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Hypothesen.

Die ganze von der Theorie geforderte vorkambrische Entwicklung müssen wir also hypothetisch in das Gebiet der kristallinischen Schiefer verlegen und zugleich annehmen, daß deren Kristallisationsprozeß alle Spuren organischer Bildung vernichtet hat. Schätzen wir die Zeit, die seit Beginn des Kambriums verflossen ist, auf 100 Millionen Jahre, so werden wir zu der Annahme gedrängt, daß schon mindestens 100 Millionen Jahre zuvor Leben an der Erdoberfläche bestand, daß aber die Spuren dieses Lebens durch die Kristallisation der Schiefer vollständig ausgelöscht wurden und daß sie daher unserm Wissen für immer entzogen sind. Die Urzellen, die nach der Deszendenztheorie den Ausgangspunkt der Stammesgeschichte der Tiere und Pflanzen bildeten, müssen somit zu einer Zeit gelebt haben, als die ältesten kristallinischen Schiefer vom Meere abgesetzt wurden, eine Zeit, in die kaum unsre Phantasie hinabreicht.

Wieviele Urzellen gab es im Anfang? Etwa nur eine einzige? Nur in diesem letzteren Falle dürfte von einer Blutsverwandtschaft aller Organismen gesprochen werden. Oder mehrere, von denen jede der Ausgangspunkt einer der Hauptreihen des Tier- und Pflanzenreiches wurde? Warum sind dann nicht gleich Millionen von Urzellen als gegeben anzunehmen, von denen jede eine stammesgeschichtliche Reihe von Organismen einleitete, deren Endglieder wir in den ausgestorbenen und den lebenden Arten der Tiere und Pflanzen vor uns haben? Dann wäre es freilich mit der Bluts- oder Stammesverwandtschaft überhaupt aus. Was endlich die Herkunft der Urzellen anlangt, so entzieht sie sich jeder Vorstellung. Übergangsgebilde zwischen der mineralischen Erdrinde und lebendigen Zellen lassen sich nicht einmal erdenken, und die spontane Entstehung lebender Zellen aus Meerwasser und festem Erdreich durch die Kräfte, die beiden an sich innewohnen, ist aus chemischen wie aus physikalischen Gründen ausgeschlossen. Beim Versuch, die Entstehung der Urzellen aus anorganischer Materie auszudenken, versagt selbst die Phantasie. Um das jeder Behandlung unzugängliche Problem einer Urzeugung auszuschalten, ersann Eberhard Richter seine später von Arrhenius wieder aufgenommene Hypothese der Panspermie, wonach der Weltraum mit Urzellen bevölkert sein soll, die, als Staub auf die Erde gelangt, nach deren Erkaltung sich weiter zu entwickeln vermochten. Eine Hypothese, die so unbefriedigend ist, wie nur möglich, dabei jeder tatsächlichen Unterlage entbehrt; im Gegenteil, es ist bekannt, daß das Leben in den Keimen niederer Organismen (Bakterien) durch die Sonnenstrahlen vernichtet wird.

Experimente.

Fragen wir nun, was die Beobachtung und das Experiment mit lebenden Pflanzen und Tieren zu gunsten der Abstammungslehre geleistet haben, so ist es wenig genug, und ob man von der Zukunft vielmehr erwarten darf, bleibt fraglich. Wir wissen, daß neue und vielfach auch erbliche Pflanzenformen dadurch entstehen können, daß wir zwei Arten oder Rassen miteinander kreuzen. Wir wissen auch, daß neue erbliche Rassen bei Aussaat von Pflanzensamen entstehen können, die den Geschlechtszellen der gleichen Rasse entspringen. So ist zweifellos durch Aussaat des Samens einer gewöhnlichen Buche einst die erste Blutbuche entstanden, und die Blutbuche läßt sich erblich durch Aussaat fortpflanzen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/126&oldid=- (Version vom 20.8.2021)