war ein rechtschaffener. Aber hatte er Beweise, daß David die Kugel abgeschossen? Durfte er verrathen, daß er mit Moidl sich getroffen hatte?
Und wenn es ihm auch gelang, den Oberburgsteiner von David’s Schuld zu überzeugen, stieg denn dadurch seine eigene Hoffnung?
All diese Gedanken warf er schnell von sich. Eins stand in ihm unerschütterlich fest; er konnte Moidl nie aufgeben, er mußte sie sehen und sprechen. Aber wie sollte er zu ihr gelangen, ohne daß David im Stande war, seinen Weg zu entdecken und ihm aufzulauern? Einen größeren Umweg konnte er nicht machen, denn weiter am Berge hinauf schob sich eine jäh abfallende Felswand vor. Oberhalb des Unterburgsteins mußte ihn sein Weg immer durchführen.
Eine Möglichkeit gab es vielleicht noch, den Oberburgstein zu erreichen. In der Nähe desselben zog sich eine Thalsenkung den Berg empor. Herabströmende Wassermassen, wenn es regnete oder im Frühjahre der Schnee auf dem Berge schmolz, hatten vielleicht seit Jahrhunderten an den Felsen genagt und eine Rinne in dem Berge hervorgerufen. Bis zu der Höhe des Oberburgsteins lag Steingeröll in derselben, dann trat der glattgewaschene, nackte Felsen bis zu der Spitze des Berges hervor.
Er kannte diese Schlucht sehr genau. Als Knabe hatte er öfter mit den Gaisbuben ein Wettklettern veranstaltet, und wer auf dem Gerölle sich bis zum Oberburgsteine emporarbeitete, galt als Sieger. Das war freilich zur Sommerzeit gewesen, wenn kein Wasser in der Schlucht floß, im Winter, wenn Schnee die Steine deckte, hatte er es nie versucht. Er wußte auch Niemand, der es gewagt hatte, denn jeden Winter, wenn der Schnee nicht fest lag oder im Thauen begriffen war, stürzten Lawinen, die sich oben an der steilen und glatten Bergspitze bildeten, in dieser Schlucht nieder.
Er wollte diesen Gedanken als unausführbar zurückweisen, aber immer wieder kam er darauf zurück. Er konnte es ja versuchen, Gefahr war augenblicklich nicht damit verbunden, denn der Schnee lag fest. Dort lauerte ihm der Unterburgsteiner sicherlich nicht auf, denn daß er hier den Aufstieg wagen werde, konnte er nimmer vermuthen.
Vom Thale aus konnte er die Schlucht nicht ersteigen, denn an einer Stelle fiel sie mehr denn zwanzig Fuß hoch senkrecht herab. Die Hälfte des zum Unterburgsteine führenden Weges mußte er emporsteigen und sich dann am Bergesabhange hinwenden, bis er die Schlucht erreichte.
Als der Abend, an dem er Moidl zu treffen versprochen hatte, gekommen war, rüstete er sich sorgfältiger, als bisher, zu dem Wege. Er hatte aus Wien einen Revolver mitgebracht, den ihm ein Freund geschenkt. Ihn steckte er in seine Joppe, um dem Unterburgsteiner, wenn ihm derselbe entgegentreten sollte, nicht wehrlos gegenüberzustehen, er nahm seinen Bergstock und mit frischem Muthe verließ er das Gehöft seines Vaters.
Ungefährdet gelangte er bis zu der Schlucht und begann, sich in ihr emporzuarbeiten.
Es war ein unsagbar schwieriges Unterfangen, und nur langsam kam er weiter, denn der Schnee lag hoch und für jeden Tritt mußte er erst einen sicheren Grund gewinnen. Ohne Bergstock würde es ihm kaum möglich gewesen sein. Mehr als einmal mußte er stillstehen, um seine Kräfte zu sammeln.
Aber glücklich, wenn auch verspätet, langte er oben an und eilte dem Platze zu, wo er die Geliebte traf.
Moidl hatte ihn schon seit geranmer Zeit erwartet.
„Ich befürchtete schon, Du werdest heute nicht kommen – es sei Dir ein Unfall begegnet,“ sprach sie, indem Hansel sie in seine Arme schloß.
„Ich bin glücklich da!“ rief Hansel, über das Gelingen seines Wagnisses erfreut. „Es war ein beschwerlicher Weg – ich bin in der Schlucht aufgestiegen.“
„In der Schlucht?“ wiederholte das Mädchen halb erstaunt und halb erschreckt, denn sie hatte dies für unmöglich gehalten. „Weshalb?“
„Ich mußte den Weg wählen, denn der Unterburgsteiner trachtet mir nach dem Leben,“ entgegnete Hansel. Er erzählte, mit wie genauer Noth er der Kugel des Bauers entgangen und wie derselbe erbleicht war, als er unerwartet am folgenden Morgen in der Kirche an seine Seite getreten.
„Jesus Maria!“ rief Moidl erschreckt und umklammerte ihn fester. Der Gedanke an die Gefahr, in welcher der Geliebte geschwebt, machte sie erzittern. „Du darfst nicht mehr zu mir kommen,“ fuhr sie fort. „Ich will Alles ertragen, um Dein Leben zu bangen, halt ich nicht aus.“
„Ich komm’ dennoch, denn ich ertrag’ es nicht, wenn ich Dich nicht sehen kann,“ rief Hansel heiter. „Du brauchst Dich nicht zu sorgen, der Weg in der Schlucht ist ein mühsamer, aber zum zweiten Male wird er mir leichter werden, denn ich habe Bahn gebrochen. Dort sucht David mich nicht. Mag er jetzt hinter irgend einem Felsen auf der Lauer liegen. Die Zeit wird ihm lang werden, bis er mich trifft.“
[548] Moidl war nicht im Stande, das Gehörte zu überwinden.
„Weshalb hast Du ihn nicht angeklagt?“ sprach sie.
„Kann ich beweisen, daß er auf mich geschossen hat?“ entgegnete Hansel. „Ich weiß, daß er es gethan hat, denn ich besitze außer ihm keinen Feind, der einer solchen That fähig wäre, sein Erbleichen in der Kirche hat mir die volle Gewißheit gegeben; dem Richter würde das nicht genügen. Und wenn es genügte, ich würde es dennoch nicht thun. Soll ich verrathen, daß ich mich mit Dir getroffen hab’? Dein Vater wär’ im Stande Dich einzuschließen und Tag und Nacht wie eine Gefangene zu bewachen. Die Leut’ würden reden, und Dein Ruf ist mir so heilig wie ein Muttergottesbild.“
„Hansel, wir dürfen uns in langer Zeit nicht wieder treffen,“ sprach das Mädchen mit fast lautloser Stimme. „Ich entbehr’ ja mehr wie Du, denn ich hab’ hier oben Niemand, aber sei meinetwegen ohne Sorge, mein Herz gehört Dir, und es giebt keine Menschenmacht, die mich Dir untreu machen könnt’.“
„Und es giebt auch keine Macht, die im Stande wär’, mich zurückzuhalten,“ unterbrach Hansel sie, mit beiden Armen sie umschlingend. „Laß mich gewähren, Moidl! Einmal muß ich Dich wenigstens jede Woche sehen. Sieh, ich fühle, daß eine wilde Kraft in mir lebt. Du milderst und besänftigst dieselbe, Dein Blick genügt, um das Blut in meinen Adern ruhig fließen zu lassen, Du giebst mir die Kraft zur Arbeit. Jedes Wort, welches Du zu mir gesprochen, wiederhole ich mir immer und immer; sieh, mein Herz lacht, wenn ich den Oberburgstein im Sonnenschein liegen seh’, und wenn er in Wolken gehüllt ist, dann ist es mir, als ob um mich Nacht wär’. Dann umschleicht mich der Gedanke, daß Du mir doch genommen werden könntest, und ich fühle, wie es in meinen Schläfen pocht! Ich muß Dich sehen und sprechen, Du bist mein guter Geist.“
„Ich will es bleiben,“ sprach das Mädchen leise. „Aber der Weg in der Schlucht ist zu gefährlich.“
„Jetzt nicht, denn der Schnee ist fest. Trag’ meinetwegen keine Sorge,“ suchte Hansel die Geliebte zu beruhigen. „Jeden Sonnabend Abend komm’ ich hierher, aber jeden Tag send’ ich viel Grüße zum Oberburgstein. Fang’ sie nur auf, Moidl, daß sie nicht in unrechte Hände gerathen,“ fügte er scherzend hinzu.
Die Liebenden trennten sich. Der Abstieg wurde Hansel viel leichter, denn durch den Bergstock hatte er eine sichere Stütze. Ungefährdet langte er im Thal wieder an.
[561] Der Winter hielt an. Der Schnee hatte sich gefestigt und neuer war nicht gefallen. Wochenlang stieg Hansel jeden Sonnabend Abends zum Oberburgstein empor und immer sicherer fühlte er sich, wenn er auch die größte Vorsicht nicht vergaß.
David hatte seinen Entschluß nicht geändert, derselbe beschäftigte ihn unausgesetzt. Manche Nacht lauerte er hinter einem Felsen versteckt vergebens auf den Verhaßten. Er durchsuchte den ganzen Bergesabhang nach einer Spur seines Fußes in dem Schnee. Er fand keine, und doch war er fest überzeugt, daß er mit der Moidl noch zusammen kam.
Unter dem Felsen, wo sie sich trafen, machte er Zeichen, und durch sie gewann seine Vermuthung Gewißheit. Es war ihm ein Räthsel, wie der Welsche dorthin gelangte. Da machte er die Wahrnehmung, daß das von ihm unter dem Felsen gemachte Zeichen die ganze Woche lang unberührt blieb und regelmäßig am Sonntag Morgen vernichtet war. In der Nacht zum Sonntage trafen sie sich also.
Auf’s Neue wandte er einen Tag daran, um den Weg, den Hansel einschlug, aufzufinden. Er suchte lange vergebens. Ohne Hoffnung schlug er einen Weg ein, der unterhalb seiner Besitzung sich am Bergabhange hinzog und von Holzknechten getreten war, welche in der Nähe Holz fällten. Da fiel ihm auf, daß eine Spur im Schnee weiter nach der Schlucht zu führte. Was konnten die Holzknechte dort gesucht haben? Er verfolgte sie, er fand einen Weg, der in tiefem Schnee gerade in der Schlucht emporführte. Jubelnd zuckte er zusammen, denn endlich hatte er die Spur des Welschen gefunden.
An diesen Weg hatte er freilich nicht gedacht, weil er ihn für unmöglich gehalten, dem verwegenen Burschen schien jedoch nichts zu schwer zu sein. Er versuchte, eine Strecke auf ihm emporzusteigen, mußte jedoch bald davon abstehen, denn seine unbeholfene Gestalt versank in dem Schnee und seinen Füßen fehlte ein Stützpunkt.
Nun konnte der Verhaßte ihm nicht mehr entgehen, er kannte seinen Weg und wußte, in welcher Nacht er ihn einschlug. Und kein Ort konnte für sein düsteres Vorhaben günstiger sein, als diese Schlucht. Wenn seine Kugel den Welschen niedergestreckt und er den Todten mit Schnee bedeckt hatte, wer konnte den Vermißten hier suchen und finden? Er lag dort, bis im Frühjahre das herabstürzende Wasser ihn mit in das Thal riß oder eine Lawine ihn noch tiefer begrub.
Der Sonnabend Abend, auf den Hansel sich die ganze Woche hindurch gefreut hatte, war gekommen. Der Wind hatte schon am Morgen umgesetzt und wehte aus Süden. Die Luft war lau und der Himmel war bewölkt. Der Umschlag des Wetters hatte Hansel besorgt gemacht, ihn beruhigte jedoch die Wahrnehmung, daß aus dem Thale immer noch kühler Nordwind wehte, der die Festigkeit des Schnees erhielt. Er konnte den Aufstieg durch die Schlucht immer noch wagen.
Zu der gewohnten Stunde am Abende brach er auf. Wohl bemerkte er, daß der Schnee unter seinen Tritten sich schon zusammenballte, er achtete wenig darauf, denn er mußte die Geliebte sehen. Der Aufstieg in der Schlucht wurde ihm schwerer, als je zuvor, der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er hätte die Joppe von sich werfen mögen, so heiß war ihm. War die Luft wirklich so lau und schwül, oder täuschte er sich? Einige Male war es ihm, als ob er unter dem Schnee zwischen dem Gerölle ein Rieseln wie von herabfließendem Wasser vernahm – es konnte nicht sein! Er nahm sich auch nicht Zeit zum Horchen, schneller eilte er vorwärts.
Glücklich langte er oben an. Wie an einem lauen Frühlingsabende erschien ihm hier die Luft. In wenigen Minuten war er bei der Geliebten, die ihn beteits erwartete.
„Hansel, bist Du durch die Schlucht aufgestiegen?“ fragte Moidl.
„Gewiß,“ gab Hansel heiter zur Antwort.
„Ich bin in Angst gewesen, das Wetter ist umgeschlagen, den ganzen Tag hat der Thauwind geweht.“
„Er hat noch sehr wenig gewirkt. Du siehst, ich bin ohne Unfall hierher gelangt. Noch läuft’s keine Gefahr, der Schnee steht noch.“
„Oben am Berge nicht,“ fuhr Moidl fort. „Mein Vater war gestern oben im Walde, da hat der Thauwind dort schon geherrscht, und er sagte, daß er heute im Thal sein werde. Er versteht sich auf’s Wetter, wie Wenige. Er fügte auch hinzu, daß der Schnee diesmal sehr schnell aufgehen werde, denn die Wärme komme von oben, und die Erde habe noch keine Kälte gehabt, als er gefallen sei, und der spätere Frost sei nicht durchgedrungen.“
„Ich bin ja hier, nun mag der Schnee aufgehen, hinab komm’ ich schon wieder,“ warf Hansel heiter ein.
Er hatte der Geliebten, die er seit acht langen Tagen nicht gesehen, so viel zu sagen, und auch Moidl dachte an den Schnee und den Thauwind nicht länger. Sie saßen gegen den Wind geschützt und vernahmen kaum, wie er heulend durch das Thal fuhr und pfeifend sich an den Felskanten brach. Dazwischen fielen einzelne Regenschauer.
[562] Die Zeit war ihnen wie ein Traum vergangen – Hansel drängte zur Heimkehr.
„Geh’ nicht die Schlucht hinab,“ bat Moidl.
„Ich komm’ auf dem Wege am schnellsten zu Thal,“ entgegnete Hansel. „Noch ist keine Gefahr vorhanden.“
„Wähl’ einen andern Weg.“
„Nein. Wie eine Ahnung, daß der Unterburgsteiner mir auflauert, liegt es auf mir,“ gab Hansel zur Antwort. „Es war auch in einer Nacht zum Sonntag, als seine Kugel mir durch den Hut hinfuhr. Was mich in der Schlucht bedrohen könnt’, wär’ eine Lawine, und diese Nacht fällt noch keine, der Schnee liegt zu fest.“
„Und wenn sie fiele?“ warf Moidl ein.
„Denk’ nicht daran,“ suchte Hansel sie zu beruhigen. „Ich kenne den Abstieg genau, und wenn ich stürz’, fall’ ich in den Schnee. Kaum eine halbe Stunde hab’ ich nöthig, dann bin ich in Sicherheit.“
„Der Wind heult so hohl.“
„Laß ihn heulen, Moidl. Er hört sich hier oben schlimmer an, als im Thal. In acht Tagen sehen wir uns wieder – erwart’ mich nur, ich find’ schon einen Weg.“
Noch einmal preßte Hansel die Geliebte an sich, dann eilte er fort. Es war ihm doch nicht ganz leicht um’s Herz, als er die Schlucht betrat. Deutlich vernahm er das Wasser unter dem Schnee, um so schneller eilte er, um nicht eine Minute zu verlieren.
Mit ängstlich pochendem Herzen trat das Mädchen in das Haus ihres Vaters und suchte ihre Kammer auf. Es war ihr, als ob der Wind immer hohler und unheimlicher klinge. Sie dachte nicht an Schlaf. Ohne Licht anzuzünden, öffnete sie das Fenster, wie ein schwüler Brodem wehte es ihr entgegen. Der Wind war unheimlich warm. Schwer lag es auf ihrem Herzen, ihre Brust vermochte kaum zu athmen. Sie faltete die Hände, sie wollte die heilige Jungfrau bitten, den Geliebten in Schutz zu nehmen, aber sie konnte nicht beten, die Angst verwirrte ihre Gedanken, die den Geliebten Schritt für Schritt begleiteten. Noch konnte er nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt haben.
Da vernahm sie plötzlich über sich ein donnerndes, rasselndes Rauschen. Mit dem Rufe: „Jesus Maria!“ stürzte sie zur Erde auf die Kniee.
Ein dumpfer, lauter Ton drang aus dem Thale zu ihr und brach sich im Echo an den Felswänden. Sie kannte diesen Ton nur zu genau – er kam von einer in der Schlucht niedergestürzten Lawine.
„Jesus Maria!“ wiederholten ihre Lippen noch einmal mit schwacher Kraft, während sie die Hände krampfhaft in einander geballt hatte. „Rette ihn, heilige Mutter Gottes, rette ihn!“ stöhnte sie und in ihrer Angst gelobte sie, das Liebste, was sie besaß – es fiel ihr nichts ein als ihre langen, braunen Flechten, um die sie so oft beneidet war – der heiligen Jungfrau als Opfer zu bringen.
Dann brach sie bewußtlos zusammen.
Auf den Bergstock sich stützend, eilte Hansel in mächtigen Sprüngen thalwärts. Das hohlklingende Heulen des Thauwindes war auch ihm unheimlich, er verhehlte sich die Gefahr nicht und beeilte sich, ihr zu entfliehen.
Da ertönte das donnernde Rauschen hoch über ihm in sein Ohr, er kannte es zu genau und obschon er erschreckt zusammenfuhr, so verließ ihn doch die Besinnung nicht, hinter einem Felsvorsprunge in der Schlucht warf er sich nieder, in der Todesverzweiflung sich fest an den Felsen anklammernd. Und die Lawine sauste mit Alles vernichtender Kraft nieder. Es war ihm, als ob er einen schweren Schlag auf den ganzen Körper erhielt und sein Kopf an dem Felsen zerschelle – dann schwand sein Bewußtsein.
Als er wieder zu sich kam, war er kaum im Stande, sich zu rühren. All seine Glieder schienen gelähmt zu sein. Allmählich raffte er sich zusammen. Nase, Mund und Ohren waren ihm mit Schnee verstopft. Tiefaufathmend befreite er sich davon. Erst jetzt wurde er sich des Geschehenen bewußt. Zaghaft versuchte er die Glieder, es war keins gebrochen, so sehr sie auch schmerzten.
Langsam richtete er sich empor. Er konnte stehen und gehen. Wohl zitterte er heftig am ganzen Körper, aber langsam arbeitete er sich auf dem Steingeröll, durch welches das Bergwasser rauschte, abwärts. Und er erreichte die Stelle, wo er die Schlucht verlassen konnte und gerettet war. Erschöpft sank er nieder. Wie ein Wunder erschien ihm seine Rettung. Aber nicht an sich dachte er, sondern an die Geliebte und deren Angst. Wenn er ihr doch hätte zurufen können, daß er lebe!
Langsam stieg er zu Thal und dann zu dem Gehöft seines Vaters empor. Der Weg wurde ihm unsagbar schwer, er fühlte, daß er an den Händen und im Gesichte geschunden war, was kümmerte es ihn – er lebte!
Als er in seiner Kammer angelangt war, besaß er kaum noch so viel Kraft, die durchnäßten Kleider abzustreifen und sich in’s Bett zu werfen. Er schlief nicht. Sein Gesicht brannte, all seine Glieder schmerzten. In einem halb bewußtlosen Zustande lag er da, in seinem Ohre klang das donnernde Rauschen der niederstürzenden Lawine, seine Hände griffen krampfhaft nach dem Bettgestell, um sich zu halten. Endlich übermannte der Schlaf den Erschöpften. –
Der neue Tag war längst hereingebrochen, als Hansel’s Mutter in die Kammer ihres Sohnes trat, um ihn zu wecken. Der laute Aufschrei, der ihr entfuhr, als sie das blutige und entstellte Gesicht desselben erblickte, weckte den Schlafenden. Erschreckt fuhr Hansel empor.
„Hansel, was ist geschehen? Was hast Du begonnen?“ rief die Frau.
Der aus dem Schlafe Erweckte blickte erstaunt und noch schlaftrunken um sich.
„Was soll geschehen sein?“ fragte er noch vom Traume befangen.
„Dein Gesicht – Dein Gesicht!“ rief die Frau und trat händeringend an ihn heran.
Hansel versuchte sich empor zu richten, nur mit größter Anstrengung gelang es ihm. Die heftig schmerzenden Glieder riefen das Geschehene in seine Erinnerung zurück. Schaudernd zuckte er zusammen, aber er faßte sich schnell.
„Ich bin gestürzt,“ entgegnete er.
„Wo – wo?“ rief seine Mutter.
Hansel richtete sich langsam im Bette empor.
„Gestern Abend,“ gab er zur Antwort, sein Kopf war noch wüst, und er wußte kaum, was er sprach.
„Du hast Dich gestern Abend gleich nach uns zur Ruhe begeben,“ fuhr seine Mutter fort.
Hansel schwieg einen Augenblick. Er konnte die Wahrheit nicht gestehen, auch seiner Mutter nicht, das Geheimniß seiner Liebe gehörte ja nicht ihm allein.
„Mich wandelte die Lust an, noch zu Thal zu steigen,“ sprach er, ohne seine Mutter anzusehen. „Ich wußte, daß ich im ‚Elephanten‘ noch Freunde treffen würde; wir waren sehr lustig, wir tranken, und ich habe vielleicht zu viel getrunken. Es war spät, als ich heimkehrte – ich weiß nicht, wie es geschehen ist – ich muß den Weg verfehlt haben – da – da stürzt’ ich von einem Felsen hinab – wohl dreißig Fuß hoch – ich weiß es nicht.“
„Hansel, Du hast Dir geschadet!“ rief die Frau erschreckt.
„Nein, Mutter, ich bin ja hierher gegangen,“ entgegnete der Bursch beruhigend. „Meine Glieder sind gesund, ich werd’ mich etwas zerschunden haben, das ist Alles.“
„Du weißt nicht, wie Du ausschaust, Dein Gesicht ist entstellt!“ fuhr die Frau fort. „Vor keinem Menschen kannst Du Dich so zeigen. Ich hab’ Dir nie einen Vorwurf gemacht, aber meid’ den Wein, Hansel! Schon Mancher ist dadurch zu Grund’ gegangen!“
„Ich geh’ nicht zu Grund’,“ entgegnete der Bursche und erfaßte die Hand seiner Mutter. „Laß meiner Jugend ihr Recht, ich find’ mich immer wieder auf den rechten Weg.“
Und die Frau strich beruhigt und liebkosend über das Haar ihres Sohnes, der brav gewesen war von Jugend auf.
„Treib’ es nur nicht zu arg,“ sprach sie mahnend. „Ich werd’ Deinen Vater vorbereiten, daß er nicht erschrickt, wenn Du zu ihm trittst.“
Sie verließ die Kammer, und Hansel sprang aus dem Bette. Als er vor den kleinen Spiegel hintrat, fuhr er selbst erschreckt zurück. Sein Gesicht war mit Blut überdeckt und geschwollen, aber seine Glieder waren gesund, und das gab ihm schnell seinen frischen Muth zurück.
Er wusch sich, mochten die Verletzungen auch schmerzen. Dann trat er an’s Fenster und sah zum Oberburgstein hinüber. [563] Der lag trübe, halb in Nebel gehüllt, da. Weshalb schien die Sonne nicht, weshalb war die Luft nicht klar? Er würde das Fenster aufgerissen und einen Jauchzer so laut in die Morgenluft hinausgerufen haben, daß er hinüber gedrungen wäre über das Thal und der Geliebten die freudige Botschaft seiner Rettung überbracht hätte!
Als er in die Stube hinabging, empfing ihn sein Vater ohne Vorwurf, aber schweigend. Derselbe fragte nicht nach der Ursache seiner Verletzung, er schien dieselbe nicht sehen zu wollen.
Seine Eltern rüsteten sich, um zur Messe zu gehen, er blieb zurück, denn mit zerschundenem Gesichte mochte er sich nicht zeigen. Er fürchtete die Fragen.
Seine Eltern hatten bereits das Haus verlassen, als seine Mutter noch einmal zurückkehrte.
„Hansel, Du gehst heute nicht zu Thal?“ fragte sie.
„Nein, Mutter.“
„Und wenn ich gefragt werd’, weshalb Du nicht kommst, was soll ich sagen?“
Hansel zögerte einen Augenblick mit der Antwort.
„Sag’, ich sei auf die Gemsjagd gegangen,“ sprach er dann.
„Hansel, soll ich die Unwahrheit sagen?“ mahnte die Frau ernst. „Ich geh’ zur Meß’, da kann mein Mund nicht lügen.“
„Dann sag’, ich fühle mich unwohl,“ entgegnete Hansel verlegen.
Seine Mutter ging schweigend fort. Er blickte ihr nach durch das Fenster. Sagte sie nicht doch die Unwahrheit?
Nachdenkend stützte er den Kopf auf die Hand. Es lag schwer auf seiner Brust; zweimal war er dem Tode nur mit Noth entgangen. So wunderbar seine Rettung war, so konnte er sich derselben doch nicht aus vollem Herzen freuen.
Dann sann er nach, ob es kein Mittel gebe, die Geliebte von seiner Rettung in Kenntniß zu setzen. Sollte er ihr schreiben? Wo fand er einen Boten, der den Brief überbrachte? Vielleicht klärte sich die Luft mehr auf und er war im Stande, ihr irgend ein Zeichen zu geben.
Müde und zerschlagen legte er sich auf die Ofenbank.
Seine Eltern kehrten aus der Messe zurück. Sie brachten keine Neuigkeiten aus dem Thale mit, denn sie hatten nur mit wenigen Bekannten einige Worte gewechselt. Hansel mochte auch nicht fragen, denn ihm bangte doch, sie könnten erfahren haben, daß er in der Nacht zuvor nicht in dem „Elephanten“ gewesen war.
Nach dem Mittagsessen begab er sich auf seine Kammer und legte sich aufs Bett, um zu schlafen. –
Während dem herrschte unten im Dorfe große Aufregung. Die Knechte des Unterburgsteiners forschten nach ihrem Herrn. Als sie zur Messe gegangen waren, hatte derselbe seine Kammer noch nicht verlassen, sie hatten jedoch nicht nachgeforscht, weil sie geglaubt, er habe am Abende zuvor sich einen Rausch getrunken und schlafe denselben aus. Als er nach ihrer Heimkehr sich noch immer nicht gezeigt hatte, waren sie in seine Kammer gedrungen und hatten dieselbe leer gefunden. Sein Bett war unberührt gewesen. Sie waren überzeugt, daß ihm ein Unfall begegnet war. Es fehlte auch seine Büchse, welche sonst neben seinem Bette an der Wand hing. Daß der Unterburgsteiner während der Nacht auf die Jagd gegangen sei, hielt Jeder für unmöglich, denn so thöricht war er nicht, um bei dem eintretenden Thauwinde in die Berge zu steigen. Ohnehin war es so dunkel gewesen, daß er ein Wild nicht hätte sehen können.
Eine bange Stimmung hatte sich Aller bemächtigt. Der Burgsteiner war kein Kind, der ohne Noth sein Gehöft verließ und sich in den Bergen verlief. Sollte er seine Verlobte besucht haben und auf dem Heimwege verunglückt sein? Auch dies mochte Niemand glauben, denn es war kein Geheimniß geblieben, daß die Moidl sich sträubte, Davids Weib zu werden. Die Magd des Unterburgsteiners hatte dies längst ausgeplaudert. Etwas Ungewöhnliches mußte geschehen sein.
Unwillkürlich dachten die Meisten an ein Zusammentreffen mit seinem Gegner – mit Hansel. Daß beide sich haßten, wußten alle. Man erinnerte sich, welche wilde Drohung Hansel vor Wochen in dem Wirthshause gegen David ausgesprochen hatte. Weshalb war er nicht zur Messe gekommen? Manche glaubten bemerkt zu haben, daß seine Eltern, als sie zur Kirche gegangen, besonders still und niedergedrückt gewesen seien.
Noch wagte Niemand, einen Verdacht gegen Hansel auszusprechen, denn wie sollten die beiden Gegner während der Nacht an einander gerathen sein? Da erzählte eine alte Frau, die Haidacherin habe ihr auf dem Kirchwege am Morgen mitgetheilt, daß ihr Sohn im Gesicht und an den Händen arg zerschunden sei und deshalb nicht zur Messe gehen könne. Er habe in der Nacht zuvor in dem „Elephanten“ gezecht und zuviel getrunken, da habe er auf dem Heimwege den Pfad verfehlt und sei von einem Felsen gestürzt.
„Er ist nicht im ‚Elephanten‘ gewesen und auch in der ‚Post‘ nicht!“ riefen Mehrere gleichzeitig, und nun war keiner mehr in Zweifel, daß er mit dem Unterburgsteiner zusammengerathen war. Hatte er doch gedroht, ihn zu vernichten, wie er ein Glas zerschelle.
„Er hat ihn erschlagen!“ riefen diejenigen, welche auf des Vermißten Seite standen.
Die Freunde Hansel’s wagten nicht, an seiner Schuld zu zweifeln, aber sie versuchten ihn in Schutz zu nehmen, damit das Gericht nicht sofort gegen ihn einschreite und er Zeit gewinne zur Flucht.
„Noch ist es nicht erwiesen, daß er schuldig ist,“ warf Sepp Plankensteiner ein.
„Seine eigene Mutter hat erzählt, daß er im Gesicht und an den Händen arg zerschunden ist!“ riefen ihm Mehrere entgegen. „In dem ‚Elephanten‘ ist er nicht gewesen. Es wird ein harter Kampf gewesen sein, denn David war ihm gewachsen.“
Auch Franz Steger nahm sich des Freundes an.
„Und wenn er mit ihm gerauft hat, ist dadurch erwiesen, daß ihn eine Schuld trifft?“ sprach er. „Wer weiß, wo sie sich getroffen haben und wie sie an einander gerathen sind. Der Unterburgsteiner kann übel zugerichtet sein, er kann sich bei einem Freunde verbergen, bis die schlimmsten Wunden geheilt sind, denn er ist stolz und wird sich scheuen, dieselben offen zu zeigen. Noch hat keiner ein Recht, auf den Hansel eine Schuld zu werfen. Erst muß doch erwiesen sein, daß dem Unterburgsteiner an Leib und Leben geschadet ist.“
„Du hast Recht,“ fiel Sepp ein. „Als beide auf dem Hofe des ‚Elephanten‘ rauften und Hansel den David warf, da hätte dieser sich auch leicht den Kopf zerschlagen können, und den Hansel würde keine Schuld getroffen haben. Vielleicht sitzt der Unterburgsteiner schon jetzt in seinem Hause und mag sich den Leuten nicht zeigen, weil er übel zugerichtet ist.“
„Sind die beiden allein und zur Nachtzeit an einander gerathen, dann ist es nicht beim Raufen geblieben,“ entgegneten Mehrere, aber Steger’s Worte hatten doch den Einfluß ausgeübt, daß Niemand den Hansel eines Verbrechens zu beschuldigen wagte. Der Tod des Unterburgsteiners mußte ja erst festgestellt sein.
Das Gespräch drehte sich an diesem Tage nur um diesen Gegenstand, und alle Möglichkeiten wurden mehr denn zehnmal erwogen. Eins blieb Allen unerkärlich, wie Hansel und David zur Nachtzeit sich getroffen hatten, denn durch die Magd Davids war es festgestellt, daß dieser am Abende sein Gehöft nicht verlassen hatte. Als sie sich zur Ruhe gelegt, war er noch in dem Wohnzimmer gewesen.
Spät am Abend kam ein Knecht vom Unterburgstein in den „Elephanten“ und berichtete, daß von seinem Herrn noch keine Spur aufgefunden sei. Stundenlang habe er mit mehreren Bauern nach demselben gesucht. Sie seien auch auf dem Oberburgstein gewesen. Der Bauer sei über das Verschwinden seines künftigen Schwiegersohnes sehr erschrocken, könne aber auch keine Auskunft geben.
Als der Bezirksrichter am folgenden Morgen, von einem Gensdarm begleitet, durch das Dorf hinschritt und langsam den Berg emporstieg, da wußten wohl Alle, die ihn sahen, wohin er ging. Die Leute traten vor die Thür und blickten ihm nach.
„Er holt den Hansel,“ sprach der Eine zu dem Anderen.
„Seine Schuld muß doch erwiesen sein, sonst würden sie ihn nicht holen,“ warf ein Dritter ein.
„Weißt Du genau, ob sie ihn holen?“ fragte ein Färber, der zu den Sprechenden trat. „Wenn er schuldig ist, dann wird er längst über die Berge sein, denn er hat ja Zeit genug gehabt, und ich kann’s ihm nicht verdenken.“
„Der Richter wird schon wissen, was er thut,“ bemerkte der Nachbar des Färbers, welcher mit diesem nicht auf dem besten Fuße lebte.
„Ich weiß es auch!“ rief der Färber lachend. „Wenn er das Nest leer findet, kehrt er leer zurück. Das würd’ ein Andrer genau ebenso machen.“
[564] Die Leute hatten das Rechte errathen. Der Bezirksrichter stieg mit dem Gensd’armen zu dem Gehöfte des Haidachers empor.
Der alte Bauer saß mit Frau und Sohn beim einfachen Mittagsessen.
Die Frau fuhr erschreckt zusammen, und der Löffel entfiel ihrer Hand, als sie den Bezkrksrichter und den Gensd’armen in das Zimmer treten sah. Der Athem stockte in ihrer Brust, ängstlich glitt ihr Auge über das Gesicht ihres Sohnes hin, dasselbe war ganz ruhig.
Der Richter grüßte die beiden Alten freundlich.
„Was ist denn mit Dir geschehen?“ wandte er sich an Hansel. „Dein Gesicht ist ja arg zerschunden.“
„Ich bin gestürzt.“
„Wann denn?“ forschte der Richter weiter.
„In der Nacht zum Sonntag.“
„Wie ist denn das gekommen? Ich hab’ immer gemeint, Du kennst jeden Weg und Stein sehr genau. Wo bist Du denn gewesen?“
„Ich war im Thal, auf dem Rückwege bin ich gestürzt.“
„Wo bist Du im Thal gewesen?“
Hansel zögerte mit der Antwort.
„In dem ‚Elephanten‘,“ fiel seine Mutter ein. „Dort hat er mit seinen Freunden getrunken, und der Wein ist ihm zu Kopf gestiegen. Heutzutage ist es anders, als es früher war, die jungen Burschen wissen nicht mehr, wann sie aufhören sollen. Hansel ist sonst mäßig, aber er hätt’ sich durch den Sturz Schaden für seine ganze Lebenszeit zufügen können.“
„In dem ‚Elephanten‘ ist er nicht gewesen,“ unterbrach der Richter die Frau. „Nun sag’, wo Du gewesen bist?“ wandte er sich an Hansel.
Dem Gefragten schoß das Blut in das Gesicht. Sollten seine Zusammenkünfte mit der Moidl verrathen sein?
„Muß ich denn Rechenschaft geben, wohin ich geh’?“ warf er ein. „Ich denk’, das ist nicht nöthig, so lang’ ich Niemand zu nahe trete.“
„Ja, es ist nöthig,“ wiederholte der Richter ernst.
„Und wenn ich’s nicht thue?“
„Dann verhafte ich Dich!“
„Jesus Maria!“ schrie die Frau auf. „Hansel, was hast Du gemacht?“
„Nichts, Mutter!“ entgegnete Hansel ruhig. „Ich brauch’ nicht zu sagen, wo ich gewesen bin, und verhaftet kann ich deshalb nicht werden. Der Herr Bezirksrichter scherzt.“
„Ich scherze nicht, das ist meines Amtes nicht,“ fuhr der Richter unwillig fort. „Dann bist Du wohl auch nicht mit dem Unterburgsteiner zusammengetroffen?“
„Nein,“ gab Hansel ruhig zur Antwort.
„Und Du weißt auch nicht, wo er geblieben ist?“
„Nein.“
„Was ist mit dem Unterburgsteiner?“ fiel der alte Haidacher fragend ein.
„Verschwunden ist er seit der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, keine Spur ist von ihm zu finden, so viel auch nach ihm geforscht ist. Hansel steht in Verdacht, mit ihm zusammen getroffen zu sein, mit ihm gerauft und ihn erschlagen zu haben.“
„Jesus Maria! Mein Hansel!“ schrie die Frau laut auf und rang verzweiflungsvoll die Hände.
Bestürzt stand Hansel da und blickte den Richter starr an. Dann trat er auf seine Mutter zu.
„Sei ruhig, Mutter, das ist Alles nicht wahr!“ sprach er. „Es muß sich ja bald aufklären, daß ich es nicht gethan hab’.“
„Dann hast Du wohl auch vor wenigen Wochen nicht eine wilde Drohung gegen David ausgestoßen?“ fuhr der Richter fort. „Hast nicht das Weinglas auf den Tisch geschleudert, daß es in tausend Scherben zersprang, und ausgerufen, so solle es dem Unterburgsteiner ergehen, wenn er Dir begegne?“
„Doch, das hab’ ich gethan, ich war im Zorne, und wenn er mir an dem Tage begegnet wär’, so wüßt’ ich nicht, was geschehen wäre. Mein Blut hat sich bald beruhigt.“
„Und weshalb warst Du in Zorn? Was hat er Dir gethan?“ forschte der Richter.
Hansel schwieg. Daß David auf ihn geschossen, mochte er nicht sagen, und ein anderer Grund fiel ihm nicht ein, denn die schwere Beschuldigung, die auf ihm lastete, wirkte verwirrend auf ihn.
„Nun, Du wirst Dich schon besinnen,“ fuhr der Richter fort. „Glaub’ nur nicht, daß es Dir so leicht werden wird, mich zu täuschen. Ich kann Dir sogar sagen, wo Du in der Nacht zum Sonntag gewesen bist. Du bist zum Unterburgstein hinaufgestiegen und dann, eh’ Du ihn erreicht, links in den Wald gegangen. Es mag nach zehn Uhr Abends gewesen sein. Ist dem nicht so?“
Hansel schwieg.
„Gesteh, denn der Gaisbub’ des Unterburgsteiners hat Dich gesehen, Du bist an ihm vorüber gegangen, ohne ihn zu bemerken, denn er hatte sich hinter einen Felsen gedrückt. Was hast Du dort zu suchen gehabt?“
Hansel verlor immer mehr seine Fassung.
„In dem Walde sollte ein Rehbock stehen.“
„Den wolltest Du schießen?“
„Ja,“ gab Hansel, ohne zu überlegen, zur Antwort.
„Dann wundert es mich, daß Du Deine Büchse nicht mitgenommen, denn mit dem Stecken, den Du trugst, konntest Du nicht schießen. Wenige Minuten nach Dir ist der Unterburgsteiner von seinem Gehöft herabgekommen und hat denselben Weg eingeschlagen – willst Du noch behaupten, daß Du mit ihm in der Nacht nicht zusammengetroffen bist?“
„Ja. Ich hab’ ihn nicht gesehen.“
„Hansel, es wär’ besser für Dich, Du legtest ein offenes Geständniß ab, das mildert,“ mahnte der Richter.
„Ich hab’ ihn nicht gesehen,“ wiederholte der Bursch.
„Hansel – Hansel, gesteh’, wenn Du mit ihm gerauft hast,“ rief seine Mutter, indem sie schluchzend und händeringend an den Sohn herantrat.
„Ich hab’ ihn in der Nacht nicht gesehen – ich hab’ nicht mit ihm gerauft.“
„Dann hast Du ihn erschlagen!“ rief der Richter. „Dein eigenes Gesicht zeugt gegen Dich, die Spuren des Kampfes in ihm kannst Du nicht fortleugnen. Ich verhafte Dich im Namen des Gesetzes!“
Laut aufschreiend sank die Frau auf einen Schemel. Hansel zuckte bei den Worten des Richters zusammen, aber er faßte sich.
„Ich bin unschuldig,“ versicherte er und sah den Richter offen an.
„Das wird sich erweisen,“ gab der Richter zur Antwort. „Ich sollt’ Dir die Hände binden lassen, aber ich möcht’ Deinen armen Eltern die Schmach ersparen, daß ihr Sohn gefesselt aus ihrem Hause geführt wird. Willst Du willig folgen?“
„Ja.“
„Versuch’ nicht zu fliehen, das Gewehr des Gensd’armen ist geladen.“
„Ich fliehe nicht.“
Der alte Haidacher hatte schweigend und vor sich hinstarrend dagesessen. Er hatte soviel Unglück in seinem Leben erfahren, daß er gegen einen neuen Schlag des Mißgeschickes fast abgestumpft war. Seine Frau schluchzte laut und rang verzweiflungsvoll die Hände. Hansel stand erschüttert da.
„Komm,“ sprach der Richter.
Da trat Hansel auf seinen Vater zu und reichte ihm die Hand. Der Alte wandte das Gesicht ab.
„Vater, Du darfst mir dreist die Hand geben!“ rief er mit leise zitternder Stimme. „Ich hab’ nichts gethan, was unrecht wäre!“
Der Alte antwortete nicht und rührte sich auch nicht. Als Hansel zu seiner Mutter trat, sprang dieselbe empor und umschlang ihn mit beiden Armen.
„Ich laß Dich nicht!“ rief sie in leidenschaftlicher Erregung.
„Ich komm’ bald zurück, Mutter,“ sprach Hansel. „Du darfst nicht glauben, daß ich schuldig bin – Du nicht!“
„Nein, ich glaub’ es nicht!“ rief die Frau und küßte ihren Sohn auf die Wange.
Hansel riß sich von ihr los und eilte aus dem Zimmer, ohne daß der Richter ihn noch einmal aufzufordern brauchte, ihm zu folgen.
[577] Langsam stiegen die drei Männer den Berg hinab. Der Gensd’arm hielt das Gewehr in der Hand und schritt dicht hinter dem Verhafteten her, um jeden Fluchtversuch desselben zu verhindern.
Er hätte es nicht nöthig gehabt, denn Hansel dachte nicht an Flucht. Das Gefühl seiner Unschuld erfüllte ihn mit trotzigem Muthe, aber dieser Muth schwand bald, als er den Blick auf den Oberburgstein richtete und an die Geliebte dachte. Wie mußte sie erschrecken, wenn sie seine Verhaftung erfuhr! Und wenn nun seine Unschuld nicht so schnell erwiesen wurde, als er hoffte, wenn er wochenlang im Gefängnisse sitzen mußte und die Geliebte nicht sehen konnte!
Dies hatte er nicht bedacht, als er versprach, willig zu folgen – dies nicht. Die Angst schnürte ihm die Brust zusammen, er rang nach Athem, es war, als ob es vor seinen Augen dunkelte, und er stand still, um sich an einem Felsblock zu halten.
„Hansel, Dein Gewissen regt sich,“ sprach der Richter, der ihm von Jugend auf wohlgewollt hatte. „Es wird Dir leichter um’s Herz werden, wenn Du Alles offen gestehst.“
„Ich hab’ nichts zu gestehen, Herr Bezirksrichter, mein Gewissen ist frei!“ rief Hansel und raffte sich zusammen.
Rasch stieg er den Berg hinab.
Als sie das Dorf erreicht hatten, als er sah, wie die Leute, die er alle kannte, neugierig auf der Straße standen, als er hörte, wie die Kinder einander zuriefen: „Er kommt!“ „Sie bringen ihn!“ als wäre es ein lustiges Schauspiel, dem sie entgegensähen, da fiel ihm doch das Herz vor die Füße. Glaubten denn auch sie an seine Schuld? Hielten auch sie ihn für einen Mörder? War keiner unter ihnen, der offen auftrat und rief, daß er einer solchen That nicht fähig sei?
Es schwiegen Alle. Er vernahm nur ein Flüstern und Gemurmel, als er durch die Reihen der Neugierigen mit gesenktem Blicke hinschritt. Nur einmal blieb er trotzig stehen und blickte herausfordernd um sich, als er hörte, wie eine Frauenstimme ihm eine laute Verwünschung nachrief, weil er den Unterburgsteiner erschlagen habe.
Der Gensd’arm drängte ihn vorwärts. Sie gelangten in dem Gerichtsgebäude an, wie ein Willenloser stieg er eine Treppe empor, eine schwere, mit Eisen beschlagene Thur wurde vor ihm geöffnet, er wurde hineingedrängt in einen halb dunklen Raum, die Thür wurde hinter ihm geschlossen, ein schwerer Riegel vorgeschoben.
Wie ein Träumender blieb er einen Augenblick stehen. Dann preßte er beide Hände auf die Stirn, als ob er sich besinnen müsse, was mit ihm geschehen sei. Sein Auge durchmaß den engen, düsteren Raum, der nur durch ein kleines Fenster schwach erhellt wurde.
Er war ein Gefangener. Wild bäumte es sich in ihm auf. Die Luft des engen Raumes schien ihn ersticken zu wollen. Mit der Kraft der Verzweiflung stemmte er sich gegen die Thür, um sie zu sprengen. Er wollte, er mußte frei sein, weil er unschuldig war!
Aber die Thür widerstand seiner Kraft. An ihr hatte vielleicht schon Mancher verzweiflungsvoll gerüttelt. Erschöpft sank er auf einen Schemel und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Als Moidl am Sonntag Morgen erwachte, wußte sie nicht, wie sie in das Bett gelangt war und wie lange sie bewußtlos
auf der Erde gelegen hatte. Eine unsagbare Angst lag jetzt noch auf ihr. Sie fieberte. Sie wollte aufspringen, aber sie
vermochte sich kaum zu rühren – die Glieder waren ihr wie gelähmt.
Starr, regungslos war ihr Auge auf die graue Wand des Gemaches gerichtet; grau, unfreundlich blickte auch der Morgen durch das Fenster.
„Er ist todt – die Lawine hat ihn erfaßt, denn er konnte das Thal noch nicht erreicht haben!“ rief es in ihr, und vergebens suchte die Hoffnung gegen diesen Ruf anzukämpfen.
Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet, aber sie konnte nicht weinen.
So fand sie ihr Vater, als er in ihre Kammer trat, um nachzuschauen, weshalb sie nicht aufgestanden war.
Starr, fragend blickte sie ihn an.
Brachte er ihr bereits die Kunde von dem Tode des Geliebten?
„Was fehlt Dir, Moidl?“ fragte der Oberburgsteiner.
„Nichts – nichts!“ entgegnete die Kranke mit der Hast des Fiebers.
„Dein Gesicht glüht – Deine Stirn ist heiß!“ fuhr ihr Vater fort.
Moidl antwortete nicht; sie schloß die Augen.
„Ich werde die Magd zu Dir schicken, die mag Dir einen [578] Thee kochen,“ sprach der Oberburgsteiner und verließ dann die Kammer.
Es lag nicht in seiner Natur, in Krankheitsfällen sehr ängstlich zu sein, aber der Zustand seiner Tochter gefiel ihm doch nicht. Er hatte sich bereits gerüstet, zur Messe zu gehen, er zog die Joppe wieder aus und blieb oben. Auch die Magd konnte nicht zur Messe gehen.
Von dem, was das ganze Dorf an diesem Tage beschäftigte, erhielt er erst am Nachmittage Kunde, als der Knecht des Unterburgsteiners kam, um seinen Herrn zu suchen. Er fuhr erschreckt zurück. Und als ihm der Knecht mittheilte, welcher Verdacht sich gegen Hansel richtete, da zweifelte er nicht mehr, daß der Welsche den erschlagen habe, den er zu seinem Schwiegersohn ausersehen hatte. Es traf ihn hart.
Seine große Gestalt schien mit einem Male gebrochen zu sein. Er wollte sich aufraffen und den David suchen helfen – was konnte er ausrichten, da dessen Knechte und mehrere Bauern schon vergebens nach ihm geforscht hatten! In dumpfem Brüten blieb er in der Stube sitzen.
Er dachte nicht an seine kranke Tochter, sie durfte das Geschehene ohnehin noch nicht erfahren.
Erst am folgenden Morgen sah er wieder nach Moidl. Sie lag noch immer im Fieber, er fand sie schlechter, als am Tage zu[vor].
Nun sandte er doch einen Knecht in’s Dorf hinab, um den Arzt zu holen. Der Knecht brachte keine neue Nachricht aus dem Thale mit. Von dem Unterburgsteiner war noch immer keine Spur entdeckt.
Der Arzt kam, und der Oberburgsteiner führte ihn zu seiner Tochter.
„Sie fiebert,“ sprach der Arzt, indem er den Puls der Kranken fühlte. „Ich werde ihr etwas Beruhigendes verschreiben. Sie hat sich stark erkältet; wenn sie einige Tage im Bett bleibt, wird es besser werden.“
Moidl sprach kein Wort. Ihre großen Augen waren auf das Gesicht des Arztes gerichtet, als ob sie aus ihm etwas über das Geschick des Geliebten lesen könne.
Der Arzt trat zu dem Oberburgsteiner.
„Als ich hierher kam, brachten sie gerade den Hansel Haidacher als Gefangenen in’s Dorf,“ sprach er mit leiser Stimme. „Der Bezirksrichter und ein Gensd’arm hatten ihn von dem Gehöft seines Vaters geholt. Es soll erwiesen sein, daß er den Unterburgsteiner erschlagen hat.“
Moidl’s scharfes Ohr hatte die Worte gehört, sie richtete sich im Bette empor, dann sank sie mit lautem Ausschrei zurück.
Bestürzt eilte der Arzt zu ihr.
„Moidl, was ist Dir?“ fragte er.
„Sie wußte noch nicht, daß ihr Verlobter vermißt wurde,“ sprach der Oberburgsteiner.
Der Arzt schlug sich, unwillig über seine Unvorsichtigkeit, mit der Hand vor die Stirn. Er hatte nicht vermuthet, daß die Kranke seine Worte hören werde.
„Das hättet Ihr mir sagen sollen!“ rief er, während er sich über die wie bewußtlos Daliegende beugte.
Das unglückliche Mädchen hatte die Augen geschlossen, und ihre Brust rang nach Athem. Sie hatte die Nachricht empfangen, daß ihr Geliebter lebte, aber zugleich, daß er ein Mörder sei!
Der Arzt wusch ihr Stirn und Schläfen mit kaltem Wasser, ihr Puls ging plötzlich beängstigend langsam und schwach, es war, als ob die Lebenskraft aus ihr entschwunden sei.
„Moidl, ich wollte Dich nicht erschrecken,“ sprach er besorgt. „Fass’ Dich, es kann noch Alles anders kommen.“
Langsam, ohne die Augen aufzuschlagen, schüttelte die Kranke zweifelnd mit dem Kopfe.
„Ruhe!“ preßte sie mit schwacher Stimme hervor.
„Ja, Ruhe wird ihr am besten thun,“ sprach der Arzt, indem er den Oberburgsteiner aus dem Zimmer zog. „Ich verschreibe ihr Beruhigendes und Stärkendes – den Schreck wird sie leicht überwinden. Erfahren hätt’ sie es doch. Sucht ihr nur Hoffnung einzureden.“
„Hat der Bube seine That gestanden?“ fragte der Oberburgsteiner.
„Ich weiß es nicht. Aber die Schuld war auf seinem Gesichte zu lesen, denn er wagte nicht aufzublicken.“
„Und von David ist noch keine Spur aufgefunden?“
„Nein.“
„Dann hat er ihn erschlagen und im Schnee verscharrt!“ rief der Bauer und warf sich auf einen Schemel.
Der Arzt versprach, am folgenden Tage wieder zu kommen, und ging fort.
Moidl war allein. Ihre großen Augen blickten starr in die Luft. Die heilige Jungfrau, zu der sie gebetet, hatte ihre Bitte gewährt – Hansel war gerettet, aber für sie zugleich für immer verloren! Er ein Todtschläger! Sie konnte es nicht fassen. War er deshalb der Gefahr entgangen? Besser noch für ihn, wenn er von der Lawine erfaßt wäre! Sie zuckte erschreckt über diesen Gedanken zusammen. Durfte denn auch sie an ihm zweifeln? War seine Schuld schon erwiesen? Der Unterburgsteiner hatte ihm schon einmal nach dem Leben getrachtet, vielleicht hatte er ihn auf’s Neue überfallen, und Hansel’s That war nur eine That der Notwehr gewesen.
Jetzt saß er im Gefängnisse. Und wenn er ein Mörder war, sie mußte an ihn denken, dachte er doch sicherlich auch an sie.
Der Arzt kam am folgenden Tage wieder und empfahl ihr die größte Ruhe. Wo sollte sie dieselbe finden, da sie Tag und Nacht an den Unglücklichen dachte? Und was die Magd ihr erzählte, trug nur dazu bei, sie noch mehr zu erregen.
„Er gesteht nicht,“ sprach die Magd. „Er leugnet hartnäckig, aber die Köchin des Bezirksrichters, die ich am Sonntag zufällig sprach, hat mir gesagt, das rette ihn nicht, denn er sei schuldig. Wenn es ihm vielleicht auch nicht an das Leben gehe, so werde er doch so viel Jahre schweres Gefängniß bekommen, daß seine Haare vielleicht ergraut seien, wenn er dasselbe wieder verlasse.“
Sie ahnte nicht, wie sehr sie die Kranke, die kein Wort erwiderte, dadurch peinigte. –
Mit Hansel war in dem Gefängnisse eine eigenthümliche Wandlung vorgegangen. Auf seine anfängliche leidenschaftliche Erregung war Abspannung und Muthlosigkeit gefolgt, aber auch diese hatte er bald überwunden, und nun erschien er ganz ruhig.
Fest blieb er dabei, daß er den Unterburgsteiner in der Nacht nicht gesehen habe, und ebenso fest verweigerte er jede Auskunft, welche Veranlassung ihn in jener Nacht den Weg zum Unterburgstein hinaufgeführt habe, wo der Gaisbube ihn gesehen hatte. Diese Weigerung bestärkte nur den Verdacht seiner Schuld.
Vergebens bemühte sich der Richter, ihn zum Geständnisse zu bewegen, er wandte Güte und Strenge an, Alles blieb erfolglos.
„Ich hab’ nichts zu gestehen,“ entgegnete Hansel stets. „Sie glauben mir nicht, ich muß dies ertragen; den Muth verlier’ ich nicht, denn Eins weiß ich bestimmt, meine Unschuld muß doch an den Tag kommen!“
Schlauer noch als der Richter glaubte der Gerichtsdiener es zu beginnen. Er hatte dem Verhafteten täglich das Essen und Wasser zu bringen und blieb öfter in der Gefängnißzelle, um mit Hansel zu plaudern. Er bot Alles auf, das Vertrauen desselben zu gewinnen.
„Mir kannst Du dreist Alles sagen,“ sprach er. „Ich bin Soldat gewesen wie Du und einen Camerad würd’ ich nimmer verrathen.“
„Es ist nur schad’, daß ich Dir nicht ein Wort mehr zu sagen weiß, als dem Richter,“ entgegnete Hansel heiter. „Ich müßt’ sonst eine Geschichte ersinnen, aber mir fällt nichts bei.“
„Du handelst gegen Dein eigen Interesse,“ fuhr der Gerichtsdiener fort. „Wenn Du Alles leugnest, nun da kannst Du lange, lange in Untersuchungshaft sitzen.“
„Ich hab’ ja Zeit. Jetzt könnt’ ich doch auf dem Gehöft meines Vaters wenig schaffen. Ich leg’ mir hier Alles im Kopfe zurecht, was ich thun werde, wenn ich wieder frei bin.“
„Du kommst nicht frei, wenn Du nicht gestehst! Räumst Du Deine Schuld ein – freigesprochen kannst Du dann freilich nicht werden, aber des Kaisers Gnade kann Dich freigeben, und das wird geschehen, weil Deine Eltern Dich nöthig haben. Der Richter selbst will sich für Dich verwenden.“
„Hat er Dir dies gesagt?“
„Ja,“ gab der Diener dreist zur Antwort.
„Nun, dann sag’ ihm, ich brauch’ seine Verwendung und auch des Kaisers Gnade nicht, denn mich trifft keine Schuld!“ rief Hansel.
[579] „Du willst nicht auf mich hören?“
„Nein. Ich folg’ meinem Gewissen und meinem eigenen Kopfe, die zeigen mir schon den rechten Weg. Aber Eins will ich Dir gestehen. Wenn ich mich schuldig fühlt’, so würde ich doch nicht ein solcher Thor sein und Dir Alles erzählen, damit Du es dem Richter warm hinterbrächtest und Dich noch obenein rühmen könnest, Du habest mich überführt!“
Aergerlich verließ der Diener den Raum, und Hansel erhielt am folgenden Tage eine geringere Portion Essen.
Er lachte darüber, denn er war nicht verwöhnt und konnte sich mit wenig begnügen, da er seine Kräfte nicht anzustrengen brauchte.
Die Nachforschungen nach dem Unterburgsteiner waren fast unablässig fortgesetzt, die Gensd’armen hatten den ganzen Berg und Wald durchsucht, ohne eine Spur gefunden zu haben. Es blieb nur eine Annahme, daß Hansel den Leichnam des Erschlagenen fortgetragen und an einem entfernten Orte verscharrt habe. Er hatte die ganze Nacht über Zeit gehabt, denn wann er heimgekehrt war, wußte Niemand. –
So waren Wochen vergangen.
Moidl war langsam genesen, aber Mancher, der sie früher gesehen, würde sie nicht wieder erkannt haben. Ihre Wangen waren bleich und eingefallen, ihre Augen blickten trübe und ausdruckslos.
„Das Fieber hat sie so arg mitgenommen,“ sprach der Arzt, aber nicht das Fieber hatte an ihr gezehrt, sondern die Angst um den Geliebten; in ihrem Innern keimte kaum noch eine Hoffnung für ihn und ihr Herz konnte doch nicht von ihm lassen.
Der Frühling brach außerordentlich früh herein, vielleicht war es nur ein Vorbote desselben. Wohl deckte noch Schnee die Berge, aber die Luft war lau und mild und die Sonne sandte erwärmende Strahlen.
Da verließ die Genesene zum ersten Male das Haus und schritt langsam nach der kleinen Capelle. Hastig schluchzend sank sie auf dem Betschemel nieder und legte mit zitternden Händen ihre braunen Flechten, die sie der Mutter Gottes gelobt, wenn sie den Geliebten errette, auf den kleinen Altar.
„O rette ihn – rette ihn!“ flehte sie auf’s Neue mit gefalteten Hänlden, und sie legte die Stirn an die kalte Kante des Altars. „Rette ihn – er kann ja nicht schuldig sein!“ wiederholte sie.
Regungslos knieete sie da.
Ihr Vater trat in die Capelle, er sah das braune Haar seiner Tochter auf dem Muttergottesbilde liegen.
„Moidl, was hast Du gethan?“ rief er unwillig. „Weshalb hast Du Dein Haar abgeschnitten?“
Die Betende zuckte erschreckt zusammen, flehend erhob sie den Blick zu dem Bilde der heiligen Jungfrau, als ob sie um Vergebung bitte, weil ihre Lippen die Wahrheit nicht sagen konnten.
„Ich hab’ es gelobt, als ich mich so elend fühlte,“ sprach sie.
Der Bauer erwiderte kein Wort. Trotz seines festen, harten Sinnes hatte er doch ein gläubiges Gemüth. Auch er legte die Hände in einander und sprach leise ein Vaterunser.
„Moidl,“ sprach er dann mit weicherer Stimme. „Wir sind schwer geprüft; wenn Deine Kräfte es aushalten, dann sollst Du am Sonntag zur Messe gehen. Die Magd kann Dich begleiten, wenn der Weg Dir schwer wird.“
„Ich werde es thun, Vater,“ gab das Mädchen ruhig, mit schwacher Stimme zur Antwort und kehrte in das Haus zurück.
Der Sonntag kam. Das Wetter war freundlich und milde. Langsam stieg Moidl in’s Thal hinab, die Begleitung der Magd hatte sie abgelehnt. Sie hielt sich für kräftig genug, allein zu gehen, allein mehr denn einmal mußte sie auf einem Steine ausruhen.
Der Morgen war so ruhig und friedlich. Langsam, feierlich klangen die Glockentöne, welche zur Messe riefen, zu ihr empor. An dem ihr gegenüber liegenden Berge stiegen Männer und Frauen nieder. Sie blickte hinüber nach dem Gehöft Haidacher’s, düster, wie verlassen lag dasselbe da. Ein lauter, lustiger Juchzer drang ihr in’s Ohr, aber er erhöhte nur ihre schmerzliche Stimmung. So hatte auch Hansel oft seine Jugendlust in den Morgen hinausgerufen, und nun saß er immer noch im Gefängnisse. Wer wußte, wie lange noch? Wer wußte, ob ihre Augen ihn je wiedersahen?
Langsam stieg sie abwärts. Als sie das Dorf erreichte, hatte die Messe bereits begonnen, denn die Straße war leer. Es war ihr lieb, daß sie allein gehen konnte. Ihr Herz war so schwer und bange. Sie mußte an dem Gerichtsgebäude vorüber, in welchem Hansel saß, und sie wußte, daß die Gefängniszelle nach der Straße hinaus lag. So nahe mußte sie an ihm vorüberschreiten, ohne ihn zu sehen.
Sie zitterte leise, als sie sich dem alten Gebäude näherte, die Augen hatte sie auf die Erde geheftet, ihre Hände hielten das Gebetbuch fest umfaßt.
„Moidl, Moidl!“ rief plötzlich eine Stimme über ihr.
Sie richtete das Auge empor, an dem kleinen Fenster der Gefängnißzelle, hinter den Eisenstäben entdeckte sie Hansel’s bleiches Gesicht.
Ein halb unterdrückter Aufschrei entrang sich ihren Lippen.
„Moidl, laß den Muth nicht sinken,“ rief Hansel. „Ich bin unschuldig, deshalb müssen sie mich frei geben!“
Noch einmal blickte das Mädchen auf zu dem bleichen Gesichte des Geliebten, dann eilte sie hastig weiter und es war ihr, als ob neue Kraft sie belebe.
„Er ist unschuldig!“ rief es freudig in ihr, sie hatte es von seinem eigenen Munde gehört und sie wußte, daß er ihr keine Unwahrheit sagen konnte. Nun fürchtete sie nichts mehr. Der Himmel erschien ihr höher und blauer. Sie langte in der Kirche an.
In ihrem Kirchstuhle sank sie auf die Kniee und betete so inbrünstig, wie sie seit langer Zeit nicht gebetet hatte.
„Er ist unschuldig!“ tönte es immer wieder in ihr, nun glaubte sie Alles, was auch kommen mochte, ertragen zu können.
„Geht Dir’s wieder besser?“ fragte eine Bekannte sie, als die Messe beendet war.
„Ja, es geht mir gut,“ entgegnete Moidl, und ihre Augen gewannen wieder Glanz. „Das Fieber ist gewichen, der Frühling kommt, nun wird es auch bei uns dort oben wieder freundlicher.“
„Du hast Schweres durchlebt,“ fuhr die Freundin fort.
„Ja, sehr Schweres, aber das ist nun vorüber und ich hab’ wieder frischen Muth,“ gab Moidl zur Antwort.
Selbst der Oberburgsteiner war erstaunt, als er seine Tochter sah. Auf den bleichen Wangen derselben schimmerte schon wieder ein leichtes Roth durch.
Zwei Tage später befand sich das ganze Dorf in größter Aufregung. Einige Knaben hatten in dem Schnee der niedergegangenen Lawine einen menschlichen Körper entdeckt – es war der Leichnam des Unterburgsteiners.
Der Bezirksrichter, der Arzt und zwei Gensd’armen waren zu der Stelle geeilt, damit unter ihrer Aufsicht der Todte aus dem Schnee gegraben werde, und fast das halbe Dorf war ihnen gefolgt. Nun mußte doch endlich Aufklärung über das Verschwinden Davids kommen, welches die Gemüther seit so langer Zeit in Aufregung gehalten hatte. Es mußte sich auch zeigen, wie er durch Hansel erschlagen war, denn der Schnee ließ keine Verwesung und Entstellung zu.
Der große Körper des Unterburgsteiners wurde mit größter Vorsicht ausgegraben – dicht neben ihm lag seine Büchse – derselbe war so wohl erhalten, als ob er nur zwei Tage in dem Schnee gelegen habe.
Die Dorfbewohner drängten in ihrer Neugier so ungestüm heran, daß die beiden Gensd’armen Mühe hatten, sie zurückzuhalten; jeder wollte die Verletzung sehen, die ihm durch Hansel’s Hand beigebracht war.
Der Bezirksrichter betrachtete den Todten aufmerksam, der Arzt untersuchte ihn, konnte aber nicht die geringste Verletzung an dem Körper entdecken. Der Todte wurde auf einer Bahre nach dem Gerichtsgebäude getragen, um dort noch einmal auf das Sorgfältigste untersucht zu werden.
Hansel wurde zu dem Todten geführt, er blieb vollständig ruhig.
„Wo ist er gefunden?“ fragte er.
„Das brauch’ ich Dir nicht zu sagen,“ entgegnete der Richter, der ihn prüfend beobachtete. „Du weißt es sehr genau.“
„Ich weiß es nicht,“ gab Hansel ruhig zur Antwort.
[580] „In dem Schnee der Lawine hat er gelegen; wie ist er dort hingekommen?“
„Ich weiß es nicht,“ wiederholte Hansel. Eine dunkle Ahnung des Geschehenen stieg in ihm auf, er verbarg sie, denn er konnte sie nicht aussprechen, ohne zugleich zu verrathen, was ihn in jener Nacht in die Schlucht geführt hatte.
Die Untersuchung des Arztes war eine sehr sorgfältige, trotzdem wurde an dem Todten nicht die geringste Verletzung entdeckt. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß er nicht in dem Schnee verscharrt, sondern lebend von der Lawine erfaßt und von ihr im Schnee begraben war. Er war in dem Schnee erstickt.
Hansel wurde in seine Zelle zurückgeführt.
Der Leichnam des Unterburgsteiners war nun endlich aufgefunden, aber dies hatte nicht im Geringsten zur Klärung beigetragen, das Räthsel schien sogar noch schwerer lösbar geworden zu sein. Daß der Todte durch Hansel nicht erschlagen war, stand fest. Aber wie war der Unterburgsteiner in jener Nacht in die Schlucht gekommen? Und er mußte dort gewesen sein, sonst hätte er von der Lawine nicht erfaßt werden können. Weshalb verweigerte Hansel hartnäckig jede Auskunft, was ihn in jener Nacht auf den Weg zum Unterburgsteiner und dann in den Wald geführt hatte?
Wenn nichts Strafbares damit verbunden war, weshalb schwieg der Verhaftete?
Vergebens sann der Richter nach, und die Ueberzeugung setzte sich in ihm fest, daß Hansel’s nächtlicher Gang doch mit dem Tode des Unterburgsteiners in engstem Zusammenhange stehe. Das „Wie“ vermochte er sich freilich nicht zu erklären.
Er ließ den Gefangenen noch einmal vorführen.
„Hansel,“ sprach er. „Der Verdacht, daß Du den Unterburgsteiner erschlagen, hat sich nicht bestätigt, denn an dem Todten ist keine Verletzung gefunden. Nun kannst Du mir offen sagen, was Dich in jener Nacht auf den Weg geführt hat.“
„Ich konnt’ nicht schlafen und wollt’ mir noch Bewegung machen,“ gab Hansel zur Antwort.
„Schweig’ mit Deinen unwahren Ausflüchten, die jedesmal andere sind!“ herrschte ihn der Richter an. „Ich denk’, an Bewegung hat es Dir bei der Arbeit nicht gefehlt. Und Du weißt auch nicht, was den Unterburgsteiner in jener Nacht in die Schlucht geführt hat?“
„Nein,“ gab Hansel zur Antwort.
„Ich lass’ Dich nicht frei, bis dies Alles aufgeklärt ist; Du kannst die Aufklärung geben, aber Du willst es nicht. Ueberleg’ Dir die Sache. Ich wiederhole, daß ich Dich nicht eher freigebe, als bis Du Alles offen gestanden. Bedenk’, daß ich es länger aushalte als Du!“
„Ich kann keine Aufklärung geben,“ entgegnete Hansel. „Ich hab’ Ihnen gesagt, daß ich den David nicht erschlagen, Sie haben mir nicht geglaubt. Nun ist es erwiesen, daß ich die Wahrheit gesprochen. Und es wird auch die Zeit kommen, in der erwiesen wird, daß ich nichts Strafbares begangen hab’, ich verlass’ mich auf mein gutes Recht und mein Gewissen. Mich trifft keine Schuld!“
Der Richter ließ den Verhafteten wieder in die Zelle zurückführen.
Die Kunde, daß der Körper des Unterburgsteiners in dem Schnee der Lawine aufgefunden sei und nicht die geringste Verletzung zeige, war auch zum Oberburgstein hinaufgedrungen.
Moidl jubelte innerlich auf, denn nun war die Unschuld Hansel’s erwiesen. Die Kunde, welche ein Holzknecht erzählt hatte, war leider nur kurz und unvollständig, und sie sehnte sich, Näheres zu erfahren.
Am folgenden Tage kam der Gerichtsdiener, um ihrem Vater eine Zustellung in einer Proceßsache zu bringen, und er erzählte, während sie mit einer Näharbeit still am Fenster saß, ihrem Vater ausführlich, wie Alles gewesen war. Er war ja bei der Ausgrabung des Todten und bei der Untersuchung desselben durch den Arzt zugegen gewesen.
„Erschlagen ist er nicht, das steht fest,“ fügte er hinzu.
Den Oberburgsteiner schien das Gehörte wenig zu befriedigen, langsam schritt er in dem Zimmer auf und ab.
„Wie ist David in die Schlucht gekommen?“ fragte er.
„Das weiß noch Niemand. Er ist von der Lawine erfaßt und mit niedergerissen worden, das ist die feste Ueberzeugung des Bezirksrichters und des Arztes, und ich glaube es auch,“ sprach der Diener.
Der Bauer schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe; es paßte ihm dies nicht.
„Nun wird der Bursche wohl aus der Haft entlassen und geht frei aus?“ fuhr er fragend fort.
„Noch halten wir ihn fest,“ gab der Diener zur Antwort. „Eh’ er nicht gesteht, wo er in der Nacht gewesen ist und was ihn auf den Weg zum Unterburgstein geführt hat, geben wir ihn nicht frei. Der Richter hat ihn gestern vergebens aufgefordert, nun Alles offen zu gestehen, da erwiesen sei, daß er den David nicht erschlagen. Er sucht nach Ausflüchten und verweigert jede Auskunft. Was dahinter steckt, wissen wir noch nicht, aber wenn es nicht etwas Strafbares wär’, dann würd’ er die Wahrheit schon sagen.“
„Natürlich!“ rief der Bauer, der seinen Groll gegen Hansel nicht verbergen konnte. „Daß er nicht ohne Schuld ist, darauf möcht’ ich einen Eid leisten.“
„Er bleibt in Haft, bis er Alles gestanden, und sollt’ noch ein Jahr darüber hingehen,“ versicherte der Gerichtsdiener.
Moidl verließ die Stube und eilte auf ihre Kammer. Beide Hände preßte sie auf das Herz, denn dasselbe schlug so heftig, als ob es die Brust zersprengen wolle. Ihretwegen saß Hansel noch im Gefängniß, um die Zusammenkünfte mit ihr nicht zu verrathen, entbehrte er die Freiheit!
Sie fiel auf die Kniee und betete, sie dankte der heiligen Jungfrau, weil sie ihre Bitte erhört.
Wie sie in jener entsetzlichen Nacht den Niedersturz der Lawine gehört, da hatte sie in ihrer Verzweiflung mit dem Himmel gehadert, weil er den Schnee niedergehen ließ, ehe der Geliebte in Sicherheit war. Und jetzt wußte sie, daß Hansel dadurch gerettet war, denn es unterlag für sie keinem Zweifel mehr, daß der Unterburgsteiner ihm in der Schlucht aufgelauert hatte und durch die Lawine zu Grunde gerichtet war.
Als sie sich wieder erholt, war sie ruhig und gefaßt. Ein Entschluß war ihr gekommen und ohne Wanken hielt sie ihn fest. Am folgenden Tage war Sonntag, da wollte sie ihn zur Ausführung bringen.
Mit frischem Lebensmuthe griff sie die Arbeit an, und wer ihr fest in die Augen geschaut hätte, dem hätte es nicht entgehen können, daß in ihr ein Gedanke lebte, welcher sie glücklich machte.
[593] Früher als ihr Vater stieg Moidl am folgenden Morgen in das Thal hinab. Und sie fühlte keine Schwäche mehr. Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten. Als sie im Dorfe anlangte und sich dem Gerichtsgebäude näherte, in welchem Hansel saß, eilte sie schneller und preßte die Hand auf’s Herz, um dasselbe zu beruhigen. Flüchtig nur grüßte sie die ihr Begegnenden.
Ohne aufzublicken zu der Zelle des Geliebten, ohne umzuschauen, trat sie in das Haus, und in das Zimmer des Bezirksrichters.
„Guten Tag, Moidl; was bringst Du mir?“ fragte der Richter, über den Besuch erstaunt.
Jetzt wurde das Mädchen sich der Schwierigkeit ihres Entschlusses bewußt. Mit pochendem Herzen und niedergeschlagenen Augen stand sie da.
„Was bringst Du mir, Moidl?“ wiederholte der Richter in freundlicher Weise und streckte ihr die Hand entgegen.
Und sie faßte sich.
„Ich komme des Hansel’s wegen,“ sprach sie.
„Des Hansel’s wegen? Moidl, was geht der Dich an?“ rief der Richter erstaunt.
„Ich hab’ gehört, er werde noch in Gefangenschaft gehalten, weil er nicht sagen wolle, wo er in der Nacht gewesen sei.“
„Das ist richtig. Er weigert sich, es zu gestehen, und ich meine, wenn er ein gutes Gewissen hätt’, dann würde er es sagen.“
„Er hat ein gutes Gewissen!“ rief das Mädchen. „Ich – ich kann es Ihnen sagen.“
„Du, Moidl?“
„Ja – er ist in der Nacht bei mir gewesen, wir haben uns dort oben getroffen. Er hat dies nicht gestehen wollen, um mich zu schonen, aber ich brauch’ keine Schonung, denn Gott ist mein Zeuge, daß unsre Lieb’ eine ehrbare gewesen ist.“
Dem Richter war es, als ob ein Schleier von seinen Augen genommen werde. Er hatte von der Liebe der beiden jungen Menschen keine Ahnung gehabt. Nun begriff er Hansel’s Schweigen – es wurde ihm Manches klar, was er nicht begriffen. Nur der eine Punkt blieb noch unaufgeklärt – wie war der Unterburgsteiner in die Schlucht gekommen?
„Setz’ Dich, Moidl, hier, mir gegenüber,“ sprach er zu dem vor Erregung zitternden Mädchen. „So! Und nun erzahl’ mir, wie es gewesen ist, ganz offen und wahr.“
„Ich werde die Wahrheit sagen,“ versicherte Moidl und blickte den Richter offen an. Dann erzählte sie, wie sie den Hansel liebe und ihm gelobt habe, sein Weib zu werden. Der Unterburgsteiner hab’ um ihre Hand angehalten, ihr Vater habe ihm dieselbe zugesichert, aber sie habe sich dagegen gesträubt. Ihr Vater habe sie dann nicht mehr in’s Thal zur Messe gehen lassen, da sei Hansel zu ihr gekommen, und wöchentlich hätten sie sich mehrere Male getroffen, bis der Unterburgsteiner einen Anschlag auf Hansel’s Leben ausgeführt. Um seinem Feinde auszuweichen, habe Hansel dann seit Wochen seinen Weg durch die Schlucht genommen, weil derselbe aber so schwierig gewesen, sei er stets nur am Sonnabend Abend spät gekommen. Auch in jener Nacht sei er oben gewesen, und sie habe ihn beredet, einen anderen Rückweg einzuschlagen, er habe dies indessen abgelehnt, weil er auf einem anderen Wege die Tücke des Unterburgsteiners gefürchtet habe. Er sei in jener Nacht erst kurze Zeit von ihr gegangen gewesen, da sei die Lawine niedergefahren und sie habe ihn für verloren gehalten. Weiter wisse sie nichts und sie wisse auch nicht, in welcher Weise er gerettet worden sei.
„Wie ist aber der Unterburgsteiner in die Schlucht gekommen?“ fragte der Richter.
„Ich weiß es nicht,“ gab das Mädchen zur Antwort. „Aber ich vermuthe, er hat des Hansel’s Weg entdeckt und einen neuen Anschlag auf sein Leben ausführen wollen.“
„Du wirst Recht haben, Moidl,“ sprach der Richter. „Nun sag’ mir aber, weshalb Du nicht früher zu mir gekommen bist und mir dies Alles gesagt hast.“
„Konnt’ ich dies denn? Als Alle sagten, daß Hansel David erschlagen habe, da habe auch ich in Verzweiflung um ihn gebangt. Wohl traute ich ihm eine solche That nicht zu, aber wenn der Unterburgsteiner ihm auf dem Rückwege entgegengetreten war, wenn sie an einander gerathen waren, sie haßten sich ja Beide, dann konnte er sich vom Zorne haben hinreißen lassen. Erst seit letztem Sonntag wußte ich, daß er unschuldig war.“
„Wodurch?“
„Ich ging zum ersten Male wieder zur Messe, der Weg wurde mir schwer, weil ich mich noch schwach fühlte, und ich hatte mich verspätet. Als ich hier am Hause vorüberging, rief Hansel meinen Namen und rief mir zu, daß er unschuldig sei. Da wußt’ ich es, denn mir konnt’ er keine Unwahrheit sagen. Als dann der Unterburgsteiner in dem Schnee gefunden wurde und sich herausstellte, daß er nicht erschlagen war, da glaubt’ ich, der Hansel müsse nun freikommen. Gestern erzählte der Gerichtsdiener meinem Vater, daß der Hansel in Haft bleibe, weil er [594] nicht sagen wolle. wo er während der Nacht gewesen sei; ich wußte, daß er es meinetwegen nicht gestehen wollt’, da faßte ich den Entschluß, Ihnen Alles zu sagen, damit er nicht länger unschuldig in Haft sitze.“
„Du hast recht gethan, Moidl!“ sprach der Richter, indem er dem Mädchen die Hand entgegenstreckte. „Hast Du dies Alles Deinem Vater gesagt?“
„Nein – nein! Er hätt’ es nicht gelitten, daß ich zu Ihnen gegangen wär’, denn er haßt den Hansel.“
„Weshalb?“
„Er weiß, daß derselbe mich liebt, und er ist ihm auch zu gering.“
„Nun, er wird seine Gesinnung jetzt ändern,“ bemerkte der Richter.
Traurig schüttelte das Mädchen mit dem Kopfe.
„Er ändert seinen Sinn nicht; ich weiß, daß mir harte Tage bevorstehen, ich will sie ertragen, wenn Hansel nur frei kommt. Er kommt doch frei?“
„Ich hoffe es,“ gab der Richter zur Antwort. „Wenn er mir bestätigt, was Du mir erzählt hast, dann halt’ ich ihn nicht eine Stunde länger in Haft.“
Glücklich erfaßte Moidl des Richters Hand und wollte sie an ihre Lippen führen.
„Laß – laß, Moidl,“ wehrte ihr der Richter. „Ich werd’ selbst mit Deinem Vater wegen Hansel sprechen.“
„Sie ändern seinen Sinn nicht. Hat er einmal einen Groll gefaßt, so hält er ihn fest.“
„Geh’ jetzt zur Messe, Moidl,“ fuhr der Richter fort. „Ich geb’ die Hoffnung nicht auf, daß sich für Dich Alles zum Guten wenden wird. Du hast viel ertragen, da gönn’ ich’s Dir.“
Das Mädchen ging.
Der Richter schritt in seinem Zimmer auf und ab. Nach des Mädchens Erzählung klärte sich Alles auf, aber er wollte sein Urtheil nicht gefangen nehmen lassen.
Er trat hinüber in die Amtsstube und ließ durch den Diener den Verhafteten vor sich führen.
„Nun, Hansel, hast Du Dich eines Andern besonnen?“ redete er den Eintretenden an. „Willst Du nun endlich Alles gestehen?“
„Ich hab’ nichts zu gestehen, Herr Richter,“ gab Hansel zur Antwort.
„Verlangt Dich denn nicht nach der Freiheit?“
„Doch, aber ich kann sie mir nicht geben.“
„Du kannst sie Dir geben,“ warf der Richter ein.
Hansel schwieg einen Augenblick, er schien mit sich zu kämpfen.
„Ich kann sie mir nicht geben,“ wiederholte er dann.
„Du hast einen festen Kopf,“ fuhr der Richter fort. „Soeben war die Tochter des Oberburgsteiners bei mir.“
Hansel fuhr zusammen, das Blut schoß in seine blassen Wangen.
„Die Moidl?“ fuhr es ihm über die Lsppen.
„Ja, die Moidl. Und sie hat mir gesagt, wo Du in der Nacht gewesen bist. Mit ihr bist Du zusammen gewesen, dort oben unter einem überhängenden Felsen.“
Hansel blickte den Richter starr an. Dann fuhr er mit der Hand über die Stirn hin.
„Das – das hat sie gesagt?“ fragte er.
„Ja, sie hat mir Alles gesagt, um Dir die Freiheit zu erringen. Sie hat mir erzählt, daß Ihr Euch liebt und daß Ihr Euch oft dort oben getroffen habt. Nun erzähl’ Du mir, wie es gewesen ist.“
Hansel’s Brust rang nach Athem. Er dachte nur an die Geliebte, die selbst die bösen Zungen der Leute nicht gescheut hatte, um ihm die Freiheit zu erringen.
„Hansel, nun erzähl’ mir Alles,“ drängte der Richter. „Sag’ die volle Wahrheit, das wird Dir am meisten nützen.“
„Jetzt kann ich sie sagen,“ entgegnete Hansel und sein Auge leuchtete hell. Er erzählte, wie er das Mädchen liebe und wie das Verlangen, sie zu sehen, ihn Nachts hinaufgetrieben habe auf den Oberburgstein. Dann schilderte er, wie der Unterburgsteiner eines Nachts auf ihn geschossen und wie die Kugel seinen Hut durchbohrt und seinen Kopf gestreift habe.
„Weißt Du denn, daß er es gethan hat?“ unterbrach ihn der Richter.
„Ja, ich weiß es. Ich hab’ ihn nicht gesehen, aber ich weiß, daß ich außer ihm keinen Feind hab’, der mir nach dem Leben trachten könnte. Und am folgenden Morgen in der Kirche hab’ ich die Gewißheit erlangt, daß er es gethan hat. Ich trat an seine Seite, und als er mich sah, wich das Blut aus seinem Gesichte, er zitterte und seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Er hatte mich für todt gehalten, weil ich bei dem Schuß niedergestürzt war, und nun mocht’ er glauben, ich sei vom Tode auferstanden. Ich hatte dem Unterburgsteiner eine solche Tücke nicht zugetraut, der Kopf schmerzte mich, es gährte in mir und da hab’ ich in dem Wirthshause, als ich Wein getrunken, wilde Drohungen gegen ihn ausgestoßen. Wär’ er mir an dem Tage entgegengetreten, so hätt’ es ein Unglück gegeben!“
„Weshalb hast Du die Sache nicht zur Anzeige gebracht?“ unterbrach ihn der Richter.
„Ich konnt’ es nicht. Ich konnt’ ja nicht sagen, wo ich gewesen war,“ gab Hansel zur Antwort.
Und dann erzählte er weiter, wie er, um seinem Feinde auszuweichen, den beschwerlichen Weg durch die Schlucht gewählt habe. Er schilderte, wie die Lawine niedergefahren war und wie er sich dadurch gerettet, daß er sich hinter einen vorspringenden Felsen geworfen, und wie er sich mühsam, im Gesicht und an den Händen geschunden, an allen Gliedern fast gelähmt, zu dem Gehöft seines Vaters emporgearbeitet.
„Weiter weiß ich nichts,“ fügte er hinzu.
Seine Erzählung stimmte genau mit der des Mädchens überein.
„Und Du hast den Unterburgsteiner in der Nacht nicht gesehen?“ fragte der Richter.
„Nein.“
Der Richter war von der Unschuld Hansel’s völlig überzeugt, ihn selbst traf kein Vorwurf, aber es that ihm doch leid, daß der Bursch so lange Zeit in Haft gewesen war.
„Hansel, der Schein ist gegen Dich gewesen, aber es freut mich, daß Du ohne Schuld bist,“ sprach er, dem Verhafteten die Hand reichend. „Ich konnte nicht anders handeln, als ich gehandelt hab’ – auf mich wirf keinen Groll.“
„Nein, das thu’ ich nicht,“ entgegnete Hansel und hielt die ihm gereichte Hand fest. „Sie geben mich frei?“
„Gewiß. Du kannst gehen, wohin Du willst.“
Hansel zögerte noch.
„Ich dank’ Ihnen,“ sprach er. „Aber eine Bitte hab’ ich noch.“
„Sprich, Hansel.“
„Ich hätt’ noch ein Jahr und länger die Haft ertragen, um Moidl’s Ehr’ und Namen zu retten, die Leut’ werden über sie reden, aber, Herr Richter, ich schwör zu dem Heiland, ihre Ehre ist so rein, wie mein Gewissen! Ihnen werden die Leut’ es glauben, wenn Sie es sagen, mir nicht.“
„Ich werd’ es sagen, Hansel!“ rief der Richter. „Ich hab’ der Moidl versprochen, mit ihrem Vater zu sprechen, und ich werde es thun.“
„Den Sinn des Oberburgsteiners wenden Sie nicht,“ entgegnete Hansel. „Aber ich harre aus, und wenn ich darüber alt werden sollt’!“
„Nun geh, Hansel, Du bist frei,“ sprach der Richter. „Und wenn ich Dir helfen kann, dann komm’ zu mir, ich mein’ es gut mit Dir!“
Hansel erfaßte die Hand des Richters und führte sie an seine Lippen. Er eilte fort aus dem Zimmer und stürzte die Treppe hinab. Er verließ das Haus, in dem er so viele böse und trübe Stunden erlebt hatte. „Du bist frei – frei!“ rief es in ihm laut – mit dieser Empfindung stürzte er auf die Straße.
Die Messe war beendet, und die Leute kehrten aus der Kirche heim.
Der erste Gruß, der ihn empfing, war der erschreckte Ruf mehrerer Kinder:
„Der Hansel – der Hansel!“
Sie wichen vor ihm zurück. Es war, als ob ein wildes Thier aus einer Menagerie ausgebrochen wäre, vor dem Jeder flieht.
Er selbst floh. Wie ein Verfolgter eilte er die Straße entlang und stieg zu dem Gehöft seines Vaters empor. Aber die lange Haft hatte doch an seinen Kräften gezehrt, der Aufstieg war ihm früher nicht mehr gewesen als ein Spiel, jetzt versagte ihm [595] der Athem. An einem Felsen am Wege brach er kraftlos zusammen. Er hatte dem Geschicke mit festem Muthe getrotzt, nun es zu seinen Gunsten entschieden, verließ ihn die Kraft.
In seinem Innern wogte so Vieles durcheinander, die unsagbaren Qualen, die er erduldet, die Liebe Moidl’s und der Morgenschimmer eines neuen Glückes – er konnte es nicht fassen. Er lehnte den Kopf an den Felsen, neben dem er niedergesunken war, und weinte.
Es mußte sich in ihm lösen, was so lange gespannt war. Das Mißgeschick hatte ihn aufrecht erhalten, das Glück beugte seine Kraft.
Da legte sich eine alte und milde Hand auf seine Schulter, und eine Stimme rief:
„Hansel, mein Hansel!“
Es war seine Mutter, die ihn mit den Armen umschlang. Sie war in der Messe gewesen und hatte auf dem Heimwege seine Freilassung bereits erfahren. Da war sie ihm so hastig nachgeeilt, daß ihre Kniee zitterten und ihre Brust nach Athem rang.
Hansel umklammerte seine Mutter fest. Er wollte die Thränen zurückdrängen, aber er konnte es nicht.
„Sei ruhig, Hansel, jetzt ist ja Alles wieder gut,“ sprach die Frau, indem sie mit der Rechten über sein Haar hinstrich. „Ich hab’ an Deine Schuld nie geglaubt.“
„Und weißt Du, wer mich frei gemacht hat?“ rief Hansel, indem er den Kopf emporrichtete.
„Ich weiß es, der Bezirksrichter hat es mir gesagt. Konntest Du das Deiner Mutter nicht gestehen?“
„Es ging nicht, denn das Geheimniß gehörte nicht mir allein.“
„Nun komm,“ sprach die Frau, indem sie sich erhob. „Dein Vater weiß noch von nichts. Er konnte nicht mit zur Messe gehen, denn der Gram hat ihn arg mitgenommen.“
„Ich werd’ Alles wieder gut machen!“ rief Hansel, indem er neben seiner Mutter herging.
„Dein Vater wird sich erholen, nun er weiß, daß Du unschuldig bist.“
„Hat er mich für schuldig gehalten?“
„Mach’ ihm keinen Vorwurf daraus; es glaubten ja Alle, daß Du schuldig seiest. Er hat schwer darunter gelitten.“
Hansel schwieg. Als sie sich dem Gehöft näherten, eilte er seiner Mutter voraus und stürzte in das Haus und in die Stube.
„Vater, ich bin frei – frei!“ rief er dem Alten zu, ihm die Hand entgegenstreckend.
Fast erschreckt blickte der alte Haidacher zu ihm auf; er zögerte, die Hand anzunehmen.
„Bist Du aber auch ohne Schuld?“ fragte er.
„Ja, Vater, ja!“
Da erfaßte der Alte des Sohnes Rechte mit beiden Händen und hielt sie fest.
„Nun ist’s gut, Hansel,“ sprach er mit bewegter Stimme. „Nun leb’ ich wieder auf!“
Der Oberburgsteiner hatte die Messe etwas früher verlassen. Er saß in der „Post“ beim Wein. Da stürmte der Sohn des Wirthes in das Zimmer und rief:
„Der Hansel ist frei! Soeben ist er aus der Haft entlassen!“
Die Brauen des Bauers zogen sich zusammen. Seine Rechte schob das vor ihm stehende gefüllte Weinglas weiter auf den Tisch, als habe er keine Lust mehr zum Trinken.
„Weißt Du so genau, daß er entlassen ist?“ fragte er. „Er kann ja auch entsprungen sein.“
„Nein, er ist in Freiheit gesetzt. Als er das Haus verlassen, hat der Richter ihm ruhig nachgeblickt.“
Der Oberburgsteiner schwieg. Fest preßte er die Lippen auf einander und blickte starr vor sich hin.
Mehrere Bauern traten ein, sie sprachen nur von der Freilassung des Verhafteten.
„Oberburgsteiner, weißt Du, wer ihm die Freiheit verschafft hat?“ wandte sich einer der Eingetretenen an den Bauer.
„Was kümmert’s mich!“ entgegnete der Gefragte unwillig. „Ich hätt’ ihn nicht freigegeben.“
„Deine Moidl hat es gethan!“ fuhr der Erstere fort.
„Was soll das heißen?“ fuhr der Oberburgsteiner auf.
„Nun, sie ist heute Morgen zu dem Rlchter gegangen und hat ihm erzählt, wo Hansel in der Nacht gewesen ist. Sie hat sich mit ihm oben getroffen. Nun ist Alles aufgeklärt, und deshalb ist Hansel freigegeben.“
Der Bauer sprang auf, das Blut war aus seinem Gesicht gewichen.
„Du lügst!“ rief er heftig.
„Der Richter selbst hat es mir erzählt.“
Die Brust des Oberburgsteiners hatte schwer Athem, seine Hand hatte sich geballt. Aber er beherrschte sich. Schweigend schritt er auf die Thür zu.
„Wohin willst Du?“ riefen ihm Mehrere zu.
Er antwortete nicht. Langsam verließ er das Haus und schritt durch das Dorf hin, die Augen finster brütend auf den Weg gerichtet. Er wagte nicht aufzublicken, denn es war ihm, als ob ihm eine Schmach angethan wäre, die er nimmer abwaschen könne. So stieg er langsam zum Oberburgstein empor.
In der Stube saß seine Tochter. Ein freudig verklärter Zug lag auf ihrem Gesichte, denn ihr war es gelungen, den Geliebten zu befreien. Sie blickte hinüber zu dem Gehöft des Haidacher, im hellen Sonnenschein lag es da.
Da trat ihr Vater ein, langsam, finster. Den Hut hing er an die Wand, das Gebetbuch legte er auf ein kleines Brett neben der Wanduhr. Dann trat er vor sie hin.
„Bist Du heute beim Bezirksrichter gewesen?“ fragte er.
Moidl zuckte leise zusammen, aber nur für einen flüchtigen Augenblick, dann hob sie den Kopf ruhig zu ihm empor.
„Ja, Vater,“ entgegnete sie.
„Was hat Dich zu ihm geführt?“ fuhr der Bauer fort, und seine Stimme klang hart und tonlos.
„Ich hab’ Hansel die Freiheit verschafft.“
„Dem Buben! Dem Todtschläger!“ rief der Bauer heftig.
„Er ist unschuldig, Vater.“
„Schweig’!“ unterbrach der Bauer seine Tochter. „Ist es wahr, daß Du mit dem – welschen Bettler Dich des Nachts hier oben getroffen hast?“
„Ja, Vater, ich lieb’ ihn,“ gab Moidl zur Antwort und erhob sich.
„Verworfene Dirn’!“ schrie der Bauer auf und erhob die Hand zum Schlage.
Moidl sah ihm ruhig in’s Auge.
„Schlag nur zu,“ sprach sie, „Deine Hand kann mich nicht mehr schänden, als soeben Dein Mund gethan hat. Verworfen bin ich nicht, denn auf meiner Ehr’ haftet kein Flecken. Ich hab’ dem Hansel mein Wort gegeben, die Seinige zu werden; er ist mein Verlobter.“
Der Bauer hatte sich zur rechten Zeit gefaßt und nicht zugeschlagen. Langsam ließ er die Hand sinken, er konnte den ruhigen Blick seiner Tochter nicht ertragen.
„Haha! Dann sag’ dem Bettler doch, daß er zu mir kommt und um Deine Hand wirbt, ich werd’ ihm das Niedersteigen erleichtern!“ rief er mit wildem, höhnendem Lachen. „Du mußt lange, lange warten, bis Du Dein Wort einlösen kannst – bis ich unter der Erde liege, früher geschieht es nicht! Und daß Du nicht wieder mit ihm zusammentriffst, dafür werde ich schon sorgen!“
Erregt verließ er das Zimmer und das Haus.
Moidl ließ sich wieder still auf ihren Schemel nieder. Sie hatte gewußt, daß es so kommen werde, sie war auch darauf gefaßt, Jahre zu warten, das konnte ihre Liebe nicht schwächen. Und wenn ihr Vater sie einschloß, wie eine Gefangene, eins konnte er doch nicht hindern, daß ihre Gedanken zu dem Geliebten eilten und daß ihr Auge hinüberblickte zu dem Hause, unter dessen Dache er weilte. Mit ruhigem, festem Muthe sah sie der Zukunft entgegen.
Tage vergingen, ihr Vater sprach kein Wort mit ihr, sein Blick war finster.
Da trat, während sie still in der Stube saß, eines Nachmittags der Bezirksrichter ein. Freundlich reichte er ihr seine Hand.
„Wie geht’s, Moidl?“ fragte er.
„Es geht mir gut,“ gab das Mädchen zur Antwort, obschon ihre blassen Wangen ihren Worten widersprachen.
[596] „Hat Dein Vater sich darein gefunden, daß Du den Hansel heirathest?“
Moidl schüttelte traurig mit dem Kopfe.
„Das wird er nie thun, Herr Richter,“ entgegnete sie.
„Hat er mit Dir darüber gesprochen?“
„Ja, aber ich kannte seinen Sinn schon zuvor.“
„Und was willst Du thun?“
„Ich warte. Mein Herz gehört dem Hansel und wenn ich nie die Seinige werde.“
„Du sollst es werden!“ versicherte der Richter. „Um mit Deinem Vater zu reden, bin ich herauf gestiegen, ich hoffe, seinen Sinn zu wenden.“
„Das thun Sie nicht.“
„Laß es mich versuchen. Rufe ihn und dann laß mich allein mit ihm. Er kann gegen Hansel’s Charakter nichts einwenden.“
Moidl verließ die Stube, um ihren Vater zu rufen.
Wenige Minuten später trat der Bauer langsam und mit ernstem Gesichte ein. Er grollte dem Richter, weil derselbe Hansel freigelassen.
„Guten Tag, Herr Bezirksrichter,“ sprach er mit kaltem Gruß. „Was bringen Sie mir Gutes?“
„Muß ich Euch etwas bringen, Oberburgsteiner, um Euch einmal zu besuchen?“ warf der Richter lächelnd ein.
„Nein! Seien Sie willkommen, setzen Sie sich!“ fuhr der Bauer mit demselben ernsten, kalten Tone fort.
„Ich wollte Euch nur die Versicherung geben, daß gegen den Hansel Haidacher nicht der geringste Verdacht mehr vorliegt,“ sprach der Richter. „Es hat ihn schlimm getroffen, daß der Schein gegen ihn war, ich mußte ihn verhaften. Er hat die Freiheit lange Zeit eingebüßt, deshalb nehm’ ich auch keinen Anstand, offen zu erklären, daß er ohne jede Schuld ist.“
„Das geht mich nichts an. Ich hab’ ihn weder angeklagt noch freigesprochen,“ warf der Bauer ein.
„Doch, es geht Euch an. Die Moidl hat sich mit ihm versprochen, es ist dies jetzt kein Geheimniß mehr – tretet dem Glücke der Beiden nicht in den Weg und gebt den Leuten nichts zum Reden.“
„Die Leut’ kümmern mich nicht, meine Tochter kennt meinen Willen, und an ihm halt ich fest.“
„Was habt Ihr gegen Hansel? Er ist fleißig und strebsam. Das Gehöft seines Vaters ist freilich herabgekommen, aber er wird es wieder aufbringen, denn an Arbeitskraft ist ihm Keiner gleich.“
„Herr Richter, was ich gegen ihn hab’, ist meine Sache,“ gab der Bauer, seinen Groll mühsam verhaltend, zur Antwort. „In meinem Hause bin ich Herr und ich bin Niemand Rechenschaft schuldig, wen ich mir zum Schwiegersohne aussuche. Der Welsche wird es nie!“
„Oberburgsteiner, Ihr überschätzt Eure Macht. Ihr habt kein Recht, Eure Tochter gegen ihren Willen zu verheirathen.“
„So lange sie in meinem Hause lebt, muß sie mir gehorchen.“
„Und wenn sie trotzdem den Hansel heirathet – Ihr könnt es nicht hindern, deshalb seid klug und gebt zur rechten Zeit nach. Ich meine, die Beiden werden es Euch Dank wissen, so lange Ihr lebt.“
In der Brust des Bauers kämpfte und wogte es sichtbar. Der Zorn stieg in ihm auf, und er mühte sich, denselben niederzuhalten.
„Hindern kann ich es nicht,“ erwiderte er mit erbittertem Lachen, „aber dann ist sie mein Kind nicht mehr.“
„Ihr geht zu weit!“ rief der Bezirksrichter.
[609] „Herr Richter, ein jeder Mensch handelt nach seinem Sinn,“ fuhr der Bauer fort. „Hier aber ist’s Brauch gewesen, daß die Kinder den Eltern gehorchen, und so soll’s hier bleiben. Fügt die Moidl sich nicht, so zerreißt sie das Band zwischen mir und ihr, nicht ich.“
„Wolltet Ihr sie deshalb enterben?“ fiel der Richter ein.
Um den Mund des Bauern zuckte es. Ueber sein ernstes, hartes Gesicht flog es wie ein spöttisches Lächeln.
„Ich braucht’ sie nicht zu enterben,“ entgegnete er, „dies Gehöft hab’ ich von meinem Vater ererbt, es ist mein Eigenthum, ich kann darüber verfügen, so lang’ ich leb’, ich kann es auch verschenken oder gegen ein Leibgeding verkaufen. Ich bin kein Rechtsgelehrter, aber ich mein’, das müßte gelten, denn es hat immer gegolten.“
Dem Richter riß die Geduld, er hatte nicht geglaubt, daß der starre Sinn des Mannes so weit gehen könne.
„Es würde nach dem Gesetze gelten,“ sprach er, „aber es giebt noch Etwas, was über dem Gesetze steht. Ein gutes Andenken würdet Ihr Euch dadurch nicht erkaufen, und wir Alle trachten darnach, daß unser Andenken auch noch über unser Grab hinaus reicht!“
„Das muß ein Jeder mit sich selbst und seinem Gewissen abmachen,“ gab der Bauer zur Antwort.
„Ihr habt Recht,“ entgegnete der Richter, indem er sich erhob. „Vergeßt das nicht und denkt auch daran, daß unser Gewissen uns täuschen kann. Ihr habt Zeit, Euch Alles reiflich zu überlegen.“
Der Bauer blieb in seiner kalten Ruhe.
„Ich brauch’ keine Zeit,“ sprach er. „Mein Entschluß steht fest. Wie das Holz der Bäume, die hier oben wachsen, fester und zäher ist, als das derjenigen, welche unten im Thal aufschießen, so ist’s auch mit den Menschen: hier geht oft ein Sturm, während es unten ruhig ist; hier ist noch Winter, wenn unten der Frühling gekommen ist – das macht fester.“
Der Richter antwortete hierauf nicht. Der Bauer hatte Recht, aber er dachte nicht daran, daß auch der Sinn und das Herz seiner Tochter sich hier oben gefestigt hatten.
„Ihr werdet nicht vergessen, daß Ihr nur ein Kind habt,“ sprach er, indem er dem Bauer die Hand reichte.
„Ich weiß es,“ gab der Oberburgsteiner ruhig zur Antwort.
Moidl sah von ihrer Kammer aus den Richter fortgehen. Sie brauchte ihn nicht zu fragen, was er ausgerichtet hätte, sein langsamer Gang verrieth es ihr. Sie war aber auch nicht enttäuscht, denn sie kannte den harten und festen Sinn ihres Vaters.
Hansel hatte nur wenige Tage bedurft, um sich von der langen Haft zu erholen. Mit voller Kraft nahm er die Arbeit wieder auf. Und die frische Bergluft war es nicht allein, die
ihn stärkte. In ihm rief es laut bei Tag und Nacht: „Jetzt wissen Alle, daß die Moidl Dich liebt!“ Und er wollte zeigen, daß er sie verdiene.
Seine Mutter hatte durch den Richter erfahren, daß der Oberburgsteiner gegen ihn sei, und sie kannte den zähen Sinn des Bauern.
„Gieb die Moidl auf,“ sprach sie zu ihm, als sie allein mit ihm im Zimmer war. „Ich glaub’, daß es Deinem Herzen nicht leicht wird, aber den Sinn ihres Vaters beugst Du nimmer.“
„Mutter, er beugt aber auch mein Herz nicht,“ entgegnete Hansel. „Er ist alt und ich bin jung, da halt ich’s aus.“
„Darüber kannst Du auch alt werden,“ warf seine Mutter besorgt ein.
„Dann werd’ ich’s!“ rief Hansel. „Die Moidl hat mein Wort, das halt’ ich. Sieh’, Mutter, als ich dort unten in der Zelle saß und keine Beschäftigung hatte, um mir die Zeit zu vertreiben, als ich manche Nacht da lag, ohne schlafen zu können, da hatte ich Zeit, über Vieles nachzudenken. Wohl hundert Mal hab’ ich mir die Frage vorgelegt, was ich thun solle, wenn ich wieder frei sei, aber immer hab ich mir gesagt, daß mein Herz keiner Andern gehören könne, als der Moidl! Und ihr gehört’s.“
Am folgenden Tage, als er bei der Arbeit war, brachte ihm ein Knabe einen Brief.
„Wer hat Dir den Brief gegeben?“ fragte er.
„Die Moidl,“ erwiderte der Knabe und lächelte verschmitzt. „Es soll Niemand erfahren.“
„Die Moidl!“ rief Hansel erfreut, während ihm das Blut in die Wangen schoß. „Sollst Du ihr Antwort bringen?“
„Nein.“
„Dann nimm dies hier,“ fuhr Hansel fort, indem er dem Knaben ein Geldstück gab. „Und nun schweig’ gegen Jeden.“
[610] Der Knabe eilte beglückt fort, denn auch von Moidl hatte er ein Geschenk erhalten.
Hansel ließ sich auf einem Steine nieder. Er hielt den Brief der Geliebten in der Hand, sein Auge ruhte darauf, aber unwillkürlich zögerte er, ihn zu öffnen. Was enthielt das Schreiben?
Endlich riß er es mit leise zitternder Hand auf, es lautete:
„Lieber Hansel!
Du weißt, wie Alles gekommen ist. Um Dir die Freiheit zu verschaffen, hab’ ich dem Bezirksrichter gesagt, wo Du in der Nacht gewesen bist, und ich hab’ ihm auch gesagt, daß ich Dir vor Gott gelobt, die Deinige zu werden. Jetzt wissen es alle Menschen, aber wir brauchen uns nicht zu schämen, denn unsere Herzen sind rein. Mein Vater ist sehr böse auf mich und gönnt mir kein freundliches Wort. Er überwacht mich Tag und Nacht und duldet nicht, daß ich den Oberburgstein verlasse, aber über mein Herz hat er keine Macht, das gehört Dir. Du kannst mich vor der Hand nicht sehen und sprechen, Du darfst nicht zu mir kommen, denn mein Vater würde es entdecken. Schreib’ mir auch nicht, denn der Brief könnte in seine Hände gelangen und würde mir trübe Stunden bereiten. Hab’ Geduld, lieber Hansel, und harre aus, wie mein Herz ausharrt. Ich steh’ hier oben ganz allein, aber ich bin doch nicht traurig, denn ich denk’ an Dich und jeden Tag geh’ ich in die kleine Capelle, um für Dich zu beten. Sei nur lustig, damit die Leut’ nicht denken, Du habest den Muth verloren. Wenn wir an unserer Lieb’ festhalten, dann kann uns Niemand trennen. Ist es möglich, daß Du zu mir kommen kannst, dann schreib’ ich Dir zuvor, bis dahin grüßt Dich in Liebe und Treue
Deine Moidl.“
Hansel hielt den offenen Brief in der Hand, und sein Auge ruhte starr darauf. Sein Herz sehnte sich nach der Geliebten, er hatte ihr so viel zu sagen, er hatte gehofft, sie bald sehen zu können. und nun war diese Hoffnung vernichtet. Sein Muth war doch gesunken. Als er aber noch einmal die Zeilen durchflog und las: „ich bin doch nicht traurig, denn ich denk’ an Dich!“, da leuchtete es in seinen Augen auf. Sollte er zaghafter sein als die Geliebte, die dort oben ganz allein stand und doch mit festem Muthe ausharrte? Grüßend schwenke er den Brief zum Oberburgstein hinüber und rief:
„Ich bleib’ fest, Moidl, und wenn ich Dich in Jahren nicht wiedersehen sollt’!“ –
Der Frühling war hereingebrochen, die Tage waren länger geworden und Hansel arbeitete vom frühen Morgen bis zum Abend. Er war der Alte wieder und empfand keine Ermüdung. Der Richter kam öfter zu ihm, um seiner Arbeit zuzuschauen und mit ihm zu plaudern. Es schien ihm Freude zu machen, zu sehen, wie rüstig die Arbeit mit jedem Tage weiterschritt.
„Hansel,“ sprach er eines Tages, „Du hast jetzt für vier Kühe hinreichend Futter, da könntest Du Dir noch zwei kaufen, das hilft der Wirthschaft auf.“
„Es kauft sich schlecht, wenn man kein Geld hat,“ gab Hansel lachend zur Antwort. „Ein paar hundert Gulden bekäm’ ich wohl geliehen, aber es stehen bereits genug Schulden auf dem Gehöft, und ich weiß kaum, wo ich die Zinsen hernehmen soll.“
„Und wenn ich Dir nun ein Paar stattliche Kühe verschaffte, ohne daß Du sie sofort zu bezahlen brauchtest, die Du nach und nach, wie es Dir möglich wär’, abzahlen könntest?“
„Der findet sich nicht, der das thut!“
„Weißt Du das so genau?“ warf der Richter ein.
„Ich glaube ja!“ gab Hansel zur Antwort.
„Der Winkelbauer will es thun. Er hat nicht Frau noch Kinder und es geht ihm gut. Ich war gestern bei ihm und erzählt’, wie Du Dich mühest, um vorwärts zu kommen. Ich sagt’ ihm, daß es Dich weiter bringen werde, wenn Du jetzt statt zwei vier Kühe habest, denn an Futter fehle es Dir nicht, aber das Geld sei hier oben knapp. Da hat er sich selbst dazu erboten, und Du kannst ruhig sein, er wird Dir die Kühe nicht zu hoch anrechnen.“
„Herr Richter, ist das Ihr Ernst?“ fragte Hansel.
„Gewiß Du kannst das Geschäft heut’ noch abmachen, wenn es Dir paßt.“
„Ich hab’ dem Winkelbauer nie einen Dienst erwiesen, wie kommt er dazu?“
„Ich will es Dir sagen, er hat einst unter ähnlichen Verhältnissen angefangen wie Du. Als sein Vater starb, sollte das Gehöft verkauft werden, weil es über den Werth verschuldet war. Nur auf seine Bitten gewährten die Gläubiger ihm einige Frlst, und da hat er gearbeitet und gearbeitet, um sich zu halten. Es ist ihm damals sehr schwer geworden, weil ihm Niemand zur Seite stand, das hat er nicht vergessen. Sein Gehöft ist längst schuldenfrei, es geht ihm gut, und da meint er, er wollt’ Dir’s leichter machen, als es ihm geworden sei. Nimm es an, Hansel,“ rieth der Richter.
„Freilich nehm’ ich es an, wenn die Bedingungen nicht zu schwer sind,“ gab der Bursch freudig zur Antwort.
„Deinen Eltern wird es recht sein; wenn es Dir paßt, können wir sofort zum Winkelbauer gehen, ich werd’ Dich begleiten.“
Hansel warf Spaten und Hacke bei Seite und zog seine Joppe an. Seine Eltern waren nur zu gern damit einverstanden. Noch vermochte er es nicht recht zu fassen, es kam ihm das Glück zu unerwartet, aber es konnte nichts Trügerisches dahinter stecken, da der Richter mit ihm ging, und der wollte ihm wohl.
Zwei Stunden später trieb er zwei stattliche Kühe durch das Dorf hin, und er blickte so freudig und stolz um sich, als ob er der reichste Bauer im ganzen Thale wäre. Er mußte die Thiere an dem Hause des Krämers, der ihm nie wohlgewollt, weil er nicht bei ihm kaufte, vorüber treiben.
„Nun, wohin geht denn die Reise mit den Kühen?“ fragte der Krämer, der vor der Thür stand und behaglich seine lange Pfeife rauchte.
„Direct in meinen Stall,“ gab Hansel zur Antwort.
„Haft Du sie gekauft?“ forschte der Krämer neugierig weiter.
„Freilich! Wenn ich sie gefunden hätt’, müßt’ ich sie wohl abliefern.“
„Nun, da scheint das Geld bei Dir nicht knapp zu sein,“ bemerkte der Krämer mit halb spöttischem Lächeln.
„Es langt, und da muß ich zufrieden sein,“ gab Hansel lachend zur Antwort und trieb die Thiere weiter.
In gleich heiterer Weise antwortete er Allen, die ihm begegneten, und als er auf dem Gehöfte seines Vaters anlangte und die Thiere in den Stall getrieben, blickte er lustig hinüber zu dem Oberburgsteine, als ob er dem stolzen Bauer dort oben zurufen wolle: „Gieb nur Acht! So weit wie Du bring’ ich es auch!“
Und es war, als ob auf Hansel’s Hand Glück und Segen ruhe. –
Der Sommer schwand langsam unter fortgesetzter Arbeit. Hansel hatte die Geliebte kein einziges Mal gesehen, und die Sehnsucht ward bei ihm oft so stark, daß er Alles vergessend zu ihr eilen wollte. Zur rechten Zeit erhielt er jedesmal von Moidl einige Zeilen, in denen sie ihn bat, auszuharren und den Muth nicht zu verlieren.
„Ich bleib’ fest und denk’ stündlich an Dich, Hansel!“ fügte sie hinzu.
Diese Worte richteten ihn jedesmal wieder auf. Er würde indessen nicht so geduldig ausgeharrt haben, wenn er gewußt hätte, wie es dem armen Mädchen erging. Sie hatte wenig frohe Stunden.
Ihr Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, daß er nur durch Strenge eine Wandlung in ihr hervorrufen könne, und sein starrer Sinn hielt daran fest.
„Wenn sie ihn nicht sieht und nichts von ihm hört, dann wird sie ihn vergessen,“ sagte er sich. Tagelang sprach er nicht ein einziges Wort mit ihr und doch beobachtete er jede ihrer Mienen. Wie eine Gefangene hielt er sie und schlief sogar dicht neben ihrer Kammer, damit sie dieselbe Nachts nicht verlassen könne. Er selbst verschloß jeden Abend das Haus und steckte den Schlüssel zu sich.
Wenn die Knechte oben im Walde arbeiteten, war er fast täglich zu ihnen gegangen, um zu sehen, wie die Arbeit fortschritt, jetzt kümmerte er sich um sie nicht mehr, weil er das Gehöft nicht verlassen wollte. Der Gedanke, daß Hansel in seiner Abwesenheit kommen könne, verließ ihn nicht und peinigte ihn. Oft stand er sogar des Nachts auf und umging das Gehöft.
Die Ernte war eingebracht, sie war eine gesegnete gewesen.
Der Oberburgsteiner hatte schon vor mehreren Jahren ein [611] Stück Wald, welches unterhalb seines Gehöftes lag, ausroden lassen und zu Acker gemacht. Man hatte ihm gerathen, dies nicht zu thun, weil der Wald einen Schutz für sein Gehöft gewähre.
Lachend hatte er erwidert, der Wind werde sein Haus nicht forttragen, dazu sei es zu fest gebaut.
Andere hatten prophezeit, der Acker werde sich nicht bewähren, weil er zu abschüssig sei und durch den Regen zu sehr leiden werde, der das Erdreich fortspüle. Drei Jahre hatte er sich bewährt und in diesem Jahre das beste Korn getragen.
Mit Stolz blickte der Oberburgsteiner gerade auf dieses Stück Feld, denn es gab ihm den Beweis, daß er klüger sei als Andere.
„Ich bin stets meinem Kopfe gefolgt und gut dabei gefahren,“ sprach er mit Befriedigung, „Wär’ ich klüger gewesen, so hätt’ ich schon vor zwanzig Jahren den Wald gerodet.“
Der Spätherbst war gekommen.
Es hatte schon mehrere Tage lang unablässig geregnet und von den Bergen stürzte das Wasser in wilden, rauschenden Bächen. Es brauste des Nachts fast wie am Strande des Meeres, wenn die Fluth steigt. Der Oberburgstein war fast die ganze Zeit über in dichte Wolken gehüllt, doch das war im Herbste nichts Ungewohntes. Die Holzknechte konnten im Walde nicht mehr arbeiten.
Aus dem Thale kamen schlimme Nachrichten. Der Fluß war hochgeschwollen und hatte bereits mehrere Aecker überschwemmt. An einigen steilen Abhängen hatten Felsenstürze stattgefunden, mehrere Thalbewohner waren arg dadurch geschädigt.
„Weshalb bauen die Thoren sich dort unten an!“ rief der Oberburgsteiner in seinem kalten Hochmuthe und dem Gefühle der Sicherheit. „Schon einmal ist vor langen Jahren fast das ganze Dorf durch ein Hochwasser zu Grunde gerichtet – die Menschen werden nie klug.“
Der Regen währte fort. In der nahen Schlucht toste das niederstürzende Wasser, daß die Luft fast erzitterte, es klang oft wie ein fernes Donnern.
Moidl dachte mit Bangen an Haidacher’s Gehöft. Wenn der Acker, den Hansel mit so unsagbarer Arbeit von dem Steingeröll befreit hatte, nun wieder überschüttet wurde!
Da erwachte sie eines Nachts durch ein lautes, donnerähnliches Geräusch. Bestürzt fuhr sie empor, und es war ihr, als ob das Bett schwanke und das Gebälk des Hauses zusammenbreche.
Sie sprang aus dem Bett.
Sie konnte nicht geträumt haben, denn im Nebenzimmer rief ihr Vater ihren Namen.
Nach wenigen Minuten waren sie beisammen in der Stube. Das Gesicht des Bauern war bleich.
„Was ist geschehen, Vater?“ rief Moidl erschreckt.
„Ich weiß es nicht,“ gab der Bauer mit bebender Stimme zur Antwort. „Ein Windstoß muß das Haus erfaßt haben.“
„Es schwankte.“
„Du hast Dich getäuscht, das Haus steht fest,“ entgegnete der Oberburgsteiner, aber er selbst schien seiner Versicherung nicht zu glauben.
Da wurde von außen heftig an die Hausthür gepocht. Der Bauer öffnete und einer seiner Knechte, der im Stalle bei den Kühen geschlafen hatte, stürzte mit bleichem Gesichte herein.
„Der Acker – der neue Acker!“ rief er, mehr vermochte er nicht hervorzubringen.
„Was ist mit ihm?“ fragte der Oberburgsteiner.
„Er ist hinabgestürzt – ein Bergsturz!“
Das Gesicht des Bauern schien zu erstarren. Mit der Rechten griff er nach einem Schemel, um sich aufrecht zu halten. Dann raffte er sich zusammen und stürzte fort aus dem Hause. Er brauchte nicht weit zu gehen. Es regnete noch immer heftig, aber es war hell genug, daß der Erschreckte sich von der Wahrheit der Worte, die sein Knecht ihm zugerufen, überzeugen konnte. Der Acker, auf den er so stolz gewesen, war verschwunden, eine glatte Felsmasse starrte ihm entgegen.
Er griff mit der Hand an die Stirn, denn noch konnte er das Geschehene nicht fassen. Mehr als der Verlust kränkte ihn der Gedanke: „Die haben doch Recht gehabt, die Dich gewarnt!“ Er hatte über sie gelacht und gespottet, seinem Kopfe allein hatte er getraut und nun mußte er dies schwer büßen.
Aber eine weit schwerere Sorge verdrängte diese Gedanken. Daß auch das Haus geschwankt hatte, konnte keine Täuschung gewesen sein – wenn der Boden, auf dem es stand, dem Acker nachstürzte! Dann war Alles – Alles verloren!
Ihn schwindelte und er trat zurück. Noch konnte er es nicht mit Bestimmtheit wahrnehmen. Fest preßte er die Lippen auf einander.
„Ist Gefahr vorhanden?“ fragte Moidl, die zu ihm getreten war.
Er schüttelte mit dem Kopfe.
„Ich glaub’ nicht,“ sprach er dann, aber diese Worte kamen aus einer schwerbedrängten Brust.
Unruhig schritt er auf dem Gehöft umher. So lange er sich sicher gefühlt, hatte ihn das Rauschen des Wassers in der Schlucht wenig gekümmert, denn ihm konnte es keinen Schaden thun; jetzt klang es ihm unheimlich.
Sobald der Morgen graute, untersuchte er seine Besitzung. Es war ihm, als ob die Lage seines Hauses sich etwas geändert habe – er konnte irren. Er schritt über die Wiesen oberhalb des Gehöftes bis zum steil aufsteigenden Walde, da fuhr er bestürzt zurück. Bis zu einer Mannshöhe waren die ganzen Wiesen sammt dem Gehöft abgestürzt. Hier konnte er es deutlich sehen, die Wurzeln der nahe stehenden Bäume ragten von dem Erdreich entblößt in die Luft.
Wie erstarrt stand er da, sein großer Körper zitterte. Nun wußte er, weshalb das Haus geschwankt hatte. Ein schwerer, banger Seufzer rang sich aus seiner Brust.
Er suchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß das abschüssige Erdreich sich wieder gesetzt habe. So konnte es vielleicht Jahrhunderte bleiben, aber ebenso gut konnte es in der nächsten Minute hinabstürzen und Alles mit sich reißen.
Der Boden schien ihm unter den Füßen zu schwanken. Was sollte er thun? Er wußte es nicht. Der Regen strömte noch immer nieder und erhöhte die Gefahr. Er hatte es mit einer Kraft zu thun, der sein Kopf nicht gewachsen war.
Endlich raffte er sich zusammen und kehrte mit schwankenden Schritten zum Hause zurück. Was er wahrgenommen, wollte er nicht sagen, um die Angst nicht zu erhöhen. Es war genug, wenn er sie allein trug. Vielleicht war sie unbegründet.
Bleich und zitternd betrat er das Haus, auf dessen Flur sich seine Tochter, die Knechte und die Magd versammelt hatten. In demselben Augenblicke begann das Haus auf’s Neue zu schwanken, die Balken krachten, von dem Dache fielen schwere Steine. Er selbst wankte und hielt sich am Thürpfosten.
„Jesus Maria!“ schrie Moidl erschreckt auf.
„Rettet Euch – rettet das Vieh – das Vieh – nach dem Gehölz – nach der Capelle!“ rief der Oberburgsteiner und stürzte nach dem Stalle.
Oberhalb des neuen Ackers war ein neuer Theil des Erdreichs hinabgestürzt. Wie eine graue, steinige Straße zog es sich den Berg hinab.
Auf’s Neue war das Gehöft zum Stehen gekommen, sonst würden Alle verloren gewesen sein. Die Kühe wurden in größter Hast von den Ketten befreit und eilig nach dem Walde getrieben, in das Haus zurückzukehren wagte Niemand, selbst der Oberburgsteiner nicht.
Moidl war voran geeilt und hatte sich in der Capelle niedergeworfen, sie betete laut zur Mutter Gottes. Ihr Vater folgte ihr, aber er konnte nicht beten; starr, hülfesuchend fuhr sein Auge umher. Er glaubte auch hier keinen Schutz mehr zu finden.
„Fort – fort – treibt das Vieh durch den Wald zum Unterburgstein!“ rief er.
Er wollte den Knechten, die seinen Befehl, durch die Angst gedrängt, in wilder Hast ausführten, folgen, seine Kräfte ließen es nicht zu. Schon nach wenigen Schritten mußte er sich an einen Baum lehnen, um sich aufrecht zu halten.
„Flieh – flieh!“ rief er seiner Tochter zu, die neben ihm war.
„Ich bleibe bei Dir!“ entgegnete Moidl. „Ich verlasse Dich nicht!“
Der Bauer hörte ihre Worte kaum.
[612] Nicht an sie dachte er, sondern an sein Gehöft, an seine Besitzung, seinen Stolz. Angstvoll wandte er den Blick zurück zu seinem Hause.
„Es steht noch!“ rief er und schien zurückkehren zu wollen.
„Vater, komm – komm!“ rief Moidl; sie erfaßte seinen Arm und zog ihn mit sich.
Und er folgte. Es war, als ob er keinen Willen mehr habe, als ob seine Kraft und sein Muth ausgelöscht seien.
Der Weg, auf dem sie niederstiegen, war durch den Regen in einen Gießbach verwandelt. Sie achteten nicht darauf, zu gewaltig zitterte die Gefahr, der sie mit Noth entgangen waren, in ihnen nach.
So langten sie im Dorfe an und traten in das Haus des ihnen befreundeten Sägemüllers.
Der Oberburgstein stand noch, das Gebäude schimmerte durch den Regen, der etwas nachgelassen hatte, hindurch.
Der Oberburgsteiner brach kraftlos auf einem Schemel zusammen.
Im Dorfe hatte man den Bergsturz unterhalb des Oberburgsteins, der den neuen Acker mit fortgerissen, wohl wahrgenommen, aber Alle waren durch die Gefahr, die ihnen der hochgeschwollene Fluß bereitete, so bestürzt und in Sorge, daß sie an Andere wenig dachten.
Dem Sägemüller war durch das Hochwasser bereits viel Holz fortgerissen, und er suchte mit seinem Sohne und von einigen Nachbarn unterstützt zu retten, was noch zu retten war. Andere suchten durch Dämme ihre Häuser zu schützen.
Da fiel der Fluß ganz plötzlich, sein Wasser schien mit einem Male versiecht zu sein.
Manche athmeten erleichtert auf, Andere waren um so besorgter, denn die Erscheinung war eine auffallende und hatte etwas Unheimliches und Geheimnißvolles. Die Ursache blieb nicht lange unbekannt. Es kam die Kunde, daß weiter hinauf im Thale ein mächtiger Bergsturz stattgefunden habe, der das enge Thal hoch mit Schutt und Steinen angefüllt. Dahinter staute sich das Wasser des Flusses.
[625] Die Meisten hielten die Gefahr nun für überwunden, der Gewalt des Wassers schien Einhalt gethan zu sein. Man konnte den im Dorfe durch das Hochwasser angerichteten Schaden übersehen, derselbe war zu überwinden, wenn auch Einzelne hart betroffen waren.
Von der angstvoll durchwachten Nacht suchten die Meisten sich zu erholen.
Plötzlich ertönte der Ruf: „Das Wasser! Das Wasser!“ durch das Dorf hin und schreckte Alle auf.
[626] Mit donnerähnlichem Tosen wälzte die Fluth schäumend und an den Felsblöcken hoch aufspritzend sich in dem Flußbette daher. Die Wassermassen, welche oberhalb im Thale sich gestaut, waren durchgebrochen und stürzten nun mit furchtbarer Gewalt abwärts.
Noch begriffen die Wenigsten die Gefahr, in der sie schwebten. Vor der über den Fluß führenden Brücke sperrten angeschwemmte Bäume und Stämme die Strömung. Mit lautem Krachen brach die Brücke zusammen, aber der gewaltigen Masse des Wassers war dadurch wenig Luft gemacht, es durchbrach den Uferdamm und stürzte nun, Steine und Holzmassen mit sich führend, die Dorfstraße hinab.
Ein lauter Angstschrei ertönte von Hunderten. Die zwischen dem Fluß und der Dorfstraße gelegenen Häuser schienen unrettbar verloren zu sein. Die Männer zerrten die Kühe aus den Ställen und brachten sie nur mit größter Mühe über die überfluthete Straße, die einem wilden Strome glich. Die Frauen suchten die Kinder zu retten mit Gefahr ihres eigenen Lebens. In dem maßlosen Gewirr dachte Jeder nur an sich und an die Rettung der Seinigen.
Die Sägemühle war am schwersten bedroht. Schon stürzte das Wasser durch dieselbe hin. Der Müller und die Seinigen hatten sich gerettet, auch der Oberburgsteiner hatte sich durch das Wasser Bahn gebrochen und war am Abhange niedergesunken.
In dem verzweiflungsvollen Geschrei der Frauen, welche um ihr Hab und Gut klagten, in dem Geheul der geängstigten Kinder fragte Niemand, ob Alle gerettet seien, hatten doch selbst beherzte Männer den Kopf verloren.
Da ertönte aus der Sägemühle ein banger Schrei. Die Moidl erschien am Fenster und rief nach Hülfe. Der Weg durch die Thür war durch die Fluth versperrt, das ganze Thal erschien wie eine wilde, schäumende Wassermenge.
„Sie ist verloren – die kann Niemand mehr retten!“ riefen die Leute erschreckt.
Da kam Hansel. Das Unglück im Thale hatte ihn von seinem Gehöft getrieben. Noch wußte er nicht, worum es sich handelte.
„Sie ist verloren,“ riefen ihm Mehrere zu.
„Wer? Wer?“ fragte er.
Da hatte die Unglückliche ihn erblickt und ihr Hülferuf: „Hansel, Hansel, rette mich!“ übertönte das wilde Brausen des Wassers.
Der Schreck schien Hansel’s Kraft zu lähmen, aber nur für einen flüchtigen Augenblick.
Sein Auge schweifte Hülfe suchend umher.
„Ein Seil – ein Seil!“ rief er dann laut.
„Du kannst sie nicht mehr retten – Du bist selbst verloren!“ riefen seine Freunde und suchten ihn zurückzuhalten von dem tollkühnen Vorhaben.
„Dann bin ich verloren! Ein Seil!“ entgegnete er.
Das Seil wurde gebracht. Mit bebender Hand schürzte er sich dasselbe um den Leib.
„Haltet – haltet!“ rief er den Männern zu und stürzte sich in die wilde Fluth.
Mehr denn zwanzig kräftige Hände hatten das Seil erfaßt. Mehr denn einmal stürzte der Kühne nieder und das Wasser rauschte über ihn hin.
„Er ist verloren!“ schrieen die Frauen, aber an dem Seil wurde er gehalten und er raffte sich jedesmal wieder auf. Selbst die beherztesten Männer bangten um ihn.
Hansel rang sich bis zur Sägemühle glücklich durch. An dem Fenster, an welchem Moidl stand, klammerte er sich an, um seine erschöpften Kräfte zu sammeln. Dann löste er das Seil von seinem Leibe und schlang es fest um einen Pfosten.
„Moidl – Moidl, nun komm!“ rief er und hob die Zitternde aus dem Fenster.
„Umklammere mich fest, fest, so, daß ich die Arme frei behalte! Um Gotteswillen, Moidl, halt fest!“
„Ich halte mich,“ entgegnete das Mädchen, mit beiden Armen seinen Hals umschlingend.
Dann suchte er, mit beiden Händen an dem Seile sich haltend, mit ihr durch den reißenden Strom zu gelangen. Und die Männer am Ufer hielten fest.
Kein Ruf ertönte. Die Angst um zwei Menschenleben hielt jeden Laut in der Brust zurück. Nur einige Mal schrieen einige Frauen auf, als mächtige Baumstämme gerade auf Hansel zutrieben. Sie mußten ihn vernichten. Aber ob sie ihn auch trafen und ihm die Glieder zerstießen, seine Hände hielten fest, langsam – langsam arbeitete er sich weiter.
Als er die Strömung überwunden hatte, schienen die Kräfte ihn zu verlassen, er wankte, aber jetzt waren sie gerettet. Mehrere Männer stürzten sich in das Wasser und trugen Hansel und Moidl bewußtlos an’s sichere Ufer.
Ein Schrei der Freude tönte aus mehr denn hundert Kehlen. Die Angst, die sie Alle ausgestanden, löste sich. Alle wollten den Geretteten beistehen.
Man rieb Beiden Stirn und Schläfen, man flößte ihnen Branntwein ein, und sie kamen langsam zu sich. Hansel’s Brust dehnte sich und rang nach Athem, als wenn ein schwerer, schwerer Stein von ihm genommen wäre.
„Das macht ihm Keiner nach!“ riefen Mehrere.
Der Oberburgsteiner allein schien von dem ganzen Vorgange nichts bemerkt zu haben. Er saß auf einem Steine und starrte vor sich hin.
„Der Hansel hat Deine Tochter mit Gefahr seines eigenen Lebens gerettet!“ rief ihm ein Bauer zu.
„Wer – wer?“ rief der Oberburgsteiner wie aus einem Traume auffahrend.
„Der Hansel!“
Die große Gestalt des Bauern zuckte zusammen, als er den ihn verhaßten Namen nennen hörte.
„Wo – wo ist er?“ rief er mit wildem Blicke.
Kaum zehn Schritte von ihm entfernt kniete Hansel neben der Geliebten, die sich schwerer als er erholte.
Hastig schritt der Oberburgsteiner auf ihn zu. Mit fester Hand erfaßte er ihn an der Schulter und riß ihn zurück.
„Das ist meine Tochter!“ rief er heftig.
„Oberburgsteiner, Du gehst zu weit! Er hat ihr das Leben gerettet!“ riefen mehrere Männer unwillig.
Die große Gestalt des Bauern richtete sich fest empor. Sein Auge leuchtete, um seinen Mund zuckte es.
„Wer will mir vorschreiben, was ich zu thun habe?“ rief er mit drohender Stimme. „Und wenn er sie hundertmal gerettet, so –“
Ein lautes, donnerähnliches Geräusch über ihm unterbrach ihn.
„Der Oberburgstein!“ riefen Hunderte zugleich erschreckt.
Das Gehöft, welches dort oben so manches Jahr in’s Thal hinabgeleuchtet, der ganze Berg schien herabzustürzen. Es wälzte sich krachend nieder, bis die gewaltigen Massen im Thale aufschlugen. Wie lauter, grollender Donner hallte es an den Bergwänden wieder.
Bestürzt blickten Alle einander an. Der Oberburgsteiner hielt noch immer den starren Blick nach oben gerichtet. Er sah sein Gehöft nicht mehr – da brach er mit lautem, unheimlich klingendem Lachen bewußtlos zusammen.
Es war am Tage nach diesem bangen Ereignisse.
Der Regen hatte aufgehört. Wohl war der Himmel noch mit grauen Wolken bedeckt, aber diese gingen hoch. Die Gefahr des Hochwassers war vorüber, der Fluß, der die Dorfstraße sich zu seinem Bette gewählt hatte, war bedeutend gefallen, die Straße war an verschiedenen Stellen mit Balken und Brettern überbrückt.
Wohin das Auge blickte, sah es nur Schutt und Steine. Die meisten Häuser waren bis zur Höhe der Hausthüren damit umgeben und erfüllt. Von der Sägemühle war nur noch der Rest einer Giebelwand, die aus dem Schutte hervorragte, zu sehen.
Jammer und Elend herrschten im ganzen Dorfe, die Felder waren verwüstet, Viele hatten Alles verloren, und nur eine Beruhigung war ihnen geblieben, daß kein Menschenleben vernichtet war.
Hansel, von dessen kühner That trotz des eigenen Elendes Alle sprachen, war von mehreren Freunden zu dem Gehöft seines Vaters geführt und fast getragen, weil die Kräfte ihm den Dienst versagten. Er lag mit zerschundenen Gliedern im Bette, er war nicht im Stande, sich ohne die heftigsten Schmerzen zu rühren, aber seine Augen leuchteten dennoch, denn er hatte die Geliebte gerettet.
[627] Der Oberburgsteiner war in das Haus des Bezirksrichters gebracht und lag noch immer regungslos und mit geschlossenen Augen da. Seine Lippen waren fest auf einander gepreßt, seine Brust athmete schwer.
Der Arzt, der zu dem Kranken gerufen war, hatte constatirt, daß denselben ein Schlaganfall getroffen, und zu dem Richter hatte er offen gesprochen, daß er wenig Hoffnung auf eine Genesung des Oberburgsteiners habe.
„Ich vermuthe, es wird schnell mit ihm zu Ende gehen,“ hatte er hinzugefügt. „Und es ist vielleicht das Beste für ihn, denn den Verlust seines Gehöftes würde er doch nicht überwinden.“
Moidl war bei ihrem Vater und wich nicht von dessen Lager. Schrecken und Angst hatten sie zwar sehr mitgenommen, es lebte in ihr Alles noch wie ein wüster, entsetzlicher Traum, aber sie raffte sich gewaltsam zusammen, um dem Kranken beizustehen.
Nicht ohne Sorge dachte sie an den Geliebten, der, ohne sich zu besinnen, sein Leben für sie gewagt hatte. Ihre Rettung durch ihn erschien ihr wie ein Wunder, und wie sie geschehen war, konnte sie sich kaum noch entsinnen. In ihren Ohren klang nur noch das wilde Brausen des Wassers und der laut keuchende Athem Hansel’s, der in der Verzweiflung Uebermenschliches geleistet hatte.
Sie wagte nicht, nach Hansel zu fragen. Aber der Bezirksrichter errieth, was in ihr vorging, und ohne ihr Wissen stieg er hinauf zu dem Gehöft des Haidacher’s.
Als er zurückkehrte, war sein Gesicht heiter und er ließ Moidl in sein Zimmer rufen.
„Ich soll Dich von dem Hansel grüßen,“ sprach er zu der Eintretenden.
Des Mädchens bleiches Gesicht übergoß plötzlich eine dunkle Röthe.
„Sie sind bei ihm gewesen?“
„Ja.“
„Und wie geht es ihm?“
„Gut, Moidl! Er muß zwar noch still liegen, weil er arg zerschunden ist, aber es hat nicht die geringste Gefahr, und er schaut so lustig drein, als ob das ganze Dorf ihm gehöre. Und die Besitzung des Haidachers ist ohne Schaden davon gekommen. Das Wenige, was das Wasser angerichtet hat, läßt sich in acht Tagen wieder herstellen.“
Mit angehaltenem Athem hatte Moidl dem Richter zugehört, seine lustigen Augen sagten ihr deutlich, daß er die Wahrheit sprach.
Der Schrecken, den sie durchlebt, und das Unglück, welches ihren Vater betroffen hatte, waren noch nicht im Stande gewesen, ihre Thränen hervorzurufen. Es war ihr, als ob in ihrer Brust Alles erstarrt wäre. Jetzt weinte sie vor Freude und die Thränen schienen zu lösen, was sie so beängstigend bedrückt hatte.
Der Oberburgsteiner starb nach wenigen Tagen, ohne daß er noch einmal zum Bewußtsein zurückgekehrt war.
Es war ein neuer, schwerer Schlag für Moidl, aber sie fand in dem Bezirksrichter einen väterlichen Beistand.
„Du mußt es ertragen,“ sprach er in seiner ruhigen Weise zu ihr. „Dein Schmerz wird sich mildern, wenn Du daran denkst, was Deinem Vater vorbehalten gewesen, wenn er wieder genesen wäre. Den Verlust seines Gehöftes, auf das er stolz war, würde er nicht überwunden haben. Daß er denselben verschuldet hat, kann sich Niemand verhehlen. Der Bergsturz würde nimmer erfolgt sein, wenn er den Wald unterhalb seines Gehöftes nicht gefällt und in Acker verwandelt hätte. Die Bäume, deren Wurzeln fest in den Felsen eingedrungen waren, hielten die Erdschicht und gewährten dem Gehöft den sichersten Schutz. Er hörte nicht, als Andere ihn warnten und darauf aufmerksam machten, er folgte nur seinem eigenen eigensinnigen Kopfe, er lachte über die Warner, als der Acker reiche Ernten trug, mit Stolz blickte er auf sie herab, und wie schwer hat dieser Stolz sich gerächt! Ich habe kein Recht, ihm einen Vorwurf zu machen, und auch Du wirst es nicht thun, denn er hat nach seiner Ueberzeugung gehandelt, und es lag vielleicht in der Abgeschiedenheit seines Gehöftes, in der er aufgewachsen war, daß er nur seinem eigenen Kopfe traute. Aber wenn er am Leben geblieben wäre, so würde er selbst diesen Vorwurf sich gemacht und viel trübe Stunden sich bereitet haben. Es ist so am besten für ihn – und auch für Dich!“
Das Alles war zwar nicht im Stande, den Schmerz des armen Mädchens zu verwischen, aber es milderte ihn doch. Und Eines hatte vor Allem beruhigend auf sie gewirkt, der Richter hatte zu ihr gesagt:
„Du bleibst in meinem Hause. Ich werde Deine Angelegenheiten in die Hand nehmen und mit aller Gewissenhaftigkeit ordnen.“
Der Oberburgsteiner wurde mit allen ihm zukommenden Ehren begraben. Hatte er auch im Leben durch seinen harten Kopf Manchen zurückgestoßen, so hatte doch das ihn betroffene Unglück ihm die Theilnahme Aller verschafft, und alle Bauern des Thales gaben ihm das letzte Geleit.
Hansel fehlte in der Zahl derjenigen, welche dem Sarge folgten, denn er lag noch immer darnieder. Aber wenige Tage später, als die Herbstsonne wieder in all ihrer Freundlichkeit über den Bergen leuchtete, konnte er die Sehnsucht nicht länger beherrschen. Vergebens suchte seine Mutter ihn zurückzuhalten, auf einen Stock gestützt, stieg er langsam in’s Thal. Der Weg wurde ihm schwer, die Füße schmerzten, was that es! In ihm jubelte es laut.
Selbst als er den Blick nach der Stelle richtete, wo der Oberburgstein gestanden und ihm nur das graue Gestein des Berges entgegenstarrte, wurde seine lustige Stimmung nicht getrübt. Er hatte Moidl ja nie des Besitzes wegen geliebt, er hatte auch nie daran gedacht, daß der Oberburgstein sein Eigenthum werde, sondern er hatte sich stets nur ausgemalt, wie er das Gehöft seines Vaters freundlicher gestalten wolle, wenn er die Geliebte einst heimführe, und dieser Gedanke hatte seit dem Tode des Oberburgsteiners eine immer festere Gestalt für ihn gewonnen.
Jetzt konnte er schon die Monde zählen, bis sie die Seinige wurde, und er hatte sich in den letzten Tagen Vieles im Geiste zurecht gelegt, wie es werden solle. Der letzte Sommer hatte ihn schon tüchtig weiter gebracht, und seine Lust zur Arbeit war noch gewachsen.
Als er in das Dorf gelangte und die Verwüstung sah, welche das Wasser angerichtet hatte, als er die Stelle erblickte, wo er Moidl durch das wilde Wasser getragen, da zuckte er doch leicht zusammen, denn er begriff jetzt selbst nicht, woher er die Kraft genommen. Der Weg, den er mit der Geliebten durch das Wasser zurückgelegt, war nicht lang, er hatte vielleicht nur wenige Minuten dazu nöthig gehabt, aber es war ihm, als ob er eine Stunde gebraucht habe, denn die Angst hatte die Secunden zu Minuten ausgedehnt.
Hunderte von Händen waren beschäftigt, den Schutt fortzuräumen, und wo er vorüber kam, eilten Männer und Frauen auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln.
„Das macht Dir Keiner nach, Hansel!“ rief ihm der Sägemüller zu.
„Geb’ Gott, daß es auch Keiner wieder nöthig hat,“ gab er zur Antwort.
Er eilte zur Geliebten. Zum ersten Male durfte er sie offen besuchen. Und als die Moidl ihn kommen sah, da eilte sie ihm entgegen und warf sich an seine Brust. Sie konnte es ja jetzt allen Leuten zeigen, daß ihr Herz ihm gehörte.
Sie hatten einander viel mitzutheilen, und der Richter ließ sie geraume Zeit allein. Dann trat er zu ihnen.
„Hansel, nun hab’ ich auch noch mit Dir zu reden,“ sprach er. Ich bin Moidl’s Vormund, und ein Jahr mußt Du sie mir schon noch lassen, ehe Du sie zu Dir hinaufholst. Ich habe aber schon Verschiedenes mit ihr besprochen, womit auch Du wohl einverstanden bist. Die Kühe ihres Vaters stehen noch auf dem Unterburgsteine; wähl’ Dir soviel aus, wie Du gut durch den Winter bringen kannst, die übrigen werde ich verkaufen. Ich weiß aus dem Hypothekenbuche, wie viel Geld ihr Vater auf anderen Grundstücken stehen hat, das ist ihr Eigenthum. Ich werde es kündigen und auf die Besitzung Deines Vaters schreiben lassen. Dann kannst Du alle Schulden Deines Vaters abtragen und wirst Luft bekommen. Die Felder und Wiesen des Oberburgsteins sind verloren, und ich glaube nicht, daß sie je wieder herzustellen sind, aber in dem Walde steckt noch ein großer Werth. Ich kann mich nicht darum kümmern, was dort oben geschieht, die Moidl ist deshalb damit einverstanden, daß Du ihn übernimmst und bestimmst, wie viel dort geschlagen werden soll. Meine Meinung geht dahin, daß Du Alles daran wendest, das [628] Gehöft Deines Vaters in besten Zustand zu bringen, und daß Du Deinem eigenen ausgenutzten Walde zum Nachwuchse Zeit läßt. Dann kann Dein Besitzthum es mit vielen anderen aufnehmen, groß genug ist es, es hat ihm nur seit langen Jahren eine feste Hand gefehlt. Dein Vater war stets kränklich, er ist auch von manchem Unfalle heimgesucht, das hat ihn herabgebracht. Ich hoff’ indessen, mit der Moidl wird dort oben ein neues Glück einziehen. Ich gönn’ es Euch und Andere auch.“
Hansel hatte mit freudig glühenden Wangen zugehört. Gern ging er auf die ihm gemachten Vorschläge ein.
„An mir soll’s nicht fehlen, Herr Richter!“ rief er. „Lust zur Arbeit hab’ ich und Kraft auch. Wenn mich kein Unfall trifft, dann soll die Moidl nach Jahren sich jeder Bäuerin im ganzen Thale dreist zur Seite stellen können!“
„Ich halt’ Dich beim Wort,“ entgegnete der Richter und streckte ihm die Hand entgegen.
Mehrere Jahre sind seitdem vergangen.
In dem Dorfe sind von den Verwüstungen, welche das Hochwasser augerichtet, kaum noch einige Spuren zu erkennen. Das Bett des Flusses ist verbreitert und fest. Steindämme engen das Wasser ein, wenn es im Frühjahr oder Herbst hoch anschwillt. Die Sägemühle ist neu erstanden und größer und stattlicher als zuvor. Die Aecker sind von Sand und Steinen gereinigt und tragen neue Ernten.
Viel Arbeit hat das Alles gekostet, aber die Bewohner sind an Arbeit gewöhnt und blicken nicht ohne Stolz auf das Wiedererrungene.
Moidl ist schon seit Jahren Hansel’s Frau. Wer das Gehöft des Haidacher’s seit Jahren nicht betreten hat, wird Manches kaum wieder erkennen. Da zeugt Alles von Ordnung und Wohlstand.
Die Leute sagen wohl, der Hansel habe viel Glück und auf seiner Hand ruhe ein besonderer Segen. Ja, an Glück fehlt es ihm nicht an der Seite seiner jungen Frau, aber der Segen, der auf seiner Hand ruht, das ist der Segen eines unermüdlichen Fleißes und eines klugen Kopfes, der Alles am rechten Ende anfaßt.
Hansel selbst scheint größer und stattlicher geworden zu sein, und doch ist er nicht um die Breite eines Strohhalmes gewachsen. Das Glück, welches aus seinen Augen leuchtet, läßt ihn größer erscheinen. Es geht ihm gut, es stehen ihm zwei Knechte zur Seite, aber er selbst ist stets der erste und letzte bei der Arbeit.
„Du könntest Dir etwas mehr Ruhe gönnen, es geht Dir ja gut,“ spricht der Richter, der ihn oft besucht, häufig zu ihm, und er drückt damit zugleich die Ansicht der jungen Frau aus, aber lustig entgegnet ihm Hansel jedesmal:
„Noch nicht, Herr Richter! Was ich Ihnen und der Moidl einst gelobt hab’, ist noch nicht erreicht, und ich wüßt’ auch nicht, weshalb ich nicht arbeiten sollt’, es macht mir Freude und bekommt mir gut. Es fährt noch mancher Gedanke durch meinen Kopf, und was ich mir gesetzt habe, muß ich erreichen.“
„Du willst mit Gewalt es zum reichen Manne bringen,“ wirft der Richter wohl scherzend ein.
„Das ist es nicht, Herr Richter, denn ich hab’ für mich ja mehr, als ich brauche,“ giebt Hansel zur Antwort. „Es ist etwas Anderes, was mich treibt, und Sie selbst haben es veranlaßt. Als Sie mich dort unten so lange in Haft hielten, da hab’ ich Tag und Nacht gesonnen, was ich nach meiner Entlassung thun könne, um die Besitzung meines Vaters emporzubringen und dann ruhig vor Moidl’s Vater hintreten und ihre Hand verlangen zu können. Da hab’ ich ausgesonnen, wie viel sich hier noch thun ließe, und hundertmal hab’ ich da jeden einzelnen Punkt erwogen und hin- und hergewendet. Ich will hier noch Manches ändern. Wohl hätt’ ich es jetzt nicht mehr nöthig, aber was ich dort unten mir ausgedacht habe, ist mir an’s Herz gewachsen, deshalb führ’ ich es aus.“
Der Blick auf die graue Stätte, an der einst das väterliche Haus gestanden, hatte anfangs in Moidl manche schmerzliche Erinnerung wachgerufen. Aber Eins war unberührt geblieben, die kleine Capelle, in der sie so oft gebetet. Hell und weiß schimmerte dieselbe zwischen den Bäumen hervor und jeden Morgen, wenn die Sonnenstrahlen darauf fallen, ist es Moidl, als ob ihr ein Gruß von drüben gesandt werde.
Und auch die Stätte, an der das Gehöft des Oberburgsteiners gestanden, wo seine Wiesen und Felder gewesen waren, hat den düsteren, grauen Schein verloren. Gräser sprossen zwischen dem Steingeröll empor, die Walderdbeere breitet ihre grünen Blätter weiter und weiter auf. Wind und Regen haben den Samen der Lärchen über die öde, steil abfallende Fläche getrieben, und wo sich eine Felsenritze findet, keimt der Samen und die jungen, zierlichen Sämlinge schießen schnell auf. Schon erscheint das Steingeröll aus der Ferne wie mit einem grünen Schimmer überzogen zu sein.
„Moidl,“ spricht der Hansel öfter, wenn er drüben nach den Holzknechten gesehen hat und zurückkehrt, „wo das Gehöft Deines Vaters gestanden hat, dort wächst ein neuer Wald auf und wenn uns der Himmel gnädig gesinnt ist, dann erleben wir Beide es noch, daß ich dort Bäume fällen lassen kann.“