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der unbefangenen Betrachtung das Gefühl auf, daß eine restlose physiko-chemische Erklärung noch für keinen einzigen der wichtigeren Lebensvorgänge, ja nur hier und da für eine der einfacheren Erscheinungen am lebenden Organismus gelungen sei, und daß hinter all den physiko-chemischen Tatsachen, die durch die physiologische Analyse enträtselt waren, sich noch ein unbekannter Faktor verberge, ein X, dem mit Hebeln und Schrauben und chemischen Reagenzien bis dahin nicht beizukommen war. So gewann das Problem des Lebens in den letzten Jahrzehnten wieder eine neue Gestalt, und als einen Gewinn möchte ich buchen, daß man von einer ausschließlich vitalistischen oder mechanistischen Dogmatik zur Erklärung des Lebens heute abgerückt ist und die Aufgabe als solche, d. h. als Problem, klarer herausgestellt hat, um ihre Bearbeitung bzw. Lösung der Zukunft anheimzugeben oder von ihr zu erwarten.

Physikalische und chemische Vorgänge sind die einfachsten, welche wir kennen; ihnen gegenüber sind die Lebenserscheinungen außerordentlich kompliziert; sie sind Vorgänge einer höheren Ordnung, Gewiß ist es richtig, stets den Versuch zu machen, das „Höhere“, in diesem Falle zugleich das Verwickeltere, in einfachere Bestandteile aufzulösen. Darum hat schon Kant in seiner Naturgeschichte des Himmels den rechten Weg gewiesen und eingeschlagen, wie das übrigens auch seine großen Vorgänger Kepler und Newton getan haben, wenn er versuchte, das System der Himmelskörper seiner Entstehung nach mechanisch zu erklären. Kant gebührt aber auch das Verdienst, die Frage gestellt zu haben, ob die mechanische Erklärung nicht auch auf die Tiere und die Pflanzen anzuwenden sei; und wenn er die Lösung dieser Aufgabe als aussichtslos ansieht, so hat er doch den ersten Schritt zur physiologischen Forschungsmethode der Gegenwart getan, indem er daran dachte, den Versuch einer physiko-chemischen Analyse der Lebensvorgänge zu machen und so weit zu treiben, wie es möglich ist. Wenn Kant an der mechanischen Erklärung des Aufbaus eines Grashalms oder einer Raupe verzweifelte, werden wir ihm dies um so weniger verdenken, als derjenige Biologe der Gegenwart, dem wir wie wenigen das tiefere Eintreiben des mechanistischen Keils in die Probleme des Lebens verdanken, als M. Rubner am Schluß der Darlegung seiner Forschungsergebnisse vor vier Jahren zu folgendem Bekenntnis gelangte: „Es ist unverständlich, wie man in der Neuzeit immer wieder das Bestreben betont, das Lebende ausschließlich der Erscheinungsweise des Leblosen unterzuordnen und in dessen Formen zu zwängen. Wozu ist es notwendig, in infinitum nach Parallelen aus dem Gebiete der unbelebten Natur zu suchen? Auch wer das Walten von Kraft und Stoff gelten läßt, darf in dem Lebenden eine Naturerscheinung für sich sehen.“

Mechanistische Methode.

Richten wir unsern Blick zunächst einmal auf das, was die durchaus als berechtigt anzuerkennende mechanistische Forschungsmethode für eine Erklärung der Lebenserscheinungen bis jetzt geleistet hat; natürlich darf das hier nur in ganz weiten Umrissen geschehen.

Zu den allgemeinsten Naturgesetzen gehören die Gesetze der Energetik und ihnen gehorchen auch die körperlichen Systeme der Pflanzen und Tiere; letztes erkannt zu haben, ist ein großer Gewinn, den wir in erster Linie Julius Robert Mayer, dem genialen Entdecker

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/115&oldid=- (Version vom 20.8.2021)