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von Organismen, welche jetzt die Erde bevölkern, sind erst in den jüngeren Formationen aufgetreten, wie die plazentaren Säuger und die eigentlichen Blütenpflanzen (Angiospermen). Dem steht die Tatsache gegenüber, daß andre lebende Typen des Tierreichs im wesentlichen unverändert, wenn auch in anderen Arten oder Gattungen, schon in den ältesten Erdperioden, aus denen Versteinerungen bekannt geworden sind, vorkommen.

4. In der Gegenwart zeigt sich, daß die Kinder den Eltern, Großeltern usw. in allen wesentlichen Merkmalen gleichen, sich aber in untergeordneten Merkmalen von ihnen und untereinander unterscheiden; man braucht nur an menschliche Familien und Generationen zu denken.

5. Bei Tieren und Pflanzen der Gegenwart finden wir häufig verkümmerte (rudimentäre) Organe, die tatsächlich für das Individuum keinen Nutzen abwerfen; daneben fehlen bei gewissen Arten Organe, die bei ganz ähnlichen Arten vorkommen.

6. Die Individuen der höheren Tiere und Pflanzen entstehen im Innern ihrer Eltern als einfache Zellen (Keimzellen, Eier), aus denen durch Zellteilung und nachherige Differenzierung der durch Teilung vermehrten Zellen sich der fertige fortpflanzungsfähige Organismus entwickelt. Diese Entwicklung durchläuft die embryonalen Stadien meist ganz allmählich, doch können auch Sprünge in der Entwicklung vorkommen, wie bei der Umwandlung der Raupe in den Schmetterling.

Aus diesen empirischen Materialien baut sich die Abstammungslehre im deduktiven Verfahren auf. Dabei verdienen folgende logische Stützen besonders hervorgehoben zu werden.

Zunächst der Begriff der Verwandtschaft. Schon lange vor Herrschaft der Abstammungslehre sagte man, die verschiedenen Arten und Gattungen der Doldengewächse, Orchideen, Gräser, Lippenblütler; der Raubtiere, Nagetiere, Wiederkäuer, Singvögel, Schwimmvögel usw. seien untereinander verwandt, und man konstruierte für Gattungen, Ordnungen, Klassen verschiedene Grade von Verwandtschaft. Hierbei wurde dieser Begriff in idealem Sinne genommen, wie man von verwandten Baustilen, Tonarten, Wissenschaften usw. spricht. Dem idealen Verwandtschaftsbegriff steht der reale gegenüber, wie er in menschlichen Familien, im Stammbaum eines Pferdes, eines Hundes uns entgegentritt. Die Abstammungslehre fragt nun: sollte der klassifikatorischen Verwandtschaft des Systems der Tiere und Pflanzen nicht eine wirkliche Blutsverwandtschaft entsprechen? und sie sucht diese durch eine Reihe von Argumenten wahrscheinlich zu machen.

Schlüsse.

Dies Verfahren führt auf den Weg der Analogieschlüsse; die Analogie wird hierbei vielfach sehr weitgehend in Anspruch genommen. Deshalb kommt es darauf an, welchen Grad von Beweiskraft man den Analogieschlüssen überhaupt zugestehen will. Es gibt starre Gegner, die sagen, in der wahren, rein auf Erfahrung sich gründenden Wissenschaft hätten Analogieschlüsse überhaupt keinen Platz. Soweit gehen wenige, auch wenn es richtig sein dürfte, von der Wissenschaft zu fordern, so wenig Analogieschlüsse wie möglich zuzulassen, und wo sie bestehen, daran zu arbeiten, sie durch sicheres Wissen zu ersetzen. Interessant ist zu hören, welche Stellung ein so

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/123&oldid=- (Version vom 20.8.2021)