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Leben hervortritt. An diese Antwort schließt sich aber sofort die neue Frage, ob durch solch energetisches Rechenexempel das ganze Wesen des Lebens erklärt sei, und die Antwort auf diese Frage gehört zu den viel umstrittenen der Gegenwart. Die einen behaupten, das Leben gehe restlos auf in energetischen Prozessen, den andern scheint dies überaus unwahrscheinlich zu sein.

Es sei betont, daß an der energetischen Gleichung des Stoffwechsels niemand rüttelt; darin dürfte eine Tatsache von endgültiger Wahrheit ermittelt worden sein. Eine darauf sich gründende energetische Maschinentheorie des Lebens wäre aber sicher eine weitgehende Abstraktion vom ganzen, vollen Leben. Räumen wir ein, daß alle Lebensvorgänge des Organismus, die sich unsrer sinnlichen Wahrnehmung darbieten, obgleich dafür noch keineswegs ein exakter Beweis zu erbringen ist, dermaleinst energetisch werden erklärbar sein, so bleibt doch ein Rest von Erscheinungen übrig, der dazu nötigt, Tiere und Pflanzen anders als Maschinen zu beurteilen.

Sondererscheinungen des Lebens.

Einen Teil solcher Erscheinungen hat man allerdings schon frühzeitig in scharfblickender Deutung maschinell zu erklären gesucht. So die Reizbarkeit der Organismen, indem man sie mit den Auslösungsvorgängen an Maschinen vergleicht, wobei wieder J. R. Mayer als einer der ersten zu nennen ist, die diesem Gedanken die Bahn zu brechen suchten. Manche, ja zahlreiche Vorgänge des Wachstums und der Gestaltung der Pflanzen haben sich von äußeren, energetischen Einwirkungen abhängig erwiesen, und daraus ist eine der fruchtbarsten neueren Forschungsrichtungen, die experimentelle Morphologie, erwachsen. Es gibt Gestaltungen am Organismus, die der Experimentator durch willkürliche Eingriffe hervorzubringen vermag; die oben erwähnten Chimären sind ein beredtes Beispiel dafür. Während ferner niemand daran zweifelt, daß es prinzipiell möglich ist und dermaleinst wohl gelingen wird, sämtliche organische Verbindungen, die innerhalb des Pflanzenkörpers entstehen, auch durch künstliche Synthese in unseren Laboratorien herzustellen, zeigt sich doch nicht der leiseste Schimmer einer Aussicht, auch einmal die einfachste lebende Zelle künstlich erzeugen zu können. So sagen wir heute; es ist die gleiche Resignation, die einst Kant aussprach, wenn er an der Möglichkeit der Herstellung eines Grashalms oder einer Raupe „aus Materie“ zweifelte.

In der Tat gehören zum Wesen der Organismen Erscheinungen, die sie fundamental von allen Maschinen unterscheiden und die weder mechanisch noch energetisch sich erklären lassen. Es ist das vor allem die Selbstbildung des Organismus in der Fortpflanzung und Entwicklung. Man zeige einmal eine Maschine auf, die in ihrem Innern einen Keim absondert, aus dem durch Wachstum eine neue Maschine der gleichen Art automatisch hervorginge! Schon an dieser Klippe scheitert jede umfassende Maschinentheorie des Lebens. Man braucht noch gar nicht einmal an die höheren Lebewesen, etwa einen Hund oder einen Apfelbaum, zu zu vergleichen; schon die Teilung eines Zellkerns enthält Momente, die sich nicht nach dem Modell einer Maschinenbildung erklären lassen. Zugegeben ferner, daß in der Vererbung die Chromosomen des Zellkerns Träger der Erblichkeit sind, so sind sie damit doch nichts

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/117&oldid=- (Version vom 20.8.2021)