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Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre
Von Geheimrat Prof. Dr. J. Reinke, Kiel, M. d. H.


Kant und die Gegenwart.

In seiner 1756 gedruckten Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels stellt uns Emmanuel Kant ein großartiges, aus Anschauung, streng folgerechtem Denken und Phantasie gewobenes Weltgemälde vor Augen, in dem, von der uralten Idee des Werdens und der Entwicklung ausgehend, gezeigt wird, wie die endlose Schar der Himmelskörper, insbesondre das unsre Sonne umkreisende System der Planeten, durch die Wechselwirkung einfacher anziehender und abstoßender Zentralkräfte aus einem ursprünglich den Weltraum erfüllenden Nebel hervorgegangen sein könne. Es ist erstaunlich, mit welcher Sicherheit, unter Zugrundelegung weniger Voraussetzungen, der große Denker seine Hypothese zu einer solchen Vollständigkeit ausbaut, daß wir ihr selbst in Einzelheiten noch heute unsre Bewunderung nicht versagen können; äußert er doch über die Beschaffenheit der Sonne Vorstellungen, die wesentlich mit denen übereinstimmen, welche erst viel später durch die Methode der Spektralanalyse zur Gewißheit erhoben worden sind. Hier möge besonders auf den Forschungsgrundsatz hingewiesen sein, den Kant zur Maxime seiner theoretischen Untersuchung erhob: zur Erklärung der Erscheinungen soweit wie möglich mit den in der Natur bekannten mechanischen Kräften auszukommen. Kant hatte den Triumph, seine Theorie der Entwicklung der Himmelskörper restlos auf diese mechanischen Kräfte gründen zu können, so daß man ihm den stolzen Ausruf nicht verargen darf: „Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll.“ Auch an den lebendigen Bewohnern der Himmelskörper gehen Kants Betrachtungen nicht vorüber, wenn ihnen auch nur wenig Raum darin zugewiesen wird; um so bedeutungsvoller sind seine darauf bezüglichen Bemerkungen. Über die erste Entstehung von Lebewesen an der Oberfläche unsres Planeten gibt er sich keinen fruchtlosen Spekulationen hin, und dies dürfte vornehmlich darin seinen Grund haben, daß ihm die innere Mannigfaltigkeit im Bau eines einfachen Organismus überaus viel verwickelter erscheint, als die ganze Struktur und Mechanik der Sonnensysteme. Darum ist Kant auch nicht kühn genug, seine mechanischen Grundkräfte als ausreichend für deren Bestimmung und Erklärung hinzustellen. Er sagt: „Man darf es sich nicht befremden lassen, wenn ich mich unterstehe zu sagen: daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues, werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe, aus mechanischen Gründen, deutlich und vollständig kund werden wird.“

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/108&oldid=- (Version vom 20.8.2021)