Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre (1914)

Textdaten
<<< >>>
Autor: Johannes Reinke
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 93–115
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[1237]
Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre
Von Geheimrat Prof. Dr. J. Reinke, Kiel, M. d. H.


Kant und die Gegenwart.

In seiner 1756 gedruckten Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels stellt uns Emmanuel Kant ein großartiges, aus Anschauung, streng folgerechtem Denken und Phantasie gewobenes Weltgemälde vor Augen, in dem, von der uralten Idee des Werdens und der Entwicklung ausgehend, gezeigt wird, wie die endlose Schar der Himmelskörper, insbesondre das unsre Sonne umkreisende System der Planeten, durch die Wechselwirkung einfacher anziehender und abstoßender Zentralkräfte aus einem ursprünglich den Weltraum erfüllenden Nebel hervorgegangen sein könne. Es ist erstaunlich, mit welcher Sicherheit, unter Zugrundelegung weniger Voraussetzungen, der große Denker seine Hypothese zu einer solchen Vollständigkeit ausbaut, daß wir ihr selbst in Einzelheiten noch heute unsre Bewunderung nicht versagen können; äußert er doch über die Beschaffenheit der Sonne Vorstellungen, die wesentlich mit denen übereinstimmen, welche erst viel später durch die Methode der Spektralanalyse zur Gewißheit erhoben worden sind. Hier möge besonders auf den Forschungsgrundsatz hingewiesen sein, den Kant zur Maxime seiner theoretischen Untersuchung erhob: zur Erklärung der Erscheinungen soweit wie möglich mit den in der Natur bekannten mechanischen Kräften auszukommen. Kant hatte den Triumph, seine Theorie der Entwicklung der Himmelskörper restlos auf diese mechanischen Kräfte gründen zu können, so daß man ihm den stolzen Ausruf nicht verargen darf: „Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll.“ Auch an den lebendigen Bewohnern der Himmelskörper gehen Kants Betrachtungen nicht vorüber, wenn ihnen auch nur wenig Raum darin zugewiesen wird; um so bedeutungsvoller sind seine darauf bezüglichen Bemerkungen. Über die erste Entstehung von Lebewesen an der Oberfläche unsres Planeten gibt er sich keinen fruchtlosen Spekulationen hin, und dies dürfte vornehmlich darin seinen Grund haben, daß ihm die innere Mannigfaltigkeit im Bau eines einfachen Organismus überaus viel verwickelter erscheint, als die ganze Struktur und Mechanik der Sonnensysteme. Darum ist Kant auch nicht kühn genug, seine mechanischen Grundkräfte als ausreichend für deren Bestimmung und Erklärung hinzustellen. Er sagt: „Man darf es sich nicht befremden lassen, wenn ich mich unterstehe zu sagen: daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues, werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe, aus mechanischen Gründen, deutlich und vollständig kund werden wird.“

[1238] Hinzugefügt sei, daß Kants Lehre von der Entwicklung unseres Sonnensystems später durch Laplace wertvolle Ergänzungen erfahren hat, ohne daß Laplace Kants Arbeit gekannt hätte; so daß man meist von einer Kant-Laplaceschen Theorie des Sonnensystems spricht.

Kants Werk ist darum für alle Folgezeit so bedeutsam geworden, weil fortan, auch in den letzten 25 Jahren, sein Forschungsprinzip für die Naturwissenschaft maßgebend geblieben ist; weil die Probleme der leblosen Natur sich diesem Forschungsprinzip durchweg zugänglich erwiesen haben, während die Schranken desselben, auf die Kant bei seiner Anwendung auf die Organismen stieß, sich bis in die Gegenwart hinein im wesentlichen unüberwindlich zeigen. –

Kants und Laplaces Vorstellungen von der Entwicklung des Weltgebäudes haben sich durch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch behauptet; in unserm Jahrhundert dagegen hat Svante Arrhenius versucht, andere Hypothesen an ihre Stelle zu setzen. Arrhenius ist Schwede; allein sein Buch „Das Werden der Welten“ wurde 1907 durch eine gute Übersetzung der deutschen Literatur einverleibt, und seine Gedanken sind seitdem viel in Deutschland erörtert worden. Um die Darlegung der in der Naturwissenschaft des letzten Vierteljahrhunderts bedeutsam gewordenen Gedanken wird es sich in diesem Abschnitte zumeist handeln müssen; wollten wir uns dabei auf deutschnationale Autoren beschränken, so dürften wir z. B. auch Darwins nicht gedenken, dessen Lehren gerade auf deutschem Boden Gegenstand lebhaften Kampfes geworden sind. Die Naturwissenschaft erfreut sich wie keine andere internationaler Freizügigkeit; und wenn die Darstellung versucht werden soll, welchen Anteil Deutschland an der Erörterung ihrer Prinzipien in den letzten 25 Jahren genommen hat, so wird einmal der Zustand der Naturwissenschaft in der vorausgegangenen Zeit nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, andrerseits spinnen sich unausgesetzt die Gedankenfaden zwischen deutschen Forschern und denen des Auslandes hin und her, so daß diese nicht an der geographischen Grenze unseres Landes durchrissen werden können, ohne das zu zeichnende Bild gröblich zu verstümmeln; wobei es sich von selbst versteht, daß nur solche Entdeckungen und Ideen der in Rede kommenden Zeitepoche Berücksichtigung finden werden, die gerade in der deutschen Literatur zu Bedeutung gelangt sind, mag ihr Ursprung gewesen sein, welcher er will.

Arrhenius.

Doch zurück zur Kosmogonie des Arrhenius. Während Kant die progressive Entwicklung der Welt aus einem gleichförmigen Anfangszustande vorzustellen suchte, hält Arrhenius dies für ein unlösbares Problem und sagt im Gegensatz dazu: „Das leitende Motiv bei meiner Bearbeitung der kosmogonischen Fragen war die Ansicht, daß das Weltganze seinem Wesen nach stets so war, wie es jetzt noch ist. Materie, Energie und Leben haben nur Form und Platz im Raume gewechselt.“ Damit ist die Idee einer ersten Entstehung des Lebens und einer fortschreitenden Entwicklung der Himmelskörper abgelehnt; von Ewigkeit her soll es Sternensysteme gegeben haben, wie wir sie kennen, und von Ewigkeit her erfüllten lebendige Wesen den Weltraum. Arrhenius hält den Traum von einer Selbstzeugung des Lebens an der Oberfläche erkalteter Planeten für so unzutreffend [1239] wie den Gedanken an eine Neuentstehung von Materie und von Energie; er glaubt, daß der uns leer erscheinende Weltraum von überaus kleinen Keimen von Lebewesen erfüllt sei, die durch den im Raume herrschenden Strahlungsdruck bald diesem, bald jenem Planeten zugetrieben werden, um sich hier, z. B. auf unserer Erde, zur Fülle der Pflanzen und Tiere zu entwickeln, die wir kennen. Die Bildung der Himmelskörper selbst erscheint ihm gewissermaßen in der Form von Pendelschwingungen, in denen Weltkörper entstehen und wieder zugrunde gehen, ohne daß ein zeitlicher Anfang und ein zeitliches Ende dieser Prozesse abzusehen wäre. Dabei sollen sich Sonnensysteme aus Nebelflecken bilden, Nebelflecken aber wiederum durch den Zusammenstoß von Sonnen entstehen, so daß sich fortgesetzt eine Umlagerung vom Nebelfleck zum Sonnenstadium und umgekehrt vollzieht. Den Zentralkörper eines Nebelflecks soll eine rotierende Gasmasse umlagern, außerhalb deren andere Gaskugeln mit eingeschlossenen Bruchstücken von Himmelskörpern als Anfänge von Planeten um die gleiche Achse rotieren. Die Planeten kühlen sich rascher ab als die Zentralsonne; dabei verdichten sich ihre Gasmassen zu festen Körpern. Es handelt sich nunmehr darum, wie die Nebelflecke und die peripheren Gaskugeln mit ihren darinsteckenden Kernen entstanden sind. Von Zeit zu Zeit prallen zwei Fixsterne in ihrem Lauf aufeinander; dabei explodiert ihre Substanz zu jenen wolkenartigen Anhäufungen von Materie, die man Nebelflecke nennt, und die tatsächlich im Weltraume sehr verbreitet sind. Weil alle Sonnen viel staubförmige Materie abstoßen, werden durch diese die Nebelflecke vergrößert; außerdem sollen Meteoriten durch Zusammenballen solchen kosmischen Staubes entstehen. Indem in einen Nebelfleck größere Meteoriten eindringen, können sie zu Anfängen neuer Sterne werden. Vermutlich zieht sich ein solcher Nebelfleck um einen festen Kern zusammen und steigert dabei allmählich seine Temperatur, bis er sich in einen Stern verwandelt. Nach und nach nimmt der neue Stern die Eigenschaften unsrer Sonne an; wenn dann Meteoriten bzw. Kometen in die äußeren Teile des Nebels einwandern, können sie darin die Keime von Planeten und von Monden werden. Durch den Zusammenstoß mit den ihnen entgegenstehenden Gasmassen erhalten sie ihre kreisende Bewegung um die Drehungsachse des Nebels. Einen Anfang und ein Ende der kosmischen Umbildungen gibt es nicht; denn die pendelnde Bewegung vom Sonnenstadium zum Nebelfleck und umgekehrt wiederholt sich rhythmisch. „Durch solche Prozesse kann das Uhrwerk des Weltsystems fortwährend in Gang erhalten werden, ohne daß es abläuft.“ – Mit den Energiegesetzen sucht Arrhenius sich durch die Annahme abzufinden, daß der Arbeitswert der Energie abwechselnd verringert wird bei Himmelskörpern, die sich im Sonnenstadium befinden, dagegen vergrößert wird bei solchen, die dem Nebelfleckstadium angehören. Das System der Sternenwelt wäre somit ein Perpetuum mobile in des Wortes klarster Bedeutung. – Die ersten Keime von Lebewesen, die unsre Erde bevölkerten, sollen von den Planeten ferner Sonnensysteme stammende kleine Zellen von etwa 0,00016 mm Durchmesser sein, die durch den im Weltraum herrschenden Strahlungsdruck der Erde zugetrieben wurden.

Man sieht, der Autor dieser Kosmogonie schweift unausgesetzt aus dem Gebiete exakter Naturforschung in das der spekulativen Naturphilosophie hinüber, zum Teil in den weitestgehenden Hypothesen; selbst daß er mit einem der anerkanntesten Grundsätze [1240] der allgemeinen Naturwissenschaft, dem Grundsatz der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile in Widerspruch gerät, schreckt ihn nicht. Es ist leider eine Signatur unsrer Zeit, daß man vielfach die Gebiete der Tatsachen von denen der Vermutung und der Deutung nicht in der Schärfe sondert, die dem Ernste des Gegenstandes angemessen wäre. Denn wenn auch Arrhenius viele seiner Erklärungsversuche selbst nur als wahrscheinlich hinstellt, scheint er mir schon darin zu weit zu gehen und die Begriffe von wahrscheinlich und von denkbar miteinander zu verwechseln. Ich glaube, daß es sich in seiner Kosmogonie um ein Gebäude von Hypothesen handelt, das, geistvoll ersonnen und im einzelnen wohl durchdacht, einen Wert für unsre allgemeine Naturauffassung nur dadurch wird gewinnen können, daß es zu Forschungen auf dem Gebiete der Beobachtung und der Erfahrung Anlaß gibt.

Denn die durch Experiment und Rechnung gestützte Erfahrung und deren Fortschritt ist das eigentliche Ziel aller Naturwissenschaft; sichere Tatsachen möchten wir vor Augen haben, an denen kein Drehen und Deuteln möglich ist. „Außerhalb der Erfahrung wird kein Dokument der Wahrheit irgendwo angetroffen“, sagt Kant. Und doch schießen die Gedanken im Geiste des Naturforschers hin und her; sie suchen Brücken zu schlagen zwischen den als Bruchstücke uns bescherten Ergebnissen der Erfahrung, und diese Gedanken sind es, die neben etwa gemachten ganz großen Entdeckungen einem Zeitraume das Gepräge verleihen. Große Entdeckungen sind, da hier von Physik und Chemie abzusehen ist, aus den letzten 25 Jahren auf den Gebieten der Astronomie, der Geologie und der Biologie, der Lehre von den lebendigen Geschöpfen, den Tieren und Pflanzen, wenige zu berichten, obgleich in dieser Epoche mehr scharfe Augen und mehr fleißige Hände am Wert gewesen sind, als je zuvor. Es war eine Zeit emsiger, unverdrossener Arbeit, die hauptsächlich bemüht war, auf Grundlage der unserer Periode vorausgegangenen Entdeckungen auf biologischem Gebiete nunmehr die Frage der Übereinstimmung der gesamten Tier- und Pflanzenwelt mit jenen Errungenschaften durch sorgfältige und ausgedehnte Studien zu stützen, zu erweitern und zu vertiefen.

Biologische Grundlagen.

Unter den hinter unserer Periode etwas weiter zurückliegenden großen Leistungen bzw. Entdeckungen auf dem Gebiet der Lebewesen möchte ich vier hervorheben: die Grundlegung der Naturgeschichte der Bakterien durch Ferd. Cohn und Rob. Koch; die Entdeckung der Struktur des Zellkerns bei der Teilung durch Anton Schneider; die Entdeckung Oscar Hertwigs, daß bei der Befruchtung der Zellkern der Spermie mit dem Zellkern des Eis sich vereinigt; endlich die Entdeckung der Spaltung der Pflanzenbastarde durch Gregor Mendel. Diese vier großen Würfe sind Ausgangspunkte geworden für die wichtigsten und wertvollsten Arbeiten und Entdeckungen auf dem Gebiete der Biologie während der letzten 25 Jahre.

Bakterien.

Sie haben zunächst gezeigt, welch ungeheure Wichtigkeit dem genausten morphologischen und physiologischen Studium der Bakterien zukommt, wie diese nicht nur eine ungeahnte Fülle eigenartiger Lebenserscheinungen umspannen, an die man in früheren Zeiten gar nicht hatte denken können: so die 1889 durch Hellriegel [1241] bewiesene Verwertung des Luftstickstoffs zur Bildung von Eiweiß; die 1887 von Hüppe entdeckte Assimilation von Kohlensäure in farblosen Bakterienzellen ohne Mitwirkung des Lichts; die Möglichkeit, das Leben der Zellen mit ganz verschiedenartigen Mitteln zu unterhalten, bald aerob, bald anaerob, welche Feststellung auf Pasteur zurückgeht. So steht der morphologischen Gleichförmigkeit der Bakterien eine Mannigfaltigkeit im physiologischen Verhalten gegenüber, die nur in der Vielgestaltigkeit der höheren Tiere und Pflanzen ihr Seitenstück findet; dazu kommt die ungeheuer Bedeutung der Bakterien für die Krankheitsvorgänge im tierischen bzw. menschlichen Körper.

Zelle und Zellkern.

Die Entdeckung der feineren Struktur des Zellkerns, den man kurz zuvor noch für ein strukturloses Eiweißklümpchen hielt, besonders aber die Wandlungen seiner Konfiguration während der Teilung, haben zahlreiche Zoologen und Botaniker beschäftigt und sie immerfort zu neuen Entdeckungen geführt. Als ein besonders wichtiges Ergebnis aller dieser Arbeiten dürfte dies anzusehen sein, daß Beschaffenheit und Verhalten der Zellkerne durch das gesamte Tier- und Pflanzenreich hindurch im wesentlichen die gleichen sind, mit einer schier endlosen Mannigfaltigkeit im einzelnen; während dagegen die Zelle der Bakterien mit Sicherheit keinen deutlichen Kern erkennen läßt. Daneben ergab sich in bezug auf das Protoplasma der Tiere und Pflanzen, in welchem ein Gemenge sehr verschiedenartiger chemischer Verbindungen festgestellt werden konnte, eine gleiche Übereinstimmung. Es war damit die Identität der Tier- und Pflanzenzelle erwiesen, so daß Mikroskop und chemische Reagenzien uns keine wesentlichen Unterschiede zwischen der Gehirnzelle eines Menschen und der Eizelle eines Mooses wahrnehmen lassen.

Unter den Ergebnissen der botanischen Forschungen in den letzten 25 Jahren sind dann besonders hervorzuheben wichtige Fortschritte in der Kenntnis der osmotischen Eigenschaften der Pflanzenzelle und auf dem Gebiete der Reizphysiologie, und unter den zahlreichen hier tätigen Forschern ist der Name Wilhelm Pfeffers in erster Linie zu nennen. –

Der auf der Verschmelzung eines männlichen mit einem weiblichen Zellkern beruhende Vorgang der Befruchtung, mit dem die Verschmelzung des Protoplasma der beiden Geschlechtszellen Hand in Hand gehen kann, wurde der Ausgangspunkt weiterer wichtiger Arbeiten, die zu zahllosen mehr oder weniger bedeutsamen Einzelkenntnissen geführt haben. Zu ihnen gehört die Tatsache, daß die Anzahl der Chromosomen, d.h. der in einem Zellkern vorhandenen leicht Farbstoffe aufspeichernden Fadenstücke, für sämtliche Zellen nicht nur eines Individuums, sondern auch aller zu einer Art gehörenden Individuen eine konstante ist; damit aber diese Zahl im Befruchtungsprozeß sich nicht verdopple, muß in einer den Geschlechtszellen vorausgegangenen Zellengeneration eine Reduktionsteilung der Kerne eintreten, wodurch die Anzahl der Chromosomen im Kern auf die Hälfte der typischen Chromosomenzahl herabgesetzt wird, so daß die Kerne der sich vereinigenden Geschlechtszellen eigentlich nur Halbkerne sind, die sich erst in der befruchteten Eizelle wieder zu einem Vollkern ergänzen. [1242]

Fortpflanzung.

Während man so die mikroskopische Grundlage der Fortpflanzung durch sorgfältige Beobachtungen immer genauer feststellte, läuft parallel damit gerade in den Tagen unsres Jahrhunderts der Versuch, durch das Experiment die Bedeutung der Trennung der Geschlechter in der Fortpflanzung zu ergründen. Diese Versuche knüpfen meistens an die schon erwähnte Entdeckung des Augustinermönchs von Brünn, Gregor Mendel, an. Zahllose Versuche haben immer wieder den Satz bestätigt, daß in vielen Fällen, wenn man zwei Individuen verschiedener Pflanzenrassen miteinander paart, eine Zwischenrasse entsteht, die bei nachher angewandter Inzucht im Laufe der nächsten Generationen in die ursprünglichen, sogenannten reinen Rassen wieder aufspaltet, und zwar nach einem bestimmten Zahlenverhältnis. Man hat aber auch mehr und mehr Ausnahmen gefunden, die sich der Spaltungsregel Mendels nicht fügen, und es sind die Arbeiten im Fluß, welche dies verschiedenartige Verhalten auf eine gemeinsame Grunderscheinung zurückzuführen suchen. Das so wichtige züchterische Problem wurde dann neuerdings von einer anderen Seite in Angriff genommen. An Beobachtungen des dänischen Botanikers Johannsen anknüpfend, sucht man Generationen von Pflanzen in „reinen Linien“ zu kultivieren, d. h. man erzielt Samenkörner, die durch Selbstbefruchtung eines und desselben Individuums entstanden sind, und deren Nachkommen auch nur auf dem gleichen Wege fortgepflanzt werden. Hierdurch gewinnt man beliebig lange Reihen von Generationen, deren Individuen sich durch gar keine morphologisch in Betracht kommende Merkmale voneinander unterscheiden, in denen also eine Beständigkeit der Art sich zu erkennen gibt.

Schon lange hatte die gärtnerische Praxis gelehrt, daß die so vielfache Neuentstehung bis dahin unbekannter Rassen von Nutzpflanzen und Zierpflanzen teils auf einer sprungweisen Abänderung, d. h. einer in deutlichen Merkmalen von der Stammpflanze sich unterscheidenden Varietät beruht, teils auf Kreuzung verschiedener Rassen und sogar Arten miteinander bei der Befruchtung, wobei Bastarde entstehen, die für die Gärtner wertvolle Eigenschaften besitzen. Diese Erscheinungen haben in den letzten beiden Jahrzehnten das Interesse der Botaniker ganz besonders in Anspruch genommen, und auf wenig Gebieten wird gegenwärtig so lebhaft gearbeitet, wie auf diesem. Dabei wurde eine höchst interessante Entdeckung gemacht, an der ich nicht vorübergehen möchte. Es gibt einige Gewächse, von denen es hieß, daß sie nicht durch Kreuzbefruchtung zweier Arten entstanden seien, sondern dadurch, daß man eine Art auf die andre pfropfte. Man nannte sie Pfropfbastarde. So findet sich in den Gärten eine Abänderung des Goldregens, die man seit langer Zeit für einen Pfropfbastard des gewöhnlichen Goldregens und des purpurrot blühenden Goldregens, eines kleinen Strauches des Alpengebiets, gehalten hat. Diese Mittelform wollte sich aber künstlich nicht wieder hervorrufen lassen.

Chimären.

Da erzielte H. Winkler durch Pfropfung von Nachtschatten auf die Tomatenpflanze ein Gewächs, das halb Nachtschatten und halb Tomate war, ohne daß sich aber die Eigenschaften der beiden Stammpflanzen miteinander vermengt hatten; der Entdecker nannte diese neue, durch das Experiment geschaffene Pflanzenform eine Chimäre. Später gelang es, andre Chimären zu gewinnen, bei denen die Verbindung der Eigenschaften der beiden Stammpflanzen eine viel innigere war, [1243] indem das Zellengewebe der einen in dem der andern steckt, wie eine Hand im Handschuh. Zu dieser letzteren Art von Chimären gehört auch der Cytisus Adami, d. h. der oben erwähnte Mischling zwischen dem gelbblühenden und dem rotblühenden Goldregen.

Indem Botaniker und Zoologen miteinander wetteiferten, das Gebiet der Fortpflanzung der Organismen und ihrer Abänderung zu neuen Formen und Rassen eingehend zu bearbeiten, stellte sich auch dabei die Übereinstimmung des tierischen und pflanzlichen Lebens in seinen Grunderscheinungen immer mehr heraus, und immer mehr drängte sich das gewaltigste Problem aller Naturwissenschaft in den Vordergrund, was das Leben eigentlich sei, und wie es begriffen werden müsse.

Wesen des Lebens.

Daß sich in der Auffassung des Lebens bereits frühzeitig Parteistandpunkte geltend machten, beweist, daß man an die Lösung dieses Problems vielfach mit dogmatischen Vorurteilen anstatt mit der Methode einer besonnenen Naturforschung herangetreten war, die einfach untersucht und fragt, ganz unbekümmert darum, wie auch die Antwort ausfallen möge.

In dem unsrer Epoche vorausgehenden Zeitabschnitte herrschte die Lehre, daß die Organismen und damit alle Lebenserscheinungen lediglich mechanistisch aufgefaßt und begriffen werden müßten; das will sagen: eine Pflanze oder ein Tier, auch das vollkommenste, ist lediglich ein Mechanismus, eine Maschine, nur von einem so verwickelten Bau der ineinandergreifenden und zusammenwirkenden Teile, daß die wissenschaftliche Analyse dies rein mechanische Getriebe noch nicht zu entwirren und völlig aufzuklären vermochte, wie wir etwa eine Taschenuhr, eine Spieldose oder eine Dampfmaschine zu erklären wissen. In einer noch früheren Zeit glaubte man dagegen, daß eine besondere Lebenskraft in den Organismen wirksam sei, und daß die Äußerungen dieser Kraft, die mit keiner der in der leblosen Natur wirksamen Kräfte übereinstimmen sollte, eben dasjenige darstelle, was wir Leben nennen. Allein diese „Lebenskraft“ geriet nach und nach mit immer mehr allgemeinen Prinzipien der Naturwissenschaft in Widerspruch, so daß man sie fallen lassen mußte, und daß darauf jener Umschwung der Meinungen eintrat, der zu einer völlig entgegengesetzten Auffassung des Lebens führte, zu der Lehre, das Leben sei nur ein verwickelter Sonderfall jenes allgemeinen Naturgeschehens, das in der leblosen Welt herrscht. Man wurde zu dieser Anschauung hauptsächlich durch die Erkenntnis bewegen, daß der Körper der Pflanzen und Tiere zusammengesetzt ist aus chemischen Verbindungen, wie wir sie auch außerhalb des Organismus kennen, und die wir größtenteils künstlich in unseren Laboratorien herstellen können; daß diese Verbindungen aufeinander wirken nach den allgemeinen chemischen Gesetzen; daß es ferner physikalische Kräfte und Prozesse sind, die überall im lebendigen Körper in Wirksamkeit stehen, und daß alle Lebensvorgänge auf einer Grundlage chemischer und physikalischer Erscheinungen ruhen. So machte man die Physiologie, das ist die Lehre von den Lebensvorgängen, zu einer Chemie und Physik des Organismus, wie es z. B. eine Physik der Dampfmaschine und eine Chemie der elektrischen Batterie gibt, welche beide Mechanismen restlos physikalisch und chemisch erklärbar sind. Allein je größer die Fortschritte waren im physiologischen Experiment, je mehr es gelang, unsre chemischen und physikalischen Kenntnisse für die Erklärung von Vorgängen im Organismus zu verwerten, um so mehr drängte sich [1244] der unbefangenen Betrachtung das Gefühl auf, daß eine restlose physiko-chemische Erklärung noch für keinen einzigen der wichtigeren Lebensvorgänge, ja nur hier und da für eine der einfacheren Erscheinungen am lebenden Organismus gelungen sei, und daß hinter all den physiko-chemischen Tatsachen, die durch die physiologische Analyse enträtselt waren, sich noch ein unbekannter Faktor verberge, ein X, dem mit Hebeln und Schrauben und chemischen Reagenzien bis dahin nicht beizukommen war. So gewann das Problem des Lebens in den letzten Jahrzehnten wieder eine neue Gestalt, und als einen Gewinn möchte ich buchen, daß man von einer ausschließlich vitalistischen oder mechanistischen Dogmatik zur Erklärung des Lebens heute abgerückt ist und die Aufgabe als solche, d. h. als Problem, klarer herausgestellt hat, um ihre Bearbeitung bzw. Lösung der Zukunft anheimzugeben oder von ihr zu erwarten.

Physikalische und chemische Vorgänge sind die einfachsten, welche wir kennen; ihnen gegenüber sind die Lebenserscheinungen außerordentlich kompliziert; sie sind Vorgänge einer höheren Ordnung, Gewiß ist es richtig, stets den Versuch zu machen, das „Höhere“, in diesem Falle zugleich das Verwickeltere, in einfachere Bestandteile aufzulösen. Darum hat schon Kant in seiner Naturgeschichte des Himmels den rechten Weg gewiesen und eingeschlagen, wie das übrigens auch seine großen Vorgänger Kepler und Newton getan haben, wenn er versuchte, das System der Himmelskörper seiner Entstehung nach mechanisch zu erklären. Kant gebührt aber auch das Verdienst, die Frage gestellt zu haben, ob die mechanische Erklärung nicht auch auf die Tiere und die Pflanzen anzuwenden sei; und wenn er die Lösung dieser Aufgabe als aussichtslos ansieht, so hat er doch den ersten Schritt zur physiologischen Forschungsmethode der Gegenwart getan, indem er daran dachte, den Versuch einer physiko-chemischen Analyse der Lebensvorgänge zu machen und so weit zu treiben, wie es möglich ist. Wenn Kant an der mechanischen Erklärung des Aufbaus eines Grashalms oder einer Raupe verzweifelte, werden wir ihm dies um so weniger verdenken, als derjenige Biologe der Gegenwart, dem wir wie wenigen das tiefere Eintreiben des mechanistischen Keils in die Probleme des Lebens verdanken, als M. Rubner am Schluß der Darlegung seiner Forschungsergebnisse vor vier Jahren zu folgendem Bekenntnis gelangte: „Es ist unverständlich, wie man in der Neuzeit immer wieder das Bestreben betont, das Lebende ausschließlich der Erscheinungsweise des Leblosen unterzuordnen und in dessen Formen zu zwängen. Wozu ist es notwendig, in infinitum nach Parallelen aus dem Gebiete der unbelebten Natur zu suchen? Auch wer das Walten von Kraft und Stoff gelten läßt, darf in dem Lebenden eine Naturerscheinung für sich sehen.“

Mechanistische Methode.

Richten wir unsern Blick zunächst einmal auf das, was die durchaus als berechtigt anzuerkennende mechanistische Forschungsmethode für eine Erklärung der Lebenserscheinungen bis jetzt geleistet hat; natürlich darf das hier nur in ganz weiten Umrissen geschehen.

Zu den allgemeinsten Naturgesetzen gehören die Gesetze der Energetik und ihnen gehorchen auch die körperlichen Systeme der Pflanzen und Tiere; letztes erkannt zu haben, ist ein großer Gewinn, den wir in erster Linie Julius Robert Mayer, dem genialen Entdecker [1245] des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, zu danken haben. Dies Gesetz sagt aus, daß in einem geschlossenen materiellen System die Energie eine unveränderliche Größe ist, daß ihr Betrag nur vermehrt werden kann durch Zufuhr neuer Energie von außen, sich nur vermindert durch Abfluß von Energie nach außen; während innerhalb des Systems wohl die Form, nicht aber der Gesamtbetrag der Energie zu wechseln vermag. Dem zur Seite steht der zweite Hauptsatz der Energetik, der auf die Arbeiten von Sadi Carnot zurückgeht und welcher lehrt, daß Energie nur dann Arbeit leistet und damit überhaupt Geschehen ermöglicht, wenn sie aus einem Zustande höherer Spannung in einen Zustand geringerer Spannung übergeht. Diese beiden Energiegesetze beherrschen den Stoffwechsel und den Kraftwechsel auch der Pflanzen und Tiere, und deshalb ist Leben ohne ihre Geltung nicht vorstellbar.

Sehen wir uns das Verhalten der Tiere und Pflanzen zu den Sätzen der Energetik etwas näher an; die letzten Jahrzehnte haben diesen wichtigen Teil der Biologie bis zu genauen quantitativen Bestimmungen herausgearbeitet. Danach ist der lebende Tierkörper, dem sich unter den Pflanzen die Pilze ganz gleich verhalten, ein materielles System, das von außen her Energie aufnimmt, in seinem Innern speichert und dann wieder verausgabt in dem Maße, wie es mechanische Arbeit und Bewegungen aller Art, äußere und innere, zu leisten hat. Diese Energie wird als Nahrung in den Pilz oder Tierkörper eingeführt in der Form verbrennlicher Kohlenstoffverbindungen, und die potentielle Energie dieser letzteren wird durch Verbrennung und anderweitige Zersetzung in Bewegungsenergie oder Arbeitskraft übergeführt, die das Leben unterhält. Hierin gleichen Pilze und Tiere einer Dampfmaschine, einer Uhr, einem Elektromotor. Es scheint somit der alte Satz des Descartes, daß die Tiere Maschinen seien, durch die neuere energetische Forschung bestätigt zu werden. Woher entnehmen nun Pilze und Tiere ihre aus verbrennlichen Kohlenstoffverbindungen bestehende Nahrung, die Kohlenhydrate, Fette und Eiweißstoffe? Sie werden der Tierwelt von der Pflanzenwelt dargereicht; denn nur die grüne Pflanze verfügt über die Kunst, aus der unverbrennlichen Kohlensäure und, sofern es sich um Eiweiß handelt, unter Hinzunahme von Salpeter und Schwefel jene Verbindungen aufzubauen. Um aber aus Kohlensäure vom Energieinhalt Null Zucker zu bilden, dessen Energieinhalt rund 3500 Einheiten beträgt, kann die Pflanze nicht Energie beliebig aus ihrem Innern schöpfen; vermöchte sie das, so wäre sie ein Perpetuum mobile, und ein solches ist unmöglich. Daher wird den Pflanzen die erforderliche Energie zugestrahlt von der Sonne, die uns für unsre tellurischen Verhältnisse bis auf weiteres als unerschöpfliches Energiereservoir gelten mag. Somit sind die grünen Zellen von Pflanzen Maschinen zur Umwandlung von kinetischer Sonnenenergie in potentielle chemische Energie, die Pilze und die Tiere Maschinen zur Wandlung dieser chemischen Energie in kinetische oder Arbeitsenergie und zu deren Verausgabung in der Form von Bewegung und Wärme.

Damit ist die Antwort auf die Frage nach der energetischen Grundlage des Lebens erteilt, wobei noch hinzugefügt sein mag, daß auch alle Pflanzen in den nicht grün gefärbten Teilen ihres Körpers chemische Energie in Arbeitsenergie umsetzen und diese letzten Endes verausgaben, worin wieder eine Übereinstimmung zwischen tierischem und pflanzlichem [1246] Leben hervortritt. An diese Antwort schließt sich aber sofort die neue Frage, ob durch solch energetisches Rechenexempel das ganze Wesen des Lebens erklärt sei, und die Antwort auf diese Frage gehört zu den viel umstrittenen der Gegenwart. Die einen behaupten, das Leben gehe restlos auf in energetischen Prozessen, den andern scheint dies überaus unwahrscheinlich zu sein.

Es sei betont, daß an der energetischen Gleichung des Stoffwechsels niemand rüttelt; darin dürfte eine Tatsache von endgültiger Wahrheit ermittelt worden sein. Eine darauf sich gründende energetische Maschinentheorie des Lebens wäre aber sicher eine weitgehende Abstraktion vom ganzen, vollen Leben. Räumen wir ein, daß alle Lebensvorgänge des Organismus, die sich unsrer sinnlichen Wahrnehmung darbieten, obgleich dafür noch keineswegs ein exakter Beweis zu erbringen ist, dermaleinst energetisch werden erklärbar sein, so bleibt doch ein Rest von Erscheinungen übrig, der dazu nötigt, Tiere und Pflanzen anders als Maschinen zu beurteilen.

Sondererscheinungen des Lebens.

Einen Teil solcher Erscheinungen hat man allerdings schon frühzeitig in scharfblickender Deutung maschinell zu erklären gesucht. So die Reizbarkeit der Organismen, indem man sie mit den Auslösungsvorgängen an Maschinen vergleicht, wobei wieder J. R. Mayer als einer der ersten zu nennen ist, die diesem Gedanken die Bahn zu brechen suchten. Manche, ja zahlreiche Vorgänge des Wachstums und der Gestaltung der Pflanzen haben sich von äußeren, energetischen Einwirkungen abhängig erwiesen, und daraus ist eine der fruchtbarsten neueren Forschungsrichtungen, die experimentelle Morphologie, erwachsen. Es gibt Gestaltungen am Organismus, die der Experimentator durch willkürliche Eingriffe hervorzubringen vermag; die oben erwähnten Chimären sind ein beredtes Beispiel dafür. Während ferner niemand daran zweifelt, daß es prinzipiell möglich ist und dermaleinst wohl gelingen wird, sämtliche organische Verbindungen, die innerhalb des Pflanzenkörpers entstehen, auch durch künstliche Synthese in unseren Laboratorien herzustellen, zeigt sich doch nicht der leiseste Schimmer einer Aussicht, auch einmal die einfachste lebende Zelle künstlich erzeugen zu können. So sagen wir heute; es ist die gleiche Resignation, die einst Kant aussprach, wenn er an der Möglichkeit der Herstellung eines Grashalms oder einer Raupe „aus Materie“ zweifelte.

In der Tat gehören zum Wesen der Organismen Erscheinungen, die sie fundamental von allen Maschinen unterscheiden und die weder mechanisch noch energetisch sich erklären lassen. Es ist das vor allem die Selbstbildung des Organismus in der Fortpflanzung und Entwicklung. Man zeige einmal eine Maschine auf, die in ihrem Innern einen Keim absondert, aus dem durch Wachstum eine neue Maschine der gleichen Art automatisch hervorginge! Schon an dieser Klippe scheitert jede umfassende Maschinentheorie des Lebens. Man braucht noch gar nicht einmal an die höheren Lebewesen, etwa einen Hund oder einen Apfelbaum, zu zu vergleichen; schon die Teilung eines Zellkerns enthält Momente, die sich nicht nach dem Modell einer Maschinenbildung erklären lassen. Zugegeben ferner, daß in der Vererbung die Chromosomen des Zellkerns Träger der Erblichkeit sind, so sind sie damit doch nichts [1247] andres als materielle Träger gestaltender Kräfte, für die eine Bestimmung nach energetischen Werten undurchführbar erscheint.

So gelangt unsre kritisch abwägende Zeit immer mehr dahin, in den Lebensvorgängen Erscheinungen zu sehen, die an ein materielles Substrat geknüpft sind, und die eines stetigen Energiewechsels nicht entbehren können, in deren inneres Getriebe aber fortwährend Vorgänge hineinspielen, bei denen die Anlegung des energetischen Maßstabes nicht gelingt.

Man sucht nach einer Formel für solche Beziehungen, solchen Zusammenhang. Ich versuchte sie dahin zu geben, daß das Leben besteht aus einer Schar von materiellen bzw. energetischen Elementarprozessen, die im Körper des Lebewesens an Elementarmechanismen gebunden sind; diese werden zusammengehalten durch ein einigendes Band, dessen Wesen sich unsrer Erkenntnis entzieht; gleichsam durch die Kette einer unsichtbaren Macht, die das Unterscheidende am Leben gegenüber allem Geschehen in der leblosen Welt ausmacht, und die man Lebensprinzip nennen kann.

Lebensprinzip.

Die einzelnen Elementarmechanismen innerhalb des Organismus sind der physiologischen, d. h. einer physiko-chemischen Erforschung zugänglich; während für solche Analyse das Lebensprinzip selbst nicht in Betracht kommt.

Die Elementarmechanismen bilden somit nur einen Bruchteil des lebendigen Wesens; den andern Teil bildet das sie zusammenfassende Band, das Lebensprinzip. Dasselbe verbindet die zahllosen Elementarmechanismen innerhalb des Organismus zu einer Einheit, einem Individuum; es findet aber weiter seine Fortsetzung in den Generationen. In der Befruchtung, der Geburt, der Entwicklung der Individuen zeigt das Lebensprinzip seine Kontinuität: es erhält sich durch sie. Wenn in der Entwicklung, einer Grundeigenschaft des Lebens, die Gestalt eines Tieres fortschreitet von der Eizelle bis zum fertigen, d. h. wieder zeugungsfähigen Zustande, so wird jede Stufe, indem sie Vorbedingung ist für die nächste Stufe, durch das Lebensprinzip mit dieser und mit allen übrigen Stufen verknüpft.

Für jeden der im Tier- oder Pflanzenkörper vorhandenen Elementarmechanismen können wir eine gesonderte Existenz denken; für das Lebensprinzip nicht, weil es tatsächlich in den gesetzmäßigen Beziehungen der Elementarmechanismen untereinander besteht. Diese letzteren würden prinzipiell für uns künstlich herstellbar sein, das sie verbindende Lebensprinzip aber nicht. Da dies die Beziehungen der Teile im Organismus zueinander ausdrückt, können wir es auch einem Gesetze vergleichen, das ebenfalls weder sichtbar noch tastbar ist; denn ein Gesetz ist der Ausdruck von Beziehungen. Somit ist das Lebensprinzip der gesetzmäßige Zusammenhang der Elementarmechanismen bzw. Teile des Organismus, und seine gesetzmäßige Wirksamkeit schließt es aus, daß in einem Lebewesen sich die einzelnen Elementarmechanismen zufällig aneinanderreihen. Das Leben besitzt seine eigene Gesetzlichkeit, wie das Licht, die Wärme, die chemischen Vorgänge die ihre besitzen. Damit ist jeder mystischen Deutung des Lebensprinzips die Spitze abgebrochen. Vergleichen könnte man das Lebensprinzip höchstens dem menschlichen Gedanken, der in einer komplizierten Maschine [1248] die einzelnen Bestandteile ordnungsmäßig miteinander in Verbindung setzt, doch wie alle Gleichnisse zeigt sich auch dies nur in beschränktem Matze zutreffend.

Seele.

Dazu kommen die psychischen Erscheinungen, wie wir sie wenigstens an den höheren Organismen kennen und nachweisen können, und die wunderbare Vermählung des Körpers mit der Seele. Die Tierpsychologie hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Forscher beschäftigt, und sie gehört sicher zu den bedeutsamsten Gebieten der Biologie, wenn wir auch über ihre Anfangsgründe noch wenig hinausgekommen sind. Daß die höchstorganisierten Tiere, der Affe, der Hund, das Pferd, ein Seelenleben besitzen, unterliegt nicht dem geringsten Zweifel; eine schwer zu beantwortende Frage ist aber die, wie weit auf der Stufenleiter des Tierreichs die Seele nach abwärts reicht, ob bei den niedersten Tieren noch von einer Seele gesprochen werden kann. Auch den Pflanzen hat man eine Seele zuschreiben wollen; allein Spuren eines Bewußtseins sind im Pflanzenreiche nicht nachzuweisen. Nur eine auf Analogieschlüsse sich stützende Dogmatik vermeint: so gut an den Zellen unsres eigenen Gehirns seelische Eigenschaften haften, ohne daß wir dies den Hirnzellen unter dem Mikroskop ansehen, ebensogut könnte jedem niedersten einzelligen Organismus und dann auch jeder Tier- und Pflanzenzelle eine Seele eignen. Dies ganze Gebiet ist noch in Nebel getaucht, den zukünftige Forscherarbeit hoffentlich erhellen wird.

Eine andre bedeutsame Frage ist das Verhältnis der Tierseele zur Menschenseele. Die letztere kennen wir zweifellos viel genauer als die erstere. Da ist es kein Wunder, wenn große Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf dies Verhältnis bestehen. Die einen glauben, daß, wie in körperlicher, so auch in seelischer bzw. geistiger Hinsicht der Unterschied zwischen Mensch und Tier nur ein gradweiser, kein wesentlicher sei. Doch die Mehrzahl der Forscher, die sich gründlich und ohne Voreingenommenheit in neuerer Zeit mit diesen Fragen beschäftigt haben, ist anderer Meinung. Seine Seele, bzw. sein Geist ist es, der den Menschen nach ihrer Ansicht hoch über die Tierwelt emporhebt, so daß er kein lediglich zoologisches Problem bilden darf, wenn auch das menschliche Geistesleben eine biologische Erscheinung im weiteren Sinne ist. Dadurch aber, daß die Seele des Menschen sich dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach von der Tierseele unterscheidet, ist der Gegensatz des Menschen zur Tierwelt bestimmt, trotz aller Übereinstimmung im Bau des körperlichen Gehäuses, das die Wohnung seines Geistes bildet.

Daß der menschliche Geist an den Zellen des lebenden Gehirns haftet, wissen wir; darüber, wie er mit denselben verknüpft ist, herrscht tiefstes Dunkel. Nun ist die Lehre heute wohl als überwunden anzusehen, daß die das Protoplasma der Hirnzellen zusammensetzenden chemischen Verbindungen es sind, welche vorstellen, denken und wollen. Von den Eigenschaften der Elektronen, der Atome und der Moleküle reicht keine Leiter zu den geistigen Funktionen hinauf. –

In all diesen Erörterungen spiegelt sich ein Teil der Gedanken, welche die Forschungsarbeit der zeitgenössischen Biologie in der Tiefe bewegen.

Physik und Chemie allein vermögen nicht, uns den Schlüssel zur Erkenntnis des Lebens zu reichen. Dennoch haftet das Leben überall und in allen seinen Erscheinungen an mechanischen, d.h. an physikalisch-chemisch bestimmbaren Systemen, an Körpern. [1249] Weil diese letzteren auf physiko-chemischen Wegen erforschbar sind, hat die Wissenschaft sich der Erforschung dieser mechanischen Seite bzw. Grundlage des Lebens in erster Linie zugewandt. Es ist geradezu Pflicht der Physiologie, die mechanische Erklärung der Lebensvorgänge so weit zu treiben, wie es möglich ist; sich dann aber auch Rechenschaft darüber abzulegen, ob, wo und was für ein unerklärbarer Rest übrig bleibt. Ich gehe noch weiter. Im Besitz solcher als fruchtbar erkannter Forschungsmethode dürfen wir uns so verhalten, als ob der Anwendung dieses Verfahrens keine Grenzen gezogen wären. Der alte, mechanistische Erklärungsversuch des Lebens ist heute aus einer Lehre zu einer Methode geworden.

Entwicklung des Erdballs.

Ich kehre von diesen Betrachtungen zu dem im Weltall allein bekannten Wohnplatz des Lebens, zu dem von uns bevölkerten Planeten zurück. Alle Mutmaßungen über seinen Ursprung und seine Fortbildung stimmen darin überein, daß der Erdball einst auch an seiner Oberfläche eine ähnliche Temperatur besaß, wie wir sie heute noch im Erdinnern feststellen können, und daß die Erdrinde in allmählicher Abkühlung die gemäßigte Temperatur annahm, deren Zeugen wir sind. Die gegenwärtigen Temperaturverhältnisse werden nur dadurch möglich und erhalten sich in einem wenigstens scheinbaren Gleichgewicht, daß die Sonne unausgesetzt der Erde eine große Menge von Wärme zustrahlt, wobei sie das Wasser an der Erdoberfläche verdampft, ohne dessen periodische Niederschläge zu hindern.

Erst durch das Eintreten dieser mit zeitweiligen Niederschlägen von Wasser verbundenen Temperatur wurden auf der Erde die Bedingungen für das Dasein von Lebewesen, wie wir sie kennen, verwirklicht. Die Möglichkeit des Daseins ganz anders gearteter Lebewesen auf anderen Himmelskörpern braucht keine irdische Wissenschaft in Betracht zu ziehen. Nach übereinstimmender Meinung der Geologen wie der Biologen unsrer Tage hat seit seinem ersten Auftreten auf der Erde das Leben keine Unterbrechungen erlitten, ist durch keine Katastrophen ausgetilgt und dann neu gebildet worden, wenn auch die Gestalt der Lebewesen in früheren Erdepochen vielfach eine andre gewesen ist, als in der Gegenwart.

Die allmähliche Umbildung unsres festen Erdkörpers bis zu unseren Tagen ist lange vor der hier in Betracht kommenden Wissenschaftsperiode durch Lyell gelehrt worden; die geologischen Forschungen der neusten Zeit haben die Ansicht von der Kontinuität der Erdgeschichte nur erweitert und vertieft. Die neuere Geologie glaubt auch nicht mehr, Reste der ursprünglichen Erstarrungskruste der Erde noch unter den Händen zu haben, wofür der Gneis einst galt, sondern die kristallinischen Schiefer, zu denen der Gneis gehört, werden gedeutet als uralte Ablagerungen des Meeres, die im Laufe der Zeit kristallinische Struktur angenommen haben. Auch alle übrigen Formationen der Erdrinde sind auf solche Ablagerungen aus dem Wasser zurückzuführen, deren Schichten dann an einzelnen Stellen vom glutflüssigen Erdinnern durchbrochen wurden; die so hervorgetretenen Plutonischen Gebilde kennen wir als Granite, Basalte usw. Noch in der Gegenwart bezeichnen die Vulkane Öffnungen, durch die das Erdinnere mit der Erdoberfläche in Verbindung treten kann. Von den plutonischen und vulkanischen Bildungen abgesehen ist [1250] also die feste Rinde unsres Planeten neptunischen Ursprungs. Nur die jüngste Erdformation, das Diluvium, macht hiervon eine Ausnahme: es wird von der modernen Geologie gedeutet als die Grundmoräne eines Riesengletschers, der einst vom Nordpol aus die nördlichen Tiefebenen Europas, Asiens und Amerikas überzog. Nach dem Abschmelzen dieses „Inlandeises“ ergab sich ein für das Gedeihen von Pflanzen und Tieren geeigneter Boden, während das fruchtbare Erdreich anderer Gegenden Verwitterungskruste der Gebirge, Schwemmland des Meeres und der Flüsse oder vom Wind zusammengeblasener Staub ist, wie der Löß des Rheintals und Chinas.

Die Petrographie und Mineralogie, ursprünglich Beschreibung der Gesteine bis auf ihre mikroskopischen und chemischen Bestandteile hinab, wobei der Kristallographie besonders zu gedenken ist, hat in den letzten Jahrzehnten durch Einführung der experimentellen Methode eine neue Richtung gewonnen; man sucht experimentell die Bedingungen zu ermitteln, unter denen die Gesteine entstanden sind, und man sucht Gesteine und Mineralien künstlich aus ihren Bestandteilen herzustellen, was bis dahin nur den geologischen Prozessen gelungen war, die einst in säkularer Dauer die Bedingungen für Bildung der Minerale schufen.

Paläontologie.

Vor allem war die Aufmerksamkeit der Geologen von jeher den Resten von Pflanzen und Tieren zugewandt, die in sämtlichen Erdschichten oberhalb der kristallinischen Schiefer gefunden werden; und wenn auch die Grundlagen der Paläontologie bereits vorher feststanden, hat doch unsre Epoche für die Kenntnis der in der Erdrinde begrabenen Organismen viele und wichtige Arbeit geleistet. Insbesondere ist es gelungen, über die ältesten Menschen ein weit helleres Licht zu verbreiten, als noch vor 25 Jahren bestand. Wir wissen jetzt mit Sicherheit, daß im mittleren Diluvium und auch wohl in den oberen Schichten des Altdiluviums der Mensch in zwei Rassen über Mitteleuropa verbreitet war, deren eine, die sogenannte Neandertalrasse, jetzt in Europa nicht mehr vorkommt, während die zweite Rasse nach Schädel- und sonstiger Knochenbildung als die Vorfahren der heutigen Europäer angesprochen werden kann. Wir wissen aber, namentlich aus den unschätzbaren, in den Höhlen der Dordogne aufgedeckten Funden, daß die ältesten Menschen, von denen wir sichere Kunde haben und mehr oder weniger gut erhaltene Skelette oder Skeletteile besitzen, bereits einer primitiven Kultur sich erfreuten, daß sie Werkzeuge verfertigten, daß sie Techniker, Erfinder, ja selbst Künstler gewesen sind. Wenn einige Anthropologen aus den in tertiären Ablagerungen gefundenen Steinsplittern den Schluß ziehen möchten, daß, weil sie diese sogenannten Eolithen als menschliche Artefakte deuten, auch schon in der dem Diluvium vorausgegangenen Tertiärzeit Menschen gelebt hätten, so begegnet solche Hypothese solange dem Zweifel, als keine Reste menschlicher Skelette im Tertiär gefunden sind, und nicht auszuschließen ist, daß die tertiären Eolithen vielmehr einer lokalen geologischen Katastrophe, als der bewußten Tätigkeit eines Werkzeuge bildenden Menschen ihren Ursprung zu danken haben.

Der Ursprung des Menschen, der Ursprung und die Urgeschichte der Tiere und Pflanzen bilden das große Problem, mit dem sich die Evolutions- oder Abstammungslehre befaßt.

[1251]

Abstammungslehre.

Schon früher, z. B. am Anfange des vorigen Jahrhunderts durch Lamarck, ausgesprochen, hat diese Lehre doch erst seit dem Erscheinen von Darwins „Ursprung der Arten“ im Jahre 1859 ihren eigentlichen Siegeszug durch die Welt angetreten. Fast wie ein Rausch bemächtigte sie sich der Köpfe und übt auch heute noch ihren faszinierenden Einfluß auf das zeitgenössische Denken aus. Sie gilt den meisten Biologen und Geologen so sehr als ein Schatz unerschütterlicher Wahrheit, daß ich selbst sie einst als ein Axiom[1] biologischer Forschung bezeichnete. Dies hat man bestritten; allein jede Probe auf das Exempel kann zeigen, wie sehr diese Auffassung im Recht ist. Zwei Beispiele mögen es zeigen. Obwohl Arrhenius die Entwicklung der Sonnensysteme aus einem gleichförmigen Anfangszustande bekämpft, sieht er doch als selbstverständlich an, daß die Tier- und Pflanzenwelt der Gegenwart aus den organisierten Staubteilchen, die seine Phantasie vor unausdenklich langer Zeit auf die Erde hinabregnen ließ, sich entwickelt habe. Der Philosoph H. Bergson macht zur Voraussetzung seines genialen, vor kurzem erschienenen Werks „Schöpferische Entwicklung“ die Entstehung aller Organismen aus kleinen unscheinbaren Anfängen im Laufe der Erdgeschichte, ohne die Berechtigung dieser Annahme ernstlich zu erörtern. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen, nimmt die biologische Literatur der Gegenwart diese Entwicklung als sichergestellt und als Grundlage ihrer Betrachtungen an.

Untersuchen wir nunmehr die erfahrungsmäßigen und die logischen Grundlagen der Entwicklungslehre. Dazu sei vorweg bemerkt, daß in den ersten drei Jahrzehnten nach Darwins Auftreten in Deutschland sich mehrfach ein kritikloser Dogmatismus auf dem Gebiete der Abstammungstheorie geltend machte, während im letzten Menschenalter eine besonnene und kritische Behandlung des Deszendenzproblems nach und nach zum Durchbruch kam. Nur diese zweite Phase der deszendenztheoretischen Erörterungen und Kämpfe soll hier berücksichtigt werden.

Folgende Gesichtspunkte kommen vor allem in Betracht.

Tatsachen.

1. Die gesamte wissenschaftliche Erfahrung stimmt in dem Ergebnisse überein, daß jeder Organismus, sei es eine mikroskopische Zelle, ein Wirbeltier oder eine Blütenpflanze, von einem andern Organismus geboren wurde. Kein einziger Fall einer elternlosen Entstehung von Lebewesen ist bekannt.

2. Die Teile oder Organe eines Lebewesens: Wurzel, Stengel, Blatt, Blütenteile; Auge, Mund, Herz, Magen, Lunge, Nieren usw. haben einen meist deutlich erkennbaren Nutzen für den Organismus, dem sie angehören; sie dienen der Erhaltung des Individuums oder der Art.

3. Die in der Gegenwart lebenden Pflanzen und Tiere sind andre, als die aus früheren Erdperioden durch ihre fossilen Reste bekannt gewordenen Arten. Große Hauptgruppen [1252] von Organismen, welche jetzt die Erde bevölkern, sind erst in den jüngeren Formationen aufgetreten, wie die plazentaren Säuger und die eigentlichen Blütenpflanzen (Angiospermen). Dem steht die Tatsache gegenüber, daß andre lebende Typen des Tierreichs im wesentlichen unverändert, wenn auch in anderen Arten oder Gattungen, schon in den ältesten Erdperioden, aus denen Versteinerungen bekannt geworden sind, vorkommen.

4. In der Gegenwart zeigt sich, daß die Kinder den Eltern, Großeltern usw. in allen wesentlichen Merkmalen gleichen, sich aber in untergeordneten Merkmalen von ihnen und untereinander unterscheiden; man braucht nur an menschliche Familien und Generationen zu denken.

5. Bei Tieren und Pflanzen der Gegenwart finden wir häufig verkümmerte (rudimentäre) Organe, die tatsächlich für das Individuum keinen Nutzen abwerfen; daneben fehlen bei gewissen Arten Organe, die bei ganz ähnlichen Arten vorkommen.

6. Die Individuen der höheren Tiere und Pflanzen entstehen im Innern ihrer Eltern als einfache Zellen (Keimzellen, Eier), aus denen durch Zellteilung und nachherige Differenzierung der durch Teilung vermehrten Zellen sich der fertige fortpflanzungsfähige Organismus entwickelt. Diese Entwicklung durchläuft die embryonalen Stadien meist ganz allmählich, doch können auch Sprünge in der Entwicklung vorkommen, wie bei der Umwandlung der Raupe in den Schmetterling.

Aus diesen empirischen Materialien baut sich die Abstammungslehre im deduktiven Verfahren auf. Dabei verdienen folgende logische Stützen besonders hervorgehoben zu werden.

Zunächst der Begriff der Verwandtschaft. Schon lange vor Herrschaft der Abstammungslehre sagte man, die verschiedenen Arten und Gattungen der Doldengewächse, Orchideen, Gräser, Lippenblütler; der Raubtiere, Nagetiere, Wiederkäuer, Singvögel, Schwimmvögel usw. seien untereinander verwandt, und man konstruierte für Gattungen, Ordnungen, Klassen verschiedene Grade von Verwandtschaft. Hierbei wurde dieser Begriff in idealem Sinne genommen, wie man von verwandten Baustilen, Tonarten, Wissenschaften usw. spricht. Dem idealen Verwandtschaftsbegriff steht der reale gegenüber, wie er in menschlichen Familien, im Stammbaum eines Pferdes, eines Hundes uns entgegentritt. Die Abstammungslehre fragt nun: sollte der klassifikatorischen Verwandtschaft des Systems der Tiere und Pflanzen nicht eine wirkliche Blutsverwandtschaft entsprechen? und sie sucht diese durch eine Reihe von Argumenten wahrscheinlich zu machen.

Schlüsse.

Dies Verfahren führt auf den Weg der Analogieschlüsse; die Analogie wird hierbei vielfach sehr weitgehend in Anspruch genommen. Deshalb kommt es darauf an, welchen Grad von Beweiskraft man den Analogieschlüssen überhaupt zugestehen will. Es gibt starre Gegner, die sagen, in der wahren, rein auf Erfahrung sich gründenden Wissenschaft hätten Analogieschlüsse überhaupt keinen Platz. Soweit gehen wenige, auch wenn es richtig sein dürfte, von der Wissenschaft zu fordern, so wenig Analogieschlüsse wie möglich zuzulassen, und wo sie bestehen, daran zu arbeiten, sie durch sicheres Wissen zu ersetzen. Interessant ist zu hören, welche Stellung ein so [1253] kritisch veranlagter Kopf wie Kant in seiner eingangs erwähnten Naturgeschichte des Himmels dieser Prinzipienfrage gegenüber einnimmt. Er sagt dort: „… wenn man die Analogie zu Hilfe nimmt, welche uns allemal in solchen Fällen leiten muß, wo dem Verstande der Faden der untrüglichen Beweise mangelt“. Das scheint ein kräftiger Freibrief für die Methode der Analogie zu sein, und in der Tat würde die Naturwissenschaft der Gegenwart ein seltsames Aussehen gewinnen, wollte man alle Analogieschlüsse aus ihr verbannen. Wohl ist die Beurteilung nach Analogie eine in die Form eines logischen Schlusses gekleidete Handlung unsrer Phantasie; aber wer möchte soweit gehen, auch der Phantasie eine Beteiligung am Aufbau der Wissenschaft zu verwehren?

Die wichtigste von der Deszendenztheorie vollzogene Analogie besteht darin, daß sie den historischen Aufbau der Pflanzen- und Tierwelt von ihren ersten Anfängen an dem entwicklungsgeschichtlichen Aufbau eines höheren Tierkörpers vergleicht, und daß sie für ersteren eine analoge Entwicklung annimmt. Neben die erfahrungsmäßig vor unsern Augen sich vollziehende Entwicklung der Individuen setzt sie daher eine hypothetische Stammesentwicklung, wonach die Arten, Gattungen, Ordnungen, Klassen der Tiere und Pflanzen sich in der Art eines Stammbaums genetisch aneinander reihen sollen. Es fragt sich jetzt, durch welche Argumente diese Theorie gestützt werden kann.

Der Naturforscher wird immer Beweise zu sehen wünschen. Aber exakte Beweise für die Richtigkeit der Abstammungstheorie, Beweise, zu deren Anerkennung jedermann logisch gezwungen werden kann, gibt es nicht. Wir müssen uns genügen lassen an einer, diesem größer, jenem geringer scheinenden Zahl von Argumenten, die sich zu einem Indizienbeweise mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit zusammenfügen lassen, die bald größer, bald weniger groß erscheint.

Exakte Beweise der Abstammungslehre würden nur auf zwei Gebieten liegen können, auf dem der Paläontologie bzw. Erdgeschichte und auf dem der experimentellen Beobachtung der lebenden Tiere und Pflanzen. Leider versagen aber beide Gebiete und liefern nur mehr oder weniger wichtige Argumente.

Bedenken.

Was die Paläontologie zugunsten der Abstammungslehre bedeutet, wurde schon hervorgehoben, auch, daß dem andre beachtenswerte Tatsachen gegenüberstehen. In der ältesten der neptunischen Formationen, dem Kambrium, gab es noch keine Fische, also noch keine Wirbeltiere, die erst in der nächsten Formation, im Silur, auftreten. Trotzdem lebten im Kambrium bereits andre hoch organisierte Tiere, wie Bracchiopoden, Mollusken, Krebse, die Muskeln, Nerven und Sinnesorgane besahen, ja, von denen einzelne Gattungen (Lingula) sich unverändert bis in die Gegenwart erhalten haben. Tiere, die als Vorfahren der Fische gedeutet werden könnten, kennt man aus dem Kambrium nicht. Unvermittelt wie die Fische im Silur, treten in den späteren Formationen Amphibien, Reptilien und Vögel auf, letztere im Jura, und hier durch den Archäopteryx vertreten, einen merkwürdigen Vogeltyp, der verschiedene Merkmale der Eidechsen besitzt und eine Andeutung dafür ist, daß die Vögel wohl aus eidechsenartigen Tieren hervorgegangen [1254] sein dürften: von einem Beweise für diesen genetischen Zusammenhang kann indes nicht die Rede sein. Spuren aplazentarer Säuger (Beuteltiere) erscheinen schon in der Trias; doch erst im Tertiär begegnen uns die plazentaren, die eigentlichen Säugetiere, diese aber gleich in allen den Ordnungen (Raubtiere, Huftiere, Nagetiere, Affen usw.), die in der Gegenwart leben. Ferner gab es schon im Kambrium einzellige Tiere, die Radiolarien und Foraminiferen, die sich unter Beibehaltung des Typus, wenn auch unter Änderung der Arten, bis in die Gegenwart in ihrem einzelligen Stadium erhalten haben. Warum haben sie sich nicht zu höheren, zu vielzelligen Typen fortentwickelt? fragt man unwillkürlich. Im Tertiär kommt eine Reihe von Tieren vor, die von der vergleichenden Morphologie als Vorläufer und Vorfahren des heutigen Pferdes gedeutet werden; zu einem wirklichen Beweise der Stammesgeschichte des Pferdes reichen sie aber nicht aus, nur zu einem allerdings wirkungsvollen Argumente für den genetischen Zusammenhang dieser Formen untereinander. Irgendein fossiles Tier, z. B. einen Affen, das als Vorfahr der ersten Menschen auch nur mit einem hinlänglichen Grade von Wahrscheinlichkeit in Anspruch genommen werden könnte, kennen wir nicht.

Mit dem Pflanzenreiche steht es ähnlich. Die ältesten, gut erhaltenen Pflanzen[2], die wir kennen, finden sich im Devon und im Karbon, der Steinkohlenperiode. Hier bildeten sie jene Wälder, deren fossile Reste wir in unsern Öfen und Maschinen verbrennen. Diese alten Pflanzen waren Farne und Gymnospermen, also ganz hoch organisierte Gewächse, wie sie, wenn auch in andern Gattungen und Arten, heute noch vorkommen; bemerkenswert ist aber, daß die Farnpflanzen des Karbon großenteils einer höheren Organisationsstufe angehören, als die jetzt lebenden. In jenen alten Formationen fehlen die eigentlichen Blütenpflanzen (Angiospermen) noch völlig; sie fehlen auch in den folgenden Perioden des Perm, der Trias, des Jura, in der unteren Kreide; sie erscheinen ganz unvermittelt in der oberen Kreide und zwar gleich in Gattungstypen, die heute noch leben, wie Magnolia, Tulpenbaum usw. Im Tertiär sind alle Haupttypen der Gegenwart vorhanden, in den unteren Schichten meist in abweichenden Arten; die Tertiärflora wird auch in den Arten der lebenden Pflanzendecke um so ähnlicher, je jünger die Schichten sind; ein gleiches gilt von der Tertiärfauna. Aber die zweifellosen Vorfahren auch nur einer einzigen Pflanzengattung der Gegenwart hat man weder im Tertiär noch in der Kreide gefunden.

Gewiß ist das Aktenmaterial der Paläontologie ein höchst lückenhaftes; die meisten Arten der früheren Tier- und Pflanzenwelt gingen zugrunde, ohne versteinerte Reste zu hinterlassen. Darum liefert die Paläontologie kein Argument gegen die Abstammungslehre. Doch gegen die Tatsache, daß Krebse und Bracchiopoden schon im Kambrium vorhanden waren, ist nicht aufzukommen. Unterhalb des Kambrium finden wir nur die versteinerungslosen kristallinischen Schiefer. Wir müssen also an unserm deszendenz-theoretischen Bilde starke Retouchen vornehmen, um der Vorstellung zu genügen, daß anfänglich Urzellen gegeben waren, oder noch einfachere Zellgebilde, als wir heute kennen, aus denen nach Analogie der individuellen Entwicklung die ältesten Krebse entstanden sind.

[1255]

Hypothesen.

Die ganze von der Theorie geforderte vorkambrische Entwicklung müssen wir also hypothetisch in das Gebiet der kristallinischen Schiefer verlegen und zugleich annehmen, daß deren Kristallisationsprozeß alle Spuren organischer Bildung vernichtet hat. Schätzen wir die Zeit, die seit Beginn des Kambriums verflossen ist, auf 100 Millionen Jahre, so werden wir zu der Annahme gedrängt, daß schon mindestens 100 Millionen Jahre zuvor Leben an der Erdoberfläche bestand, daß aber die Spuren dieses Lebens durch die Kristallisation der Schiefer vollständig ausgelöscht wurden und daß sie daher unserm Wissen für immer entzogen sind. Die Urzellen, die nach der Deszendenztheorie den Ausgangspunkt der Stammesgeschichte der Tiere und Pflanzen bildeten, müssen somit zu einer Zeit gelebt haben, als die ältesten kristallinischen Schiefer vom Meere abgesetzt wurden, eine Zeit, in die kaum unsre Phantasie hinabreicht.

Wieviele Urzellen gab es im Anfang? Etwa nur eine einzige? Nur in diesem letzteren Falle dürfte von einer Blutsverwandtschaft aller Organismen gesprochen werden. Oder mehrere, von denen jede der Ausgangspunkt einer der Hauptreihen des Tier- und Pflanzenreiches wurde? Warum sind dann nicht gleich Millionen von Urzellen als gegeben anzunehmen, von denen jede eine stammesgeschichtliche Reihe von Organismen einleitete, deren Endglieder wir in den ausgestorbenen und den lebenden Arten der Tiere und Pflanzen vor uns haben? Dann wäre es freilich mit der Bluts- oder Stammesverwandtschaft überhaupt aus. Was endlich die Herkunft der Urzellen anlangt, so entzieht sie sich jeder Vorstellung. Übergangsgebilde zwischen der mineralischen Erdrinde und lebendigen Zellen lassen sich nicht einmal erdenken, und die spontane Entstehung lebender Zellen aus Meerwasser und festem Erdreich durch die Kräfte, die beiden an sich innewohnen, ist aus chemischen wie aus physikalischen Gründen ausgeschlossen. Beim Versuch, die Entstehung der Urzellen aus anorganischer Materie auszudenken, versagt selbst die Phantasie. Um das jeder Behandlung unzugängliche Problem einer Urzeugung auszuschalten, ersann Eberhard Richter seine später von Arrhenius wieder aufgenommene Hypothese der Panspermie, wonach der Weltraum mit Urzellen bevölkert sein soll, die, als Staub auf die Erde gelangt, nach deren Erkaltung sich weiter zu entwickeln vermochten. Eine Hypothese, die so unbefriedigend ist, wie nur möglich, dabei jeder tatsächlichen Unterlage entbehrt; im Gegenteil, es ist bekannt, daß das Leben in den Keimen niederer Organismen (Bakterien) durch die Sonnenstrahlen vernichtet wird.

Experimente.

Fragen wir nun, was die Beobachtung und das Experiment mit lebenden Pflanzen und Tieren zu gunsten der Abstammungslehre geleistet haben, so ist es wenig genug, und ob man von der Zukunft vielmehr erwarten darf, bleibt fraglich. Wir wissen, daß neue und vielfach auch erbliche Pflanzenformen dadurch entstehen können, daß wir zwei Arten oder Rassen miteinander kreuzen. Wir wissen auch, daß neue erbliche Rassen bei Aussaat von Pflanzensamen entstehen können, die den Geschlechtszellen der gleichen Rasse entspringen. So ist zweifellos durch Aussaat des Samens einer gewöhnlichen Buche einst die erste Blutbuche entstanden, und die Blutbuche läßt sich erblich durch Aussaat fortpflanzen. [1256] Bestenfalls ist man durch diese Versuche, mit denen die Kunstfertigkeit der Gärtner sich seit Jahrhunderten beschäftigt hat, dahin gelangt, einige neue Arten, und zwar solche, die in ihren Merkmalen einander sehr nahe stehen, so daß man sie auch erbliche Rassen nennen kann, zu erzielen. Die Hauptsache bleibt aber: alle Züchtungsversuche haben nur neue Pflanzen- und Tierformen ergeben, die auf gleicher morphologischer Organisationshöhe mit deren Eltern stehen; eine typische Verschiedenheit durch das Experiment zu erzielen oder gar eine Aufwärtsentwicklung von niederen zu höheren Typen ist nirgends geglückt, und es scheint aussichtslos zu sein, sie von der Zukunft zu erwarten. Wenn dem gegenüber gesagt wird, es bedürfe sehr langer Zeiten, damit die Umwandlung eines Typs in den andern zustande komme, so ist dagegen zu erinnern, daß bei Neubildungen, die sich stets auf gleicher Organisationshöhe halten, ein morphologischer Fortschritt der Entwicklung ausgeschlossen erscheint; meinte doch auch der ausgezeichnete Botaniker Sachs, eine solche Erwartung komme ihm vor, als wenn man daran denken wollte, daß bei recht langer Zeitdauer ein Dreieck sich doch vielleicht von selbst in eine Ellipse verwandeln könne.

Als wichtiges Ergebnis der höchst verdienstlichen neueren Züchtungsversuche ist noch hervorzuheben, daß äußere Einflüsse bei der Neubildung erblicher Rassen wirkungslos zu sein scheinen, während Darwin und Nägeli solchen äußeren Einflüssen eine besonders große artbildende Wirksamkeit zuschrieben. Die experimentell erweisliche, wenn auch beschränkte Plastizität der Arten verhält sich also insofern analog den Vorgängen der embryologischen Entwicklung, als auch bei diesen die inneren, erblich überkommenen Einflüsse das entscheidende Moment der Entwicklung bilden.

Wenn somit Paläontologie und Experiment für einen Beweis der Abstammungslehre sich unzulänglich erweisen, so fragt sich, wo wir die für die evolutionistische Anschauung maßgebenden Argumente zu suchen haben.

Deutungen.

Da kommen in erster Linie die rudimentären Organe in Betracht, die eine Deutung geradezu herausfordern. Diese Deutung fällt unbedingt in dem Sinne aus, daß das Dasein von Pflanzen oder Tieren mit rudimentären, d. h. für den Gebrauch ungeeigneten und gar nicht zur Geltung kommenden Organen nur verständlich wird, wenn wir annehmen, daß sie von Vorfahren abstammen, die die gleichen Organe in gebrauchsfähiger Ausbildung besaßen. Es sei hier statt vieler nur ein Beispiel aus der Pflanzenwelt und eins aus der Tierwelt erwähnt.

Innerhalb der Pflanzenfamilie der Skrophulariazeen besitzt die Gattung Verbascum 5 Staubfäden, die meisten andern Gattungen haben deren nur 4, bei einigen steht an Stelle des fünften Staubfadens ein nutzloser Stummel; bei Gratiola sind von diesen 4 Staubfäden wiederum 2 zu Stummeln verkümmert, bei Veronica finden wir nur 2 Staubfäden ohne Rudiment der 3 andern. Man schließt daraus, daß Verbascum den Grundtypus der Familie bildet, aus dem die andern Gattungen unter Verkümmerung eines Teils der Staubfäden sich entwickelt haben.

Zu den Säugetieren gehören die Wale, die darum auch vier Gliedmaßen haben, von denen aber lediglich die beiden vordern als Flossen zum Schwimmen dienen, während [1257] das hintere Paar so vollständig verkümmert ist, daß es nur in Gestalt von Knochen erkennbar wird, die tief im Fleische des Körpers drinstecken, für das Tier somit ganz nutzlos sind. Warum besitzt ein Wal diese völlig rudimentär gewordenen hinteren Extremitäten? Eine alte Naturauffassung lehrte, daß vier Extremitäten unbedingt zum Typus oder zur Idee der Säugetiere gehörten; die Deszendenztheorie sucht es wahrscheinlich zu machen, daß die Wale von andern schwimmenden Säugetieren abstammen, bei denen auch die hintern Extremitäten als Flossen dienten, daß aber auf dem Wege dieser Abstammung die hintern Gliedmaßen verkümmerten. Beachtenswert bleibt, daß in allen Fällen die rudimentären Organe uns als Rückbildungen vollkommener Organe erscheinen, keineswegs aber als die Anfänge einer aufsteigenden Entwicklung. Anfänge von Organen, deren Ausbildung von der Zukunft zu erwarten wäre, kennt man nicht.

Wenn man an dem Satz festhält, daß jedes Lebewesen von einem andern Lebewesen hervorgebracht wird, so entsteht gleichsam von selbst der Gedanke, daß aus anfänglich gegebenen Urzellen die heute lebende Fülle der Pflanzen und Tiere nach Analogie der individuellen Entwicklung sich hervorgebildet habe; fraglich bleibt, ob diese Aufwärtsentwicklung immer allmählich vor sich gegangen ist, ob nicht auch Sprünge angenommen werden müssen, wie von der Raupe zum Schmetterling.

Innere Impulse.

Macht man Ernst mit dem Analogieprinzip, so wird man die Stammesentwicklung ebensogut inneren Ursachen und Impulsen zuschreiben müssen, wie diese in der Individualentwicklung vorherrschen. Damit steht im Einklang das Ergebnis der neueren Forschung, daß durch äußere Umstände bei Pflanzen herbeigeführte Abänderungen sich nicht vererben. Die Erfahrung zeigt, daß, wo eine neue erbliche Rasse auftritt, die Ursachen der Abänderung innere waren, und daß diese Ursachen vorläufig nicht weiter analysierbar sind. Von den Kreuzungen ist hierbei abgesehen.

Wie Schiller einst zu Goethe sagte: Ihre Metamorphose der Pflanzen ist keine Tatsache, sondern eine Idee, so muß auch von der Deszendenzlehre in ihrer gegenwärtigen Phase bekannt werden, daß sie eine Idee ist, von deren Richtigkeit man felsenfest überzeugt sein kann, die sich aber nicht als Tatsache beweisen läßt. Doch indem wir die organisierten Einzelwesen werden sehen, immer wieder werden und immer nur werden, überträgt eine denkende Phantasie diese Anschauung auch auf die Geschlechter der Pflanzen und Tiere. Man glaubt an diese Idee so fest, wie die Chemiker an ihre Atome und Moleküle. Es läßt sich Dichtung neben der Wahrheit auch aus der Wissenschaft nicht ganz verbannen: „Kühn durch das Weltall steuern die Gedanken“.

Der Mensch.

Daß bei allgemeiner Geltung der Entwicklungs- und Abstammungslehre auch der Mensch in die Abstammungslehre einbezogen wird, ist eine einfache Folgerung. Wenn im Laufe der Stammesentwicklung der menschliche Geist einst aus einer Tierseele ober vielmehr aus den Anlagen derselben hervorquoll, so ist dies an sich nicht wunderbarer, als seine Entstehung im Laufe der individuellen Entwicklung des Menschen. Die hypothetischen tierischen Vorfahren des Menschen kennen wir zur Zeit aber nicht und werden sie vielleicht nie kennen lernen.

[1258]

Kritik und Bescheidung.

Im Zusammenhang damit ist beachtenswert, daß die Paläontologie überhaupt nicht mit Sicherheit die Vorfahren der Arten und Gattungen, weder die der lebenden noch der ausgestorbenen, aufzuzeigen vermag; noch weniger die der großen Hauptabteilungen. Wir können uns ausmalen, wie eine Urzelle sich zu einem Wurm fortbildete, der Wurm zu einem Manteltier, dies zu einem primitiven Wirbeltier, wie aus letzterem die ersten Anfänge der Fische, der Vierfüßer, der Vögel hervorgingen, doch wir kennen in keinem Fall die durchlaufenen Gestalten. Sie bleiben hypothetisch. Ich habe diese hypothetischen Vorfahren der bekannten Arten einst ihre Phylembryonen genannt, da ich mir vorstelle, daß die Fähigkeit, ein Baum, ein Fisch, ein Säugetier zu werden, schon sogut in ihnen geschlummert haben müsse, wie die Eigenschaften eines Kranichs oder einer Rose in deren Embryonen. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß diese Phylembryonen, die aufhörten zu sein, sobald sie eine neue, endgültige Form aus sich hervorgebracht hatten, meistens von so zartem Bau waren und so wenig Hartteile enthielten, daß kein versteinerter Rest von ihnen übrig bleiben konnte; auch darin würden sie den Embryonen der lebenden Arten ähnlich gewesen sein. Natürlich würde einem solchen Phylembryo ein Eigenleben und eine Fortpflanzung zuzuschreiben sein, durch die eine progressiv höhere Gestalt in der Reihe der Phylembryonen hervorgebracht wurde. War dann einmal eine gewisse Organisationshöhe erreicht, wie die der Blütenpflanzen oder der Säugetiere, dann konnte die Umwandlung auf dieser Organisationsstufe auch in die Breite gehen oder sich rückläufig gestalten; dann konnten auch Arten mit festen Skeletteilen sich in andere, ähnliche Arten umwandeln. Ich glaube, daß folgende Bemerkung, die ich im Jahre 1907 äußerte, eine richtige Einschätzung der Abstammungslehre zum Ausdruck bringt:

„Auf keinem Gebiete der zeitgenössischen Naturwissenschaft ist eine kritische Selbstbesinnung so nötig, wie auf dem der Abstammungslehre. Diese setzt sich aus relativ wenig empirischen und aus desto mehr spekulativen Elementen zusammen. Die Abstammungslehre ist eine Idee, wenn man will, eine naturphilosophische Idee, für deren allgemeine Geltung sich wenig erfahrungsmäßige Tatsachen anführen lassen, und die hauptsächlich durch die theoretische Erörterung von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gestützt wird. Sie ist in erster Linie Deutung der Tatsache, daß die Lebewesen in einer so ungeheuren Vielgestaltigkeit auftreten, und der Versuch, den Grund dieser Vielgestaltigkeit durch Nachdenken zu finden und wahrscheinlich zu machen. Sie ist nicht Wissen, sondern eine Forderung und ein Wunsch unsres Verstandes.“

Erfreulich ist, daß wir von einer Überschätzung der Abstammungslehre zurückkommen und unsre Aufgabe als Naturforscher mehr suchen im Beobachten und Experimentieren über Abstammung als im Spekulieren. Nur durch beweisbare Ergebnisse einer einwandfreien Erfahrung werden wir dahin gelangen, Körner anstatt Spreu zu ernten, sollten wir auch weitgehenden Verzicht üben müssen gegenüber manchen Lieblingswünschen.

Im Laufe der letzten 25 Jahre ist ein reicher Schatz wahrer Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Biologie in Deutschland gewonnen worden, und Hunderte von fleißigen Beobachtern sind am Werke, diesen Schatz unausgesetzt zu mehren und sicherzustellen. Auch die neuen Forschungsinstitute der Kaiser-Wilhelm-Stiftung werden sich angelegen [1259] sein lassen, tiefere und weitere Schächte der Erkenntnis in die ungeheure Fülle des noch Unerkannten zu treiben. Sind doch die Naturwissenschaften im allgemeinen und die Biologie im besonderen noch junge Wissenschaften, so daß heute gar nicht abzusehen ist, wie sich in Jahrhunderten unser Wissen von der Natur gestalten wird. Mit froher Zuversicht sollen wir diese Bahn beschreiten, die durch die Einsicht nicht getrübt zu werden braucht, daß wir manchen Problemen gegenüber zur Entsagung verurteilt sein werden. Denn wo von der Naturwissenschaft ein Rätsel gelöst wurde, steigt meist eine ganze Schar neuer Rätsel empor: bis jetzt vermehrte die Zahl der Rätsel bei tieferem Eindringen sich eher, als daß sie sich minderte. Wie es dem Menschen niemals gelingen dürfte, bis zum Mittelpunkt der Erde vorzudringen, so wird die Naturwissenschaft bei ihrem Vorwärtsschreiten oft genug Anlaß haben, Erkennbares von Unerkennbarem zu sondern. Dann wird man dem tiefgründigen Rate Goethes folgen, die Arbeit dem Erforschlichen zuzuwenden und das Unerforschliche „ruhig zu verehren“.


  1. Man hat dabei an die geometrischen Axiome zu denken, z.B. daß die kürzeste Verbindung zweier Punkte die gerade Linie ist, daß parallele Linien sich nirgends schneiden, auch wenn man sie endlos verlängert. Es sind dies Postulate unseres Verstandes, an deren Richtigkeit niemand zweifelt, obgleich sie nicht direkt beweisbar sind.
  2. Gewisse Gebilde im Silur hat man als eine Art von Bornetella beschrieben; diese Algengattung kommt heute noch lebend vor.