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sein dürften: von einem Beweise für diesen genetischen Zusammenhang kann indes nicht die Rede sein. Spuren aplazentarer Säuger (Beuteltiere) erscheinen schon in der Trias; doch erst im Tertiär begegnen uns die plazentaren, die eigentlichen Säugetiere, diese aber gleich in allen den Ordnungen (Raubtiere, Huftiere, Nagetiere, Affen usw.), die in der Gegenwart leben. Ferner gab es schon im Kambrium einzellige Tiere, die Radiolarien und Foraminiferen, die sich unter Beibehaltung des Typus, wenn auch unter Änderung der Arten, bis in die Gegenwart in ihrem einzelligen Stadium erhalten haben. Warum haben sie sich nicht zu höheren, zu vielzelligen Typen fortentwickelt? fragt man unwillkürlich. Im Tertiär kommt eine Reihe von Tieren vor, die von der vergleichenden Morphologie als Vorläufer und Vorfahren des heutigen Pferdes gedeutet werden; zu einem wirklichen Beweise der Stammesgeschichte des Pferdes reichen sie aber nicht aus, nur zu einem allerdings wirkungsvollen Argumente für den genetischen Zusammenhang dieser Formen untereinander. Irgendein fossiles Tier, z. B. einen Affen, das als Vorfahr der ersten Menschen auch nur mit einem hinlänglichen Grade von Wahrscheinlichkeit in Anspruch genommen werden könnte, kennen wir nicht.

Mit dem Pflanzenreiche steht es ähnlich. Die ältesten, gut erhaltenen Pflanzen[1], die wir kennen, finden sich im Devon und im Karbon, der Steinkohlenperiode. Hier bildeten sie jene Wälder, deren fossile Reste wir in unsern Öfen und Maschinen verbrennen. Diese alten Pflanzen waren Farne und Gymnospermen, also ganz hoch organisierte Gewächse, wie sie, wenn auch in andern Gattungen und Arten, heute noch vorkommen; bemerkenswert ist aber, daß die Farnpflanzen des Karbon großenteils einer höheren Organisationsstufe angehören, als die jetzt lebenden. In jenen alten Formationen fehlen die eigentlichen Blütenpflanzen (Angiospermen) noch völlig; sie fehlen auch in den folgenden Perioden des Perm, der Trias, des Jura, in der unteren Kreide; sie erscheinen ganz unvermittelt in der oberen Kreide und zwar gleich in Gattungstypen, die heute noch leben, wie Magnolia, Tulpenbaum usw. Im Tertiär sind alle Haupttypen der Gegenwart vorhanden, in den unteren Schichten meist in abweichenden Arten; die Tertiärflora wird auch in den Arten der lebenden Pflanzendecke um so ähnlicher, je jünger die Schichten sind; ein gleiches gilt von der Tertiärfauna. Aber die zweifellosen Vorfahren auch nur einer einzigen Pflanzengattung der Gegenwart hat man weder im Tertiär noch in der Kreide gefunden.

Gewiß ist das Aktenmaterial der Paläontologie ein höchst lückenhaftes; die meisten Arten der früheren Tier- und Pflanzenwelt gingen zugrunde, ohne versteinerte Reste zu hinterlassen. Darum liefert die Paläontologie kein Argument gegen die Abstammungslehre. Doch gegen die Tatsache, daß Krebse und Bracchiopoden schon im Kambrium vorhanden waren, ist nicht aufzukommen. Unterhalb des Kambrium finden wir nur die versteinerungslosen kristallinischen Schiefer. Wir müssen also an unserm deszendenz-theoretischen Bilde starke Retouchen vornehmen, um der Vorstellung zu genügen, daß anfänglich Urzellen gegeben waren, oder noch einfachere Zellgebilde, als wir heute kennen, aus denen nach Analogie der individuellen Entwicklung die ältesten Krebse entstanden sind.


  1. Gewisse Gebilde im Silur hat man als eine Art von Bornetella beschrieben; diese Algengattung kommt heute noch lebend vor.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/125&oldid=- (Version vom 20.8.2021)