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Kritik und Bescheidung.

Im Zusammenhang damit ist beachtenswert, daß die Paläontologie überhaupt nicht mit Sicherheit die Vorfahren der Arten und Gattungen, weder die der lebenden noch der ausgestorbenen, aufzuzeigen vermag; noch weniger die der großen Hauptabteilungen. Wir können uns ausmalen, wie eine Urzelle sich zu einem Wurm fortbildete, der Wurm zu einem Manteltier, dies zu einem primitiven Wirbeltier, wie aus letzterem die ersten Anfänge der Fische, der Vierfüßer, der Vögel hervorgingen, doch wir kennen in keinem Fall die durchlaufenen Gestalten. Sie bleiben hypothetisch. Ich habe diese hypothetischen Vorfahren der bekannten Arten einst ihre Phylembryonen genannt, da ich mir vorstelle, daß die Fähigkeit, ein Baum, ein Fisch, ein Säugetier zu werden, schon sogut in ihnen geschlummert haben müsse, wie die Eigenschaften eines Kranichs oder einer Rose in deren Embryonen. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß diese Phylembryonen, die aufhörten zu sein, sobald sie eine neue, endgültige Form aus sich hervorgebracht hatten, meistens von so zartem Bau waren und so wenig Hartteile enthielten, daß kein versteinerter Rest von ihnen übrig bleiben konnte; auch darin würden sie den Embryonen der lebenden Arten ähnlich gewesen sein. Natürlich würde einem solchen Phylembryo ein Eigenleben und eine Fortpflanzung zuzuschreiben sein, durch die eine progressiv höhere Gestalt in der Reihe der Phylembryonen hervorgebracht wurde. War dann einmal eine gewisse Organisationshöhe erreicht, wie die der Blütenpflanzen oder der Säugetiere, dann konnte die Umwandlung auf dieser Organisationsstufe auch in die Breite gehen oder sich rückläufig gestalten; dann konnten auch Arten mit festen Skeletteilen sich in andere, ähnliche Arten umwandeln. Ich glaube, daß folgende Bemerkung, die ich im Jahre 1907 äußerte, eine richtige Einschätzung der Abstammungslehre zum Ausdruck bringt:

„Auf keinem Gebiete der zeitgenössischen Naturwissenschaft ist eine kritische Selbstbesinnung so nötig, wie auf dem der Abstammungslehre. Diese setzt sich aus relativ wenig empirischen und aus desto mehr spekulativen Elementen zusammen. Die Abstammungslehre ist eine Idee, wenn man will, eine naturphilosophische Idee, für deren allgemeine Geltung sich wenig erfahrungsmäßige Tatsachen anführen lassen, und die hauptsächlich durch die theoretische Erörterung von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gestützt wird. Sie ist in erster Linie Deutung der Tatsache, daß die Lebewesen in einer so ungeheuren Vielgestaltigkeit auftreten, und der Versuch, den Grund dieser Vielgestaltigkeit durch Nachdenken zu finden und wahrscheinlich zu machen. Sie ist nicht Wissen, sondern eine Forderung und ein Wunsch unsres Verstandes.“

Erfreulich ist, daß wir von einer Überschätzung der Abstammungslehre zurückkommen und unsre Aufgabe als Naturforscher mehr suchen im Beobachten und Experimentieren über Abstammung als im Spekulieren. Nur durch beweisbare Ergebnisse einer einwandfreien Erfahrung werden wir dahin gelangen, Körner anstatt Spreu zu ernten, sollten wir auch weitgehenden Verzicht üben müssen gegenüber manchen Lieblingswünschen.

Im Laufe der letzten 25 Jahre ist ein reicher Schatz wahrer Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Biologie in Deutschland gewonnen worden, und Hunderte von fleißigen Beobachtern sind am Werke, diesen Schatz unausgesetzt zu mehren und sicherzustellen. Auch die neuen Forschungsinstitute der Kaiser-Wilhelm-Stiftung werden sich angelegen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/129&oldid=- (Version vom 20.8.2021)