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Abstammungslehre.

Schon früher, z. B. am Anfange des vorigen Jahrhunderts durch Lamarck, ausgesprochen, hat diese Lehre doch erst seit dem Erscheinen von Darwins „Ursprung der Arten“ im Jahre 1859 ihren eigentlichen Siegeszug durch die Welt angetreten. Fast wie ein Rausch bemächtigte sie sich der Köpfe und übt auch heute noch ihren faszinierenden Einfluß auf das zeitgenössische Denken aus. Sie gilt den meisten Biologen und Geologen so sehr als ein Schatz unerschütterlicher Wahrheit, daß ich selbst sie einst als ein Axiom[1] biologischer Forschung bezeichnete. Dies hat man bestritten; allein jede Probe auf das Exempel kann zeigen, wie sehr diese Auffassung im Recht ist. Zwei Beispiele mögen es zeigen. Obwohl Arrhenius die Entwicklung der Sonnensysteme aus einem gleichförmigen Anfangszustande bekämpft, sieht er doch als selbstverständlich an, daß die Tier- und Pflanzenwelt der Gegenwart aus den organisierten Staubteilchen, die seine Phantasie vor unausdenklich langer Zeit auf die Erde hinabregnen ließ, sich entwickelt habe. Der Philosoph H. Bergson macht zur Voraussetzung seines genialen, vor kurzem erschienenen Werks „Schöpferische Entwicklung“ die Entstehung aller Organismen aus kleinen unscheinbaren Anfängen im Laufe der Erdgeschichte, ohne die Berechtigung dieser Annahme ernstlich zu erörtern. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen, nimmt die biologische Literatur der Gegenwart diese Entwicklung als sichergestellt und als Grundlage ihrer Betrachtungen an.

Untersuchen wir nunmehr die erfahrungsmäßigen und die logischen Grundlagen der Entwicklungslehre. Dazu sei vorweg bemerkt, daß in den ersten drei Jahrzehnten nach Darwins Auftreten in Deutschland sich mehrfach ein kritikloser Dogmatismus auf dem Gebiete der Abstammungstheorie geltend machte, während im letzten Menschenalter eine besonnene und kritische Behandlung des Deszendenzproblems nach und nach zum Durchbruch kam. Nur diese zweite Phase der deszendenztheoretischen Erörterungen und Kämpfe soll hier berücksichtigt werden.

Folgende Gesichtspunkte kommen vor allem in Betracht.

Tatsachen.

1. Die gesamte wissenschaftliche Erfahrung stimmt in dem Ergebnisse überein, daß jeder Organismus, sei es eine mikroskopische Zelle, ein Wirbeltier oder eine Blütenpflanze, von einem andern Organismus geboren wurde. Kein einziger Fall einer elternlosen Entstehung von Lebewesen ist bekannt.

2. Die Teile oder Organe eines Lebewesens: Wurzel, Stengel, Blatt, Blütenteile; Auge, Mund, Herz, Magen, Lunge, Nieren usw. haben einen meist deutlich erkennbaren Nutzen für den Organismus, dem sie angehören; sie dienen der Erhaltung des Individuums oder der Art.

3. Die in der Gegenwart lebenden Pflanzen und Tiere sind andre, als die aus früheren Erdperioden durch ihre fossilen Reste bekannt gewordenen Arten. Große Hauptgruppen


  1. Man hat dabei an die geometrischen Axiome zu denken, z.B. daß die kürzeste Verbindung zweier Punkte die gerade Linie ist, daß parallele Linien sich nirgends schneiden, auch wenn man sie endlos verlängert. Es sind dies Postulate unseres Verstandes, an deren Richtigkeit niemand zweifelt, obgleich sie nicht direkt beweisbar sind.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/122&oldid=- (Version vom 20.8.2021)