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Artikel „Maurice, Chéri“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 249–256, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Maurice,_Ch%C3%A9ri&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 13:19 Uhr UTC)
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Maurice: Chéri (Kosenamen für Charles, ihm aus der Kindheit verblieben) M., eigentlich Ch. M. Schwartzenberger, Bühnenleiter, wurde am 29. Mai 1805 zu Agen, Hauptstadt des südfranzösischen Departements Lot-et-Garonne, geboren, als Sohn des israelitischen Unternehmers Maurice Schwartzenberger aus Metz (1780–1853). Dieser unterdrückte des etwa zwanzigjährigen Jünglings Entschluß, sein gelungenes Auftreten auf der Liebhaberbühne in dauernden Beruf zu verwandeln. Als nun die Familie (1824 oder) 1826 nach Hamburg übersiedelte, half M. erst dem Vater bei seiner Brennerei französischer Schnäpse, eifriger jedoch bei der Pachtung (1827) des einstigen wundervollen Gartenlocals Tivoli am Besenbinderhof in der Vorstadt St. Georg. Dies machten sie rasch zum beliebtesten Sommer-Erholungsorte durch Rutschbahn, Mastbaumklettern, Sacklaufen, Akrobaten, Hahnenkämpfe, Caroussels, bal champêtre, wozu sie 1829 eine unbedeckte, aus Bäumen und Laubwerk improvisirte Sommerbühne fügten, unter des Sohnes Regie. Statt wie bisher um tüchtige Pyrotechniker, Jongleure, Bajazzos sorgte sich jetzt „C. S. Maurice“, wie er sich nun, den Väterlichen Vor- als Familiennamen annehmend, nannte, mit Geschick und Thatkraft um gute Darbietungen einer leichten, volksthümlichen Muse. Deren Tempel eröffnete er verständig durch G. N. Bärmann’s drolliges ländliches Gemälde „Kwatern“, dem ein Reigen plattdeutscher Stücke folgte, Maurice’s erhebliche Verdienste um dies Dialektdrama begründend und nicht geringere Besucherscharen herbeilockend als L. Angely’s und Holtei’s Vaudevilles. Der Leiter des 11 Jahre alten Steinstraßen-Theaters, der bewährte ehemalige Maschinist und Theatermeister beim Stadttheater Caßmann, dessen Truppe M. ein Sommerasyl gewährte, hielt es da für gerathen, seiner Schwiegermutter Wittwe Handje als Inhaberin der Concession für dies kleine Theater M. als Mitdirector vorzuschlagen, und so begann dieser am 1. October 1831 mit der neuen Wintersaison endgültig das Scepter eines wirklichen Bühnenmonarchen zu schwingen, wennschon ein Jahrzehnt nur als artistischer Leiter. Sommers spielte man immer in Maurice’s Tivoli, meist zwar die zugkräftigen Stücke vom Winter, während dessen M. im Steinstraßen-Theater mehr und mehr die besseren Stände anzuziehen wußte, doch auch einschlagende Novitäten wie Bärmann’s eigens fürs Tivoli gefertigte Bearbeitung eines Kotzebue-Originals, „Stadtminschen un Buurenlüüd“ u. a. Localpossen in der Mundart sammt Parodien auf die ersten großen Opern. Der nun dauernde Träger des dazumal förderlichen französischen Künstlernamens streifte die weniger empfehlende jüdische Abkunft damit ab und trat am 31. Juli 1832 mit einer 201/2jährigen Hamburgerin, Emilie Möller, zu St. Petri vor den Traualtar.

In doppelter Hinsicht bewährte M. beim Emporkommen dieser Bühne den richtigen Blick, der dem praktischen Bühnenleiter eignen muß. Einmal betreffs eines passenden Repertoires, das neben dem Kleinbürger-Publicum bald auch die besseren Stände heranzog und rasch die bis dahin wenig beachtete Bühne in die Gunst der Bevölkerung hineinwachsen ließ. Und dieser empfindliche Wettbewerb für das bevorrechtete Stadttheater beruhte gutentheils mit in der unter des Franzosen Maurice Aegide erstehenden Blüthe des plattdeutschen Lustspiels und der Hamburger Localposse, indem neben Bärmann’s langer Reihe gemüthvoller „Burenspillen“ die Parodien und Dialektschwänke des geistreichsten scharf-witzigen Hamburger Realisten Jak. Hnr. David (1812 bis 1839) für M. die Quelle beispielloser Erfolge und Einnahmen wurden, [250] Hnr. Volgemann, der curiose und vielgewandte A. E. Wollheim u. m. A. in demselben Fahrwasser segelten. Andererseits besaß M. von Anfang an in ganz hervorragendem Maaße die Kunst, theatralische Einzelkräfte zu erkennen, zu gewinnen und sich entwickeln zu lassen, aber auch sie dem Ganzen der Truppe einzufügen und deren Aufgaben dienstbar zu machen: so war Karl Meixner, der geniale Charakterkomiker, in den ersten Jahren eine Hauptstütze. Im October 1834 erwirkte M. der jungen Unternehmung vom Senate den Titel „Zweites Theater“, und Frdr. Ludw. Schmidt, die ehrliche Haut, jahrelang bis 1842 der Leiter des Stadttheaters, soll dazumal ausgerufen haben: „Der Knabe Charles fängt an mir fürchterlich zu werden!“. Endlich 1842, als, kurz nach dem großen Hamburger Brande vom 5.–8. Mai, die betagte Frau Handje starb, erhielt M., in Anbetracht der von ihm bewährten Energie, Solidität und Geschicklichkeit, vom Senate die selbständige Concession, jedoch nur für einen Neubau und unter der Verpflichtung, die Handje’schen Erben zu entschädigen. An einem sehr günstig im Herzen der Stadt gelegenen Platze, am Pferdemarkt, nahe dem innern Alsterbassin, gegenüber den Markthallen, eröffnete M. das neue durch den heimischen Architekten Stammann nach dem Entwurfe des Parisers Meuron erbaute geräumige und stattliche Haus, dessen Benennung „Neues Theater“ die Behörde nicht genehmigt hatte, schon am 9. November 1843 mit dem Prolog „Alt und Neu“. Als „Thalia-Theater“ ist es ein Musterinstitut von Weltruf geworden, und zwar ausschließlich durch Maurice’s Organisationsgenie und speculative Direction.

Allerdings war M. sich der Würde und Nothwendigkeit bewußt, die ihm maßgebliche Art des Bühnenbetriebs auf eine höhere Stufe zu heben. Die schwer zugängliche Bühne in einem engen Hofe der winkligen feuergefährlichen Steinstraße hätte für die zahlreichere Zuschauerschaft sowie Stücke mit größerer Entfaltung von Personal und Scenerie auch ohne die behördliche Auflage nicht mehr gelangt. Eine im ganzen ernstere, jedenfalls aber gediegenere Richtung löste den bisherigen Modus ab; freilich Oper und höheres Drama blieben ihm verboten, wie sie wol auch bis zu einem gewissen Grade seinem Naturell verschlossen waren. Damit ging allerdings leider auch der allmähliche Abfall von der intimen Pflege des Plattdeutschen und seines Humors Hand in Hand, mit herbeigeführt durch das Absterben der dafür veranlagten und eingespielten Kräfte. Die feste Absicht zu selbständigem Vorgehen hat M. noch vor Eröffnung des „Thalia-Theaters“ durch freiwilliges Angebot – das erste in Deutschland! – einer regelrechten Autor-Tantième bekundet und hat durch günstige Bedingungen zugkräftige dramatische Arbeiten eingeladen. Ledig litterarischer Vorurtheile blieb er freilich auf die Dauer und schaute sich auf dem Markte der Theaterwaare wie ein Kaufmann um; doch brachte er die erkaufte nie anders als blank und so ordentlich wie denkbar vor seine Abnehmer. Unmittelbar vor Antritt seiner entscheidenden Function, October 1843, hat er seine Devise geäußert: „Der Schauspieldirector ist nur den praktischen Nutzen einer Bühnenarbeit zu würdigen berufen“. Daraus allein erklärt sich das schier unbegreifliche Auftreten eines lebendigen Kameels aus dem Zoologischen Garten 1844 in Raeder’s Posse „Der artesische Brunnen“ auf den Brettern, wo Wilh. Kunst, Hendrichs, Louis Schneider, La Roche u. A. wirkten, und noch später wechselten mit Darbietungen der Gewaltigen Döring, L. Dessoir, E. Devrient nicht nur Kinderballets und Magieprofessoren wie Bosco, sondern auch Gymnastiker, Zwerge, Kabylen, der Affen-Mimiker Klischnigg u. ä. Um solche Luftsprünge aus der Periode seines Tivoli-Varietés zu vertheidigen, engagirte M. „für die Thaliatheater-Kritik“ den Publicisten Joseph Mendelssohn (1817 bis 1856) um 400 Thaler, der, unter seiner Direction des Stadttheaters, wegen [251] einer Recension in seinem „Panorama der Gegenwart“ von Gutzkow öffentlich zur Rede gestellt worden war und jetzt des „Jahreszeiten“-Redacteurs C. F. Vogel bitteren Angriffen auf M. mit Pamphleten die Stange halten sollte. Dieser Mendelssohn gab dann im Sturmjahre das von besten Mitarbeitern bediente theatergeschichtlich werthvolle Curiosum „Der Theaterteufel. Humoristisch-satyrischer Almanach für 1848“ heraus, wo, außer kleinen Anspielungen auf M. (z. B. S. 62 unter „Directions-Reden“ Nr. 3: „Antritts- und Abschieds-Reden in französisch-deutschem Dialekt, keineswegs als überflüssiger Appendix zu betrachten“, wie M., der sein langes Leben lang nur einen Feind, die deutsche Sprache, gehabt haben soll, sie zu halten liebte), am Ende ein köstlicher Holzschnitt „Zur Erinnerung an den welthistorischen letzten Directionswechsel am Hamburgischen Stadttheater“ die vier betreffenden Persönlichkeiten abconterfeit. Der Commentar darunter lehrt uns: „Für die am 1. April 1847 begonnene Theater-Ehe der Directoren Baison und Maurice mußte die ‚schöne Zeit der jungen Liebe‘ schnell entschwinden. Den Bruch vollendete das einseitig geschehene Wieder-Engagement des Komikers Brüning für das Stadttheater und dessen Gastspiel-Verpflichtung gegenüber der concurrirenden Thaliabühne. Der freiwillige Austritt des Herrn Maurice, an dessen Stelle Herr Wurda Mitdirector des Stadttheaters ward, löste diese Conflicte.“ Das seit Fr. L. Schmidt’s Tod, im Wettlauf mit der jungen „Thalia“-Schwester in den Graben gerathene Stadttheater war nach langen Verhandlungen und Intriguen 1846 der Doppeldirection Maurice-Louis Schneider (s. A. D. B. XXXII, 137), die sich aber wegen dessen Festhaltens bei Friedrich Wilhelm IV. in Berlin zerschlug, dann der Compagnie Maurice-J. B. Baison überantwortet worden. Aber schon seit der Eröffnung am 27. April 1847 – mit Weber’s Jubel-Ouverture, einem Festspiel des bald ausscheidenden Dramaturgen Robert Prutz und Goethe’s „Egmont“ – fiel M. immer wieder in den Verdacht, durch übertriebene Mehr-Engagements u. s. w. das von ihm bloß mitgepachtete Stadttheater durch sein Besitzthum, das Thaliatheater, schädigen zu wollen, und so kam es nach einer Sommersaison zu jenem Bruche, den J. Mendelssohn (s. o.) in Bild und Wort illustrirt hat. M. wurde nach gerichtlichem Austrag gegen die Firma „Maurice und Baison“, die 11 500 Thaler zugesetzt hatte, am 11. October wieder ausschließlich Herr seiner „Thalia“-Gründung, vereinigte diese aber, nachdem Baison’s Association mit dem Tenoristen Josef Wurda (s. A. D. B. XLIV, 322 f.) das Stadttheater vollends an den Abgrund gebracht und Baison selbst, der tüchtige und beliebte Heldenspieler (s. A. D. B. I, 775), gestorben war, in den Nachwehen der überaus theaterschädlichen Revolutionszeit, unter Wurda’s Antheil seit 1. April 1849 mit dem Stadttheater, nämlich diesmal nicht in „Personalunion“, wie 1846 Dr. Knauth, sein Vertreter, es genannt hatte, sondern in Personal, Repertoire und Geschäftsführung unter einer Decke.

Diese Vereinigung, unpopulär bei Publicum und Presse, war ein todtgeborenes Kind, und mit den flüssig gemachten 30 000 Thalern ließ sich den ins Riesige anschwellenden Ansprüchen nicht Trotz bieten: obwol M. – denn sein Genosse Wurda blieb neben ihm, wie schon neben Baison, ganz im Schatten – alle Minen springen ließ, das in argem Mißcredit stehende Institut wieder ins Oberwasser zu schieben, so erwiesen sich die Verhältnisse eben stärker. So ziemlich alle Maßnahmen der Direction, das Schiff wieder flott zu machen, wurden allerseits bekritelt und zum Schlechten ausgelegt – kein Wunder, daß sie völlig verunglückten: daß das gemeinsame Personal beide Bühnen versehen, einzelne Kräfte auch an demselben Abend hüben und drüben mitwirken mußten (übrigens anderwärts, z. B. in Leipzig, jahrelanger Brauch [252] ohne Widerspruch), bald, daß die Komiker überwogen, carikirten und improvisirten, bald wieder, daß die Oper zu sehr in den Vordergrund trete, insbesondere Maurice’s Einmischen in die Regie. Noch milder als die Hamburger Blätter, die M. günstig zu stimmen suchte, während maßgebliche Kritiker, wie Karl Töpfer (s. d.) in seinem 1852–55 eigens als Niederschlag der Erbitterung gegen die Theaterleitung herausgegebenen Journal „Der Recensent“ („die ‚Vereinigten Theater‘ in H. haben, wie die ‚Vereinigten Staaten‘ in Amerika, viel Raum und wenig Bewohner“), scharf Stellung nahmen, schrieb die theatralische „Allg. Leipziger Chronik“ 1850: „er gestehe doch seine gutmüthige Unfähigkeit ein! Die Kunst war ja nie sein Broterwerb! Er bleibe was er war, ein Geschäftsmann, und überlasse die Kunst den Sachverständigen!“ Unzufriedenheit erregte das Schwanken der Eintrittspreise; tiefer griff der herbe Tadel der Textverkürzungen, groben Spielweise im Possenton, das unablässige Aushelfen mit reisenden Gästen und Dilettanten, deren die 5 Jahre der Direction Maurice-Wurda 400 vor die Rampen geführt haben sollen. Und doch vermittelte M., wenn er auch zeitlebens der Gastspiel-Wirthschaft gefröhnt hat, dadurch den Hamburgern die wiederholte genaue Bekanntschaft von Sternen des Bühnenhimmels, darunter Henriette Sonntag, L. Dessoir, La Roche, Dawison, aber auch der Französin Rachel und des englischen Mohren Ira Aldridge mit seiner Truppe, und gar ganzer Tänzerfamilien, zumal aus dem Süden, wie auch in Kinderballeten des Guten zu viel geschah. Wieder warf man M. vor, es sei wohlberechnete Tactik bei ihm, das Stadttheater „stiefmütterlich zu behandeln“, damit bei einer vorauszusehenden Trennung das Publicum der besser bedienten Thalia-Bühne treu bleibe. Obwol M. sich sogar an so schwierige Experimente wie 1853/54 an wiederholte Gesammtaufführung des Goethe’schen „Faust“ – der ersten in Deutschland! – wagte, insinuirte man ihm 1854: „Kommt eine Subvention, wie sie erbeten ist, zu Stande, so lacht der Franzose M. ins Fäustchen, und die deutsche Kunst geht dabei doch leer aus.“ Der seit 1851 vorauszusehende Zusammenbruch trat, nachdem während des Jahrfünfts 167 000 Thaler über die Einnahme ausgegeben waren, am 25. Juli 1854 als wirklicher Bankerott ein: die mehr als 300 auf die Straße gesetzten Mitglieder des altrenommirten Hamburger Stadttheaters sollten nach „Schmieren“-Art auf Theilung weiterarbeiten! Das sich durch lange Streitigkeiten hinziehende Arrangement förderte als Ergebnisse für M. – die Puppe Wurda ging in den Ruhestand († 1875) – zu Tage: die Verantwortlichkeit für die schwere pekuniäre Schädigung der Abonnenten (ca. 65 000 Thaler), die Behauptung „totaler Zerrüttung“ der Verhältnisse des Stadttheaters als „Folge seiner beispiellos schlechten Verwaltung“, das überharte Gesammturtheil „Herr Maurice hat das Stadttheater ruinirt, er allein; entweder durch Ungeschick und undeutsche Beurtheilung eines deutschen Publicums, oder – weil er es so wollte“; damit meinte das „ernste Wort in der Theaterangelegenheit“ in den „Hamburger Nachrichten“ Nr. 258 vom 31. October 1854 „Maurice’s Manöver“, die Zuschauer „zu dem Favoritkinde Thaliatheater“ zu „treiben“.

Auch des letzteren Schicksal zog die Katastrophe vom Sommer 1854 bös in Mitleidenschaft. In der „dem Charles Schwartzenberger Maurice“ am 17. Februar 1843 ertheilten Concession stach man die Klausel „bis auf weiteres“ auf und entzog ihm das mehr als zweiactige Lustspiel, das Schauspiel und natürlich die Oper, schrieb ihm auch sehr niedrige Eintrittspreise vor. Am 1. September 1855 eröffnete M. unter diesen harten Beschränkungen sein Thaliatheater von neuem allein: seine von Maurice’s Gegnern durchgedrückte Knebelung bewirkten jedoch nicht die erwartete erhöhte Blüthe des [253] Stadttheaters, wol aber reichlichen Zuspruch zu der von M. gezwungenermaßen vorgesetzten leichten und wohlfeilen Theaterwaare. Sogar H. Uhde’s sorgfältige, aber im ganzen kleinlich mäkelnde Behandlung Maurice’s in der Geschichte des Hamburger Stadttheaters zieht ihm, dessen „Directionsübung Bleigewichte“ angehangen (nämlich behördlicherseits), wie ein duldender Lenker des Instituts gesagt, ein volles Vierteljahrhundert nach jenem Krach 1879 folgendes Facit: „Der gewaltigen Aufgabe: in Hamburg zwei große Bühnen zu gleicher Zeit zu leiten, war er unterlegen; in kleineren Verhältnissen, auf einem Posten, den er zu übersehen vermochte, hat er sich vielfache Anerkennung erworben. C. S. M. wußte es nach und nach, besonders durch Heinrich Marr’s kräftige Mitwirkung, dahin zu bringen, daß in der Reihe deutscher Privatunternehmungen das Thaliatheater zu Hamburg oft mit Ehren genannt ist. Es liefert zugleich den Beweis: daß eine Bühne Verdienstliches auch ohne Staatshülfe leisten kann. Deutsche Dramatiker vertrauen ihm mit Vorliebe ihre Stücke an, und deutsche Künstler betrachten es als offenen Empfehlungsbrief, zu seinen Angehörigen gezählt zu haben.“ Als im Sommer 1856 C. A. Sachse, der Pächter und nachherige Director des Stadttheaters, dessen Inventar käuflich von der vorigen Direction übernahm, war jede Verbindung Maurice’s mit dem Stadttheater endgültig abgebrochen. Er hat sich kaltblütig und gewandt in den ihm zugemessenen engen Spielraum geschickt, sodaß im „Morgenblatt“ eine Correspondenz bald äußerte: „Gerade weil sich die Gesellschaft dieser zweiten Bühne unserer Stadt unter der meisterhaften Regie Marr’s beschränken muß, ist sie so vorzüglich geworden.“

In der That setzte seit 1856 ein großer Aufschwung des Thaliatheateres ein, ja, seine eigentliche Blütheepoche, in der es auf dem Felde des Lustspiels und sogenannten Conversationesstücks sogar Vorbildliches hervorbrachte. Vorerst bestand es noch curiose Kämpfe spießbürgerlichsten Calibers wegen Maurice’s beschnittener Concession: La Roche’s Gastspiel als Shylock stellte die Streitfrage, ob „Der Kaufmann von Venedig“ gemäß Shakespeares Bezeichnung eine comedy sei, zur polizeilichen Erörterung; der Birch-Pfeiffer Schauspiel „Die Grille“, als ländliches Charaktergemälde bezeichnet, um Friederike Goßmann’s Auftreten daselbst zu ermöglichen, mußte nach acht Wiederholungen auf den Recurs des Stadttheaters verschwinden; ja, bei der 1859er Nationalfeier von Schiller’s 100. Geburtstag durfte aus dessen eigener Feder nur „Wallenstein’s Lager“ als einziges „lustiges“ Werk über die Bretter gehen. So meint auch der M. gewiß abgeneigte Uhde: „Mit grenzenloser Eifersucht, die zu den häßlichsten Vorkommnissen führte, überwachte das Stadttheater die kleinere Bühne.“ Erst 1860 hob der Senat diese Bevormundung auf; aber das Maurice’sche Theater hielt das nun einmal eingespielte Genre als Besonderheit aufrecht und führte in Lustspiel, Schwank und Posse nicht nur musterhafte Darstellungen, sondern auch hervorragende Individualitäten, andererseits ein vortreffliches Ensemble auch dem anspruchsvollsten Verlangen vor Augen. So hat M. schauspielerische Talente nicht nur herangezogen, sondern auch angezogen. So steht neben den kecken Spaßmachern der Posse, Nestroy, Scholz, Gern, eine lange Reihe aufstrebender Kräfte des ernsten Fachs, gegen welches M. keineswegs sein vorurtheilsfreies Herz verschloß. Nicht etwa bloß erstclassige Wandervögel wie der Originalneger Aldridge als Othello, Demoiselle Rachel als Phädra, die Ristori als Medea – jeder dieser drei in seiner Muttersprache – brachten den erhabenen Kothurn auf die Tagesordnung. Nein, gerade ziemlich viele der bei ihm debutirenden oder flügge werdenden Anfänger, die später anderwärts erste Posten und Ruhm erreicht haben, durften sich am Thaliatheater in classischen Rollen erproben: z. B. Lina Fuhr († 1906) als Maria Stuart, Marie [254] Seebach als Grethchen, Charlotte Wolter als Iphigenie, desgleichen der genialste, den er emporgebracht, Bogumil Dawison. Anderntheils hat er freilich z. B. die Goßmann, die sich auf die tragischen Liebhaberinnen steifte, auf die muntere Naive verpflichtet, und darin hat sie nachher ihre Triumphe gefeiert. Auch Wilh. Kläger, Frz. Wallner, Eugen Stägemann, Anton Anno, Emil Hahn, Marie Boßler, Marie Barkany u. A. von Namen wirkten länger oder kürzer unter M. Die bei ihm in die Höhe gekommenen Zerline Würzburg-Gabillon, Antonie Janisch, Marie Seebach, Helene Hartmann hat M. neben der Wolter und der Goßmann als „k. k. österreichischer Hofburgtheater-Lieferant wider Willen“, wie er sich scherzweise bezeichnete, vom großartigen Wiener Schauspiel-Ensemble seines gleichaltrigen Widerparts Heinrich Laube, den er grollend den Rattenfänger von Hameln zu nennen und beim Zusammentreffen in Karlsbad zu schneiden pflegte, sich wegfischen sehen müssen. Auch in seinem eigensten Ressort, dem komischen, hat M. typische Soubrettenköniginnen wie Marie Geistinger, Anna Schramm, Ernestine Wegener (s. d.) nicht lange fesseln können. Aufs höchste anerkannt und ungemein beliebt in Schauspielerkreisen, zählte er unter seinen berühmt gewordenen Zöglingen viel mehr weibliche als männliche, er, der wunderbar unverwüstliche Lebenskräftige „mit den listigen und feurig blitzenden Aeuglein, mit der Leidenschaft für schöne Frauen“.

Maurice’s unbestreitbares großes Verdienst beruht in der sicheren Handhabung der Einsicht, daß die Bühne nicht die überragende Einzelleistung, sondern eine harmonisch abgetönte Gesammtleistung vorführen und durch diese wirken soll. So stach denn bei ihm selbst bei sogenannten Paraderollen ein starker Gast vom Ensemble nicht wesentlich ab, wofern er sich nicht direct auf Virtuosenmätzchen verlegte. Und endlich was den Umfang seines Spielplans betrifft, so trägt der Tiefstand der Production binnen der Jahre 1840–80, da Maurice’s Thätigkeit sich in einer Schlangenlinie entfaltet hat, die Hauptschuld an der Ausbeutung der niederen dramatischen Sphäre als maßgebliche Bezugsquelle. Vor längerer Nachgiebigkeit an höher gerichtete „Verirrungen“ seiner Regisseure, des ihm, nach mehrjähriger Entfremdung, 1857–71, bis zum Tode treuen genialen Schauspielers Heinr. Marr und des vielseitigen C. A. Görner, bewahrte ihn seine nüchterne Ueberlegung, besonders wann ein ungünstiger Cassenrapport seines Bruders Alfons, des vieljährigen „Thalia“-Cassirers, ihn in dem Mißtrauen gegen das „Hochpoetische“ schwächlicher Jamben-Epigonen und Auch-Classiker bestärkte. So hat sich M. denn vielfach außer auf den in Hamburg eingewurzelten Gutzkow auf die fruchtbaren R. Benedix, Charlotte Birch-Pfeiffer, seine langjährige Gewissensräthin, auf beider Nachahmer, auf französische Faiseure und die Berliner Gesangsposse stützen müssen und einer der Matadore der letzteren, Emil Thomas (d. i. Tobias), hat 1866–75 als Maurice’s erster Charakterkomiker den immer steigenden Jubel des Auditoriums errungen, desgleichen beim Festmahle zum 25jährigen Jubiläum des Thaliatheaters 1868 in seiner eindringlichen, zwerchfellerschütternden Betonung durch eine Tischrede, die fast sämmtliche, großentheils längst verschollene Titel der unter M. aufgeführten Erzeugnisse verwob. Trotz häufiger Minderwerthigkeit seiner Unterlagen hat sich M. mit immer wachsendem Gelingen möglichst künstlerisch vollkommene Gebilde auf die Scene zu stellen bemüht und mit peinlicher Sorgfalt an allen Einzelheiten der Darstellung feilen heißen, bis sich jede Individualität – die er an und für sich hoch achtete – ins Ganze fügte. Es sei da noch besonders die Strenge des Mannes, der bis an sein Ende mit dem deutschen Ausdruck auf Kriegsfuß gestanden, gegenüber etwaigen Sprach- oder Textverfehlungen seiner Untergebenen hervorgehoben, ferner die zum Realismus der Hamburger Schule und zu Maurice’s Trieb zum Volksmäßigen passende [255] außerordentliche Vorliebe fürs niederdeutsche Dialektstück, dem er so lange wie irgend möglich eine freundliche Zufluchts- und Pflegestätte gewährt hat.

„Wenn ick ok de Stiefschwester bün, he hett mi doch von Harten leev. Mit mi fung he an! Ick weer Maurice sine eerste Leev“ – so apostrophirte Anna Rossi in Kostüm und Idiom einer Vierländerin den Chef M. als plattdeutsche Muse in W. Drost’s Festspiel zum 1. October 1881, al er sein goldenes Jubiläum – einzig in seiner Art als Leiter desselben Unternehmens – als Theaterdirector beging. Unter gleichfalls weitester Antheilnahme feierte man am 9. November 1893 das Halbjahrhundert-Bestehen des Thaliatheater, auch durch Neuausgabe der Festschrift vom Viertelsäculum (s. u.). Im Mai 1885 übergab dann Ch. M., der jahrzehntelangen Sorgen überdrüssig, den Tactstock seinem Sohne Gustav M., der nun aber trotz jahrelanger Mitdirection der Bürde nicht mächtig war und unfähig, gar den Vater zu ersetzen, von diesem den Stadttheater-Pächter B. Pollini (d. i. Pohl, 1838–97, s. ebd.), einen geriebenen Geschäftsmann, als Berather bekam: dieser neue Bündniß-Versuch scheiterte schon nach zwei Jahren, und so fristete Gustav seit 1887 das Thaliatheater allein durch, bis er (geboren 1836) am 23. October 1893, mitten in den Vorbereitungen zum genannten Jubelfeste des Hauses, starb. Der 88jährige Veteran M. faßte nun nothgedrungen nochmals das Steuer des lecken Schiffs und blieb bis 1. Juni 1894 auf dem Posten: da verschmolz Pollini endgültig das Thalia- mit dem Stadttheater zu einem sich ergänzenden Doppelinstitut und so ist’s geblieben, auch als der finanziell sicherer fundirte Pollini den am 27. Januar 1896 sanft entschlummernden M. nicht einmal um zwei Jahre überlebte (er starb am 27. November 1897): die Firma Bittong & Bachur übernahm die zwei Decennien hindurch rivalisirenden Bühnen auf ein Conto aus Pollini’s Nachlaß.

Das Material am vollständigsten, wenn auch meist für M. einseitig panegyrisch und unkritisch, in der „Geschichte des Thalia-Theaters in Hamburg … Nach authentischen Quellen bearbeitet von Alfred Schönwald und Hermann Peist“, 1868 zum Silberjubiläum erschienen, 1883 zum goldenen erweitert ausgegeben. Viele actenmäßige Einzelheiten bei dem gegen M. eingenommenen, bisweilen hämischen Herm. Uhde, „Das Stadttheater in Hamburg 1827–1877“ (1879); s. die Stellen in dessen Eigennamen-Verzeichniß. Gegen Uhde ging Reinhold Ortmann’s fleißige Fest-Monographie „Fünfzig Jahre eines deutschen Theaterdirektors. Erinnerungen, Skizzen u. Biographien aus der Geschichte des Hamburger Thalia-Theaters“ (1881) allzu kräftig ins Zeug, ihr Ziel infolge arger Lobhudelei verfehlend. Auf diesen drei Vorarbeiten wesentlich fußt P. Schlenther’s gründliches und anschauliches Lebens- und Charakterbild im Biograph. Jahrbuch u. Dtsch. Nekrolog I, 297–302 (daran angeschlossen A. v. Weilen’s Vermerk Jahresberichte f. neuere dtsch. Litgesch. f. 1896: IV 4, 388); es wäscht M. von den meisten Flecken, die seine hartnäckigen Widersacher ihm verliehen, rein und versieht ihn an der Spitze mit dem glänzenden Attribut „neben Laube der bedeutendste deutsche Bühnenleiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Reichlichen und werthvollen Stoff, nicht nur unter seinem besondern Gesichtspunkte, bringt sodann K. Th. Gädertz bei: „Das niederdeutsche Schauspiel. Zum Kulturleben Hamburgs. II: Die plattdeutsche Komödie im 19. Jahrhundert“ (Neue Ausg., 1894; S. VII–XII, XXV und Eigennamen-Verzeichniß). Lebens- und Charakterskizze wesentlich anekdotischer Art bei Ad. Kohut, Berühmte israel. Männer u. Frauen I (1900), 245–249 (auch 202, 237, 253); englischer Auszug daraus von E. Ms. in The Jewish Encyclopedia VIII (1904), 381. Richtige knappe Skizze [256] in Meyer’s Konversationslexikon6 XIII (1906), 465. Kleine Notizen im Allgem. Theater-Lexikon IV (1840), 174; Rob. Prölß, Gesch. des neueren Dramas III 2 (1883), 415; Frdr. Ludw. Schmidt’s Denkwürdigkeiten hsg. von H. Uhde (1875) II, 322 Anm. u. 372 Anm.; Ad. Kohut, Die größten u. berühmtesten Soubretten des 19. Jhs., S. 62, 91, 149, 188. Verständnißvoller, wenn auch nicht ganz stichfester Nekrolog L(udwig) H(olthof)’s in „Ueber Land und Meer“ 75. Bd., S. 343 (nennt außer Charles auch Simon als Vornamen). Ebenda, bei Schönwald und Kohut (S. 247) Porträts Maurice’s, bei Schönwald und Kohut (S. 248) ein Bild des Thaliatheaters. Porträt Maurice’s verzeichnet nebst Hauptdaten seiner theatralischen Wirksamkeit als Nr. 1125 im „Fachkatalog der Abtheilung f. deutsches Drama u. Theater“ der Wiener Internationalen Ausstellung f. Musik u. Theaterwesen 1902, S. 308. Allerlei Nachrufe und Erinnerungen in den Hamburger Tagesblättern sowie den Theater-Almanachen. Vgl. auch: „Hamburger Theaterleben in den 50er Jahren aus den Erinnerungen des Herrn von Strantz“, Hamburger Nachrichten 1901, Nr. 181, sowie A. Obst, „Leiden der Hamburger Theater-Direktoren“, Hamburger Fremdenblatt 1901, Nr. 121; P. Raché, „Das Hamburger Thalia-Theater“, Bühne und Welt XVI (1904) 1, 265–75.