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andres als materielle Träger gestaltender Kräfte, für die eine Bestimmung nach energetischen Werten undurchführbar erscheint.

So gelangt unsre kritisch abwägende Zeit immer mehr dahin, in den Lebensvorgängen Erscheinungen zu sehen, die an ein materielles Substrat geknüpft sind, und die eines stetigen Energiewechsels nicht entbehren können, in deren inneres Getriebe aber fortwährend Vorgänge hineinspielen, bei denen die Anlegung des energetischen Maßstabes nicht gelingt.

Man sucht nach einer Formel für solche Beziehungen, solchen Zusammenhang. Ich versuchte sie dahin zu geben, daß das Leben besteht aus einer Schar von materiellen bzw. energetischen Elementarprozessen, die im Körper des Lebewesens an Elementarmechanismen gebunden sind; diese werden zusammengehalten durch ein einigendes Band, dessen Wesen sich unsrer Erkenntnis entzieht; gleichsam durch die Kette einer unsichtbaren Macht, die das Unterscheidende am Leben gegenüber allem Geschehen in der leblosen Welt ausmacht, und die man Lebensprinzip nennen kann.

Lebensprinzip.

Die einzelnen Elementarmechanismen innerhalb des Organismus sind der physiologischen, d. h. einer physiko-chemischen Erforschung zugänglich; während für solche Analyse das Lebensprinzip selbst nicht in Betracht kommt.

Die Elementarmechanismen bilden somit nur einen Bruchteil des lebendigen Wesens; den andern Teil bildet das sie zusammenfassende Band, das Lebensprinzip. Dasselbe verbindet die zahllosen Elementarmechanismen innerhalb des Organismus zu einer Einheit, einem Individuum; es findet aber weiter seine Fortsetzung in den Generationen. In der Befruchtung, der Geburt, der Entwicklung der Individuen zeigt das Lebensprinzip seine Kontinuität: es erhält sich durch sie. Wenn in der Entwicklung, einer Grundeigenschaft des Lebens, die Gestalt eines Tieres fortschreitet von der Eizelle bis zum fertigen, d. h. wieder zeugungsfähigen Zustande, so wird jede Stufe, indem sie Vorbedingung ist für die nächste Stufe, durch das Lebensprinzip mit dieser und mit allen übrigen Stufen verknüpft.

Für jeden der im Tier- oder Pflanzenkörper vorhandenen Elementarmechanismen können wir eine gesonderte Existenz denken; für das Lebensprinzip nicht, weil es tatsächlich in den gesetzmäßigen Beziehungen der Elementarmechanismen untereinander besteht. Diese letzteren würden prinzipiell für uns künstlich herstellbar sein, das sie verbindende Lebensprinzip aber nicht. Da dies die Beziehungen der Teile im Organismus zueinander ausdrückt, können wir es auch einem Gesetze vergleichen, das ebenfalls weder sichtbar noch tastbar ist; denn ein Gesetz ist der Ausdruck von Beziehungen. Somit ist das Lebensprinzip der gesetzmäßige Zusammenhang der Elementarmechanismen bzw. Teile des Organismus, und seine gesetzmäßige Wirksamkeit schließt es aus, daß in einem Lebewesen sich die einzelnen Elementarmechanismen zufällig aneinanderreihen. Das Leben besitzt seine eigene Gesetzlichkeit, wie das Licht, die Wärme, die chemischen Vorgänge die ihre besitzen. Damit ist jeder mystischen Deutung des Lebensprinzips die Spitze abgebrochen. Vergleichen könnte man das Lebensprinzip höchstens dem menschlichen Gedanken, der in einer komplizierten Maschine

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/118&oldid=- (Version vom 20.8.2021)